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6.
Der Aufstieg

Nun bin ich schon fast eine Woche hier und habe mich kaum von der großen Straße fortgewagt. Dann und wann bin ich weiter oben, an einer der schroffen Biegungen, in die Felsen hinausgetreten und habe lange zu den Steilkämmen hinübergesehen, von denen Felswände, Geröllhalden, Wiesen- und Waldstreifen ineinander verstrickt zu Tale stürzen. Mir ist wie einem Blinden, der die Sehkraft wiedergewonnen hat und nun die Augen vor allzu grellem Lichte hütet. Ich bete zu den Gipfeln aus der Ferne, träume mich in alles Glück hinein, das ihre reine Höhe schenken mag; doch ein Rest von Verbitterung warnt mich, sie anzugehen, weil auch dort Enttäuschung lauern könnte. Was bliebe dann? Heimatflüchtig, den Städten gram, dem Meere nicht gewachsen, eine Liebe im Herzen, die nicht leben kann, nicht sterben will – was bliebe dann?

Auch erschreckt mich das ganz Fremde dort in den Bergen. Auf steilen Anhöhen oder in Schluchten sieht man Einzelhäuser, auch Weiler, so natürlich mit den Hängen verwachsen, als wäre niederstürzendes Gestein in der Sonne zu ihren Formen geronnen. Was mögen es für Menschen sein, die dort wohnen und ihr Heim so abstandslos in der Landschaft aufgehen lassen? Vielleicht werden sie gastlich sein, vielleicht nicht – aber wird nicht immer durch ihr Gehaben das Gefühl durchschimmern, an dem ich mich in der Heimat – wie oft! – wundgerieben habe, das Gemisch aus Geringschätzung, Eifersucht, Feindseligkeit sogar, des Verwurzelten gegen den Bodenfremden?

Gegen hundert Mulis sind schon an uns vorbeigezogen. Sie bleiben alle auf der Weide – die Treiber sind bei ihnen und sollen sich oben eine kleine Kantine eingerichtet haben. Die Arbeit kann noch nicht beginnen, weil die Köhler noch nicht fertig sind.

Das Haus ist in Bewegung. Torquato und Polidoro sitzen über ihren Lohnlisten, nehmen Waren für das Magazin in Empfang oder folgen sie den Treibern aus, die dann und wann Wein, Pasta, Öl, Konserven für ihre Kantine holen kommen. Ippolito ist mit Vorbereitungen überlastet. Er sitzt viel vor dem Hause und sieht den Hang hinauf, den nächstens einmal die langen Reihen der Mulis herabkommen müssen. Er hat mich auch zu den Stallungen, der Laderampe und den Schuppen geführt, die die Gesellschaft – auf seinem Grund, wie er betont – errichtet hat. »Der Grund gehört mir,« sagt er, »aber ich habe ihnen erlaubt, die Gebäude aufzuführen. Sie zahlen natürlich Miete, aber, nun, man ist nicht unbescheiden …«

Die »Gebäude« sind aus Holztrümmern, Dachpappe, Wellblech zusammengeschustert. Ganz amerikanisch. Die Türe des Sackmagazins hat ein dickes Vorhängeschloß, aber durchgerostete Angeln, so daß sie Torquato beim Öffnen jedesmal um das versperrte Schloß dreht. Die Laderampe: Dem Hause schräg gegenüber sind längs der Straße einige gegabelte Akazienstämme eingerammt, durch Querbalken verbunden und gegen den Hang mit einer Lage von Kiefernpfosten verspreizt. Darüber ist Erde geschüttet. Ippolito erklärt: »Hier oben auf der ebenen Fläche werden die Mulis abgeladen, hier unten auf der Straße fahren die Lastautos vor und sind bequem zu laden. Sehr schön eingerichtet, alles!« – Ich mache ihn aufmerksam, daß einige Kiefernpfosten angefault und am Durchbrechen sind. »Das macht nichts,« meint er großzügig. »Sie müssen sich untereinander helfen, wie wir Menschen auch! Wieviel müßte die Kohle kosten, wenn man hier in Eisenbeton bauen wollte!« – Das ist so handgreiflich richtig, daß ich nur stumm dazu nicken kann. Die Gründlichkeit in Ehren – aber kostspielig ist sie, wie jedes Ideal!

Camillo ist von dem Kohlenfieber so angesteckt, daß er am liebsten mit dem Bruder die Qual des Wartens teilen und die Heuernte noch etwas aufschieben möchte. Die alte Mutter versteht aber darin keinen Spaß. Erst hat sie sich hinter Mimi gesteckt, die einige hörbare und allgemein verständliche Andeutungen über langbeinige Tagediebe von sich gegeben hat, die ihr Essen nicht wert seien. Dann ist sie dazu übergegangen, lange Stunden an dem Steilrand zu sitzen und zuzusehen, wie Camillo mit zwei Taglöhnern die Wiesenhänge absichelt. Nina, die gelbweiße Jagdhündin, sitzt neben ihr, verfolgt die Bewegung der Männer und hechelt vor Hitze.

Das Heu, in einem Sonnentage trocken, wird fest und eng in große Netze verschnürt, in walzenförmige Ballen von etwa dreiviertel Meterzentnern, und auf den Schultern oder auf Tragen ins Haus geschafft. Ganz weit unten sind Heuschober verteilt – vier Pfähle im Viereck festgerammt, und daran verschiebbar ein spitzes Strohdach, das mit seinem Gewicht das eingelagerte Heu preßt. Diese Schober werden dann in der ruhigen Zeit, im Herbst oder Winter, nach Bedarf abgetragen.

Die flinke und genaue Handarbeit wirkt wie ein Labsal gegen das mechanische Geratter der Trekker, Mäher, Garbenbinder, die alle den Boden vergewaltigen, nur um ihm Geld abzupressen.

