Gustav Frenssen
Jörn Uhl
Gustav Frenssen

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Vierundzwanzigstes Kapitel

Wenn über dem jungen Wald, der in Schnee und hartem Frost liegt, der Westwind anhebt sanft zu wehen, dann beginnt es in den Tannen von oben bis unten leise zu knattern und zu splittern: es will sich nicht biegen, es muß brechen. Aber die weichen Lüfte schmiegen und schmeicheln um all die Eiskrystalle, gleiten und streicheln. Und wie es geht: Das Weiche siegt zuletzt überall auf der Erde. Die Liebe siegt. Das Klingen und Klirren und Waffengerassel hört auf. Die Eiskrystalle lassen die blanken Lanzen fallen; es schmelzen ihre Harnische; es laufen ihnen die Augen über; sie sinken der weichen Luft in die Arme. Wenn einer nun durch den Wald geht, hört er, wie es gleitet und fällt, und wie es im Träumen leise und eintönig redet.

Schön ist es zu sehen und zu hören, wenn der Wald auftaut. Schöner noch ist es, dabei zu sein, wenn ein Mensch auftaut.

Thieß Thiessen stand am anderen Tage nachmittags an Jörn Uhls Bett und sagte: »Du wirfst dich mit gutem Erfolg auf die Thiessensche Seite, Jörn. Du hast jetzt achtzehn Stunden geschlafen.«

413 »Wo ist der Kleine?« fragte er.

Der kam schon an: »Vater,« sagte er, »du hast geschlafen wie 'n Maulwurf. Ich bin schon zehnmal an deinem Bett gewesen, siebenmal allein und dreimal mit Thieß.«

»Siehst du,« sagte Thieß, »von allen Seiten lebhafte Anerkennung! . . . Ich bin heute morgen schon nach Sankt Mariendonn gefahren. Der Schmied hatte den letzten Spaten noch nicht bezahlt bekommen; ich habe ihm einen Thaler gegeben.«

Jörn Uhl richtete sich auf: »Den kann ich dir nicht wiedergeben.«

»Fängst du schon wieder an zu sorgen?«

Da warf er sich wieder hin und lachte: »Ich werde mich hüten. Alles in Sicherheit! Der Vater und die Uhl, dieser kleine Junge und Wieten! Und keine Schulden und kein unfreundlich Gesicht! Alles einfach, ganz einfach. So einfach wie ein Stück Schwarzbrot! Du mußt uns vorläufig hier behalten.«

»Das ist klar: Ihr bleibt hier, und wir sind gemütlich miteinander und warten den Rest ab.«

»Ich danke dir, Thieß. Ich will mich besinnen und dann sehen, was ich beginne.«

Am anderen Morgen ging er zu Fuß nach Sankt Mariendonn zum Amtsvorsteher und beredete mit dem ruhigen und verständigen Manne seine Lage und sagte, daß er den Hof nicht wieder anfassen wolle. Wenn der Weißkopf den Hof für die Schulden nicht übernehmen wolle, so möge der Bankerott erklärt werden. Er wolle keinen Pfennig haben; aber er wolle auch keine Schulden in sein neues Leben hinein nehmen. Er hätte lange genug schwere Sorgen und Schulden getragen; es sei ihm zehn Jahre lang gewesen, als hätte er Schweres auf dem Gewissen, als hätte er ein Brett 414 vor der Brust gehabt, auf dem groß und deutlich stände: »Dieser Mensch hat viele Schulden.« Wie verdammt und verflucht sei er sich vorgekommen. Nun aber sei ihm leicht und froh ums Herz.

Der Amtsvorsteher lächelte über diesen Jörn Uhl, mit dem sich sonst kaum ein Wort hatte reden lassen, der aber nun, da seine Sache ganz verloren war, so frei und selbstbewußt redete, und sprach die Hoffnung aus, daß ein freihändiger Verkauf zu stande käme, das Land wäre ja in hoher Kultur und gutem Stande. Zuletzt beredeten sie noch, daß Jörn Uhl, gegen Bürgschaft von Thieß Thiessen, zwei von seinen Pferden behalte, Paßpferde, an denen Lena Tarn, als sie Fohlen waren, noch ihre helle Freude gehabt hatte, jetzt hohe, achtjährige, fehlerlose Wallache, holsteinische Marschrasse.

