Gustav Frenssen
Jörn Uhl
Gustav Frenssen

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Sechstes Kapitel

Beim Fohlenstall, nicht weit von der Außenthür, stand eine alte Bauernlade als Futterkiste. Sie war aus Eichenholz gearbeitet und zeigte Formen in schlichter, edler Schnitzerei, links den verlorenen Sohn, im Begriff, in reicher Kleidung und mit schwerem Geldbeutel seinen Vater, der vor der Hausthür steht, zu verlassen, rechts denselben Sohn, wie er in Lumpen heimkommt. Über den Bildern stand, von dem eisernen Schlüsselschild in zwei Teile geteilt, der Satz: »Der Segen des Herrn machet reich ohne Mühe.« Unten stand: »Klawes Uhl 1624.«

Sie war vor dreihundert Jahren im Haushalt des Klaus Uhl das Haupt- und Staatsstück gewesen, aber später war die Zeit reicher und der Geschmack schlechter geworden. Sie war hübsch übermalt worden, einmal übers andere, bis der feine Ausdruck der Figuren verschwunden war, und war zuletzt in Verachtung gefallen und eine Futterkiste geworden. Da sie nun aber als solche nicht mehr angestrichen wurde, fiel hier und da die dicke Farbenlage ab, und das graue, feste Holz kam wieder zum Vorschein. Kein Mensch ahnte, daß etwas an ihr war.

101 Wenn diese alte, niedrige Lade erzählen könnte! Herz hat sie ja, die so lange unter Menschen lebte! Aber sie hat keinen Mund. Auf dieser Lade sitzend, haben die Kinder von Wentorf die zwei Jahre lang, die Fiete Krey nach seiner Konfirmation als Dienstjunge auf der Uhl war, schwere und starke Lebenspläne geschmiedet. Die hellen Kinderstimmen und das Lachen klang durch den Stall auf die Hofstelle hinaus, wie heller, klarer Hammerschlag am Schmiedefeuer.

»Fiete, komm her!« sagten die Kinder. »Hier ist das Vesperbrot.« Jörn legte das Buch auf die Lade, den Stapel Brot daneben und setzte sich hin. Elsbe saß schon da und baumelte ungeduldig mit den Füßen. Fiete stellte den Stalleimer hin und setzte sich mit einem Schwung daneben: »All right!« sagte er. Er schnappte immer etwas auf, sowie ihm ein Wort gefiel.

»Das ist nun abgemacht,« sagte Jörn; »wenn ich jetzt vom Hause fortgehe, dann mußt du hier bleiben und mußt auf den Kram passen. Sonst will ich nicht Landvogt werden.«

»Ja, ja!« sagte Fiete, langsam und bedächtig, mit männlichem Brustton: »Ich habe mich schwer dazu entschlossen; aber ich will es thun; ich will hier bleiben. Früher hatte ich ja allerlei Graupen im Kopf, besonders Kalifornien hat mir lange in den Gliedern gelegen; aber mit den Jahren kommt auch der Verstand. Genug, ich bleibe hier.«

»Du bleibst hier noch einige Jahre als Knecht,« sagte Jörn, »nachher wird dein Vater auch bald alt. Dann ziehst du zu ihnen und nimmst dir eine Frau und bist hier Tagelöhner und sorgst für den ganzen Hof. Den Bürsten- und Besenhandel mußt du nicht anfangen; du mußt nichts weiter thun, als für die Uhl sorgen und arbeiten. Weißt du schon eine Frau?«

102 »Kommt Zeit, kommt Rat,« sagte Fiete Krey. »Frauensleute genug in der Welt!«

Sie aßen eine Weile und tranken abwechselnd aus der braunen Schüssel, die zwischen ihnen stand, die frische Buttermilch.

»Wenn du man bloß erst auf der Schule wärst!« sagte Elsbe und schlug mit den Hacken ungeduldig gegen den verlorenen Sohn.

»Ich will es schon fertig kriegen,« sagte Jörn und schüttelte die Faust und nickte ernst mit dem Kopfe. »Ich freue mich so darauf! Landmann möchte ich nicht werden, ganz und gar nicht. Aber in den Büchern möchte ich arbeiten, immerzu. Es ist bloß das eine bitterböse Bedenken: wenn hier nur alles in Ordnung ist, und darum muß Fiete hier bleiben.«

Fiete wischte sich den Mund und stellte die leere Schale mit festem Aufstoß auf die Lade. »Du kannst ruhig Landvogt werden: ich bleibe hier und besorge den ganzen Kram, darauf verlasse dich.«

Jörn hatte seine Bücher schon in der Hand und ging in den Garten in Gedanken davon.

»So,« sagte Elsbe, »nun sind wir allein. Denke 'mal, du, ich habe Harro Heinsen gesehen; er ist in der dritten Klasse sitzen geblieben und will nicht wieder hin. Ich bin mit ihm über den Kirchhof gegangen. Was er mir alles erzählt hat! Ich sage dir, der ist klug.«

»Gieb dich nicht zu viel mit ihm ab,« sagte Fiete. »Du weißt, wie wir beide, du und ich, miteinander stehen.«

»Ach, ich weiß schon alles.«

»Glaubst du es nicht? Jörn wird Landvogt und ist uns nicht im Wege. August heiratet bald und bekommt einen anderen Hof. Hinrich ist jetzt schon Soldat, und Hans 103 muß im nächsten Jahre den bunten Rock anziehen; und sie sagen alle: ›Wenn der alte König stirbt, giebt es Krieg.‹ Dann wird sicher doch einer von ihnen erschossen; der andere bekommt einen fremden Hof. Wer ist dann noch übrig? Sag' 'mal, lüttje Witte, wer ist dann noch übrig? Du allein! Du ganz allein! Dann bin ich auf der Uhl Großknecht. Und dann wird dein Vater alt und sagt: ›Kinder, heiratet euch, daß ich in meinen alten Tagen meine Ruhe habe.‹ So muß es kommen, und so wird es kommen.«

Sie nickte zerstreut und fing wieder von Harro Heinsen an: »Seine Schwester ist schon Braut und ist erst achtzehn Jahre alt. Wenn ich sechs Jahre weiter bin, will ich auch Braut sein; wenn du mich dann nicht heiraten kannst, nehme ich einen anderen.«

»Laß dir nichts von Harro Heinsen vorreden, Elsbe; er ist ein dummer Junge.«

»Ah,« sagte sie und dehnte die Glieder. »Erzähl' mir lieber 'was! Harro Heinsen weiß immer so viel zu erzählen, so von den Großen, was die alles thun. Lischen Wiederhold hat am Markttag schon getanzt und ist kaum sechzehn. Geh' du doch auch 'mal zu Tanz, daß du mir 'was erzählen kannst. Ich glaube, wenn ich so weit bin: Ich tanze mich tot; ich will tanzen, bis ich umfalle. Wenn wir Mann und Frau sind, mußt du mit mir zu jedem Tanz.«

»Das will ich,« sagte Fiete Krey, »zu jedem Tanz. Das ist ohne weiteres abgemacht.«

»Die Kinder bringen wir erst zu Bett, und dann gehen wir los.«

»Das stimmt.«

Sie lachte und trommelte mit den Füßen gegen die Lade und bog sich hin und her. »Das wird ein Leben!« sagte sie.