Camillo ist übrigens kein Faulpelz, nur ein Lebenskünstler. Er läuft der Arbeit nicht nach, weil er auch ohne sie sein Dasein vor sich rechtfertigen kann. Kommt es aber darauf an, so packt er richtig zu. Wenn er abends, verschwitzt und glühend vor Sonne, zum Essen kommt, dann lärmt er wie ein Schuljunge in Ferien. Die alte Mutter schielt ein wenig, denn sie kennt ihren Anteil an der getanen Arbeit; Ippolito macht sorgenvolle Bemerkungen über das schwere Tagewerk. Vivi belächelt stumm die ruhmredigen Brüder, nur Mimi, die Unbezähmbare, nennt das Kind beim Namen: »Camillo hat drei Tage gearbeitet, Christus im Himmel! Er muß wenigstens ein Jahr Ruhe haben, damit es ihm nicht schadet, dem armen Jungen! Willst du dich nicht an den Herd stellen, Camillo? Ich gehe gern ins Heu!« Und sie lacht wie eine Hexe, bis die Brüder mitlachen. –

Unter den Maultiertreibern ist ein Abruzzese, Agostino mit Namen, der allgemeine Achtung genießt. Sein Schicksal geht von Mund zu Mund: er war von den Eltern für den geistlichen Stand bestimmt, wurde mit fünfzehn Jahren ins Kloster gesteckt, kehrte aber mit fünfundzwanzig in die Welt zurück, um ein Mädchen zu heiraten, das er schon als Kind geliebt hatte. Drei Jahre blieb die Ehe kinderlos. »Vielleicht war es Strafe?« meint Vivi, die katholische Neigungen hat. Camillo empört sich: »Ach was, Strafe! Wenn Gott sich darum kümmern sollte! Dann hat er hintereinander sechs Kinder bekommen, das ist eher ein ernster Fall!« – »Er hat aber eine Wallfahrt nach Assisi gemacht!« mahnt die Mutter. Camillo wagt ihr nicht zu widersprechen, er deutet nur uns Männern durch sprühende Blicke an, daß dem guten Agostino auch anders zu helfen gewesen wäre. Nach einer Pause unterdrückter Heiterkeit schlägt ihn Torquato plötzlich auf die Schulter: »Alter Frauenjäger, ha?« Und alle brüllen los. Camillo tut, als gäbe es wirklich keinen Ort, der Schutz gewähren könne, wo seine Büchse zielt. Er kennt Agostino kaum und dessen Frau gar nicht. Aber die Gelegenheit schien so günstig …

Agostino nun ist für hiesige Begriffe auffallend klein, aber stark wie ein Maultier. Sein Gesicht besteht in der Hauptsache aus einem ungeheuer breiten Mund, der in die fleischigen Backen hineinschneidet. Der Art, wie er beim Sprechen die langen Lippen spitzt, merkt man die harte Schule endloser Litaneien an. Er trägt einen äußerst breitrandigen Filz tief über den Kopf gezogen und sieht darin gnomenhaft aus. Daß er sich selten erzürnt und nie flucht, gibt ihm den meisten Anspruch auf die allgemeine Hochachtung. Viel trägt auch bei, daß seine Maultiere so spickfett sind, trotzdem er sie das ganze runde Jahr arbeiten läßt wie nur Einer.

Agostino ist eine sympathische Erscheinung; er soll mein Führer in die Berge sein. Ich finde den Mut nicht, alleine loszuziehen. Nicht weil es keine Markierungen gibt. Wer kein Ziel hat, braucht das Irregehen nicht zu fürchten. Aber ich fühle, daß sich dort oben mein nächstes Schicksal entscheiden soll, bin befangen und möchte ein Stück Selbstverständlichkeit neben mir haben.

Eines Morgens früh hat Agostino zwei seiner sechs Tiere von der Weide heruntergebracht, einen hochbeinigen Schimmel und einen kurzen, kleinen Rappen. Sie tragen statt der unförmigen Packsättel bequeme lederne Reitsättel, die ähnlich wie unsere Bockpritschen gebaut, aber viel dicker gepolstert sind.

Als die Sonne eben den hohen Hang überklettert hat, in dessen kühlem Schatten das Haus liegt, reiten wir los. Alles um uns ist Reinheit und Tagesbereitschaft. Ich versage mir noch den Blick ins Weite und gebe mich ganz den Bewegungen des Tierkörpers hin, der unter mir schön und stark arbeitet. Das Steinpflaster ist grob und uneben, von vielen, vielen Hufen ausgetreten. An den steilsten Stellen sind Stufen eingefügt; oft geht es meterweit über den nackten Fels. Selbst das ruhigste Pferd würde da zappelig Tritt suchen und manche Hindernisse im Galoppsprung zu nehmen trachten. Die Maultiere gehen so unbekümmert dahin wie auf ebener Straße, nehmen sich noch, während sie kaum für zwei Hufe richtigen Halt haben, Zeit, mit dem einen Hinterbein eine besonders lästige Fliege vom Bauch zu jagen, oder sie biegen Hals und Rumpf ganz krumm, strecken den Kopf und schnappen sich nach den Flanken. Agostino, der vorausreitet und mich reiterlich führen sieht, ruft mir zu: »Lassen sie ihm die Zügel – vertrauen Sie dem Tier! Es ist gewohnt, solche Wege mit zweihundert Kilo auf dem Rücken herauf und hinunter zu gehen, und Kohlensäcke lenken nicht!«

Es will mir fast gegen die Natur gehen, mich im Sattel als Kohlensack gewertet zu hören; doch dann fällt mir ein, daß wir ja im Mittelalter sind, daß dieses Reiten kein Sport, sondern Fortbewegungsmittel ist, und auch als solches nicht einmal Herrenvorrecht, sondern jedermann vertraut. Weg mit der Fürstengebärde, wie sie berittene Schutzleute auf Großstadtplätzen so gerne zeigen: die Zügelfaust auf den Sattelknopf, die andere in die Hüfte gestemmt, Herr eines ganzen Tieres und der Halbwelt zumindest, wenn schon nicht der halben Welt! Keine Schenkelhilfen, bitte, nichts von Absätzen in die Weichen! Hier unter dir, du Kohlensack, vollendet sich ein Schicksal – enthalte dich jeder Einmischung, bedenke, daß du nicht festgebunden bist und trachte also, nicht herunterzufallen, auf den Steinen zu zerplatzen und dein kümmerliches Innere als Dung zu verstreuen. Das ist alles, was du tun sollst, kannst, darfst! Vertraue dem Tier, du Mensch!

