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1898

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An Josef Breuer

Wien IX, Berggasse 19, 7. Januar 1898

Verehrter Herr,

Gestatten Sie, daß an Stelle meiner Frau, die ja den beiden Gegenständen Ihres Schreibens vollkommen fremd ist, ich selbst antworte und die Rücksendung der dreihundertfünfzig Gulden (mittels Postsparkassa) rechtfertige.

Was meine Schuld anbelangt, so kann über deren Bestehen kein Zweifel sein. Ich habe sie nicht vergessen und immer vorgehabt, sie abzutragen, auch angenommen, daß Sie es nicht anders erwarten. Sie gaben mir einmal die Auskunft, daß Sie deren Höhe nicht kennen; nach meinen eigenen Erinnerungen, die freilich nicht sehr verläßlich sind, habe ich sie auf zweitausenddreihundert Gulden geschätzt. Schon seit mehreren Jahren war ich in meiner Wirtschaftsrechnung aktiv, aber der Überschuß bestand stets in Ausständen, wie sie unsere Profession sich gefallen lassen muß, und die wiederholt erprobte Schwierigkeit, bares Geld, das man zur Lebensführung braucht, auch wenn es gedeckt ist, sich leihweise zu verschaffen, machte mir die Aufnahme der Rückzahlungen unmöglich. Erst im letzten Jahr, welches das beste meiner Praxis war, hat sich ein solcher Überschuß in Barem hergestellt, daß ich mich dessen Verminderung um eine gewisse Summe getrauen konnte. Diese Summe war ursprünglich viel größer als der von Ihnen bestätigte Betrag, wanderte aber zum Teil nach England, um eine in der Familie notwendig gewordene Hilfeleistung zu ermöglichen. Verhältnisse dieser Art beschuldigte ich in den die Sendung begleitenden Zeilen als die Hindernisse gegen meine Erhebung zum ›Wohlstand‹. Sie dürfen es mir glauben, daß es mit keiner anderen, unterdes eingetretenen Veränderung zusammenhängt, wenn ich gerade heuer und nicht schon vorher meine Schuld an Sie zu begleichen begonnen habe. In dem einen Punkte wenigstens bekennen wir uns zu derselben Ansicht, daß uns beiden Geldbeziehungen nicht die wichtigsten im Leben und nicht inkommensurabel mit anderen sein scheinen. Daß ich von dieser Lehre aktiv und passiv Zeugenschaft ablegen mußte, als Nehmer und als Geber, während Sie sich auf den aktiven Beweis beschränken durften, das pflegten Sie selbst immer als Sache des Glückes, nicht des Verdienstes, darzustellen.

Die andere Angelegenheit, die der Behandlung des Frl. N.N., hat mit dieser nicht das mindeste zu tun. Wenn Sie je vorher die Empfindung gehabt hätten, daß Sie für diese Verrichtung mein Schuldner sind, so hätten Sie wahrscheinlich nicht gewartet, bis ich Ihnen Geld schicke, um mit einem Teil davon Ihre Schuld zu begleichen. Auch die Unrichtigkeit Ihrer Angaben über meine »Forderung« an N.N. beweist, daß Sie nur die zweite Angelegenheit in die erste vermengen wollen, um mir aus Motiven, deren Deutung mir ferne liegt, Ausgaben zu ersparen. Ich will Ihnen den Sachverhalt aufklären. Frl. N.N. stellte in ihrer Überschwenglichkeit die Forderung, behandelt zu werden wie jede andere Patientin. Mir lag selbst daran, kein Übermaß von Dankbarkeit aufkommen zu lassen; andererseits lag es mir ferne, das arme Mädchen ihrer kleinen Habe zu berauben. So kam es zu einem Vertrag zwischen uns, daß ich ihr die Sitzung zu fünf Gulden berechne, »wie jeder anderen«, daß aber von dem so zustande kommenden Honorar von siebenhundertfünfzig Gulden (hundertfünfzig Sitzungen), nur hundertfünfzig Gulden sogleich zu bezahlen sind, der Rest von sechshundert Gulden erst, nachdem sie die ihr zukommende Erbschaft von ihrer jetzt noch lebenden Mutter gemacht haben wird. Wie Sie sehen, kann ich nicht genötigt werden, für die Behandlung des Frl. N.N. etwas anzunehmen, ehe sie geerbt hat, und wenn dieser Fall eintritt, wird sie ihre so sehr ernst genommene Schuld wahrscheinlich selbst bezahlen. Ich glaube also nicht, daß sie an der Rücksendung der dreihundertfünfzig Gulden irgendwie beteiligt ist.