104 »Nun geh', lüttje Witte!« sagte Fiete Krey. »Ich muß nun noch fix arbeiten. Ich muß wacker dran, daß ich bald der Erste auf dem Hofe werde.«

Als die Kleine verschwunden war, ging er, gemächlich pfeifend, nach der Häckselkammer, die durch ein kleines, hochliegendes Fenster erhellt wurde, und setzte sich weich nieder und dachte: »Die Kleine soll meine Frau werden, so wahr ich hier sitze. Aber auf der Uhl bleibe ich dann keinen Tag länger; ich fange einen großen Handel an, oder ich gehe mit ihr und ihrem Geld in die weite Welt und wohne in Hamburg und kaufe mir ein Hotel oder so etwas. Wer Geld hat, kann alles. Die dumme, kleine Deern! Na, so dumm wie Jörn ist sie nicht. Ich soll zeitlebens auf der Uhl tagelöhnern? Was für'n Einfall!«

Er schüttelte den Kopf, stand auf und nahm vom Fensterbort ein starkes, zerlesenes Buch, das irgend ein früherer Knecht in der Leutekammer hatte liegen lassen, und setzte sich wieder in den weichen Häcksel und las, was das Buch zu erzählen wußte, von schweren Sturmfluten und von den alten Germanen und vom schwarzen Tod, von Kriegen und übernatürlichen Ereignissen. Denn es war ein vielseitiges, tüchtiges Buch. Der Deckel war verloren gegangen; aber das Titelblatt war noch da, da stand: Gnomon von Klaus Harms.

Die Tiere in den Ställen fingen an, unruhig zu werden, und die Kälber schrieen nach Fütterung. Fiete Krey hatte das Buch hingelegt, saß zusammengesunken und fuhr mit allen zehn Fingern durch sein rotblondes Haar, und wälzte schwere Gedanken hin und her und sprach laut bei sich selbst und grübelte, wie er von all den vielen großen Plänen, die er hatte, den einen oder anderen ausführen konnte.

* * *

105 Klaus Uhl verbrachte die meisten Stunden im Wirtshause oder in den Bauerngesellschaften bei Witz und Politik und Kartenspiel, und in den wenigen Stunden, die er in seinem Hause war, spaßte er oder ging unruhig durchs ganze Gewese und sehnte sich nach dem Ort seiner Freude. Er hatte sich um den Unterricht seines Jüngsten nicht gekümmert und wußte nicht, wie es ihm bei der Aufnahmeprüfung gehen würde, und scheute diesen Tag. Denn nichts war ihm schrecklicher, als in eine lächerliche Lage zu kommen. Da er so in Lug und Schein dahinlebte, erschreckte es ihn, als Jörn eines Tages zu ihm sagte: »Lehrer Peters hat einen Brief bekommen, daß ich übermorgen zur Prüfung kommen soll. Die Schule fängt aber erst nach Ostern an. Soll ich nun übermorgen mit dir zur Stadt fahren?« Hans Uhl machte ein bedenklich Gesicht, dann ging schönster Sonnenschein darüber hin. »Weißt du, was ich mir schon gedacht habe? Ich habe gedacht: Thieß Thiessen soll dich hinfahren. Es wird ihm großen Spaß machen.«

Also kam am dritten Tage Thieß Thiessen mit seinem großen, alten Wagen mit den beiden gleich hohen Stühlen auf die Hofstelle gefahren und sagte: »Du mußt auf dem zweiten Stuhle sitzen, Jörn, damit du unterwegs noch nachdenken kannst. Hast deinen geistigen Kram gut beisammen, Jörn? Wir wollen den Sandweg fahren, daß nichts davon spillt. Das thue ich auch, wenn ich Backtorf zur Stadt fahre.«

»Es ist verkehrte Zeit,« sagte Wieten kurz, »dumme Reden zu halten; und wer bald fünfzig ist und noch nicht vernünftig ist, der ist zu bedauern.«

Da schwieg er und sah auf seine Pferde, während Jörn hinter ihm in den zweiten Stuhl kletterte und seine Bücher auf die eine Seite legte und auf die andere Seite zwei Buttertöpfe stellte, welche Wieten ihm hinaufreichte.

106 »Es ist ein Elend,« sagte Wieten, »daß Uhl nicht selbst mit dem Jungen losfährt. Ich weiß wohl, warum er das nicht thut.«

Jörn wußte es auch. Er fand aber diesen Tag uns seine ganze Lage sehr schwierig, bedenklich und beschämend, und fand es verständlich, daß sein Vater, der große, immer heiter lächelnde Mann, sich heute von ihm zurückzog. Später, als er ein Mann geworden war, hat er über dies Fernbleiben anders gedacht. Noch als ein Vierzigjähriger ist er im Namen seines Vaters rot geworden, wenn er sich dieser Stunde und ihrer Schmach erinnerte.

Er saß gedrückt und still gerade hinter Thieß. Trina Kühl, Fiete Kreys Liebste, stand an der Küchenthüre, und die beiden Großmädchen kamen auch heraus und lachten über Thieß und sagten über Jörn zu einander: »Es wird ihm schon gut gehen.« Sie mochten ihn alle trotz seines stillen und steifen Wesens gern leiden und bewunderten seine Liebe zu den Büchern und hielten ihn für ein großes Licht. Fiete Krey stand an der Stallthür, winkte mit der Forke und rief: »All right, Thieß!« Elsbe stand am Wagen und lachte über den hohen, schwarzbraunen Cylinder, den Thieß trug, und sagte: »Thieß, du machst alles verkehrt. Solchen Hut trägt man doch nur bei Begräbnissen.«