O Agostino, zeugungsfroher Mönch, vielleicht hat Gott durch deinen breiten Mund zu mir gesprochen! Vertraue dem Tier – gibt es tiefere Weisheit?

Die Zurechtweisung hat mir gut getan; ohne sie hätte ich mich vielleicht in bewunderndes Mitleid verloren. Wer bin ich mit meinem Mitleid? Mögen die Barmherzigen sagen, was sie wollen – Mitleid schafft Abstand! Hier den Abstand des Herrn der Schöpfung zur Kreatur, die er zu seiner Lust und Willkür geschaffen wähnt. Anderswo den Abstand vom Reichen zum Armen, des Beladenen zum Überlasteten, des Kranken zum Sterbenden. Mitleid ist verkappte Selbstsucht: »Siehe, anderen geht es noch schlimmer – seien wir froh und darum barmherzig!«

Kein Mitleid mit dem Tier – aber das innige Verbundensein gleichen Geschicks: »Wir sind in diese Welt gestellt, du und ich. Und du bleibst du, ich bleibe ich – bis die Hand, die uns verschiedene Form gab, den Schein unseres Wesens löscht und uns wieder Einheit schenkt!«

Mit einem Schlag steht auch die Empfindung wieder vor mir, mit der ich, in meinen Jägertagen, vor manchem gefällten Wilde stand. Da war ein uralter Bock, dem ich in zahllosen Pürschgängen nachgekrochen war, in Tau, Sonne und Mond, und den ich schließlich doch überlistet hatte. Er, der mir hundertmal ausgewichen war, ahnte das eine Mal nicht, daß hinter dem Wurzelknorren, hundert Schritt von seinem Wechsel, der Todfeind lag, mit Fallaub und Reisern überdeckt, die Büchse im Anschlag. Kaum war die Kugel aus dem Lauf, und ich sah durch Blitz und Rauch, wie er schlegelnd stürzte, da schlug mir der wochenlange Verfolgerwahnsinn jäh in die demütige Erkenntnis um: »Bruder! Ich hasse dich nicht, und töte dich doch – weil es uns beiden so gesetzt ist!«

Es war mein letzter Bock. Da sich mein Leben bald darauf im Freien abzuspielen begann, so konnte ich des Anreizes zum Töten entraten, der allein so viele Menschen sitzender Lebensweise in die sogenannte Natur hinauslockt. Keine Fasanen mehr für mich, aus importierten Eiern künstlich erbrütet, hochgepäppelt und im bunten Herbst vor die Schrotspitzen getrieben! Keine Hasen und Hühner mehr, sorgsam von allen natürlichen Feinden, von Fuchs, Marder, Habicht und vielen andern befreit, um sich wahllos fortpflanzen und desto zahlreicher dem unnatürlichen Feinde, dem Menschen, Opfer sein zu können! Auch keine Hirsche mehr, durch Phosphorkalk zu wuchernder Geweihbildung gekitzelt, durch ausgestreute Kastanien auf den Wechsel gedrillt und dann zur umständlichen Schlachtung an den Meistbietenden verschachert! – Ich jage wehrhafte Feinde, die mir ans rote Leben wollen, die Flöhe zum Beispiel, die kühnen Springer. Sage mir keiner, daß nicht auch diese Jagd die Sinne schärfe. Aug' und Hand zumal, die bekanntlich fürs Vaterland geübt werden sollen! Ich suche ihn, künstlich vor dem Spiegel verrenkt, zwischen den Schulterblättern – da beißt er mich schon grausam in die Kniekehlen. Ich beuge mich, will ihn fassen – da springt er mir, ein Löwe, ins Genick. Habe ich ihn endlich niedergerungen, höre ich seinen Panzer krachen unter dem Morgenstern meines Daumennagels: dann, ja dann darf Siegerwollust mir das Herz weiten; denn ich habe die Unversehrtheit meines Blutes gegen einen überlegenen Feind gewahrt! O edles Gejaid zu nächtlicher Zeit! –

Doch weg mit allen Betrachtungen über die Jagd im Lichte der Volkswirtschaft! Hier reite ich durch das Land, wo die Kette zu Ende geführt ist. Zaunkönig und Lerche sind, als Edelwild, an die Stelle von Bär, Wolf und Luchs getreten, die einst beutelüstern diesen Saumweg umschlichen haben. Wie, wenn die munteren Sänger, endlos gehetzt, verzweifelte Abwehr zu entwickeln begönnen? Was kann ich gegen einen Finken, der mir im Fluge die Augen auspickt? Weh mir, ich bin ungewaffnet! Der abgebrochene Backenzahn, den ich als Talisman in der Westentasche trage, wird mich nicht schützen! Neben mir fährt unvermittelt eine Lerche aus dem Heidekraut, kriegerisch trillernd. Ich falle vor Schreck fast aus dem Sattel – mein Mulo, eben dabei, einen Felsblock wie eine Waschkommode zu überklettern, wendet den Kopf, sieht mich an, sieht wieder weg und klappt mit den Ohren: »Ich weiß, daß alle Menschen unsinnig sind – du aber scheinst mir ein Komparativ!«

Möglich, sehr möglich, starkherziges Tier! Und ich tätschle ihm speichelleckerisch den Hals. Er fährt unter der Liebkosung zusammen, macht einen Riesensatz, bleibt stehen und schüttelt sich wie gebissen, dann erst geht er wieder weiter. Ich sitze noch im Sattel und stelle durch einige geübte Griffe fest, daß mir das Rückgrat von dem Ruck nicht gebrochen ist und daß ich mir nur auf die Zunge gebissen habe, nicht etwa auf die Leber oder sonst empfindliche Innereien. Agostino bedeutet mir: »Er glaubte, daß sie ihn schlagen wollten!«