Als er wieder auf der Dorfstraße stand, nickte er fröhlich bei sich selbst und schwang den gelben Eichenstock und rührte im Gehen das Lindenlaub auf, das dicht die Straße bedeckte. Als er von fern, unter Büschen und Linden fast versteckt, das Schulhaus sah, suchte er das Fenster, hinter dem er einst Englisch getrieben hatte und den Garten und dachte: »Lisbeth Junker wird auch bald wiederkommen. Die wird sich wundern, daß die Uhl nicht mehr steht, und daß wir davongezogen sind. War doch nett von ihr: Jeden Sommer, wenn sie im Schulhaus besuchte, kam sie nach der Uhl. Ein mächtig feines Mädchen! Und schmuck wie immer!«

Er kam näher und sah über die Planke. Der ganze Garten war voll bunter Lichter und starker, lustiger Farben. Die Weinlaube an der Wand flimmerte und leuchtete in der hellen Oktobersonne. Ein leiser Wind wühlte rote, grüne und gelbe Farben im Sonnenlicht durcheinander. Und doch entdeckte er in all der bunten Pracht, mitten in dem 415 bunten Weinlaub, einen besonderen Fleck, der in all dem ruhevollen Spiel unruhig auf und nieder fuhr. Dem Mädchen, das im Wein saß und Bohnen ausmachte, war etwas in den Nacken geflogen, und nun wußte es nicht, ob es ein Blatt oder eine Raupe war; und sie stand und schüttelte sich, und das Licht sprang lustig über ihr helles Haar und um ihre Augen.

»Warte!« sagte Jörn Uhl, »ich will dir helfen.«

Und ehe sie sich's versah, stand er über ihr gebeugt und sagte: »Es ist nichts zu sehen als lauter krauses, helles Haar.«

Sie sah ihn mit verwunderten und strahlenden Augen an. »O, Jürgen!« sagte sie, »wie hast du mich erschreckt! Und wie freue ich mich, daß du so gut aussiehst! . . . Du armer Junge! Nun hast du auch deinen Vater verloren, und die ganze Uhl ist abgebrannt.«

Er nickte: »Davon wollen wir nicht reden,« sagte er. »Das liegt dahinten! Da ganz weit hinten! Ich freue mich, daß ich dich gerade noch sah. Wie lange bist du schon hier?«

»Seit gestern abend. Ich wollte nur die Bohnen besorgen, dann wollte ich nach der Uhl hinübergehen und sehen, ob ich dich und den Kleinen wohl treffen könnte. Wie geht es dir, Jürgen?«

Da erzählte er bedächtig von Bruder und Vater, und von den Mäusen im Weizen und von dem Feuer, und was er mit dem Amtsvorsteher beredet hätte. Und sie bedauerte ihn mit guten Worten.

»Was ich nun anfange,« sagte er, »das weiß ich nicht.«

»Ach,« sagte sie, »Jürgen, es findet sich ja leicht etwas für dich. Du kannst und magst arbeiten. Und du bist so klug! Da mach' dir man keine Sorgen.«

Die Sonne machte sich lustig in Laub und Zweigwerk, 416 warf Schatten und Licht, Feuer und Farbe überall hin und auf die beiden.

Es wunderte ihn, daß sie so von ihm sprach. Sie hatte doch nicht bloß Mitleid mit ihm. Sie achtete ihn! Mächtig gefiel ihm das. So 'n feines, vornehmes Mädchen! »Nein,« sagte er, »mir ist nicht bange vor der Zukunft. Es wird sich schon 'was finden. Ich will viele Wochen, vielleicht den ganzen Winter durch, so sorgenlos hinleben, und dann will ich mich entscheiden.«

»Das ist recht,« sagte sie . . . »Weißt du 'was, Jürgen? Komm in der Zeit 'mal nach Hamburg! Ich zeige dir die ganze Stadt, alles, was sehenswert ist. Den Kleinen bringst du mit. Du hast bisher nichts als Mühe und Arbeit kennen gelernt. Man zu!«

Da wurde er ganz ausgelassen. »Soll ich dir 'mal 'was sagen? . . .«

»Sag' es, Jürgen!«

»Wenn du es daran wenden willst, und wenn es dir gut genug ist . . . wir sind da sehr einfache Leute . . .«

»Sag' es doch, Jürgen!« Sie sah ihn voll froher Erwartung mit großen Augen an.