Somit darf ich selbst hoffen, daß Sie der Annahme dieses Betrages keine weiteren Schwierigkeiten entgegensetzen werden.

Mit ergebenstem Dank
Ihr Dr. Freud

*

An Wilhelm Fliess

Wien IX, Berggasse 19, 14. April 1898

Teurer Wilhelm

Ich meine, es ist eine gute Regel für den Briefschreiber, das unerwähnt zu lassen, was der Empfänger schon weiß, ihm dafür lieber etwas Neues zu erzählen. Darum gehe ich darüber hinweg, daß ich gehört, Du hattest zu Ostern eine schlechte Zeit gehabt; das weißt Du ohnehin. Ich will Dir lieber von meiner Osterreise erzählen, die ich grantig zurückgelegt, von der ich aber erfrischt zurückgekommen bin.

Wir fuhren Freitag abends (Alexander und ich) vom Südbahnhof fort und langten Samstag zehn Uhr früh in Görz an, wo wir im hellen Sonnenschein zwischen weißgestrichenen Häusern spazierten, weißblühende Bäume sahen, Orangen und kandierte Früchte essen konnten. Dabei sammeln wir Erinnerungen, die Aussicht von der Festung erinnert an Florenz, die Fortezza selbst an S. Pietro in Verona und an die Burg in Nürnberg. Die erste Empfindung, die einem im italienischen Lande nachgeht, das Vermissen von Wiese und Wald, war natürlich wie bei jedem Übergang sehr lebhaft. Der Isonzo ist ein herrlicher Fluß. Auf dem Wege begegneten wir drei Zügen der Julischen Alpen. Am Sonntag hieß es früh aufstehen, um mit der friaulischen Lokalbahn bis nahe an Aquileja zu kommen. Die ehemalige Großstadt ist ein kleiner Misthaufen, das Museum zeigt freilich einen unerschöpflichen Reichtum an Römerfunden: Grabsteine, Amphoren, Göttermedaillons vom Amphitheater, Statuen, Bronzen und Schmuck ...

Um zehn Uhr wurde von einem merkwürdigen Motor ein kleiner Dampfer in den Kanal von Aquileja geschleppt, der gerade niedriges Wasser hatte. Der Motor hatte einen Strick um den Leib und rauchte während seiner Tätigkeit Pfeife. Den Dampfer hätte ich gerne den Kindern mitgebracht, er war aber als einzige Weltverbindung nach dem Kurort Grado nicht zu entbehren. Eine zweieinhalbstündige Fahrt durch die ödesten Lagunen brachte uns nach Grado, wo wir endlich wieder am Strande der Adria Muscheln und Seeigel sammeln konnten.

Noch am Nachmittag kamen wir nach Aquileja zurück, nachdem wir von unseren Vorräten und von einem köstlichen Istrianerwein auf dem Schiff Mahlzeit gehalten hatten. Im Dom von Aquileja waren gerade mehrere hundert der schönsten Friauler Mädchen zur Feiertagsmesse versammelt. Die Pracht der alten romanischen Basilika tat wohl mitten in der Armut der Neuzeit. Auf dem Rückweg sahen wir ein Stück alter Römerstraße mitten in einem Feld freigelegt. Ein rezenter Betrunkener lag auf den antiken Pflastersteinen. Am selben Abend kamen wir noch nach Divaĉa auf dem Karst, wo wir übernachteten, um am nächsten und letzten Tag – Montag – die Höhlen zu besuchen. Am Vormittag gingen wir in die Rudolfshöhle, eine Viertelstunde von der Station, angefüllt mit allerlei seltsamen Tropfsteinbildungen, Riesenschachtelhalmen, Baumkuchen, Stoßzähnen von unten, Vorhängen, Maiskolben, faltenschweren Zelten, Schinken und Geflügel von oben herabhängend. Das Merkwürdigste war unser Führer, im schweren Alkoholdusel, aber ganz sicher und humoristisch belebt. Er war der Entdecker der Höhle selbst, ein verkommenes Genie offenbar, sprach immer von seinem Tode, seinen Konflikten mit den Geistlichen und seinen Eroberungen in diesen unterirdischen Reichen. Als er äußerte, daß er schon in sechsunddreißig »Löchern« im Karst gewesen, erkannte ich ihn als Neurotiker und sein Konquistadorentum als erotisches Äquivalent. Er gab wenige Minuten später die Bestätigung, denn als Alexander ihn fragte, wie weit man in der Höhle kommen kann, antwortete er: Es ist wie bei einer Jungfrau; je weiter man kommt, desto schöner ist es.