Glaubte – aber- und abermals wehe mir! Stößt noch meine Demut auf Mißtrauen? Keine Brücke von mir zum Mulo, was immer mein Lateinlehrer darüber behauptet haben mag! Er trägt mich – doch wie soll ich ihn ertragen? Vielleicht könnte ich mich schwer machen, wie das Christuskind auf des starken Heiden Schultern? Ach, niemals wird dieses Tier in seinem Schicksalstrotz Gnade und Erleuchtung von mir annehmen! Wenn ihm die Bürde das Maß zu übersteigen scheint, wird er sich niederwerfen, wird sich zwischen den Steinen wälzen und mich elend beschinden, mich und meinen Ehrgeiz, Unversöhnliches versöhnen zu wollen! Was hilft es mir nun, daß ich einen Weg reite, den lange vor mir die Doria zu ihrer Zwingburg im Gebirge gezogen sind? Können noch so spärliche Geschichtskenntnisse über eine Niederlage in der Gegenwart wegtrösten? –

Nun sind wir auf dem ersten Kamm und reiten, ihm entlang, dem nächsten Quermassiv zu. Das Pflaster hat aufgehört, der breite Weg ist in viele kleine Steiglein zerfallen, die nebeneinander durch das hohe Heidekraut führen. Agostino hat sein Tier verhalten und reitet auf gleicher Höhe neben mir. Er fragt mich höflich, wie mir die Landschaft gefalle? – Die Landschaft – je nun: darüber wird noch zu reden sein! Ich war eben dabei, das Rad der Entwicklungsgeschichte ein Stück zurückzudrehen, und habe mir die Finger eingeklemmt. Aber die Landschaft gefällt mir – wenn ich auch meinen Platz darin nicht genau kenne.

Agostino erzählt mir von den Abruzzen. Dort sei alles bedeutend schöner, die Berge, der Wald. Auch ein Erdbeben hätten sie gehabt, vor zwölf Jahren, wobei eine Stadt mit fünfzehntausend Einwohnern vernichtet worden sei. Ob ich auch in die Abruzzen zu reisen gedächte?

Nein, danke. Ich weiß auch ohne Erdbeben, daß ich nur eine Laus im Pelz der Erde bin, und will mich zunächst nicht dorthin setzen, wo sie sich mit Vorliebe juckt.

Agostino schwärmt fürs Reisen. Er zieht mit seinen Maultieren jahraus, jahrein im Lande herum. Im Winter arbeitet er im Latium und in den Marken, im Sommer kommt er, nun schon zum zweitenmal, hierher nach Ligurien, um Kohle zu fördern. Zu Hause war er schon zwei volle Jahre nicht mehr: »Das Leben ist teuer, ich muß verdienen,« sagt er. »Auch habe ich schon sechs Kinder, und die Frau soll ein wenig ausruhen!« Eiserne Grundsätze! – Im Herbst aber will er die Tiere für zwei, drei Wochen einem Knecht anvertrauen und in die Heimat reisen. Das jüngste Kind werde nun schon laufen und sprechen, und das nächste könne schon die älteste Tochter warten. Glück auf, Agostino! Ordnung ist das halbe Leben!

Quer über den Weg liegt eine erschlagene Viper. Ich steige ab, um sie genauer zu betrachten, denn im Wirtshaus unten habe ich Vieles und Erstaunliches über die Giftwürmer gehört. Sie ist matt kupferfarben, ohne das breite Zickzackband unserer Kreuzottern. Nur dunkle Punkte deuten die Zeichnung an. Den Kopf hat ein Schlag zermalmt, der Rachen steht schief offen, die Gifthaken zum letzten Angriff gereckt. Die halbmeterlange Peitschenschnur des Leibes entlang wimmeln Ameisen und halten reiche Mahlzeit.

Dir bin ich nicht Freund, du flinker Schleicher; vor deinem Tode schweigt jedes Gefühl von Verbundenheit im All! Bist du so böse, oder ist meine Liebe nicht stark genug, dich zu entwaffnen? – Du bist wahrscheinlich lange nicht so böse wie ich, nur hast du dich nie dem Menschennutzen dienstbar machen lassen: daher der Haß von Anbeginn. Wo ich dich finde, ist dir dein Tod gewiß. Ich ehre dich trotzdem, unbesiegter Feind!

Im Weiterreiten suche ich Agostino ein wenig über seine Erfahrungen mit Giftschlangen auszuholen. Sie sind reich und farbenprächtig wie Träume. »Die Viper,« sagt er, »tut nichts, wenn man ihr Zeit läßt, sich zu entfernen. Stößt man sie aber unversehens an, oder tritt sie gar, dann springt sie augenblicklich. Die Viper macht furchtbare Sprünge, einen oder anderthalb Meter hoch und zwei, drei Meter weit. Wenn sie gebissen hat, verkriecht sie sich im dichten Gebüsch, denn sie schämt sich der Sünde.« – Ich beginne zu fürchten, daß er sich in salbungsvolle Rückblicke auf den Sündenfall verlieren möchte, und frage eifrig dazwischen, ob er schon gebissen oder wenigstens angesprungen worden sei? – Nein, er nicht, gelobt sei Gott! Der Biß sei zwar nicht tödlich, aber die Heilung langwierig und teuer. Er nicht – aber sein Bruder habe ein schauerliches Erlebnis gehabt. Der sei zum Holzmachen in den Wald gegangen und dabei versehentlich auf eine Natter getreten. Nun, es klinge unglaublich, aber die war drei Meter lang und so dick – und er zeigt mit aneinandergesetzten Daumen und Zeigefingern die Stärke einer Manneswade. Ich schaudere: eine mittelwüchsige Riesenschlange also? Vergebens meldet sich mein Schulverstand und möchte die Riesenschlange aus Europa verbannt und weiter noch wissen, daß die Viper drei Viertelmeter Länge selten übersteigt, die Natter aber, wenn auch größer, so doch ungiftig ist. Agostino ist hier zu Hause, kennt die Schrecken seiner Heimat nicht aus Büchern, sondern aus unmittelbarer Anschauung: ich aber bin ein Fremdling überall. Dick wie eine Manneswade also, und zwei bis drei Meter lang! Gott helfe uns!

