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8.
Die Gipfel

Endlich ist der Sommer da – der Himmel kennt keine Wolken mehr, und die Bäche rauschen leiser. Alles reift in Süße. Die Sterne lösen still die Sonne ab, durchwandeln ungehemmt die Nächte, gehen morgens erlöst in neuem Lichte unter. Die Welt ist weit zu jeder Stunde.

Mir ist das Haus verleidet. Mein Entschluß, längst schon gefaßt, drängt zur Tat. Ich will weiterziehen.

Seit die Kohlenförderung richtig begonnen hat, kommen zwei-, dreimal die Woche Händler vorbei, die mit den Treibern allerlei Geschäfte machen; Tiere, die sich als zu schwach oder zu langsam erwiesen haben, werden gegen stärkere umgetauscht; meist getauscht, selten wird ein neues freihändig gekauft. Um das Aufgeld gehen endlose Kämpfe – Gott und die Madonna müssen her, heiligste Wahrheiten werden bei des Vaters Grab beschworen. Händler und Treiber zerren einer des andern Ware in den Kot, erheben den eigenen Besitz in den Himmel: »Das soll ein Mulo sein, ein achtjähriger? O hinkende Jungfrau! Die Beine hängen ihm vom Leibe, wie Würste von der Decke eines Metzgerladens – er hat sie zu leihen genommen, sie gehören gar nicht ihm! Und die Rippen, und das Rückgrat! Würde nicht die räudigste Hündin vor Scham sterben, wenn sie sich nicht anständiger vorstellen könnte? – Und für diese Mißgestalt soll ich die Mula da hingeben, bei lumpigen tausend Lire Aufgeld? Weißt du denn, was das für ein Tier ist, fett wie eine Wachtel, fromm wie ein Schaf, man kann es auf dem Rücken tragen, und es lacht nur! Sechs Jahre stehen ihr im Maul geschrieben, mag ich nie wieder froh werden, wenn sie nur einen Tag älter ist!« – »Was singst du mir von fett und fromm – soll ich einen Mönch kaufen? Und sechs Jahre? Darauf antworte ich gar nicht! Tausend Lire Aufgeld! Das ist schlimmer als Raub! Sollen meine Kinder Steine fressen? Wäre mein Mulo hier nur ein wenig flinker im Gang, so wollte ich mich nie von ihm trennen. Aber er bleibt hinter den andern zurück, ich müßte ihn fortwährend antreiben, und das täte ihm weh. Dieser Mulo? Ein Kind an Frommheit, ehrlich und zuverlässig!« Er greift ihm ans Hinterbein, der Mulo feuert grausam aus; der Mann springt beiseite und flucht, der Händler heult Triumph und Hohn. Andere Treiber kommen dazu, bezeugen eifrig, daß der Mulo nie eine Unart gezeigt – heute müsse ihn des Händlers Stimme erschreckt haben – sonst sei er gesittet wie ein Christ …

Die Händler sparen nicht mit Wein, bieten ringsum Gläser an und füllen aus großem Fiasco fleißig nach, bis die Betroffenen alle überzeugt sind, daß das Leben schön, Gott gütig, die Menschen einander in Liebe zugetan und Betrug undenkbar ist. Dann klettert jeder von dem Hochsitz seines Angebots ein wenig auf den andern zu, Freunde helfen mit, fügen die zögernden Hände ineinander, schlagen durch, und der Handel ist geschlossen. Die Sättel werden getauscht, der Treiber führt das neue Tier zu den andern in den Schatten, die es beschnuppern, vielleicht auch gesprächsweise ein wenig beißen oder schlagen. Bis sie aber aneinandergehängt den Bergweg hinaufziehen, ist die Verbindung längst hergestellt: wir alle gehen einen Weg!

Der Händler unten hat vielleicht einige Schwierigkeiten mit dem eingetauschten Mulo; der hört die Glocken der abziehenden Gefährten, hört die weinselige Stimme des Treibers, diese Stimme, die ihn so oft verflucht, beschimpft, bedroht hat und ihm doch Heimat war, streckt die Nase in den Wind, spitzt die Ohren, möchte nach. Es regnet Hiebe, Püffe, Flüche. Nun, nun – neuer Herr, alte Last. Ein kurzes, heiseres Wiehern, halb Eselschrei – von oben irgendwo Antwort – dann ist das Band gelöst. Weiter, weiter!

