Sigmund Freud
Die endliche und die unendliche Analyse
Sigmund Freud

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III

Analytische Erfahrung, die sich über mehrere Dezennien erstreckt, und ein Wechsel in der Art und Weise meiner Betätigung ermutigen mich, die Beantwortung der gestellten Fragen zu versuchen. In früheren 365 Zeiten hatte ich es mit einer größeren Anzahl von Patienten zu tun, die, wie begreiflich, auf rasche Erledigung drängten; in den letzten Jahren haben die Lehranalysen überwogen, und eine im Verhältnis geringe Zahl von schwerer Leidenden blieb bei mir zu fortgesetzter, wenn auch durch kurze oder längere Pausen unterbrochener Behandlung. Bei diesen letzteren war die therapeutische Zielsetzung eine andere geworden. Eine Abkürzung der Kur kam nicht mehr in Betracht, die Absicht war, eine gründliche Erschöpfung der Krankheitsmöglichkeiten und tiefgehende Veränderung der Person herbeizuführen.

Von den drei Momenten, die wir als maßgebend für die Chancen der analytischen Therapie anerkannt haben: Einfluß von Traumen – konstitutionelle Triebstärke – Ichveränderung, kommt es uns hier nur auf das mittlere an, die Triebstärke. Die nächste Überlegung läßt uns in Zweifel ziehen, ob die Einschränkung durch das Beiwort konstitutionell (oder kongenital) unerläßlich ist. So entscheidend von allem Anfang das konstitutionelle Moment sein mag, so bleibt es doch denkbar, daß eine später im Leben auftretende Triebverstärkung die gleichen Wirkungen äußern mag. Die Formel wäre dann abzuändern: derzeitige Triebstärke anstatt der konstitutionellen. Die erste unserer Fragen hat gelautet: »Ist es möglich, einen Konflikt des Triebs mit dem Ich oder einen pathogenen Triebanspruch an das Ich durch analytische Therapie dauernd und endgültig zu erledigen?« Es ist wahrscheinlich zur Vermeidung von Mißverständnis nicht unnötig, näher auszuführen, was mit der Wortfügung: dauernde Erledigung eines Triebanspruchs gemeint ist. Gewiß nicht, daß man ihn zum Verschwinden bringt, so daß er nie wieder etwas von sich hören läßt. Das ist im allgemeinen unmöglich, wäre auch gar nicht wünschenswert. Nein, sondern etwas anderes, was man ungefähr als die »Bändigung« des Triebes bezeichnen kann: das will heißen, daß der Trieb ganz in die Harmonie des Ichs aufgenommen, allen Beeinflussungen durch die anderen Strebungen im Ich zugänglich ist, nicht mehr seine eigenen Wege zur Befriedigung geht. Fragt man, auf welchen Wegen und mit welchen Mitteln das geschieht, so hat man's nicht leicht mit der Beantwortung. Man muß 366 sich sagen: »So muß denn doch die Hexe dran.« Die Hexe Metapsychologie nämlich. Ohne metapsychologisches Spekulieren und Theoretisieren – beinahe hätte ich gesagt: Phantasieren – kommt man hier keinen Schritt weiter. Leider sind die Auskünfte der Hexe auch diesmal weder sehr klar noch sehr ausführlich. Wir haben nur einen Anhaltspunkt – der allerdings unschätzbar – an dem Gegensatz zwischen Primär- und Sekundärvorgang, und auf den will ich auch hier verweisen.

