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Was sollen wir noch viel von Jörn Uhl erzählen? Oder wie weit sollen wir ihn noch begleiten? Sind wir nicht durch sein Leben gegangen, wie man allein durch eine stille, schlichte Dorfkirche geht, und besieht alles und tritt leise und vorsichtig auf, und setzt sich zuletzt noch ein wenig still in einen Stuhl gegenüber dem Altar?
Oder was fehlt Jörn Uhl noch?
Was kann die schöne Stadt Hannover und ihre Hochschule an seinem inneren Wesen noch ändern? Sie wird ihm zeigen, wie man sich in guter Haltung die Straßen entlang durch die Menschen drängt, und wie man Thonfabriken anlegt und Schleusen baut und Eisenbahnen. Mehr nicht. Sein innerstes Wesen, der Kern von ihm, der ist nicht mehr zu ändern. Der ist auch gut so. Denn was soll man von einem Menschen mehr verlangen, als daß er das große Geheimnis des Menschendaseins und der ganzen Welt demütig verehre, und Lust und Vertrauen habe zu allem Guten?
Da steht Jörn Uhl auf dem großen Bahnhof und nimmt von zehn oder zwölf Kameraden Abschied. Und ein munterer 480 Deutschamerikaner, den sein Vater, der in Buffalo Lohgerber ist, übers Meer geschickt hat, hält die Abschiedsrede. Mit der einen Hand hält er den Überrock dicht zu, denn es ist ein kaltes, nebliges Novemberwetter, und ein harter Zugwind geht durch die Halle; die andere Hand hat er nach dem Scheidenden ausgestreckt.
»Jürgen Uhl, Landvogt von Wentorf . . . ich denke in diesem Augenblick der Morgenstunde, da du zum erstenmal in den Zeichensaal tratest. Gebeugt war dein Rücken, als wärst du Sackträger, hart waren deine Hände und hungrig waren deine Augen. Du kamst treuherzig auf uns zu und gabst uns der Reihe nach die harte Hand und sagtest uns kurz, wer du wärst, woher du kämst und was du wolltest. Da hatten wir dich lieb, von der Stunde an.
»Wir nahmen dich in unsere Mitte und beschützten dich; denn wir merkten wohl, daß du in Gefahr warst, anzustoßen. Wir haben dir die Stube gemietet und haben dir Weißwäsche gekauft; wir haben dich überredet, daß du die langen Schmierstiefel nach dem Heeshof zurücksandtest, und wir haben dich von den Büchern weggezerrt, wenn du dich daran festgebissen hattest, wie der Marder am Forkenstiel.
»Aber als wir so um dich her liefen und dich beschützten . . . ach, wir dich beschützen! . . . da merkten wir bald, was in dir war: daß du ein rechter Nachkomme wärst von jenen Bauern, welche auf eigene Faust Meer und Land und Sterne studierten, und welche Deiche bauten, die hielten, und Schiffe, die der Nordsee widerstanden, und welche die Lippen zusammenpreßten, bis sie schmal wurden, und sich aus Neugier und Ehrfurcht eine Weltanschauung bauten, mit der ein ernster Mensch wohl hausen kann. Wir waren noch dabei, Jürgen Uhl, dich zu ›beschützen‹, ein wenig städtische Politur dir beizubringen: da saßen wir schon zu 481 deinen Füßen und lernten von dir und gehorchten dir. Du warst uns an Verstand zehn Jahre überlegen, an Ernst und Erfahrung zwanzig. Aber trotzdem hast du uns behandelt, als wären wir deinesgleichen: du hast zu unserer Dummheit freundlich gesehen, manche hast du gehindert; unsere Erfahrungen hast du angehört und hast sie mit klugem Wort erweitert. Kurz, du bist unser Landvogt gewesen, Jürgen Uhl, und unser König.«
Da drängte sich der Jüngste vor, eines Pastors Sohn aus Süddeutschland. »Dick,« sagte er, »was redest du für Blech! Du weißt doch, daß Jürgen solch Lobgedudele nicht hören mag! Wie kannst du überhaupt für uns alle schwatzen?«