Das Ideal des Mannes ist es, einmal nach Wien zu kommen, um sich dort in den Museen Vorbilder für die Namengebung seiner Tropfsteine zu holen. Ich überzahlte den »größten Lumpen von Divaĉa«, wie er sich nennt, mit einigen Gulden, damit er sich schneller aus dem Leben trinken kann.

Die Höhlen von St. Canzian, die wir am Nachmittag sahen, sind ein schauerliches Naturwunder, ein unterirdischer Flußlauf durch großartige Gewölbe, Wasserfälle, Tropfsteinbildungen, Nacht, schlüpfrige, mit eisernen Geländern versicherte Wege. Der reine Tartarus. Wenn Dante dergleichen gesehen hat, so brauchte er für sein Inferno nicht viel Phantasieanstrengung mehr. Der Herr von Wien, Herr Dr. Carl Lueger war mit uns gleichzeitig in der Höhle, die uns alle nach dreieinhalb Stunden wieder an's Licht spie.

Montag abends fing die Heimreise an. Tags darauf konnte ich an der Wiederkehr von Einfällen bei der Arbeit merken, daß die Ruhe dem Apparat wohlgetan hat.

Dein Sigm.

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An Wilhelm Fliess

Aussee, 20. August 1898

Teurer Wilhelm

Deine Zeilen haben mir die Genüsse der Reise wieder belebt. Es war wirklich herrlich, das aus wenigen Elementen in einfachen Linien zusammengesetzte Engadin, eine Art Nachrenaissance von Landschaft, und Maloja mit Italien dahinter und einem vielleicht nur von der Erwartung eingetragenen italienischen Charakter. Leprese war für uns ein Zauberidyll auch durch die Aufnahme, die wir dort fanden und durch den Kontrast, den der Weg von Tirano hinauf mit sich brachte. Wir mußten diesen, der nicht gerade eben ist, im entsetzlichsten Staubsturm machen und kamen halb tot oben an. Die Luft machte mich heiter und streitsüchtig erregt, wie ich es selten gewesen bin. An der Güte meines Schlafes haben die sechzehnhundert Meter mehr nichts geändert.

Bis zum letzten Tag in Maloja hat uns die Sonne nicht geniert. Dann wurde es aber heiß, selbst für oben, und es fehlte uns der Mut, nach Chiavenna, das heißt an die Seen herabzugehen. Ich glaube, es war klug, denn einige Tage später in Innsbruck gab es für uns beide Zustände von lähmungsartiger Schwäche. Seither ist es auch immer heißer geworden und hier in unserem schönen Obertressen liegen wir von zehn Uhr früh bis sechs Uhr abends auf verschiedenen Unterlagen herum, ohne einen Schritt über die Grenze unseres kleinen Gutes zu wagen.

Eine kleine römische Statuette, die ich in Innsbruck gekauft, hat Annerl nicht unpassend »ein altes Kind« genannt.

Scheinbar allem Nachdenken entrückt, kaum imstande zum Beispiel Deine schönen Aufklärungen über die Lebenszeit der alten Leute zu verstehen, beschäftige ich mich jetzt wesentlich mit der Kränkung darüber, daß die Ferien schon so weit aufgezehrt sind. Ein lebhaftes Bedauern, daß Ihr beide diese Zeit über an die Stadt gebunden seid, wird dann durch die Erwägung gemäßigt, daß Du Deine Reisezeit hinter Dir hast und Ida einen schönen Ersatz dafür vor sich.

Doch, ich habe auch Nansen durchflogen, für den mein ganzes Haus schwärmt. Martha, in der die Nordländer (Großmama, die jetzt bei uns ist, spricht noch Schwedisch) offenbar ihr Jugendideal erneuern, das sich im Leben für sie nicht getroffen hat, Mathilde, die vom griechischen Helden, der sie bisher erfüllt, den Übergang zum Wikinger herstellt, und Martin, der wie gewöhnlich mit einem nicht üblen – Gedicht auf die drei Bände Abenteuer reagiert hat.

Nansens Träume werde ich sehr gut verwenden können, sie sind geradezu durchsichtig. Daß sein seelischer Zustand einfach typisch ist für den, der Neues wagt und Vertrauen in Anspruch nimmt, und der wahrscheinlich auf falschem Weg was Neues entdeckt und nicht so viel, als er sich vorgestellt, das weiß ich aus eigenster Erfahrung. Dich hält zum Glück die sichere Harmonie Deines Wesens davon ferne.

...Ich grüße Dich und Deine liebe Frau herzlichst. Ich bin noch immer nicht ausgesöhnt mit der Entfernung, die uns während der Arbeitszeit trennt und sich während der Ferien so selten aufhebt.

Dein Sigm.


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