Oft genug habe ich die Handelschaften mit angesehen – nun soll ich selbst meine Rolle dabei spielen, denn ich will einen Mulo kaufen. Doch ich fühle mich den Händlern nicht gewachsen. War ich ihnen, ach wie oft, daheim schon wehrloses Opfer, nach dem schönen Sinnspruch: »Ein Griff, und du mußt im Hemd dastehn!«, wie soll ich mich gar in fremder Zunge meiner Haut wehren!

Doch Freund Agostino hilft gerne aus. Ich erkläre ihm meine Wünsche und lasse ihm freie Hand. Er soll tun, als kaufte er für sich. Niemand außer ihm und mir ist im Geheimnis.

Wieder einmal sind die Händler vorbeigekommen und haben einen schönen Apfelschimmel mitgebracht, jung und stark, ein Prachttier, mehr Pferd als Esel. Agostino schraubt sich heran wie eine Hyäne, umwittert ihn, tut unversehens einige Griffe: jung ist er, und fromm. Kein Fehler zu finden. Ich sitze auf der Laderampe zwischen den Kohlensäcken und spiele den unbeteiligten Zuschauer. Doch die Zigarette schmeckt mir nach Feuer und Galle, und nicht aus Schläfrigkeit schließe ich die Augen halb, sondern weil mir schwach ist. Agostino fragt nach dem Preis. Der Händler nennt eine Märchensumme, und ich bin nur mehr ein leerer Sack zwischen vollen Säcken. Ade, schöner Traum! Es ist gerade das Doppelte dessen, was ich Agostino freigestellt habe.

Agostino lacht ein häßliches Lachen, viel zu schallend, um ein Abschluß zu sein. Sollte er noch hoffen können – sollte er gar meine Vollmacht mißbrauchen, mich in Unglück und Verzweiflung stürzen wollen? – Er geht, in fünf Schritten Abstand, an mir vorbei, hält, dem Händler abgewandt, gespreizte Finger vor sich hin, fragt nur mit den Augen: »Soll ich?« Was er zeigt, ist nicht einmal die Hälfte des Händlerpreises. Ich funke zurück: »Du darfst, was du kannst!« und freue mich, ein Weltgesetz in so knappe Form gebracht zu haben.

Der Händler hat dem Lachen nachgeforscht, ruft Agostino an: »Was willst du geben?« Doch Agostino ist verletzt von der Schamlosigkeit der ersten Forderung; er ist nicht der Spielball für Händlerlaunen. Er schlenkert die Finger, macht »Zt!« über die Schultern zurück, und geht weiter. Noch tiefere Verachtung müßte den Gegner töten. Der Händler ruft nochmals: »Was willst du geben? Sag' ein Wort!« Dabei macht er einige Schritte hinter Agostino drein. Agostino bleibt stehen, sprachlos überrascht: Wie, bitte? Sollte der andere es gewagt haben, nicht gleich den letzten, genauesten Preis zu nennen? – Der Händler macht zwei Schritte vor, Agostino zwei zurück. Nun sind sie schon auf gute Sprechdistanz. Da nennt Agostino auf die dritte Frage ein Drittel des geforderten Preises. Der Händler zuckt wie unter einem Stich und springt zu seinem Tier zurück. Dort fragt er mit wilder Gebärde stumm seinen Gott, warum er solches geschehen lasse. Agostino hat sich umgewandt und geht davon. Ich lebe nicht mehr. Der Händler kann es nicht verwinden, daß man sein Tier durch diesen Preis geschändet hat, er stürzt aufbrüllend Agostino nach, zerrt ihn am Ärmel bis vor den Schimmel hin: »Hier, sieh dir das Tier an! Schön, stark, gesund, fromm – eine erfüllte Sehnsucht!« – Agostino bleibt kalt: »Was weiter? Ein Schimmel! Vorne schlecht beschlagen – es gibt bessere!«

Doch nun sind beide verbissen und zerren einander hin und her, wie Hunde, die sich um einen Knochen balgen. Der Schimmel hat keinen Blick für das Getue um ihn herum. Er schaut über die Mauer hinunter und schlägt gemessen mit dem Langschwanz. Mir ist, als hätte ich vorgestern zum letzten Mal Atem geholt. Der Händler läßt Wein aus dem Hause bringen. Agostino trinkt – billiger Wein, guter Wein! – aber er wird nicht weicher. Der Händler bettelt um das nackte Leben: »Töte mich nicht mit deinem Preise, bei der Madonna! Warum willst du mich nicht leben lassen? Sei nicht so hart!« – »Ich streite für das Brot meiner Kinder!« sagt Agostino mit Würde und Festigkeit. Gut gesagt, schön gesagt, bei allen Himmeln! Streitbarer Mönch, wenn du siegst, so sollen deine Kinder wenigstens einen Tag lang Wurst und Käse aus ihr Brot haben, das schwöre ich dir!