»Und für den Landvogt, Kind. Ich sage dir, ich besitze in diesem Hut die Urform aller Totenhüte, die zwischen Elbe und Königsau in den Läden und in den Schränken liegen. Alles, was an einem Hut rund ist, ist an diesem Hut kreisrund, und alles, was an einem Hut winklig ist, ist an diesem Hut rechtwinklig. Mein Kopf ist etwas länglich; darum muß ich ein Gummiband unters Kinn legen.«

»So,« sagte Elsbe, »nun halt man auf; nun kommst du wieder ins Tühnen hinein.«

107 »Ja,« sagte Wieten, »nun fahrt ab, damit der Lärm aufhört und wir wieder an die Arbeit kommen . . . Laß es dir gut gehen, Jörn! Mir ist, als wenn dieser Tag dir noch Gutes bringen wird. Ich weiß aber nicht . . . es ist etwas dabei.«

Als sie unterhalb Ringelshörn auf dem weichen Sandwege hinaufbogen, kam Lisbeth Junker schräge von Ringelshörn heruntergelaufen und winkte. »Thieß, halt still! Thieß, halt rasch 'mal still!«

»Was hast du denn, Prinzeß?«

»Ich wollte Jörn bloß noch 'was geben,« sagte sie. »Es geht dich nichts an.« Sie sprang zierlich auf den Tritt und drückte dem trübseligen Jörn einen großen, schönen Apfel in die Hand. »Das ist der letzte Apfel im ganzen Hause,« sagte sie, »den kriege ich immer. Aber nun sollst du ihn haben.« Sie sprang rasch wieder herunter, und trat seitwärts in die Heide zurück und hob die Hand verlegen und schelmisch und drohte ihm. »Wenn du nun erst Landvogt bist! Oha! . . . Nun fahr' man zu, Thieß!«

Sie fuhren im langsamen Trabe im tiefen Sande durch die Heide. Es war kein Triumphzug. Vorne saß Thieß und sah auf die Rücken der Pferde. In seinen kleinen, klugen Augen und in seinem kleinen, mageren Gesicht unter dem hohen, steifen Totenhut blinkte und lächelte die Weisheit, welche zu den Leiden sagt: »Ich will leise über euch lachen,« und zu den Freuden: »Ich will leise über euch weinen,« die Weisheit, welche sagt: »Das Menschenleben ist unerklärlich. Duck dich, Vögelein, und fürchte dich nicht: es ist alles in eines großen Gottes Hand.« Und dahinter saß Jörn in all seiner frischen Jugend und in all seinem Reichtum, links Buttertöpfe und rechts Wissenschaft, und sah ernstlich grübelnd vor sich hin, als ginge es das ganze 108 Leben hindurch hinter dem dunkelbraunen Totenhut her in das Grab.

Dann stieg höher und höher die alte Kirche vor ihnen auf, dann kam die Holzbrücke über die Windbergerau, und dann kamen die vielen Häuser, dicht an dicht, mit den spitzen, hellroten Ziegeldächern.

Da sie die herkömmliche Wirtschaft, in der die kleinen Torfbauern mit den eigengemachten, blauen und grauen Röcken verkehrten, in Bau fanden, mußten sie in die untere Stadt fahren und kamen in eine Wirtschaft, in der sonst nur die reichlebenden Marschbauern verkehrten.

Die beiden verweilten zwei Stunden in der großen, leeren Wirtsstube, beide in Druck und Not. Jörn stand am Fenster und sah hinaus, und Thieß ging hin und her und nippte an dem Glase Kümmel, das er bestellt hatte, und füllte seine Pfeife zweimal aus dem Tabakskasten, der nach alter Sitte zur unentgeltlichen Benutzung für jeden Gast auf der Tonbank stand. Dann gingen sie durch kleine, stille Straßen nach dem Gymnasium.

Da Thieß die Gewohnheit hatte, die aus seiner Bescheidenheit kam, niemals ein Haus durch die große Hauptthür zu betreten, sondern immer in eine Nebenthür hineinging, die entweder in die Küche oder in den Stall führte, so ging er auch jetzt in einem scheuen Bogen um die große aufgetreppte Hauptthür und fand an der Seite glücklich Eingang, welcher in die Kellerwohnung des Pedellen führte. Der war ein Schuster und saß am Schustertisch, und vor ihm stand sein Morgenkaffee, und die Morgensonne funkelte und spielte in dem blanken Eisengerät und um die Glaskugel, die darüber stand, und in jedem weißen Sandkorn, womit die weiße Diele der kleinen Stube frisch gestreut war. Ein angenehmer, frischer Geruch von Pech, Lederwerk und 109 Kaffee füllte die Stube und erfreute Thieß Thiessens vereinsamte Seele.

»Ich bringe hier einen Rekruten,« sagte er freundlich. »Rechenmeister Peters von Wentorf hat ihn vorbereitet. Das Englische versteht er. Was sonst noch nötig ist: die anderen Fremdwörter und den ganzen Stil: das will er hier lernen, und zwar will er auf den Landvogt hinaus.«

Der Schuster sah über die Brille weg und sagte: »Ich will ihn gleich hinaufbringen; sie haben schon angefangen.«

»Na, Jörn, denn mach' deine Sache gut. Du weißt, daß Mehlbeutel und Schweinskopf gute Dinge sind, dazu ein guter, wehrhafter Anzug für Sommer und Winter und ein gutes, festes Haus überm Kopf. Das alles sind gute Dinge, Jörn! Das alles wirst du zeitlebens haben, wenn du Landvogt wirst.«

Die beiden gingen ab, und Thieß setzte sich in die Sonne, stellte den Hut vorsichtig auf die Kniee und hoffte auf eine gemütliche Unterhaltung. Der Schuster kam wieder, stellte die Tasse zur Seite und fing an zu arbeiten.