»Mein Bruder rannte um sein Leben,« erzählt Agostino. »Die Schlange hinter ihm her, in furchterregenden Sprüngen. Mein Bruder hatte die Geistesgegenwart gehabt, gleich bergab zu laufen, sonst wäre er dem Untier nach wenigen Schritten erlegen, denn der Weg war steil. So aber kam er wenigstens vierhundert Schritte weit, doch da fühlte er auch seine Kräfte schwinden. Er betete laut im Rennen. Da gelang es ihm, ohne anzuhalten, das große Buschmesser, das er hinten am Leibriemen trug, freizubekommen; er wandte sich halb, sah die Schlange gerade in einem Satz durch die Luft auf sich zukommen, schleuderte ihr das schwere Messer entgegen – und es war göttliche Fügung: er traf das Ungeheuer in der Mitte seiner Länge und schnitt es in zwei Teile. Trotzdem er fast ohnmächtig war vor Erschöpfung und Angst, eilte er doch weiter und nahm sich nicht einmal die Zeit, sein Buschmesser aufzuheben. Er kam in erbarmungswürdigem Zustand zu Hause an, ganz aufgelöst, und lag eine Woche im Fieber. Mein Vater, der damals noch lebte, ließ eine Dankmesse lesen für die wunderbare Rettung.«

Wäre ich ein Nörgler, so würde ich nun dem forschenden Menschengeist die Zügel schießen lassen und den Dingen auf den Grund gehen. Dann würde die schöne Geschichte vielleicht zu der unansehnlichen Tatsache zusammenschrumpfen, daß Agostinos Bruder im Walde auf eine Ringelnatter gestoßen ist, vor Schreck alles, was er eben in der Hand hatte, fallen lassen und eine überstürzte Flucht angetreten hat. Was wäre gewonnen mit der Feststellung? Die Welt wäre um einen schönen Mythos ärmer! – Ich bin aber kein Nörgler, will kein Nörgler sein! Ich habe meines Herzens Tore, die, ach! so lange, versperrten, in rostigen Angeln knirschend aufgetan – mag nun ein und ausgehen, was da will. Willkommen, zitternde Angst um mein süßes Leben, Taube du über den Wassern meiner Trübsal! Kann ich den bleichen Bruder wieder fürchten, so hat wohl mein Leben wieder rosigere Farbe. Nicht sterben, oh, nicht sterben! Vor allem nicht von Riesenschlangen erstickt, zerdrückt, verschlungen werden! Der Python würde vielleicht ein paar Hosenknöpfe, die Gürtelschnalle und ein Stück Steißbein von sich geben, alles andere aber restlos verdauen. Wie stände ich dann bei der allgemeinen Totenerweckung da? Auch wäre vorher – und dies scheint wesentlich – die Frage zu klären, wer für mich die Dankes- und Totenmesse lesen lassen würde?

Agostino, Mensch, du wächst mir zusehends ans Herz. Gottlob, daß du nicht Mönch geblieben bist, denn im Kloster hätte ich dich schwerlich gefunden. Erst hast du mich Vertrauen zum Tier gelehrt, nun die Todesfurcht – inmitten liegt blühendes Leben, wo gestern noch halbe Wüste war. Die Welt ist weit und der Himmel ist blau – ich lebe!

Wie sich mir alles williger erschließt, sobald ich meinem Blut das Ziel lasse, nach dem es klopfend drängt! Die Landschaft liegt wie eine schöne Frau in gütiger Hingabe, die den suchenden Lippen des Freundes jedes Mal, jedes Fältchen zum Kusse überläßt. Wie lebst du mir in Blumen und Sonne, süße Freundin! Wie fühle ich dich in den Duftwellen ringsum! Der Weg führt durch Kiefernjungholz, ein Wasserfaden rieselt durch Heidelbeergesträuch, Harz und Nadeln kochen in der Sonne – das ist Heimat, das bist du! Mußte ich so weit wandern, um wieder zu wissen, wie schön du bist?

Agostino schläft im Sattel. Die Erzählung von seines Bruders Todesnöten hat ihn wohl ermüdet. Wenn sein Tier beim Abrupfen von Blättern und Gras allzu lange den Schritt verhält, dann stößt er, ohne sich ganz zu ermuntern, ein träges »Üüih! Vatiiih!« aus. Die Sonne steht auf halben Vormittag, voll und gut. Bienen und Hummeln sind mitten in der Arbeit, Falter und Motten bevölkern den Korso, suchen einander, paaren sich. Immer wieder kreuzen Züge von Ameisen unseren Weg, die in den Krieg ziehen, oder einfach ins Weite, von einem Attila oder Tamerlan ihres Stammes geführt. Hornissen brummen vorbei, giftschwarze und semmelblonde. Eine, mit orangefarbigen Ringen um den schwarzen Leib, setzt sich auf meine Satteltasche. Ich klebe sie mit einem Faustschlag fest. Aus dem zermalmten Körper züngelt noch der dreizackige Stachel, und die Freßwerkzeuge mahlen weiter.

Hoch über Tälern und Höhen, eine Welt für sich, kreist still ein großer Bussard, und auf seinen Schwingen wechseln Licht und Schatten, wie Tag und Nacht. Alle meine Wünsche fliegen ihm zu. Als Antwort kommt mir sein Schrei, beladen mit Sonne und Weite.

Die Kiefernschonung ist durchquert, wir reiten eine Schieferhalde hinauf. Abgeblühter Bergginster, und Erika, weiß und rot, die sich zum Blühen rüsten will. Pechnelken und Steinnelken in bunten Büscheln; blaue Glocken, Türkenbund und Königskerzen. Doch überall dazwischen, wo die Steinsplitter bloßliegen, die leuchtendgelbe Schafgarbe. Ihr herber, strenger Duft liegt über allem, trotz jedem Lufthauch, wie Sonne und Schatten.