»Seid still,« sagte Jörn Uhl und sah die Genossen des Zeichensaales der Reihe nach an. »Ihr wißt, daß ich lange Zeit einsam und in Not gewesen bin. Von Natur und durch harte Zeiten bin ich ein schwerfälliger Mensch, der jedes Wort und jede Bewegung mit klappernden Trossen und Eimern aus der tiefsten Tiefe holt. Schon in der Heimat sind freundliche Leute an mich herangetreten und haben mich ermuntert: von Fiete Krey habt ihr Briefe gelesen, und der Name Thieß Thiessen ist euch nicht unbekannt, und von Heim Heiderieter habe ich euch erzählt, und auf die Gesundheit meines Mädchens habt ihr häufiger getrunken, als euch gut war. Diese Aufmunterung, die diese Leute also angefangen haben, die habt ihr fortgesetzt, was sehr nötig war. Wenn ihr euch im Anfange über mich belustigt und gewundert hättet, und hättet euch fern von mir gehalten: dann wäre ich hier vereinsamt; denn ich hätte euch nicht zum zweitenmal die Hand geboten. Aber nun waret ihr freundlich und zutraulich mit mir, ihr Jungen, dafür danke ich euch!«
Der Zug stand bereit, und Jörn Uhl stieg ein. Der 482 Jüngste, der Pastorssohn, trug ihm den Koffer nach, und drängte sich an ihn und sagte: »Mutter schreibt, ich soll dich grüßen.«
Er war vom Gymnasium entgleist, und sein Lebensschicksal hatte ein Jahr lang hin und her geschwankt, ob es einen verbummelten Pastorssohn mehr geben sollte oder nicht. Es hatte im Pastorat am schönen Main schlimme Szenen gegeben, auch zwischen Mann und Frau. Mutter hatte gesagt: »In unserem Hause ist zuviel gebetet und äußerlich heiliges Wesen getrieben worden: das ist nichts für einen frischen Jungen. Nun wirft er mit dem äußerlichen Kleide, das ihm widerlich geworden, auch das weg, was gut und ewig ist: Liebe und Treue.« Und der Vater hatte gesagt: »Du magst recht haben. Wir Prediger kommen leicht in die Gefahr, von der du redest. Die Religion ist ein feines, zartes Ding und rächt sich an dem, der sie als Beruf hat. Aber wenn du so dachtest, hättest du mir es sagen müssen. Statt dessen hast du ihm hinter meinem Rücken von dem Gelde gegeben, das du aus dem Hühnerhof gemacht hast, und er hat es zu dem dicken Wirt gebracht, diesem faulen Schmarotzer unter lauter Fleißigen.« . . . Da war er in den Zeichensaal geschickt, und da war er in die Hände des langgesichtigen, friesischen Bauern gefallen, der mit unentwegtem Beharren in die Wissenschaft stieß, wie der Stier gegen die Stallverschalung. Und allmählich war in dem Gedusel und Gewusel seiner Lebensanschauung fester Grund entstanden. Jörn Uhl hatte einen guten Brief an den Vater schicken können; darauf war eine Antwort von der Mutter gekommen, mit Thränen gesalzen. Unruhiges Blut sitzt auch jetzt noch in ihm. Er wird nachher einige Jahre unter Jörn Uhl in Holstein arbeiten. Dann wird er ins Ausland gehen. Allerdings! Er wird sich überzeugen, daß 483 die Erde rund ist. Aber er wird aus dem Lande gehen, als einer, der dem Lande Ehre macht.
Daher der Grußauftrag der Mutter.
Nun fährt der Zug ab. Der Wind stößt gegen die Fenster; blanke Regentropfen laufen die Scheiben hinunter. In Graudunst liegen hinter vorbeigleitendem Rauch undeutlich Höfe und Dörfer, Heide und Wald. Es ist ein Wetter, in dem jede Schmiedung eines Lebensplanes, überhaupt jede berufliche Thätigkeit höchst überflüssig erscheint; denn es ist keine Aussicht, daß der Regen je aufhört oder gar die Sonne wieder scheinen wird.
Aber Jörn Uhl kennt diesen Wind und diesen Regen. Oft sind sie über die Felder der Uhl geflogen, während er, Furche auf, Furche ab, hinter dem Pfluge herging. Er weiß, man muß pflügen, pflügen, auch bei dunklem Wetter, und man muß sich aufs Warten legen: die Sonne kommt von selber wieder. Also sitzt er da, die Hand auf die Kniee aufgestützt, und sieht auf die gleitenden Tropfen und in die mitreisende Nebelwelt, und denkt bald an die Wentorfer Jugend, bald an Fiete Krey, bald an den Lohgerber von Buffalo, bald an Wieten Penn, die mit weißem Haar und gebeugtem Rücken im Heeshof hinterm Ofen sitzt, und bald an die Thongruben des Kriegskameraden. Da wird er nun zuerst Arbeit und Brot finden. Zuletzt bleiben seine Gedanken bei Lisbeth Junker und bei seinem Jungen, der nun schon zwei Jahre lang bei ihr in ihrem Hause ist, an ihrem Tisch ißt und neben ihrem Bett schläft. Aber als er daran lange gedacht hat, da steigt ein Schatten auf; da sind seine Gedanken bei seiner Schwester Elsbe.