»Sagen Sie 'mal, Meister, wie lange dauert denn so ein Gang durch die Schule, bis er mit allem fertig ist?«

»Ja . . . es kommt darauf an, ob der Junge von unten anfangen muß, oder ob er einige Klassen überspringt.«

»Ich denke,« sagte Thieß, »er wird einige überschlagen; denn erstens hat er schon zwei Jahre lang bei Peters Unterricht gehabt, und zweitens ist er der Sohn von Klaus Uhl.«

»Klaus Uhl von Wentorf?«

»Ja, der. Die Lehrer werden wissen, daß es dem auf ein paar Glas Grog und einige Speckseiten nicht ankommt; und mir – das wollte ich nur nebenbei sagen – kommt es auf ein Fuder guten schwarzen Backtorf auch nicht an. Ich 110 bin Thieß Thiessen. Sie sagen meistens ›Thieß achter der Heese.‹ Was meinen Sie?«

»Ja, sehen Sie, Thiessen, das ist so: Als neulich bei meinem Vetter, dem jüngsten Brudersohn von meiner Mutter . . . Sie ist eine geborene Ehnerwölsen aus Wentorf. Wissen Sie: von den Kreyen von Süderdonn?«

»Ich weiß,« sagte Thieß, »der alte Hinrick Krey! Seine zweite Frau war auf beiden Ohren taub und hörte nur, was sie hören wollte.«

»Richtig, die meine ich. Mein Vetter ist früher Schuster gewesen, jetzt ist er Fuhrmann. Na, da waren auf der Taufe vier Schuster und: was meinen Sie, wie viele davon vom Bock gefallen waren?«

»Na?«

»Alle vier. Schusterei aufgegeben, andere Arbeit angefaßt, und es ging ihnen allen gut . . . So ist es auch mit dem Gymnasium: von fünf, die hineingehen, bringt es höchstens einer zu Ende.«

»Jörn Uhl bringt es fertig!« sagte Thieß. »Er sitzt den ganzen Tag bis über die Ohren in den Büchern und hört und sieht nichts. Er hat es sich in den Kopf gesetzt: er will Landvogt werden.«

Da stand Jörn in der Thür, ein wenig blaß in dem langen, schmalen Gesicht und das helle Haar steil aufgerichtet, als wollte jedes einzelne Haar sehen, was Thieß für Augen machen würde. »Mir ist es ganz einerlei, Thieß, unten oder oben! Lernen will ich 'was!«

Thieß hielt den Hut in beiden Händen, als wartete er, daß ihm ein Groschen hineingeworfen würde. »Sie können dir hier nichts mehr beibringen?« schrie er, »geradeaus auf den Landvogt los?«

Jörn schüttelte den Kopf, daß die Sonne im Haar 111 sprang. »Es ist alles verkehrt. Latein sollte es sein . . . Wie alt sind die Jungen, die in der untersten Klasse sitzen?«

»Du wirst Flügelsmann,« sagte der Schuster.

»Siehst du, Thieß? In der untersten Klasse der allerlängste! Das kommt davon! Er ist jeden Tag in die Stadt gefahren; aber er hat nicht gefragt, ob ich Latein oder Englisch brauchte . . . Aber ich will doch Landvogt werden. Ich habe ihnen da oben gesagt, daß ich nach Ostern wiederkomme.«

»Junge, Jörn! Was soll Lisbeth sagen und Fiete Krey!«

»Einerlei! Ist mir ganz einerlei! Ich komme nach Ostern wieder, wenn die Schule anfängt. Ich will von unten anfangen und unter den Prückeln sitzen. Komm' mit!«

Thieß stand langsam auf und schüttelte den Kopf: »Junge, Jörn, was ist das eine böse Sache! Elsbe wird wieder sagen, daß alles schief geht, was ich anfange, und deine großen Brüder werden den Mund weit aufreißen und lachen. Aber was hilft das? Aus Englisch wird nicht Latein. Denn komm, Jörn!«

So zogen sie ab und kamen wieder ins Wirtshaus. Thieß trank das Glas Kümmel, das da noch halb voll auf der Tonbank stand, leer und stopfte seine Pfeife von des Wirts Tabak zum drittenmal und setzte umständlich den großen Hut auf und fragte, was er schuldig wäre. Aber der Wirt, der über die geringe Verzehrung und den großen Tabaksverbrauch halb erheitert und halb erbost war, sagte: »Du hast dich freigeraucht, Thiessen,« und wollte nichts annehmen. So fuhren sie, an Geld wenigstens ganz ungeschädigt, über die Heide zurück. Sie saßen aber diesmal dicht bei einander. Sie sprachen nicht viel, nur daß Jörn einigemal sagte: »Ist mir einerlei! Ich will es doch durchsetzen!«

112 Als sie aus der Erlenallee herausbogen und auf den Hof fuhren, kam Elsbe aus der Küchenthür mit ganz verweinten Augen und schluchzte heiß und oft auf und war so im Weinen, daß ihre Schultern auf- und niederstießen.

Wenn Thieß Thiessen ein Unglück mit ansehen mußte, geriet er in Aufregung, riß die Augen weit auf und hampelte mit Armen und Beinen. Am wenigsten konnte er Elsbe weinen sehen: »Sag' doch bloß, lüttje Witte. Was hast du? Wer hat dir 'was gethan?« Aber sie konnte nicht reden, so stark stieß es sie.

Da kam Wieten um die Ecke an den Wagen und sagte: »Denkt euch doch! Uhl kommt zufällig in den Pferdestall, da sitzen Elsbe und Fiete Krey Arm in Arm auf der Futterkiste, und Uhl hört, wie der Bengel ihr vorredet, daß er sie heiraten will, und dann will er Bauer auf der Uhl werden. Wie der Junge noch im besten Reden ist, kriegt Uhl ihn am Kragen und haut ihn durch und wirft ihn aus der Stallthür. Nun sitzt er in der Kammer und sammelt seine Siebensachen, und die Deern heult.«

Jörn starrte mit offenem Munde zu Wieten hinab: »Kommt Fiete nun weg vom Hof?«

»Selbstverständlich!« sagte Wieten, »sofort! So ein naseweiser und schlechter Mensch! Wo der doch bloß die Nücken her hat.«

Da kam Fiete Krey, seinen Sonntagsanzug im bunten Tuch unterm Arm, aus der Stallthür. »Wo ich das her habe? Von dir habe ich es.« Er brüllte laut; alle Männlichkeit war ihm vergangen. »Nun muß ich weit weg nach Hamburg! So muß ich weg, wie ich geh' und steh'! Und ich weiß nicht 'mal, wo es liegt. Du hast immer erzählt von Hans im Glück und von vielen Goldkisten und von dem Bürstenbinder, der König wurde.«

113 Thieß war vom Wagen gestiegen: »Komm herunter, Jörn, was sitzest du da! Komm, Elsbe. Nun sei man still, klein' Deern.«

Aber die riß sich los und lief auf den Weg zu Fiete Krey hinunter und faßte ihn am Arm und schrie laut: »Er soll nicht weg, er soll nicht weg! Ich hab' ihn so lieb, ich hab' ihn so lieb!«

Aber Fiete Krey schob sie von sich und brüllte wieder und jammerte: »Ihr sollt sehen . . . ich werde wiederkommen, und dann will ich hier auf der Uhl wohnen. Eine große Bürstenbinderei will ich hier anlegen mit Dampfbetrieb.«

Er hob die Fäuste, daß ihm das kleine Bündel entglitt, bückte sich, nahm es wieder auf und ging über den Weg in das Haus seines Vaters.