In der Sonne dahinter stehen buschige Jungbuchen in wucherndem Breitgras und Farnkraut. Dann eine kleine Kuppe, wo der nackte, erdfahle Schutt keinem Hälmchen Nahrung gewährt. Nun sind wir am Fuße des Quermassivs, in feinem Alpgras zwischen Kalkfelsen.

Als der steile Aufstieg beginnt, wird Agostino wach und richtet einige rhetorische Fragen an sein Tier: »Wirst du gar nicht mehr Vorwärtsgehen? Nur noch fressen? Ich werde dir Beine machen! Üüih! Vatiiih!«

Der kleine Rappe nimmt das Versprechen nicht sonderlich ernst und zuckelt gleichmäßig fort. Klapp, klapp, fallen die Hufe aufs Gestein. Der Weg ist unwahrscheinlich schlecht, nur noch eine Wasserrinne, die der Regen willkürlich mit Steinbrocken, Kies und Geröll vollgeschwemmt hat. An den hohen Rändern wuchern Bärlapp und Erika, deren fußhohes Dickicht noch schwerer gangbar wäre. Agostino wendet sich halb im Sattel, reckt mir einen anklagenden Arm entgegen und weist mit dem anderen hinter sich: »Sehen Sie hier, Herr, wie unwissend Italien ist! Dies ist eine Provinzstraße, und niemand denkt daran, sie herzurichten! Bevor die große Straße gebaut war, ging hier der ganze Verkehr zu den Bergdörfern durch; aber auch jetzt noch wird sie viel benützt, weil sie viel kürzer ist! Armes Vaterland!«

Dies, Agostino, sind Dinge, zu denen ich mich nicht äußern werde. Vielleicht ist es wirklich viel wichtiger, daß den Benzinhengsten immer neue, glatte Wege gebahnt werden – wer will das sagen? Ich steige jetzt ab – darin erschöpft sich meine Stellungnahme.

Mein Mulo hat wieder nur einen verächtlichen Seitenblick für meine Torheit und bleibt nicht einmal stehen, um sie mir zu erleichtern: »Wir sollen doch auf den Berg dort, und zwar soll ich dich hinaufschleppen? Na, also! Dann bleib' sitzen und mache dich nicht lästig bemerkbar!« Ich muß im Gehen hinunter. Als ich hinter ihm herstapfe, bleibt er stehen und mistet. Ich begehre keinen Dank, doch dies wäre vielleicht auch nicht nötig gewesen.

Agostino ist im Sattel geblieben und glaubt meine Bedenken zerstreuen zu müssen: »Sie kennen die Mulis nicht, Herr! Das heute ist eine Erholung für sie! Sonst tragen sie den Packsattel, der um wenigstens fünfunddreißig Kilo schwerer ist, und noch hundertfünfzig bis zweihundert Kilo Kohle dazu. Sie samt dem leichten Sattel wiegen ja kaum einen Meterzentner – es ist ein Scherz!« Mag es ein Scherz sein – es haben schon andere als diese Mulis auf meine Kosten gelacht.

Die Sonne erfüllt die Luft und liegt über allen Dingen wie schwerer Samt. Ich fürchte sie nicht, sie wird mir nichts tun. Wir sind so innig vertraut von früher her, daß sie mir die kurze Untreue nicht Nachträgen wird. Ohne Hut, das Hemd offen, steige ich weiter und merke mit jedem Schritt, wie die Stadtöde aus mir verdampft.

Die erste Höhe, die von unten der Welt Ende zu bedeuten schien, ist längst überwunden. Neue und immer neue haben sich vor und ins Blau gewölbt, und wir haben sie alle unter die Füße getreten. Der weiße Punkt dort im Walde, tief, tief unten, ist das Kapellchen, zu dem ich alle die Tage her sehnsüchtig aufgeblickt habe. Ich grüße dich, Sehnsucht von gestern!

Der stete Wechsel in der Landschaft dauert an. Wir haben Buchendickichte durchquert, wo das Fallaub mit dem jungen Geäst rötliches Dämmern schuf: Buchenwälder, schütter genug, um zwischen den Stämmen dickem Gras Nahrung zu geben. Könnte ich euer Sänger sein, Buchen auf Waldwiesen, im Mittagslicht! Wie eure Stämme beseelt aus lichtem Grunde steigen, wie eure Kronen sich gegen den Himmel stemmen, dessen tiefes Blau sie überwältigen möchte! Ich kenne euch, ihr Buchen, bei jedem Wetter, zu jeder Zeit! Ich weiß, wie ihr mit den Nebeln spielt, den fliehenden, weißen, und wie ihr die trägen, dunklen zwischen euch aufspannt, wie Trauertücher zwischen Säulen. Ich kenne euren Morgengruß wie euer Lebewohl an die Sonne, kenne euch im Frühling, wenn ihr grüne Flammen sprüht, und im Herbst, wenn ihr, in Feierkleidern, den bitteren Duft atmet, der Todesbereitschaft ist bei allem Wissen um des Lebens Pracht. Im Winter liebe ich euch, wenn sich euer haarfeines Geäst gegen den matten Himmel reckt wie ein Netz, das Hoffnung fangen möchte in einem grauen Meer. Gottesdienst aber seid ihr mir im Sommermittag, ihr Buchen! Ich habe keinen Feind in eurem Schatten. –

Nach den Wäldern kamen Steinfelder, deren Trümmerwildnis ans Herz griff, als hätte kein Gott den Mut gefunden, ihnen Form und Schönheit zu geben, und sie Gespenstern zum Spielplatz überlassen. Flechten in hundert Arten und Farben leuchten von jedem Stein. Kein Leben sonst, kein Vogelruf.