Wenn wir jetzt zu unserer ersten Frage zurückkehren, so finden wir, daß unser neuer Gesichtspunkt uns eine bestimmte Entscheidung aufdrängt. Die Frage hat gelautet, ob es möglich ist, einen Triebkonflikt dauernd und endgültig zu erledigen, d. h.: den Triebanspruch in solcher Weise zu »bändigen«. In dieser Fragestellung wird die Triebstärke überhaupt nicht erwähnt, aber gerade von ihr hängt der Ausgang ab. Gehen wir davon aus, daß die Analyse beim Neurotiker nichts anderes leistet, als was der Gesunde ohne diese Hilfe zustande bringt. Beim Gesunden aber, lehrt die tägliche Erfahrung, gilt jede Entscheidung eines Triebkonflikts nur für eine bestimmte Triebstärke, richtiger gesagt, nur innerhalb einer bestimmten Relation zwischen Stärke des Triebs und Stärke des IchsIn gewissenhafter Korrektur: für eine gewisse Breite dieser Relation.. Läßt die Stärke des Ichs nach, durch Krankheit, Erschöpfung u. dgl., so können alle bis dahin glücklich gebändigten Triebe ihre Ansprüche wieder anmelden und auf abnormen Wegen ihre Ersatzbefriedigungen anstrebenDies zur Rechtfertigung des ätiologischen Anspruchs so unspezifischer Momente wie Überarbeitung, Schockwirkung usw., die immer der allgemeinen Anerkennung sicher waren und gerade von der Psychoanalyse in den Hintergrund gedrängt werden mußten. Gesundheit läßt sich eben nicht anders denn metapsychologisch beschreiben, bezogen auf Kräfteverhältnisse zwischen den von uns erkannten, wenn man will, erschlossenen, vermuteten, Instanzen des seelischen Apparats.. Den unwiderleglichen Beweis für diese Behauptung gibt schon der nächtliche Traum, der auf die Schlafeinstellung des Ichs mit dem Erwachen der Triebansprüche reagiert.

Ebenso unzweifelhaft ist das Material von der anderen Seite. Zweimal im Laufe der individuellen Entwicklung treten erhebliche Verstärkungen gewisser Triebe auf, zur Pubertät und um die Menopause bei Frauen. Wir sind nicht im geringsten überrascht, wenn Personen, die 367 vorher nicht neurotisch waren, es um diese Zeiten werden. Die Bändigung der Triebe, die ihnen bei geringerer Stärke derselben gelungen war, mißlingt nun bei deren Verstärkung. Die Verdrängungen benehmen sich wie Dämme gegen den Andrang der Gewässer. Dasselbe, was diese beiden physiologischen Triebverstärkungen leisten, kann in irregulärer Weise zu jeder anderen Lebenszeit durch akzidentelle Einflüsse herbeigeführt werden. Es kommt zu Triebverstärkungen durch neue Traumen, aufgezwungene Versagungen, kollaterale Beeinflussungen der Triebe untereinander. Der Erfolg ist alle Male der gleiche und erhärtet die unwiderstehliche Macht des quantitativen Moments in der Krankheitsverursachung.

Ich bekomme hier den Eindruck, als müßte ich mich all dieser schwerfälligen Erörterungen schämen, da doch das, was sie sagen, längst bekannt und selbstverständlich ist. Wirklich, wir haben uns immer so benommen, als wüßten wir es; nur, daß wir in unseren theoretischen Vorstellungen zumeist versäumt haben, dem ökonomischen Gesichtspunkt in demselben Maß Rechnung zu tragen wie dem dynamischen und dem topischen. Meine Entschuldigung ist also, daß ich an dieses Versäumnis mahne.

Ehe wir uns aber für eine Antwort auf unsere Frage entscheiden, haben wir einen Einwand anzuhören, dessen Stärke darin besteht, daß wir wahrscheinlich von vornherein für ihn gewonnen sind. Er sagt, unsere Argumente sind alle aus den spontanen Vorgängen zwischen Ich und Trieb hergeleitet und setzen voraus, daß die analytische Therapie nichts machen kann, was nicht unter günstigen, normalen Verhältnissen von selbst geschieht. Aber ist das wirklich so? Erhebt nicht gerade unsere Theorie den Anspruch, einen Zustand herzustellen, der im Ich spontan nie vorhanden ist und dessen Neuschöpfung den wesentlichen Unterschied zwischen dem analysierten und dem nicht analysierten Menschen ausmacht? Halten wir uns vor, worauf sich dieser Anspruch beruft. Alle Verdrängungen geschehen in früher Kindheit; es sind primitive Abwehrmaßregeln des unreifen, schwachen Ichs. In späteren Jahren werden keine neuen Verdrängungen vollzogen, aber die alten erhalten sich, und ihre Dienste werden vom Ich weiterhin zur Triebbeherrschung in Anspruch genommen. Neue Konflikte werden, wie 368 wir es ausdrücken, durch »Nachverdrängung« erledigt. Von diesen infantilen Verdrängungen mag gelten, was wir allgemein behauptet haben, daß sie voll und ganz vom relativen Kräfteverhältnis abhängen und einer Steigerung der Triebstärke nicht standhalten können. Die Analyse aber läßt das gereifte und erstarkte Ich eine Revision dieser alten Verdrängungen vornehmen; einige werden abgetragen, andere anerkannt, aber aus soliderem Material neu aufgebaut. Diese neuen Dämme haben eine ganz andere Haltbarkeit als die früheren; ihnen darf man zutrauen, daß sie den Hochfluten der Triebsteigerung nicht so leicht nachgeben werden. Die nachträgliche Korrektur des ursprünglichen Verdrängungsvorganges, die der Übermacht des quantitativen Faktors ein Ende macht, wäre also die eigentliche Leistung der analytischen Therapie.