Wieten Klook stand da und schlug die Hände zusammen, drehte sich um und ging in ihre Stube und setzte sich an die Arbeit und war zuerst in heißem Zorn und großer Scham. Sie hatte diese Dinge in heimlichen Stunden mit halblauter Stimme staunenden Kindern erzählt, als Weisheit einer Welt, die anderen verborgen, ihr aber ein wenig enthüllt war. Sie meinte, daß diese alten Dinge wert wären, weiter erzählt zu werden, um die Seele mit Furcht und Grauen, Liebe und Freude zu erfüllen. Aber dieser Junge hatte sie gehandhabt wie Spaten und Kälberstock und schrie sie nun in der hellen Sonne über den Hofplatz.

Sie ließ die Handarbeit in den Schoß sinken und starrte vor sich auf den Tisch, und während sie so unbeweglich vor sich hin sah, legte eine unsichtbare Hand ein Bild nach dem andern vor sie hin, und alle Bilder erzählten von viel Mühe, Not und Tod der Menschen, die sie einst gekannt hatte; und ein Bild war trauriger als das andere. Und dann sah sie Fiete Krey in die Welt gehen, ohne Führung, 114 mit diesen bunten Gedanken. Da sah sie sich in der Stube um, und als sie merkte, daß sie allein war, legte sie die Hand auf ihr Gesicht und weinte leise.

* * *

Als es dunkel wurde, kam Fiete Krey aus seines Vaters Haus, sein Bündel mit dem Werktagsanzug unterm Arm; seine Mutter saß hinterm Ofen und weinte. »Fiete,« rief sie ihm nach, »du bist eben erst siebzehn Jahre; geh' nicht so weit.« Sie dachte an die anderen Kreien, die so weit geflogen waren, daß sie nicht wieder heimgekehrt waren, nach Amerika, und Gott mochte wissen, was es sonst noch für Länder giebt. Sie war noch bei dem alten Stübel in die Schule gegangen, der als Hosenschneider einen gewissen Ruf gehabt hatte, aber als Lehrer einen geringen. Dazu hatte sie immer einen harten, benommenen Kopf gehabt.

»Soweit als die Welt ist,« sagte Fiete Krey. »Mit der Hundepeitsche hat er mich geschlagen, der Schinderhannes.« Er fing wieder laut an zu weinen und ballte die Faust gegen das große, alte Haus und gegen die hohen Scheunen, deren gewaltige Strohdächer dunkel und still unter den hohen Pappeln und Eschen lagen.

Wenn Klaus Uhl dies Weinen und diesen Zorn gesehen hätte, so hätte er laut und herzlich gelacht und hätte es ausgeschmückt, und hätte von eigenem ein wenig hinzugefügt und hätte es in allen Wirtshäusern erzählt.

Jasper Krey war mit vor die Thür getreten: »Es ist ganz einerlei, wo du hingehst,« sagte er, »also kannst du nicht verbiestern. Und das ist schon etwas, wenn man nicht verbiestern kann. Und schwer beladen bist du auch nicht: du kannst zur Not querfeldein gehen, das ist auch 'was wert. Sieh zu, daß du 'was Ordentliches wirst. Wenn 115 du ein Lump geworden bist, dann komm nicht wieder. Wenn du aber etwas erreicht hast, dann sieh' einmal nach, wie es uns geht.«

Er war schon unterwegs, in der Dämmerung kaum mehr zu sehen: »Du kannst dich darauf verlassen, Vater, daß ich wiederkomme.«

Als er sich wieder umdrehte, um weiter zu gehen, stand Jörn Uhl da am Wege: »Thieß hält mit seinem Gespann oben an den Tannen,« sagte er leise. »Du sollst diese Nacht bei ihm im Heeshof schlafen.«

Sie gingen zusammen unter den Hügeln entlang, bis links eine Mulde kam, die, mit Heide und Eichenkratt bewachsen, zwischen zwei Hügeln schräge zur Höhe führte. Die Mulde war so breit und tief, daß ein gutes Bauernhaus darin stehen konnte, und wurde nach oben hin seichter und schmäler, bis sie auf das Heidefeld mündete.

Fiete Krey ging voran und war still, nur zuweilen stieß das Schluchzen noch in der Kehle, dann schüttelte es seinen ganzen Körper.

Auf halber Höhe der Mulde, zwischen niedrigem Eichengestrüpp, neben dem schmalen Fußsteig, der zur Höhe führte, lag ein kreisrundes Wasser, an Umfang nicht größer als ein Wagenrad, bis an den Rand voll vom frischesten, klaren Wasser. Das war der Goldsoot. Eine Quelle, die unsichtbar von oben kam, füllte ihn immer aufs neue bis an den Rand; nach unten verschwand, was überfloß, mit leisem Rieseln unters Gestrüpp. Zwei, drei Sterne, die über ihm um Himmel standen, lagen in Widerschein im Wasser, einzelne blattlose Zweige des Gestrüpps hingen über dem Rande; ihr Widerschein stand im Wasser als schräge, scharfe Spieße, die den Eingang wehrten. Ein Wind kam vom Meere herauf und ging über das Gestrüpp hin, das 116 voll trockener, vorjähriger Blätter war. Es rasselte und redete unten und von oben und von den Seiten.

Fiete stand still und sah nachdenklich in das Wasser. »Ich möchte wohl wissen,« sagte er, von einem Schluchzen unterbrochen, »wie es auf dem Grunde aussieht, und ob man den Grund fühlen kann.«

Jörn wollte ihn trösten und sagte mit schwachem Zuspruch: »Willst du nicht 'mal nach dem Steinberg bei der Heese gehen, von dem du immer gesprochen hast? Du sagst: Da liegt ein ganzer Haufen Gold, Stücke wie Kindsköpfe darunter.«

Fiete Krey schüttelte stark den Kopf: Diese Kindsköpfe waren in seinem Kopfe entstanden; er hatte das Feld, das Wieten an manchem Abende unter dem Lampenscheine so fleißig bebaut hatte, durch eigene Arbeit bedeutend erweitert, mit solch starker Freude am Erfinden und solcher Wärme, daß er zuweilen nicht gewußt hatte, was Wieten berichtet und was er selbst dazu erfunden hatte. Aber heute abend schied sich Wahrheit und Dichtung: Die Kindsköpfe in der Heide waren erdacht. Aber der Goldsoot war echt.