Ein Moosgrund dann, von Wollgras überweht, wo Quellen zum Lichte drängen. Eine weite Hochfläche mit Wiesenflecken zwischen Beerengestrüpp. Und endlich der letzte Sattel vor einem tiefen, tiefen Tal. Wie wir ihn erreicht haben, hält Agostino an, um mir Erklärungen zu geben. Dies alles hinter uns sind Vorberge. Jenseits des Tales erst erhebt sich die Kette mit den höchsten Gipfeln des ligurischen Apennins, dem Maggiorasca und Penna. Der massige Berg dort, mit den hohen Steilwänden, ist der Maggiorasca. Die waldige Senke von seinem Südhang weg führt zum Penna, den uns die Hügel verdecken. Armer Monte Penna – es geht dir wie den Großen aller Zeiten: man muß ganz nahe oder ganz weit von ihnen stehen, um! sie recht zu ermessen. Du bist nur ein Cäsar in einem Dorf, mit deinen siebzehnhundert Metern. Aber doch ein Cäsar. Und hier, wenige Stunden von dir weg, decken dich mir die paar Tausender zu, weil sie viele und mir näher sind. Aber wir sehen uns noch – ich will keinen Durchschnitt, und gäbe er sich noch so himmelstürmend! Ich will dich, die reine Höhe! Wir sehen uns noch!

Von der Hochfläche unter uns klingen Almglocken. Es find die Mulis, die nackt und frei, nur mit dem Schellenriemen um den Hals, auf der Weide laufen. »Man sieht nur ganz wenige,« meint Agostino. »Die meisten liegen jetzt um Mittag im Buchengebüsch versteckt. Viele sind auch weit fortgegangen, und die Männer sind dahinter her, sie zusammenzutreiben. Nächste Woche wird die Kohle fertig, dann hat die schöne Zeit ein Ende!«

Ein böses Ende, ihr Maultiere! Wie werden euch Packsättel und Lasten schmecken, nach den zehn, vierzehn Tagen Freiheit? Aber ich weiß, feind von euch wird sich empören. Ihr seid die nie zu Überraschenden. Der Mensch läßt euch, wenn es ihm billiger so und bequemer ist, Futter, Tränke und Schlaf selbst suchen, wie Wildtiere, und verlangt im Augenblick darauf Entsagung von euch und Fügsamkeit. Ihr werdet ihn nicht enttäuschen, den Menschen, von dem ihr nichts zu hoffen habt!

Unser Ziel für heute sind die Kohlenmeiler. Wir sind ihm ganz nahe, wie Agostino versichert; doch ich sehe und rieche keinen Rauch. Und das Tal liegt so harmlos offen vor uns, daß ich mir nicht vorstellen kann, es könnte mir etwas verbergen. Aber die Berge täuschen, wie schon Giovanni sagte. Der Weg führt sanft bergab, wir sind aufgesessen. Nach einer kurzen Weile biegen wir um einen Vorsprung und haben gleich darauf eine Bucht auszureiten, die von oben nicht zu übersehen war. Noch dreimal so. Was von oben geschlossener Abhang schien, zeigt sich hier als ein Dickicht von Buchen, Erlen, wilden Kirsch- und Apfelbäumen, von tiefen Rinnsalen durchfurcht. Erdbeeren, groß wie Haselnüsse, säumen den Weg, und das stachlige Gerank der Brombeeren. Der letzte Vorsprung sattelt sich, wo der Weg ihn überschneidet. Ein kreisrunder Kessel tut sich auf, flammend im düstern Rot von Buchendürrlaub. Rauchende Kegel dazwischen, die Meiler. Die Hänge sind im Frühjahr kahlgeschlagen, Stämme und Dickäste zu Meterscheiten aufgearbeitet, das Reisig aber in langen Reihen liegen gelassen worden. Überall dazwischen sind kleine Plattformen für die Meiler abgegraben. Die Meiler selbst sind peinlich sauber geschichtet, mit Rasen und Erde bedeckt, und rauchen aus kleinen Luftlöchern. Im Grunde des Kessels haben kleine Quellbäche einen Weiher gebildet, den ein Streifen guter Wiese umgrünt. Sonst alles tot – die Gräser, des Buchenschattens gewohnt, haben den Tod der Bäume nicht überlebt.

Der Wind streicht vom Kamm herunter und weht allen Rauch vor sich her, zum jenseitigen Ausgang des Kessels hinaus. Wir sehen Dinge und Farben durch den bläulichen Schleier, und das Bild, ohnedies trübe genug, wird dadurch nicht heiterer. Es scheint ein Tal der Verdammten: die toten Hänge, von Rot in Violett spielend, die zahllosen Meiler, wie ebenso viele rauchende Trümmerstätten, die wenigen rußigen Männer noch dazwischen, die, scheinbar ziellos, hin- und widergehen, als suchten sie nach hingewürgten Lieben.

Als wir unten am Weiher zur Mittagsrast absitzen, sieht es sich freundlicher an. Die Köhler sind fast alle mit Weib und Kind gekommen, denn ihre Arbeit dauert Monate, und haben sich an geschützten Stellen ringsum Hütten erbaut, die erst aus nächster Nähe von der Umgebung zu unterscheiden sind: ein Gerüst, aus eingerahmten, gegabelten Stangen gefügt, ohne Nägel oder sonstige Bindung, nur durch Schwere haltend. Im Kreis ist der Rasen in dünnen, spannenbreiten Schuppen abgehoben und mit dem Grün nach innen über das Gerüst gelegt wie ein Ziegeldach. Die beiden Türen sind aus Buchenzweigen doppelt geflochten und hängen in Angeln, aus Schlingpflanzen gedreht. Die Hütte bildet ein liegendes Dreikant-Prisma, vom Boden zum First knapp zwei Meter hoch, bei acht Metern Länge. Eine Frau, die am Weiher wäscht, merkt meine Neugier und fordert mich auf, einzutreten. Hinter jeder Tür ist eine Feuerstelle, auf blankem Boden. Vom First hängt an Kettenhaken der Kochkessel. Die beiden Enden des Raumes sind, mit aufgeschüttetem Laub, die Ruhelager. In der Mitte, zwischen den beiden Türen, ist der wenige Hausrat gehäuft. Das Ganze wiederholt in sonnverbranntem Erdreich und dürrem Reisig die Farbtöne der nächsten Umwelt und geht darin auf.