»Ich weiß nicht, ob ich es dir anbieten soll, wenn du uns da auf dem Heeshof besuchen magst: wir haben beide nichts zu thun. Wir drei, du und der Junge und ich, wir könnten den ganzen Tag thun und treiben, was wir wollten.«

»Nein doch, Jürgen!«

»Und dann, wenn du magst, könntest du auch 'mal mit mir ausfahren. Ich wollte gern einen Kriegskameraden besuchen, der in der Gegend von Burg wohnt. Ich meine, wenn dir das Spaß macht . . .«

Ihre Augen blitzten in klarem Wasser: »Jürgen,« sagte sie, »furchtbar gern thu' ich das! Wenn es dir 417 wirklich und wahrhaftig lieb ist, daß ich komme, dann komme ich zu gern.«

Er staunte über ihre Freude und wurde noch froher und sagte: »Nein! Wie du dich freust! Das hatte ich nicht gedacht. Wenn es dir man nicht zu einfach ist! Die Schinken sind sicher vom vorigen Jahre, und die Klöße sind von Buchweizen, und wie es mit der Schlafgelegenheit wird, das ist mir nicht ganz klar.«

»Ach,« sagte sie, »das ist ja alles so gleichgültig. Ach, wie ich mich freue! Weißt du, daß du manchmal gar nicht gut mit mir gewesen bist, wenn ich zu dir auf die Uhl kam? So kurz warst du und so gleichgültig. Als wenn es dir ganz einerlei war, wie es mir ginge und was ich für Gedanken hätte, und ob ich auch in Sorgen wäre. Du warst doch mein guter Kamerad gewesen, als wir Kinder waren? Ich habe geweint darum!«

»Du?« sagte er . . . »du hast geweint? Darum? . . . Lisbeth! Ich dachte, es wäre jedesmal so 'was wie ein Höflichkeitsbesuch! Ich meinte, du wolltest mir dein Mitleid bringen. Und du wolltest dir 'was von mir holen? Nein doch! Von mir? Deern, wie gerne hätte ich alles mit dir besprochen! Wenn ich das bloß gewußt hätte! Aber ich saß in Gram und Sorgen und hatte Spinneweb vor den Augen. Ich habe immer gemeint, du wärst in Glanz und Glück.«

»Ach, Jürgen. Ich in Glück!«

»Wenn du wirklich so zu mir stehst, Lisbeth, daß du 'was von mir willst, daß ich dir mit irgend etwas helfen kann . . . dann . . . wahrhaftig . . . Lisbeth . . . wo ich auch bin und bleibe . . . ich will dich aufsuchen, und in jeder Not sollst du dich auf mich verlassen.«

»Nein,« sagte sie und schlug die Hände zusammen. »Wie freue ich mich, daß du so fröhlich bist und so mit mir redest.«

418 Er lachte stolz und glücklich und sagte: »Das wird ein Spaß morgen. Thieß hat morgen vormittag hier zu thun und holt dich ab. Der Kleine und ich legen uns irgendwo am Waldrand im Hinterhalt und fangen euch ab. Wir lassen Thieß laufen: aber du mußt gleich mit uns quer durch die Heese. Ich will dem Jungen die großen Steine zeigen, weißt du? . . . welche die Hexe geworfen hat. Weißt du noch? Hände wie 'ne Schlachtermulde!«

Sie schlug die Hände zusammen: »Nein,« sagte sie, »ich kann und kann dir nicht sagen, wie ich mich über dich freue, daß du so fröhlich und herzlich bist!« Die Thränen standen ihr in den Augen.

Er nickte ihr zu und sagte schelmisch: »Du hast noch immer dieselbe hohe Stimme wie damals.«

Sie lachte. »Sei man still,« sagte sie, »bei dir werden in diesen Tagen auch allerlei alte Fehler zu Tage kommen.«

»Hatte ich welche?«

»Welche Einbildung! Du warst zuweilen nicht bei der Sache, und zuweilen warst du hitzig. Und zuweilen . . . zuweilen kehrtest du den Uhl heraus.« Sie schlug sich mit der Hand gegen die Brust, wie ein Prahler thut.