So weit unsere Theorie, auf die wir ohne unwidersprechlichen Zwang nicht verzichten können. Und was sagt die Erfahrung dazu? Die ist vielleicht noch nicht umfassend genug für eine sichere Entscheidung. Oft genug gibt sie unseren Erwartungen recht, doch nicht jedesmal. Man hat den Eindruck, daß man nicht überrascht sein dürfte, wenn sich am Ende herausstellt, daß der Unterschied zwischen dem nicht Analysierten und dem späteren Verhalten des Analysierten doch nicht so durchgreifend ist, wie wir es erstreben, erwarten und behaupten. Demnach würde es der Analyse zwar manchmal gelingen, den Einfluß der Triebverstärkung auszuschalten, aber nicht regelmäßig. Oder ihre Wirkung beschränkte sich darauf, die Widerstandskraft der Hemmungen zu erhöhen, so daß sie nach der Analyse weit stärkeren Anforderungen gewachsen wären als vor der Analyse oder ohne eine solche. Ich getraue mich hier wirklich keiner Entscheidung, weiß auch nicht, ob sie derzeit möglich ist.

Man kann sich dem Verständnis dieser Unstetigkeit in der Wirkung der Analyse aber von anderer Seite her nähern. Wir wissen, es ist der erste Schritt zur intellektuellen Bewältigung der Umwelt, in der wir leben, daß wir Allgemeinheiten, Regeln, Gesetze herausfinden, die Ordnung in das Chaos bringen. Durch diese Arbeit vereinfachen wir die Welt der Phänomene, können aber nicht umhin, sie auch zu verfälschen, besonders wenn es sich um Vorgänge von Entwicklung und Umwandlung handelt. Es kommt uns darauf an, eine qualitative 369 Änderung zu erfassen, und wir vernachlässigen dabei in der Regel, wenigstens zunächst, einen quantitativen Faktor. In der Realität sind die Übergänge und Zwischenstufen weit häufiger als die scharf gesonderten, gegensätzlichen Zustände. Bei Entwicklungen und Verwandlungen richtet sich unsere Aufmerksamkeit allein auf das Resultat; wir übersehen gern, daß sich solche Vorgänge gewöhnlich mehr oder weniger unvollständig vollziehen, also eigentlich im Grunde nur partielle Veränderungen sind. Der scharfsinnige Satiriker des alten Österreichs, J. Nestroy, hat einmal geäußert: »Ein jeder Fortschritt ist nur immer halb so groß, als wie er zuerst ausschaut.« Man wäre versucht, dem boshaften Satz eine recht allgemeine Geltung zuzusprechen. Es gibt fast immer Resterscheinungen, ein partielles Zurückbleiben. Wenn der freigebige Mäzen uns durch einen vereinzelten Zug von Knauserei überrascht, der sonst Übergute sich plötzlich in einer feindseligen Handlung gehenläßt, so sind diese »Resterscheinungen« unschätzbar für die genetische Forschung. Sie zeigen uns, daß jene lobenswerten und wertvollen Eigenschaften auf Kompensation und Überkompensation beruhen, die, wie zu erwarten stand, nicht durchaus, nicht nach dem vollen Betrag gelungen sind. Wenn unsere erste Beschreibung der Libidoentwicklung gelautet hat, eine ursprüngliche, orale Phase mache der sadistisch-analen und diese der phallisch-genitalen Platz, so hat spätere Forschung dem nicht etwa widersprochen, sondern zur Korrektur hinzugefügt, daß diese Ersetzungen nicht plötzlich, sondern allmählich erfolgen, so daß jederzeit Stücke der früheren Organisation neben der neueren fortbestehen, und daß selbst bei normaler Entwicklung die Umwandlung nie vollständig geschieht, so daß noch in der endgültigen Gestaltung Reste der früheren Libidofixierungen erhalten bleiben können. Auf ganz anderen Gebieten sehen wir das nämliche. Keiner der angeblich überwundenen Irr- und Aberglauben der Menschheit, von dem nicht Reste heute unter uns fortleben, in den tieferen Schichten der Kulturvölker oder selbst in den obersten Schichten der Kulturgesellschaft. Was einmal zu Leben gekommen ist, weiß sich zäh zu behaupten. Manchmal könnte man zweifeln, ob die Drachen der Urzeit wirklich ausgestorben sind.