Und er siegt: jetzt schlagen sie ab! Agostino kramt aus dem Brustbeutel furchtbar schmierige Geldscheine hervor. Er hat sogar daran gedacht, die neuen Fünfhunderter, die ich ihm gab, in ältere umzuwechseln. Noch ein Glas: »Zum Wohl, nichts für ungut und viel Glück!« Dann schlägt der Händler zum Abschied dem Schimmel mit der flachen Hand schallend auf die Kruppe – der Schimmel zuckt kaum – und geht in die Wirtsstube, um das Postauto bei Karten und Wein abzuwarten. Agostino zieht den Schimmel in die Stallungen der Gesellschaft und winkt mir zu, vorsichtig zu folgen. Ich schlage einen Bogen bis über den halben Berg und schiebe mich durch eine knapp zweimannsbreite Lücke in der Rückwand des Prachtbaues. Agostino wünscht mir Glück. Er grinst, daß ich jeden Augenblick befürchte, seine obere Schädelhälfte haltlos hintüberkippen zu sehen. »Wir haben Glück gehabt,« sagt er. »Der Händler brauchte Geld. Sonst hätte wohl der Mulo einen runden Tausender mehr gekostet. Er ist nicht teuer, Herr, ich hätte ihn für mich selbst nicht billiger kaufen können!«

Gut, gut, Agostino! Aber ich will gar nicht wissen, ob der Schimmel billig oder teuer war – ich weiß nur noch, daß ich ihn kaufen konnte, und daß er mir gehört. Ich kann es, eifersüchtig, kaum erwarten, mit ihm allein zu sein. Doch Agostino hat sich das bißchen Nachfreude reichlich verdient. Wir satteln noch gemeinsam ab; alles Lederzeug ist gut und fast neu. Der Schimmel ist durchaus glatt und rein. »Wie eine Jungfrau,« sagt Agostino. Kein Druck, keine Narbe; die Hufe sauber und hart. Liebkosungen sind unerwünscht; er empört sich fast, als ich ihn um den Hals nehmen will. Nun, nun, das wird sich vielleicht geben – du ahnst nicht, spröde Jungfrau, wie ich um dich werben will!

Draußen staubt das Postauto vorüber. Der Händler, leise angetrunken, sitzt neben dem Fahrer und sieht selbstzufrieden aus. Wüßte er, wie glücklich ich bin, dann würde er sich kränken, nach seiner Art, weil er nicht mehr verlangt hat. Denn Käufers Glück ist Händlers Schade – so sehr hat sich in den raffgierigen Köpfen der wagende Kaufmannsgeist verwässert. Fahr hin, Herz aus Stein!

Der klare Abend vergeht mit den letzten Vorbereitungen. Der Sattel wird gepackt. In die eine Satteltasche kommen vier neue Hufeisen, Hammer, Zange und Nägel. Ich kann keinen Malo beschlagen, gewiß nicht. Aber fast jeder Mensch, den ich in diesen Bergen treffen könnte, wird sich darauf verstehen. Die andere Tasche wird mit Zigaretten vollgepackt und – seien wir ehrlich – mit einer nicht unerheblichen Flasche Grappa. Vorne wird die Mantelrolle aufgeschnallt, in die das bißchen Wäsche und das kümmerliche Waschzeug eingewickelt sind. Kein Kamm, keine Bürste – die, homerisch, weit über die Schultern herabwallende Glatze kann jeglicher Striegelung entraten. Eine Decke liegt gefaltet unter dem Sattel; die zweite wird gerollt hinten aufgeschnallt: sie schmiegt sich um eine Salami von den Ausmaßen eines Menschenbeins. Obenauf schaukeln zwei ineinandergeschachtelte Kochkesselchen, die Salz, Tee und Zwieback bergen, und ein kräftig blauweiß gewürfeltes Bündel, in das Pasta, Käse und einige Fischkonserven geknotet sind.