»So!« sagte er. »Also so war ich! Wie du warst, darüber will ich nun nachdenken, wenn ich über die Heide gehe. Ich muß nun gehen. Es hat mir gut gethan, Lisbeth. Ich hätte nicht gedacht, daß du ein so schlichtes Menschenkind bist.«

»Und ich nicht, daß du heute so fröhlich und freundlich sein würdest.«

»Du! Das macht, daß ich keine Sorgen habe. Früher hatte ich lauter schwere Gedanken, die gingen einher wie Müllerknechte; jetzt aber sind sie Herrenleute geworden, gehen im Sonntagsstaat spazieren und sehen nach den 419 Mädchen, die unterm Weinlaub sitzen. Nun also! Auf morgen, Lisbeth!«

»Grüß den kleinen Jürgen!«

Er schüttelte ihr die Hand und nickte und grüßte und ging davon. Sie sah ihm nach, bis er verschwunden war. Dann sammelte sie lächelnd und gedankenvoll mit Bedacht die Bohnen auf. Als sie aber noch nicht damit fertig war – flog ihr wieder etwas in den Nacken? –, schüttelte sie sich und rief: »Marie, Marie!« Die Freundin kam herausgelaufen, ihr Kind auf dem Arm, und fragte, was da wäre. Da sagte sie: »Ach du . . . weißt du, wer hier gewesen ist? Wer hier gesessen hat? Hier auf der Bank? Und hat ganz vergnügt mit mir geplaudert?«

»Ist nicht möglich! . . . Jörn Uhl?«

Da nickte die andere, die Hellhaarige, und lachte und lief ins Haus.

* * *

Am anderen Tage saß sie richtig neben Thieß auf dem Wagen, und es sah aus, als wenn ein schöner, junger Rosenbusch neben einem kleinen, dürren Wacholderlein steht. Und Thieß lachte übers ganze Gesicht, als Jörn Uhl und der Kleine da richtig am Waldrand standen.

Sie wollte nicht herunterspringen; er hielt die Arme so hoch und machte ein so finsteres Gesicht. Aber zuletzt wagte sie es.

Sie lief aber gleich mit dem Kleinen davon, gerade nach dem Heeshof zu, und befaßte sich nur mit ihm, als wenn sie nach dem Heeshof gekommen wäre, wie früher nach der Uhl, »nur um nach dem Jungen zu sehen«. So trieb sie es den ganzen Tag. Er war indes mit Thieß nach dem Moor geschlendert, um nach dem Torf zu sehen. Als er heimkam, 420 fand er sie noch mit dem Jungen spielend. Sie sprangen hin und her über einen Graben und schienen unendlich großes Vergnügen daran zu finden. Als er auf sie zukam, sagte sie zu dem Kleinen: »So, nun habe ich keine Zeit mehr, nun muß ich Wieten helfen.« Und lief ins Haus, wie ein Wiesel in sein Loch am Wall.

Eine Stunde später, als er ihr auf der Vordiele begegnete, und sie gerade ein Tuch um den Kopf band und sagte, sie wolle nun noch mit Wieten zusammen die Wände der Küche abfegen, welche liederlich aussähen, da wurde es ihm zu bunt. Er faßte sie in guter Laune an, drehte sie in seinem Arme um, knotete Tuch und Schürze bedächtig auf, warf beides in die Ecke und sagte: »Wir gehen zusammen nach der Heese.«

»Der Kleine soll mit.«

»Der Kleine bleibt hier.«

Sie verzog ein wenig das Gesicht und meinte, es wäre eine starke Zumutung, daß sie thun sollte, was ihm beliebte.

»Willst du einen Hut aufsetzen?«

»Nein, aber ich will mich etwas wärmer anziehen.«

Sie holte ihr schlichtes, schwarzes Jackett und hielt es ihm hin. Er stellte den Stock an die Wand und sagte: »Nun sage mir, was ich thun soll.«

»Stell' dich nicht an: du kannst doch ein Jackett halten, das man anziehen will?«

»Das habe ich nie gethan, weder bei Mannsleuten noch bei Frauensleuten . . . Was ist das für ein feines Ding! . . . Ist das mit Seide gefüttert? Hab' ich all mein Lebtag nicht gesehen! Na, denn man zu!«

Sie hatte es nun zwar angezogen, aber es saß noch nicht. Sie wand sich und reckte die Arme und versuchte, die 421 weiten und bequemen Ärmel des wollenen Hauskleides im Jackett unterzubringen; aber es wollte nicht gelingen.