In Hamburg machte er sich eilig auf den Weg durch die halbe Stadt. Oft mußte er sich die Richtung zeigen lassen. Zuletzt erschien ihm die Gegend bekannt; dazu 484 geriet er in einen Haufen wandernder Schulkinder. Und da war richtig das Ladenfenster der Tante: Schreib- und Schulbücher von Ellin Walter. Er besann sich eine Weile; es stürmten so viel Gedanken auf ihn. Als er aber sah, daß einige kleine Kerle mit großer Beherztheit eindrangen, ging er mit ihnen.
Sie stand hinterm Ladentisch und stellte Schachteln weg, und sah nicht auf, und sagte in ihrer vornehmen Weise mit der lieben, hohen Stimme: »Einen Augenblick Geduld, bitte.«
»Bitte,« sagte er, »bedienen Sie erst diese Herren!«
Da ließ sie die Schachtel fallen und reichte ihm über den Tisch die Hand, und wurde rot und staunte und wunderte sich und sagte: »Der Kleine wird gleich aus der Schule kommen . . . Was willst du? Für zwanzig Pfennige Federn? Löschpapier? Hier. Bezahlen kannst du morgen. Ein Schreibbuch mit Linien? Mach' nicht so viel Kleckse! Jungens, ich habe heute keine Zeit, habe hohen Besuch. Seht 'mal: dieser große Mann hat mit mir gespielt, als er so groß war wie ihr . . . So, Jürgen, nun sind wir allein. Die Tante schläft schon zu Mittag . . . Stelle deinen Koffer hierher . . . du wirst hungrig sein. Du . . . Jörn . . . mach' es nicht so schlimm. Ach, Jörn . . . Sei nicht so laut, Jörn . . . Ach, was redest du!«
»Nun ist dir die Flechte losgegangen.«
»Und . . . o, Jörn! . . . Elsbe hat geschrieben! Jörn! Elsbe hat nach dem Heeshof geschrieben. Sie kommt von Amerika herüber. Thieß ist schon hier; er wohnt in seiner alten Stube und rennt nach jedem Schiffe, das von drüben kommt. Laß mich los, Jörn! . . . Ich höre seinen Schritt . . . Siehst du: da ist unser kleiner Junge!«
»Junge, Vater! Da hätte ich beinahe einen Schreck gekriegt! Du bist das?«
485 »Ja, ich bin das!« sagte Jörn Uhl, und kniete schon, und streichelte seinem Kinde das helle Haar, und sah ihm in die blanken Augen.
»Nein doch, Vater! Was sagst du nun bloß dazu, daß ich hier in die Schule gehe! Lisbeth hat mich einfach hingebracht! Drin war ich! . . . Bleibst du nun bei uns?«
»Ja . . . immer.«
»Was ist dein Bart hell, Vater! Ganz wie der Roggen, den wir zuletzt unter Ringelshörn hatten. Weißt du noch? . . . Vater, gehen wir nach der Uhl oder zu Thieß? Lisbeth sagt, zu Thieß.«
»Die Uhl gehört uns nicht mehr; wir gehen erst 'mal nach dem Heeshof. Du, Lisbeth . . . sage es ihm . . . ich weiß nicht, wie ich es anfangen soll . . .«
Da kniete auch Lisbeth Junker vor dem kleinen Jungen und sagte mit lächelndem Munde: »Du, Prinz, . . . weißt du 'was? Ich möchte wohl sehr gern mit euch beiden nach dem Heeshof; aber ich will dir 'was sagen: ich will bloß unter einer Bedingung mit euch gehen. Ich mag es nicht gern haben, daß du ›Lisbeth‹ zu mir sagst, ich mag lieber hören, wenn du ›Mutter‹ sagst. Und dein Vater . . . der soll ›meine liebe Frau‹ zu mir sagen. Wollt ihr das? Sonst will ich nicht mit euch gehen.«
Da machte der Kleine die Schelmenaugen, die er von Lena Tarn hatte, und sah seinen Vater an. »Was meinst du, Vater? Wollen wir das? . . . Na, denn komm her!«
Und er warf seine Arme um seine Mutter.
* * *
Fünfzig schwärzliche, staubige Schauerleute haben die Szene beobachtet und haben ihren Frauen zu Hause lachend davon erzählt. Sie waren aus den Dampfbooten gestiegen 486 und zogen die Quaistraße entlang, zu Mittag zu essen. Jeder hatte sein Trinkgeschirr an der Seite, und jeder hatte es eilig. Da kam ihnen, vom Kohlhöfenquai her, wo, wie jedermann weiß, die Torfschiffe von Burg und Kuden anlegen, ein kleiner Mann entgegen, welchen die meisten von ihnen seit Jahren schon von Zeit zu Zeit in den Hafenstraßen gesehen hatten. Er trug einen Torfsack auf dem Rücken, und ging gebückt, und hatte ein schmales, braunes Gesicht und rasche, blinkernde Augen, die flogen und suchten wie Schwalben, die zwischen Bäumen im Garten fliegen, in dem Haufen von wandelnden Menschen. Und plötzlich sahen sie einen.