Er starrte in das Wasser; dann ging er langsam weiter hinauf. Als sie oben auf der Höhe angekommen waren, sagte er: »Nun geh' nach Hause. Ich will jetzt allein weitergehen.«

Da ging Jörn ohne Händedruck und ohne Abschiedswort über die Heide.

Fiete Krey aber blieb oben in der dürren Heide stehen. Als Jörn sich umsah, stand er wie ein schwarzer Pfahl am Horizont.

Langsam kehrte Fiete Krey sich um und ging wieder in die Mulde hinunter, legte sein Bündel neben das Wasser, zog seine Jacke aus, legte sich ins Gras und langte in das 117 Wasser, so tief er konnte. So kroch er rund um das Wasser und fand nichts. Da kleidete er sich eilig aus, und als er nackend war, faßte er einige starke Zweige, die am Rande lagen und stieg vorsichtig in das kalte Wasser und bekam Grund. Es reichte ihm bis an die Brust. Er trat vorsichtig hin und her; aber er spürte nichts Hartes. Es war alles weich, Sand und verwestes Laub. Er tauchte dreimal unter und suchte an den Rändern, aber da war nichts als eine glatte Lehmwand, mit Wassergewächs überzogen.

Da gab er es auf. Er stieg wieder heraus und stand eine Weile, ehe er nach dem Hemde griff. Er stand gerade und still. Er spürte die schneidende Kälte nicht, die ihn mit feinen, eisigen Ruten schlug. Er stand und sah ins Wasser, das mit stillem, traurigem Auge ihn ansah, als hielte es wehmütig sein Geheimnis fest.

* * *

Spinneweben fliegen durchs ganze Land, und Blumenduft und Unkrautsamen fliegen in des Nachbars Garten; und zuweilen gelingt es einem klugen, nachdenklichen Auge, zu sehen, wie das große, schöne und furchtbare Schicksal auf dem ewigem Steine sitzt und mit aufgestütztem Haupte und gerunzelter Stirn das Gewirr von Linien im Sande malt, die verschlungenen Wege, die wir Menschen dann gehen müssen. Fiete Krey hatte nicht für sich allein dies Abenteuer in dieser Aprilnacht.

Es traf sich, daß zu der Zeit ein junges Mädchen im Dorfe war, eines Landmanns Tochter. Die war groß und schön und von den jungen Leuten der Gegend begehrt. Sie aber hatte bis in ihr zwanzigstes Jahr jede Vertrautheit gemieden; sie ging selten zu Tanz, und wenn sie einmal da war, konnte es geschehen, daß sie nach dem 118 ersten Tanz mit finsterem Gesicht den Saal verließ, ihr Pferd vorspannte und allein durch die Nacht nach Hause fuhr. Unter den jungen Mädchen hatte sie keine Freundinnen; sie hatte sich aber in diesem Winter einer stillen, schmucken Frau angeschlossen, die, jung verheiratet, samt ihrem Manne im Dorfe fremd, sich dort angekauft hatten; die erwartete die Geburt ihres ersten Kindes. Bei dieser saß sie zuweilen in stiller Dämmerstunde; und eines Tages fragte sie in zarter Weise, wie sie es habe übers Herz bringen können, eines Mannes Frau zu werden, sich ihm so ganz zu eigen zu geben. Als die Freundin, durch diese Frage überrascht und verlegen gemacht, nicht gleich Antwort wußte, sagte sie unter Thränen, daß sie eine Liebe im Herzen hätte, daß sie sich aber nicht überwinden könnte, dem Geliebten entgegen zu kommen. Sie habe eine unüberwindliche Scheu davor; als eines Landmanns Tochter und auf dem Lande groß geworden, wisse sie wohl, was die Ehe mit sich bringe. Die junge Frau tröstete sie mit leisen, unsicheren Worten und redete ihr zu, daß die Liebe, die ja vorhanden sei, alles Peinliche vergessen lasse.

Aber trotz dieser Unterhaltung trat in ihrem Wesen kein Wandel ein. Sie weinte und beklagte in ihrer stillen Stube ihre unglückliche Beanlagung, welche weder eine Nonne noch ein Weib aus ihr geschaffen hätte, und daß sie den Geliebten und damit sich selbst unglücklich machte.

Nach einiger Zeit, eben an jenem Aprilabende, war wieder ein Ball in der Stadt. Neumond war gerade vorüber. Sie war mehrere Tage lang verstimmt gewesen. Als sie sich aber am Tage vor dem Ball wieder ganz gesund und munter fühlte, beschloß sie, diese gute, fast heitere Stimmung zu benutzen, sich zu überwinden und hinzufahren. Sie nahm sich fest vor, freundlich zu sein, die Abneigung 119 gegen das Tanzen zu unterdrücken und besonders zutraulich zu sein, wenn der Geliebte mit ihr tanzen würde.

Als sie in den Saal trat, sah sie ihn sogleich am Fenster stehen. Er schien auf sie gewartet zu haben; seine Augen blitzten sie freundlich und treuherzig an. Er war von gutem Bauernstand, wie sie, und war, gleich ihr, von Natur durch eine keusche, vornehme Seele ausgezeichnet. Sie übersah mit einem Gefühl tiefer Freude seine schmucke Erscheinung und befestigte ihren Entschluß, ihm zu zeigen, daß sie ihm von ganzem Herzen gut wäre.

Aber als die Musik anfing und eine Schar von jungen Leuten auf die Mädchenreihe zuging, und sie unter den gesenkten Lidern mehr fühlte als sah, daß der Geliebte sich ihr näherte, da überwand sie sich zwar so weit, daß sie mit ihm tanzte. Als er sie aber in der Tanzpause anredete, war ihr Gesicht blaß, ihre Lippen zitterten, und ihre Augen sahen kalt und hochmütig geradeaus, so daß das ganze junge, schöne Gesicht wie im Frost erstarrt schien. Als er das sah, geleitete er sie still zu ihrem Platz, den sie aber gleich wieder verließ, um aus dem Saale zu gehen und sofort nach Hause zu fahren.

Unterwegs, allein auf ihrem Wagen, in der Stille der weiten Natur und der Nacht, hatte sie zwar zuerst noch dieselben Mienen, die sie im Saale gezeigt hatte. Zu beiden Seiten des Weges liefen die niedrigen Wälle hin, dehnte sich das flache, demütig liegende Feld der Heide: sie war hoch über der Natur. Sie saß aufrecht in ihrem Wagenstuhl und zeigte in einem herrischen Gesichtsausdruck ihren Stolz, daß sie allein von allen Mädchen diese hohe Keuschheit besäße.