Um nun die Anwendung auf unseren Fall zu machen, ich meine, die Antwort auf die Frage, wie sich die Unstetigkeit unserer analytischen Therapie erklärt, könnte leicht sein, daß wir unsere Absicht, die 370 undichten Verdrängungen durch zuverlässige, ichgerechte Bewältigungen zu ersetzen, auch nicht immer im vollen Umfang, also nicht gründlich genug erreichen. Die Umwandlung gelingt, aber oft nur partiell; Anteile der alten Mechanismen bleiben von der analytischen Arbeit unberührt. Es läßt sich schwer beweisen, daß dem wirklich so ist; wir haben ja keinen anderen Weg, es zu beurteilen, als eben den Erfolg, den es zu erklären gilt. Aber die Eindrücke, die man während der analytischen Arbeit empfängt, widersprechen unserer Annahme nicht, scheinen sie eher zu bestätigen. Man darf nur die Klarheit unserer eigenen Einsicht nicht zum Maß der Überzeugung nehmen, die wir beim Analysierten hervorrufen. Es mag ihr an »Tiefe« fehlen, wie wir sagen können; es handelt sich immer um den gerne übersehenen quantitativen Faktor. Wenn dies die Lösung ist, so kann man sagen, die Analyse habe mit ihrem Anspruch, sie heile Neurosen durch die Sicherung der Triebbeherrschung, in der Theorie immer recht, in der Praxis nicht immer. Und zwar darum, weil es ihr nicht immer gelingt, die Grundlagen der Triebbeherrschung in genügendem Ausmaß zu sichern. Der Grund dieses partiellen Mißerfolgs ist leicht zu finden. Das quantitative Moment der Triebstärke hatte sich seinerzeit dem Abwehrstreben des Ichs widersetzt; wir haben darum die analytische Arbeit zu Hilfe gerufen, und nun setzt dasselbe Moment der Wirksamkeit dieser neuen Bemühung eine Grenze. Bei übergroßer Triebstärke mißlingt dem gereiften und von der Analyse unterstützten Ich die Aufgabe, ähnlich wie früher dem hilflosen Ich; die Triebbeherrschung wird besser, aber sie bleibt unvollkommen, weil die Umwandlung des Abwehrmechanismus nur unvollständig ist. Daran ist nichts zu verwundern, denn die Analyse arbeitet nicht mit unbegrenzten, sondern mit beschränkten Machtmitteln, und das Endergebnis hängt immer vom relativen Kräfteverhältnis der miteinander ringenden Instanzen ab.

Es ist unzweifelhaft wünschenswert, die Dauer einer analytischen Kur abzukürzen, aber der Weg zur Durchsetzung unserer therapeutischen Absicht führt nur über die Verstärkung der analytischen Hilfskraft, die wir dem Ich zuführen wollen. Die hypnotische Beeinflussung schien ein ausgezeichnetes Mittel für unsere Zwecke zu sein; es ist bekannt, warum wir darauf verzichten mußten. Ein Ersatz für die Hypnose ist bisher nicht gefunden worden, aber man versteht von diesem Gesichtspunkt aus die leider vergeblichen therapeutischen Bemühungen, denen ein Meister der Analyse wie Ferenczi seine letzten Lebensjahre gewidmet hat.


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