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9.
Ritt ins Weite

Stunden rinnen, runden sich zu Perlen, reihen sich an der Schnur der Zeit. Die Welt steht still, ich reite sie ab. Weite mein Ziel. Morgens grüßt mein Feuer die Sonne, abends loht es ihr nach. Die Nächte klingen von wehendem Wind unter reinen Sternen, von Grillensang und Käuzchenruf. Die Schellen meines werdenden Tieres fügen sich ein. Durch meine Träume zieht Gottes Atem. In der Frühe liegt mir Tau auf Brauen und Wimpern. Weite mein erster Blick, Weite mein letzter. Tage in Sonne.

Heute grüßt mich, fern im Blau, ein Berg; morgen klirrt sein Fels unter meines Schimmels Eisen. Mit den Quellen zu Tal: Wasser, die ich aus dem Berge treten sah, mit dem Laut schwingender Harfensaiten, füllen waldige Schluchten mit ihrem Brausen; Felsen und Bäume zittern von ihrem Sturz. Gestern konnte ich mit flacher Hand ihr Sprudeln hemmen. Heute muß ich schwimmend kämpfen gegen ihren Drang.

Der eine Mensch, noch fern, erfüllt mich ganz. Wenn ich im Mittag reite, meine ich oft, andere Schellen, andren Hufschlag zu hören, neben mir, hinter mir. Mein Schimmel wittert in die webende Stille nach dem Gefährten, steht nachts oft dunkel gegen den leuchtenden Himmel, starr gespannt, und schickt seinen Schrei in die Ferne. Ich bleibe stumm, doch mein Blut singt. Und in windbewegten Zweigen an meiner Wange fühle ich deinen Atem, deinen Kuß, Liebste.

Die Menschen aber habe ich vergessen. Ich wundere mich, daß ich ihre Sprache rede und verstehe, wenn ich, zögernd und immer ungern, in eines ihrer Dörfer komme, um ein wenig Essen nachzukaufen, Salz und Tabak. Wie gleichgültig mir die Nahrung geworden ist, seitdem ich frei mit der Sonne ziehe!

Aus den Tälern hallen mitunter Schüsse zu mir herauf: Die Jagd ist eröffnet; dort donnern sie auf Amseln, Lerchen, Zeisige. Doch gälte es auch edlerem Wild – ich könnte jetzt nicht töten, in diesem klaren Sommer, der meinen Herbst in seinem Schoße trägt. Glück über Glück, daß kein Schütze sich auf meine Höhen verirrt. – Beim Bade in tiefen Tümpeln jagen Forellen unter mir hin: Jagt zu, ihr blitzenden Räuberlein! Ich werde satt, auch ohne euren Tod!

Neulich sah ich in einem Bach Fischleichen auf dem Grunde treiben, drei, vier, fünf. Starr der federnde Leib, die Augen ausgeronnen, das bunte Schuppenkleid von Verwesung fahl gefleckt. Weiter im Ufergebüsch fand ich ein durchweichtes Packpapier, das ätzenden Geruch ausströmte: ein Sportsmann hatte Chlor ins Wasser geworfen, um sich die Mühe des Angelns zu sparen. Soll dir Gott verzeihen, Giftmischer, daß du gegen Tiere Krieg führst, wie er gegen Menschen geführt wurde – sie ihren Tod atmen ließest! – Und ich trieb meinen Schimmel bergauf durch die sinkende Nacht. Unter den Sternen auf der Höhe erst kam ich zur Ruhe. Doch der Blick der giftzerfressenen Augen brannte lange in mir nach, und das irre Weinen mancher Kriegstage saß mir in der Kehle, bis der große Friede meinem stockenden Atem das Gleichmaß wiedergab.


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