Agostino ist auf die Bergweide geritten. Da mein erstes Ziel die Köhlerhütte ist, so werde ich ihm morgen begegnen, wenn er mit beladenen Tieren herunterkommt. Von den andern heißt es jetzt schon Abschied nehmen, und es wird ein kleines Fest. – Wir lassen die Sommerfrischler am Drehklavier im großen Saale sich vergnügen und setzen uns in dem Hinterzimmer neben der Küche zusammen, in schöner Siebenzahl: die beiden Brüder, Torquato, Polidoro, dann die Fahrer des Lastautos, Carducci, der Familienvater, und Memmo, der Sänger. Ippolito läßt uns keinen Zweifel darüber, daß er sich diesmal wirklich eigens hingesetzt hat, um zu trinken; er legt ein furchtbares Tempo vor. Doch wir halten mannhaft Schritt. Vivi trägt den Wein auf, die Zigarette im Mundwinkel, verweilt bei jedem Fiasco ein wenig, nippt da und dort an einem Glas und verschwindet wieder. In gemessenen Abständen erscheint Mimi in der Türe, überzeugt sich durch einen lodernden Rundblick, daß unser Gehaben sich noch in gesunden Grenzen hält, und kehrt in ihre Küche zurück.

Ippolito findet Worte kernigen Lobes für mein Vorhaben; Camillo greift sie begeistert auf und zieht Vergleiche mit dem Kleinbürgertum: »Das sitzt den ganzen Tag auf Sesseln vor der Türe,« sagt er, »und schaut – bläh! – in die Luft. Keine Leibesübung – lieber sterben! Dafür fressen sie Pillen! Wenn einer von denen das gehen sollte, was Sie in einem Nachmittag gehen, so braucht er drei Tage und kommt tot zurück! Ist das ein Leben?« Wir sind einstimmig der Ansicht, daß es kein Leben ist. Ippolito ruft: »Die Berge, nichts als die Berge für mich! Wenn wieder Jagdzeit ist, laufe ich wochenlang oben herum!« Carducci, der alte Fahrer, macht für sich einen Vorbehalt: er liebt gebahnte Straßen. Die andern beginnen ihm sofort das Fell zu zausen; – ob das Land eigens für ihn Straßen bauen solle? Er wehrt entrüstet ab – die Spötter lassen nicht nach; er wird hitzig – Camillo dröhnt ihn nieder: »Du bist anmaßend, du bist überheblich!« Torquato, der die großen Worte liebt, steigert sich zu dem Vorwurf: »Du bist das Unglück Italiens!« Carducci verläßt geknickt den Raum, von furchtbarem Gelächter verfolgt.

Aus der Küche tönen laute Stimmen. Mimi ist nicht zu hören, also kann es nicht arg sein. Da stürzt Antonio herein, der Hausbursche, streckt uns allen, zuletzt Ippolito und Camillo, die Hand hin: »Lebt alle wohl – ich gehe!« Und er will im Sturm wieder hinaus. Camillo hält ihn fest: »Was gibt's? Bist du verrückt?« Da strömen dem Scheidenden schon die Tränen übers Gesicht, er stemmt die Finger der freien Linken gegen das Herz, schleudert sie hoch in die Luft, stammelt: »Ich kann hier nicht bleiben, wenn Personen mich zu beschimpfen wagen, mich zu beschimpfen, Personen, die nicht würdig sind, die Spuren meiner Schritte zu küssen …«

Das klingt verzweifelt. Ich suche mir derartige Personen vorzustellen, doch meine Begriffe von Abschaum reichen nicht aus. Die Spuren von Antonios Schritten mögen nicht unbedeutend sein, der Schuhnummer nach – doch unwürdig, sie zu küssen? Der bürgerliche Tod! – Antonio heult: »Ein Affe bleibt ein Affe, und wenn er in Seide gekleidet ist! Und ist nicht würdig, die Spuren meiner Schritte …« Das Schluchzen will ihn erwürgen. Carducci ist hereingekommen und gibt Erklärungen: »Teresa hat ihm vorgeworfen, daß er nichts arbeitet und zu viel ißt …«

Teresa also – gestern noch Gefährtin im Hündchentanze und heute schon unwürdig, die Spuren … Oh, über die Vergänglichkeit alles Irdischen! Und wie mag ihr zumute sein, der Ärmsten, ausgeschlossen von den Wonnen des Fährtenkusses?