Die Frau riecht nach Erde und Holzrauch; ihre Gewänder sind farblos vom Regen, sie trägt noch die selbstgeschnitzten Holzsandalen. Aber sie macht mit großer Gebärde die Honneurs. Dies ist ihr Zuhause. Nicht für immer, bitte; im Winter wohnen sie in Rom; und im nächsten Sommer werden sie wohl anderswo ihre Rasenhütten erbauen, anderswo, doch wieder in rauchender Wildnis. Wie schade, daß Mittag schon vorüber ist, sonst hätte sie uns gebeten, die dicke Suppe mitzuessen, ohne Umstände, oh, bitte, wenn es uns gefällig gewesen wäre … Aber die Kinder hätten Beeren gebracht, einen ganzen Korb voll, Erdbeeren, Heidelbeeren, die ersten Himbeeren, alles durcheinander – vielleicht könnte sie die anbieten? Auch ein paar Herrenpilze wären da und leicht in Öl zu rösten?

Verzeihung, meine Dame: in Ihren Augen lese ich Einiges über Sonne, Mond und Sterne; Ihr Mund mit den dunkelroten Lippen kennt noch den ehrlichen Tierhunger, Ihre Zähne sind jeder unverkünstelten Nahrung gewachsen. Ihr straffgekämmtes Haar ist wahrscheinlich Ihr einziger Hut, vielleicht auch Ihr Morgenkleid –: gelöst, müßte es, meiner Schätzung nach, bis zu den Knien niederfallen. Ihre Kinder, die fetten Zicklein, haben sie in freien Nächten empfangen, auf einem Lager aus Laub, auf nackter Erde, in den Armen eines Mannes, der nach Arbeit, Rauch und Erde roch, wie Sie selbst. Und vielleicht hat unterdem der Nachtsturm über Sie weggeweht, hat den Lustschrei von ihren Lippen genommen, ihn zu Tale getragen und faule Schläfer in Federbetten damit geschreckt? Verzeihung: ist es nicht ein Irrtum, daß Sie im Winter in Rom wohnen, wo doch die Christenheit zentralisiert ist? Wollen Sie mir etwa nur nicht eingestehen, daß Sie mit den letzten Blumen des Herbstes schlafen gehen, um im Frühling wieder zu erwachen? Sind Sie nicht, meine Dame, ein schönes Stück Heidentum – sind Sie vielleicht das deutsche Märchen? Sind vor Steinkohle und Starkstrom aus der Heimat geflohen, hierher, in das Land, das noch das offene Herdfeuer kennt, Tiere mit Menschenschicksalen und Menschen mit Tieraugen? Ich verstehe das so gut, meine Dame, so gut!

Entfalten Sie ruhig einige Vertrautheit mit neuzeitlichen Dingen – reiben Sie ein Schwefelhölzchen an der Schuhsohle an, nehmen Sie Salz aus einem Regiepaket, rammen Sie sich (was ich vielleicht nicht bemerken sollte) einen roten Zelluloidkamm mit falschen Steinen in die Frisur, dem Gaste zu Ehren: mich täuschen Sie damit nicht! Auch die zwei leeren Sardinenbüchsen und die andere mit Thunfisch in Öl werden mich nicht irremachen! Meine Dame – weder die Regierung noch sonst jemand hat mich beauftragt – aber ich bin aus eigenem Antrieb ausgezogen, Sie zu suchen! –

Wir sitzen im Schatten hinter der Hütte. Agostino hat unsere Vorräte ausgepackt – Weißbrot, eine mittelstarke Salami, einen Keil Gorgonzola und einen Zweiliterfiasco Wein. Ich bitte die Gastgeberin, vorliebzunehmen, als Gegenleistung für die Pilze, die eben in Öl schmoren. Sie ziert sich ein wenig, nimmt an und will sich schon zu uns setzen. Da packt sie ein Gedanke, und sie stößt einen klingenden Schrei aus: » L'uomo! – Der Mann!« ruft sie in die Hänge hinauf. Keinen Namen. Sie weiß, ihr Mann wird ihre Stimme erkennen. Der Wind bringt die Antwort: » Cos'è? – Was ist?« – » Vien'qui – komm her!« singt die Frau, und bald hört man schwere Schuhe durch das Reisig bergab poltern, und der Mann steht vor uns. Er ist, wie ich dachte: Arbeit, Erde und Rauch umwittern seine bärtige Männlichkeit. Mit wenigen Worten ist er aufgeklärt und setzt sich zu dem Gastmahl: Salami erst, dann die Pilze als Hauptgericht – ein starkes Stück! – dann Käse. Die Beeren haben wir mit dem Wein übergossen und löffeln sie einträchtig aus einem Topf.

Nach dem letzten Bissen zünden wir Männer uns die Zigaretten an und legen uns lang zurück; die Frau räumt die Reste weg. Der Talkessel ist randvoll von Sonne; die dünnen Rauchschwaden flimmern vor Hitze. Wenige Schritte von uns ist eine Quelle in eine Holzrinne geleitet und sprudelt klingend in das Schöpfbecken: »Jetzt bin ich da, abends im Fluß, morgen im Meer!«

Sagte ich Tal der Verdammten? – Ich blinzle durch halbgeschlossene Lider, und durch Rauchschleier drängt blauer Himmel auf mich ein, Erde und Laub, sonnendürr. Die Sonne sagt zu allem heilig ja, und die Quelle kichert. Lebendes Gras nur zwischen mir und dem Boden. Dir verbunden, selige Erde! –

Der Köhler ist als erster auf: er muß nach seinen Meilern sehen. Auch für uns wird es Zeit, an den Heimweg zu denken. Kein großer Abschied; doch Frau und Kinder winken uns nach, wie wir die Hänge emporreiten. Kein Abschied. Nun weiß ich, wo du zu finden bist, schönstes Märchen meiner Heimat. Ich komme wieder!


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