»Komm 'mal her,« sagte er, »ich will dir helfen.«

Sie drehte sich einmal rund um . . . »Nein, nein . . . es geht schon.«

»Siehst du,« sagte er, »du bist noch immer so, wie du als Kind warst! Immer: Rühr' mich nicht an! Immer stolz! Da kann kein Uhl dagegen an!«

»Jürgen!« sagte sie, und ihre Augen waren gerade und vorwurfsvoll auf ihn gerichtet, und ihre Stimme war hoch und fein: »Ich bin nur still und zurückhaltend, weiter nichts. Wenn du in mich hineinsehen könntest, würdest du anders denken.«

»Na,« sagte er, »nun sei man nicht böse. Ich habe aber immer den Eindruck gehabt, daß du viel zu fein wärest, mit mir Umgang zu haben. Und das ist, neben meiner traurigen Lage, der Grund gewesen, daß ich in den letzten Jahren so zurückhaltend gewesen bin.«

Sie sah ihn schelmisch an und sagte: »Sag' doch 'mal, Jürgen, was ist denn so fein an mir?«

Er wurde verlegen und versteckte seine Unsicherheit hinter einer wichtigen Miene. »Na,« sagte er, »da ist erst 'mal deine Gestalt, weißt du: wie die junge Linde, welche an der Ecke des Schulhauses steht, an der Gartenpforte. Deine ganze Gestalt und Haltung hat so etwas Frisches, Aufstrebendes, weißt du.«

Sie zog an ihrem Jackett und lachte und sagte: »Weiter, das mag ich gerne hören.«

»Ja, und dein Gesicht, als wenn dieser wunderschöne, sonnige Tag es heute morgen erst gemacht hätte. Und Augen, die immer so bitter ernst sind; ganz abgesehen davon, daß du sie noch besonders im Kopf zurecht stellst, wenn du mich ansiehst.«

422 »Nein doch, Jürgen!«

»Und wenn du redest, machst du mit deinem Mund so viel Umstände, daß man schon gern hinsieht, um dies Manöver zu sehen. Dein Mund ist breiter und ruhiger geworden.«

»Na, bist du nun fertig?«

»Weißt du noch,« sagte er, »daß du Fiete Krey niemals die Hand geben wolltest, wenn wir euch über den Wall helfen wollten? Dann standest du da! Hinunterrutschen ging nicht! Das Kleid wäre ja schmutzig geworden! Auch hätte es nicht gut ausgesehen! Dann riefst du: ›Jürgen! Jürgen!‹ Ich hör' noch deine Stimme vom Wall herab. Siehst du, so warst du!«

»Und warum das? Weil Fiete Krey nicht allzu reinliche Hände hatte. Das weißt du!«

»Ja, Kind, was ist denn nun aus meinen Händen geworden! Was haben die alles anfassen müssen! Der Bruder lag auf der Diele, da . . . ach, ich will nicht daran denken. Du bist zu gut für das alles, Lisbeth.«

»Gieb 'mal her,« sagte sie. Und ehe er merkte, was sie wollte, hatte sie seine Hand ergriffen und an ihre Wange gelegt. »So denke ich,« sagte sie.

Da zuckte es ihm durch den Körper. Er hielt ihre Hand fest und sagte mühsam: »Du bist mein lieber, kleiner Spielkamerad.«

Sie waren bis zum Waldrand hinauf gekommen, und er zeigte ihr eine Stelle, wo der Abhang des Walles, so lang wie ein Mensch ist, mit schönem, dichtem Moose belegt war. »Willst dich hier ein wenig niedersetzen?«

Sie that es zu seiner Verwunderung.

»Hier,« sagte sie, »haben wir einmal alle vier gelegen.«

»Wo sind die beiden anderen?« sagte er.