Er nahm keine Rücksicht. Er ließ den Sack seitwärts zur Erde gleiten und schrie laut und klagend: »Fiete! Mein Fiete! Fiete Krey! Heh da! . . . Der Mann da! Mit dem grauen Regenrock!«
Es gab ein Aufsehen, Stillstehen, Leben und Lachen. Viele wollten ihm helfen.
»Heh da, Fiete! Fiete! Fiete Krey, dreh dich 'mal um, du! Du sollst dem Alten den Torfsack tragen.«
Da drehte der Mann, der den grauen Regenrock trug, sich um und sah erstaunt alle die lachenden Gesichter auf sich gerichtet. »Seid ihr verrückt geworden,« sagte er, »oder bin ich es?«
»Hierher, Fiete! Sperr' die Augen auf! Der Alte da mit dem Torfsack!«
Das Wort »Torfsack« fiel als eine geworfene Leine über Fiete Kreys Seele und fing sie. Seine Augen irrten durch die Menge und sahen den kleinen Mann, der mit der einen Hand den Sack festhielt, an dem zwei Straßenjungen zogen und zerrten, und die andere sprachlos nach ihm ausreckte, als 487 wollte er ihn greifen. Die Sprache war dem Heesebauern vergangen.
Da lief Fiete Krey auf ihn zu. Auch er nahm keine Rücksicht. Nein, er nahm keine Rücksicht. Er streichelte dem zitternden Alten die Wange und setzte ihm den Hut wieder auf, der auf der Straße lag, und schüttelte immerfort den Kopf: »Ach, du alter Thieß! Daß du mich gerade sahst! Kannst nicht gehen? Ist es dir in die Kniee geschossen? Komm, setz' dich auf den Sack!« und kehrte sich um und sagte zu den Leuten, die im dichten Kreise um sie standen: »Gentlemen,« sagte er, »dies ist Thieß Thiessen, Torfbauer achter der Heese; und einem krumm und schief getrockneten Torfsoden sieht er in diesem Augenblick ähnlich. Ich aber bin Fiete Krey, wie ihr schon wißt. Ich habe, als ich ein Junge war, mit diesem Manne in Handelsbeziehung gestanden, indem ich ihm mit Hundefuhrwerk Bürstenwaren und Heidebesen, bush and grease, vors Haus fuhr. Aus diesen Besuchen entstand eine Freundschaft, die nicht gerostet ist, wie ihr seht, obgleich ich inzwischen fünfzehn Jahre drüben war. Wenn diese Daten ihnen genügen, haben wir nichts dagegen, daß sie nunmehr zu ihren mittäglichen Kochtöpfen gehen . . . Geht's jetzt, Thieß? . . . Geht's noch nicht, Alter? . . . So sitzen wir noch ein wenig. Wir sammeln nicht, Leute! Bleibt ruhig stehen und seht uns an.«
Er setzte sich auf das andere Ende des Torfsackes, und die Leute verliefen sich.
»Fiete, hast du sie mitgebracht?«
»Es ist eine unglaubliche Eselei von mir, Thieß.«
»Sag' es mir, mein Junge.«
»Ich sah sie an Bord meines Dampfers. Plötzlich sah ich sie. Sie fuhr Zwischendeck; Kajüte wollte sie nicht.«
»Ist sie allein?«
488 »Sie hat ein Mädchen bei sich, ein kleines Ding von sechs Jahren, ebenso klein und dunkel und mager und schüchtern wie sie.«
»Ach Gott, ach Gott . . . Wo ist sie? Wo hast du sie?«
Da schlug Fiete Krey mit der Faust auf den Torfsack und sagte: »Als wir landeten, hatte ich die Augen überall. Überall hatte ich sie. Das ist die verdammte Eigenschaft der Kreien. Da habe ich sie aus dem Gesicht verloren. Sie hat sich davon geschlichen.«
Thieß Thiessen sprang auf. Er drückte die Kniee durch, so gut es ging. Ganz steil stand er. »Wir wollen sie suchen . . . die ganze Nacht. Die ganze Nacht. Wir wollen in die Wirtschaften gehen und nach der Polizei. Ein kleines Mädchen mit einem kleinen Kinde.«
Fiete Krey warf den Sack auf die Schulter und sagte kleinlaut: »Es wird schwer halten, sie hier zu finden. Sie hat mir versprochen, sie wollte mit mir nach dem Heeshof gehen. Darauf müssen wir hoffen.« 489