Da, während der Wagen im tiefen Sande so geräuschlos durch die Nacht dahinfuhr, hörte sie in der Ferne einen Vogel kläglich seinen Genossen rufen. Der leise 120 kommende Wagen hatte ihn wohl aus schwerem Schlafe gescheucht. Gleich darauf kam aus der Nähe ein ermunternder Ruf. Dicht aneinander gedrängt, flogen sie über den Weg, wobei sie einen süßen Ton ausstießen.

Als das Mädchen die Augen von dem Vogelpaar ab wieder vor sich auf den Weg wandte, erkannte sie mit einem Male, daß die Gegend erschreckend öde war und die Luft voll fahlem, leerem Dunkel. Das Gefühl der Einsamkeit, bisher ihr Stolz, wurde nun ihre Furcht. Sie fühlte wieder deutlich, daß es leichter wäre, so wie ihre Schwestern zu handeln, als sich gegen das zu stemmen, was die Natur bald mit lächelnder, bald mit ernster und fast drohender Stimme auch von ihr verlangte. Indem sie in dieses Gefühl tief versank, beugte sie den Kopf und fing an, leise zu weinen. Je höher vorher ihr Stolz war, einen um so tieferen Fall that sie nun. Das Bild des Geliebten, dem ihr voriger Hochmut allen Schmuck genommen hatte, hatte wieder die guten, feinen Züge. Die edle Fassung, die in seinem ganzen Wesen und in jeder seiner würdigen Bewegungen lag, erfaßte ihr ganzes Herz, und ihr Herz schrie nach ihm. Sie runzelte die Stirn und fing an, darüber nachzudenken, sich damit zu quälen, wie sie es wohl anzufangen hätte, daß sie die Scheu überwinde, die sie gegen den hatte, den sie so sehr liebte. Sie erwog allerlei seltsame Pläne, wie sie sich gewissermaßen selbst übertölpeln konnte. Zuletzt kam sie auf den Einfall, sie wollte vor seinem Hofthor warten, bis die Morgendämmerung herankäme. Sein Hof lag zu diesem Plane einsam genug. Auch durfte sie hoffen, daß er sich bald auf den Heimweg gemacht hätte, nachdem sie den Saal verlassen hatte. Dann, wenn er ankam – er pflegte zu Fuß zu gehen –, wollte sie sich überwinden und ihn anreden. Sie wollte ihm sagen, er möchte ihr doch verzeihen, daß sie 121 so scheu wäre; sie hätte ihn über alles lieb in der ganzen Welt. Also fuhr sie mit dem festen Gedanken ihres Weges weiter, ihr Vorhaben wirklich auszuführen.

Aber sie war noch nicht weit gekommen, während sie die Lage, in der sie sein würde, deutlicher durchgrübelte, da merkte sie, daß der alte Trotz und Widerwille wieder aufstieg. Sie versuchte vergebens, sich ihm zu widersetzen und war nahe daran, tief und ganz hinein zu geraten. Schon war der Glanz in ihren schönen Augen erloschen: da kam sie an die Stelle des Weges, wo man seitwärts in die Mulde hinuntersieht, in welcher auf halber Höhe, keine zwanzig Schritt schräge hinunter, im Eichengestrüpp der Goldsoot liegt, und sah von ungefähr in die Tiefe. Da sah sie mitten in dem Helldunkel des kleinen Thales neben der runden, blanken Scheibe des Wassers die helle Gestalt eines Menschen; der stand unbeweglich und sah ins Wasser. Sie war sehr erschrocken, riß am Zügel und wollte die junge, feurige Stute mit gewohntem, leisem Zuruf zu raschem Trabe bringen; aber da ihr das Herz bis an den Hals schlug, versagte ihr die Stimme, und so verstand die Stute den stummen Zügeldruck als Befehl, zu stehen und hielt ebenso unbeweglich, wie die helle Knabengestalt am Wasserspiegel und wie das schweratmende Mädchen auf dem Wagenstuhl.

Da kam über sie als eine Erleuchtung der helle, tapfere Gedanke, daß diese Erscheinung nicht zufällig dastände, sondern dahingestellt wäre, daß sie zur Natur gesunde. Sie sah die Gestalt, wie sie fein und stolz und stark gebaut war, wie ein Aufbau sich frei und stark auf dem anderen erhob, zuerst zu den Knieen, dann breiter werdend, in junger, starker Kraft zu den Hüften, dann stark und stürmend und dabei wie aufjubelnd bis zu der Brust, und dann der Kopf, der gebeugt war. Und wie sie so sah, einen Augenblick nur, 122 erkannte sie in der Tiefe ihrer Seele, wo die reine Wahrheit wohnte, wo Gott und Natur noch in trautem, reinem Bunde miteinander hausen, daß der da der Kamerad ihres innersten Wesens war, mit dem im Geben und Nehmen, jeder mit seinen besonderen Gaben, sein eigenes, unfertiges Wesen zu einem ganzen und vollen abrunden würde. Ein Gefühl hoher Freude durchströmte ihre Glieder; ihre Augen füllten sich mit Thränen, so daß sie nichts mehr sah. Darüber mußte sie vor sich hinlachen, daß es leise klang. Die Stute zog an, der Knabe am Wasser schrak auf. Aber auch ein anderer hatte das Lachen gehört, der hinter dem Wagen her des Weges kam und bisher so vor sich hingegangen war, mit gesenktem Kopf, da er trübselige Gedanken hatte.

Er hörte das Lachen und erkannte es gleich. Er ging rascher und ging bald neben dem Wagen. »Du fährst langsam,« sagte er.

Sie lachte wieder leise und sagte schelmisch: »Ich wollte so langsam fahren, damit du mich noch einholen könntest. Du mußtest ja noch deinen Rock anziehen.«

Er hörte nicht weiter auf ihr Wort. Er dachte, sie hätte beim Verlassen des Saales noch gesehen, daß auch er sich gleich aufmachte, seinen Überrock zu holen. Aber er hörte deutlich aus der Stimme, daß jetzt endlich ihre Stunde gekommen sei, und war überfroh, und ihm lachte das Herz.

Er legte die Hand auf die Wagenlehne und ging so nebenher und sagte: »Warum bist du so früh weggefahren?«

»Was denkst du wohl, warum?« sagte sie.

»Ich denke, damit wir uns hier treffen.«

»Wenn du so denkst,« sagte sie, »bist du ein kluger Junge und sollst nicht länger neben mir hergehen. Komm, spring' auf.«

Sie hielt die Stute an, und er öffnete das Wagenleder.