423 Sie strich mit der Hand über das Moos an ihrer Seite, und wollte etwas sagen und sah vor sich nieder. Dann sagte sie: »Es läßt mir keine Ruhe, Jürgen: du sollst richtig über mich denken. Ich bin weder hochmütig noch sipp. Sieh 'mal, Jürgen, du erinnerst unser Zusammentreffen im Apfelgarten: es war eine komische Geschichte. Du warst natürlich und verständig, und ich benahm mich lächerlich. Warum ich nachher auf dem Ball nicht mit dir tanzen wollte, das weißt du ganz gut, Jürgen; und darüber hast du vielleicht bald anders und richtiger gedacht, als du damals dachtest. Daß ich aber dann mit Elsbe wenig verkehrte: sieh, Jürgen, ich weiß, wie treu und lieb ihr Herz war, und klug war sie auch. Als sie noch ein ganz junges Ding war, sah sie merkwürdig klar und nüchtern ins Leben, während ich eine Zeitlang ein verbildetes, thörichtes Ding war. Sie schwärmte nicht und redete nicht über Dinge, welche des Ansehens nicht wert sind, über Gardinenspitzen, Jürgen, und dergleichen Dinge, sondern sie sah auf das Wirkliche und Wahre. Sie war darin deine rechte Schwester, Jürgen . . . Aber, du hast es nicht erfahren, wie schlimm es um sie stand. Du weißt nicht, daß sie, als du Soldat warst, in der Nacht aufgestanden ist und sich durchs dunkle Dorf zu mir ans Fenster geschlichen und die halbe Nacht bei mir zugebracht hat. Dann weinte sie bitterlich und klagte über ihre Unruhe. Wenn dann im Winter die Bälle kamen, war sie so wild und ausgelassen, daß sie Aufsehen machte.«

Sie atmete tief auf und wagte nicht, zu ihm aufzusehen.

»Siehst du, Jürgen, ich bin von diesem nicht frei. Ich bin nicht stumm und dumm, hart und gleichgültig; aber ich habe es in meiner innersten Seele verschlossen, es ist in meiner Seele das Allergeheimste, dies und die Religion.«

»Sind das nicht zwei verschiedene Dinge?«

424 »Ich meine nicht, Jürgen. Sind sie nicht wie Bruder und Schwester? Du hast hoffentlich nicht die Meinung, daß die Religion von Gott ist und die Natur vom Teufel; sondern sie sind beide von Gott, und sollen bei einander wohnen und sich gegenseitig dienen.«

Sie fuhr mit der Hand wieder leicht über das Moos. »Sieh, das ist der Stolz, von dem du redest: Ich wohne in einem feinen Hause, die Wände sind sauber weiß angestrichen, und die Fenster sind blitzblank und nicht allzu hoch und ein wenig Vorhänge davor. Aber wenn man nun meinte, da wohnt sicher eine alte, fromme Jungfer . . . du weißt, Jürgen, von jener lämmerigen Frömmigkeit . . . dann irrt man sich. In meiner sauberen Stube, hinter den Vorhängen, singe ich oft, und lache laut und tanze, und manchmal werfe ich mich längelang auf den Teppich, und weine mich satt und weiß nicht, warum ich das alles thue.«

Er sah mit blanken Augen auf sie nieder. Die Bäume hinter ihr hatten sich ein wenig zu ihr hinübergebeugt, um alles zu hören, und die Abendsonne rollte goldene Kugeln über das Moos. Er war mitten in einem Märchen und wußte es nicht.

»Es ist mir sonderbar mit dir ergangen,« sagte er. »Gestern bin ich zu dir gekommen, und heute kommst du zu mir.«

Nun sah sie zum erstenmal zu ihm auf: »Wenn du willst, Jürgen, wollen wir nun wieder rechte Freunde werden und es bleiben, so lange wir leben.«

Da stieß er seinen Stock in die Erde und sagte: »Größeres kann mir nicht geschenkt werden, Lisbeth, als ein Mensch, mit dem ich alles bereden mag. Das habe ich nicht gehabt, seit Fiete Krey hinter Ringelshörn verschwand und Lena Tarn sich zum Sterben zurecht legte. Ich bin 425 einsam gewesen, einsam; und in der Einsamkeit bin ich wunderlich und starr geworden.«

»Aber nun taust du auf, Jürgen. Nun knüpfst du da wieder an, wo du als Junge warst. Du bist noch jung genug dazu. Wie warst du drollig! So wichtig warst du immer, so ernst! Das hattest du vom Heeshof.«

»Nun,« sagte er, »komm. Wir wollen nach Hause und es morgen weiter bereden. Morgen wollen wir beraten, was ich anfangen soll. Bist du mein Kamerad, mußt du mir auch darin beistehen.«

»Weißt du was?« sagte sie. »Es kann sein, daß du in der nächsten Zeit nicht gut für deinen Kleinen sorgen kannst. Hier kannst du ihn nicht gut lassen; der Schulweg ist so weit. Wenn du ihn mir mitgeben wolltest, Jürgen? Wir haben da so gute Schulen, und ich . . . ich habe am Sterbebette seiner Mutter gestanden.«

»Das wolltest du?« 426

 


 


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