123 Aber bevor er aufsprang, erwog er, daß es richtig wäre, wenn er ihr ein wenig Stolz zeige. Gerade in diesem Augenblick, meinte er, wäre es am Platz, damit ihre spröde Natur später nicht durch den Gedanken bedrückt würde, daß ihr Liebhaber keinen Stolz besäße, da er ihr häufiges abstoßendes Benehmen ungestraft gelassen hatte. Also sagte er langsam und ruhig, als wenn es sich von selbst verstand: »Ich will das Gesicht nicht wieder sehen, das du vorhin im Saal gemacht hast. Wenn du zutraulich sein willst, will ich mit dir fahren.«

Sie nickte ihm zu und sagte lächelnd: »Komm nur herauf, du sollst es so gut haben, wie du es verdient hast.« Und sie legte ihre Hand auf seine Schulter.

Da stieg er auf und nahm, ohne ein Wort zu sagen, ihr die Zügel aus der Hand. Sie ließ es sich gefallen, lehnte sich zurück und sagte: »Fahr' langsam!«

»Warum?« fragte er.

»Bist so klug und weißt das nicht?«

»Ich weiß,« sagte er, »damit wir recht lange unterwegs sind.«

Damit legte er den Arm um sie und küßte sie herzlich, und von Stund an war sie ihm ein gutes Weib. Er führte die Zügel; und sie wünschte sich, ob sie langsamer oder rascher fahren wollte.

* * *

Der arme Junge am Wasser hatte sich eiligst in seine Kleider geworfen und war rasch auf die Höhe gegangen, wo der Wagen der beiden glücklichen, jungen Menschen eben verschwunden war. Er sah sich noch einmal nach dem Dorf um. Die weite Düne, die seine Vorfahren verwühlt und heruntergewohnt hatten, leuchtete schwach herüber. Er kehrte 124 sich aber nicht weiter darum, sondern ging stracks über die Heide auf die beiden Eichen zu, die mit niedrigen, breiten Kronen am Kreuzweg stehen. Unter der einen stand Trina Kühl, die Jungdeern, ganz wie er ein Bündel unterm Arm, in ihrem Konfirmationskleid, das ihr schon zu kurz war, und wartete. »Wo bist du gewesen?« sagte sie.

Er antwortete nicht, sondern fragte gleich: »Willst du wirklich und wahrhaftig mit mir gehen?«

»Ja,« sagte sie, »warum nicht? Klaus Uhl ist Armenvorsteher und behält meinen Lohn in der Tasche oder legt ihn in die Gemeindekasse, weil ich im Armenhause groß geworden bin; dazu verlangen sie noch von mir, daß ich dankbar bin. Wenn du mich mithaben willst, rücke ich aus und suche mir in Hamburg einen Platz. Ich weiß aber nicht, wo's liegt. Ich muß mein Zeug noch besser einpacken.« Sie legte sich in die Kniee, knotete das Bündel auf und legte das Arbeitskleid und die drei Hemden und drei Paar Strümpfe und ein Paar lederne Pantoffel ordentlich zusammen. Dann gingen sie nebeneinander über die Höhe. Der Wind fuhr hinter ihnen drein, dürres Laub der Eichen und Sand flog um sie und hinter ihnen her.

Als sie auf der anderen Seite von der Höhe hinuntergingen, stand da, vor dem Wind geschützt, das Fuhrwerk von Thieß Thiessen. Die Pferde fraßen mit hängenden Halskappen das Gras unten am Wall; Thieß Thiessen saß zusammengesunken und schlafend in dem hohen, bequemen Stuhl. »Thieß!« sagte Fiete Krey, »wach' auf! Trina Kühl ist auch hier und will mit. Laß das Reden man nach, Thieß, das hilft gar nichts! Wir wollen erst 'mal nach Hamburg, und dann seh'n, wo wir bleiben.«

* * *

125 Einige Tage nach Ostern, als der Schulanfang bevorstand, sagte Hinrich Uhl, den sein Vater am meisten liebte, weil er der glänzendste war: »Du, Vater, der Junge, der Jörn, redet so merkwürdigen Schnack: Ich glaube, der will nicht auf die Schule; er will im Hause bleiben. Es kann ja doch nicht angehen, daß der auch Bauer wird, woher willst du am Ende all die Höfe hernehmen? Du mußt notwendig mit ihm reden.« Als der Vater ihn dann rufen ließ und ihn fragte, sagte er, er wolle im Hause bleiben und arbeiten. Als der Vater schalt und ihn zuletzt hart mit der Peitsche schlug, blieb er doch dabei. Seine Gründe nannte er nicht.

Aber am Abend, als er schon in seiner Kammer, die er seit Fiete Kreys Weggang allein bewohnte, im Bett lag, kam Wieten Klook herein, um ihn zu trösten und bat, er möchte ihr doch sagen, warum er seine Absichten geändert hätte; er hätte doch so bitter gern 'was lernen wollen. Da konnte sie zuerst kein Wort aus ihm herauskriegen, so heiß und heftig weinte er. Nachher aber kam stoßweise heraus, was sie geahnt hatte: Da wäre keiner, der in dieser Woche auf die Fohlen gepaßt hätte, wenn er selbst es nicht gethan hätte. Und der erste Knecht würde die Pferde allesamt mit Fußstößen wild machen und verderben, wenn er nicht dann und wann in den Stall käme. Der braune Wallach hätte schon eine Wunde am Knie. Fiete Krey hätte ja auch manchmal nicht ordentlich aufgepaßt, aber nachdem der weggegangen wäre, und wenn nun auch er noch fortginge, dann würde es schrecklich werden.

Als sie ihn dann beruhigen wollte, ihm das starre Haar streichelte und sagte: »Nun ist ja denn alles gut, nun wein' man nicht, mein kleiner Junge,« da fing er wieder mehr an zu weinen und sagte mit zerstoßener Stimme: 126 »Meinst du denn . . . daß ich es gerne thue? . . . Nun kann ich gar nichts mehr lernen. Kein Buch kann ich mehr anfassen! Nun bleib' ich so dumm, wie all die anderen.«

Am anderen Morgen, in aller Frühe, zog Jörn Uhl die blauleinene Stalljacke an, die Fiete Krey hatte liegen lassen.

So kam dieser Wirbel über die Kinder von Wentorf, riß den, der bleiben wollte, in die Fremde und schlug dem, der gehen wollte, die Thür vor der Nase zu; stellte den Arbeiterssohn auf die kahle, öde Heide und zeigte seinem lebendigen Sinn in dunstiger Ferne alle Schätze der Welt und ihre Herrlichkeit und warf dem Herrensohn eine blauleinene Stalljacke vor die Füße. 127

 


 


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