Antonio strebt heulend fort, Camillo hält seine Hand, wir alle reden gütlich zu. Ippolito fragt in würdigem Baß: »Wer ist der Herr in diesem Hause – ich oder die Teresa? – Habe ich dir etwas gesagt, war ich unzufrieden? Warum hörst du nur auf die Teresa?« – Mimi ist in die Türe getreten und sieht zu. Antonio wird butterweich unter ihrem Blick. Er läßt alles Widerstreben; Camillo gibt seine Hand frei. Antonio schlägt feierlich das Kreuz – Stirne, Brust, beide Schultern, im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen. Dann umfaßt er mit einer weiten Gebärde die Brüder und Mimis dunkle Gestalt und spricht, immer noch weinend: »Seit zwanzig Jahren zum ersten Male bekreuzige ich mich. – Gott soll mich verfluchen, wenn ich nicht gerne in diesem Hause bin, bei dieser Familie, die ich so sehr liebe! Aber wenn Personen …«

Doch Mimi ist der Ansicht, daß Antonio seinen Auftritt gehabt hat und zufrieden sein kann. Sie schneidet alles Weitere ab mit dem Befehl, kurz und kalt: »Geh in den Keller, es ist kein Wein mehr da!« Und Antonio stürzt davon. Mimi wendet sich in die Küche zurück; man hört sie mit Teresa ein Hühnchen rupfen; nach wenigen Worten mengt sich in das Geschirrklappern heulendes Weinen. Teresa ist zum Nichts entwürdigt.

Ippolito murmelt: »Geschichten, ah, Geschichten!« und trinkt. Wir alle tun ihm nach, denn das Mitleid brennt uns noch in den Eingeweiden. Antonio stellt den neuen Fiasco mit Schwung auf den Tisch, fragt nach sonstigen Wünschen, platzt vor Diensteifer. Auf Ippolitos Wink verweht er wie ein Gas. Wir sind sehr glücklich, daß alles wieder im Lot ist, und müssen unbedingt singen. Memmo stürzt sich auf das Tenorsolo:

» Quel mazzolin' di fiori …«

Die Bässe toben in ungeahnte Tiefen:

» Che vien' dalla montagna,«

Dann schmilzt alles in weichem Wohllaut zusammen:

» Bada ben' ehe non si bagna,
Io lo voglio regalar'!
«

Das Lied hat ungezählte Strophen. Wir bewältigen sie alle. Doch als wir von vorne wieder anfangen wollen, bedeutet uns Mimi, daß die bisherigen Darbietungen genügt haben dürften. Nun, nun – wir geizen nicht mit unseren Gaben, wir hätten gerne das Gold unserer Stimmen auch weiterhin verschenkt. Memmo besonders kann es gar nicht fassen, daß irgend jemand sich dem Zauber seines Tremolos verschließen könne; er wüßte noch ein Lied, vom Reiter und dem Mädchen, hihi, es klinge ganz harmlos, aber … na ja … Und er wagt, es zu trällern, er entblödet sich nicht, den Schlußton kanarienhaft an schwellen zu lassen, hinzuhalten, schmetternd abzubrechen! Er kennt Mimi nicht – Wehe! Torquato hält ihm den Mund zu, wir alle sitzen schreckensstarr. Doch Mimi meldet sich nicht. Vielleicht hat sie nichts gehört, vielleicht hat sie gehört und verziehen um unserer Reue willen, vielleicht auch ist Medea weich vor dem Tenor? Memmo natürlich glaubt das Letztere; er grinst überheblich und möchte es auf eine Probe ankommen lassen. Doch wir hindern ihn, diesmal in eingestandner Eifersucht. Soll seine verdammte Stimmritze recht haben über uns, nur weil sie höher gespannt ist? Camillo fängt äußerst geschickt mit Polidoro Morra zu spielen an. Sie donnern die Fäuste mit gespreizten Fingern auf den Tisch und schreien einander ins Gesicht: »Drei! Sieben! Fünf! Fünf! Neun!« Torquato fordert Memmo heraus, der schnell alle Kränkung vergißt: »Acht! Sieben! Zwei! Sechs! Zwei!« Polidoro und Memmo haben verloren – die nächsten zwei Fiaschi gehen zu ihren Lasten. Camillo regt an: »Wein steht noch auf dem Tisch – aber wie wäre es mit einer Schüssel Salami und einem schwarzen Kaffee hinterher?« – Eine Abordnung wird gewählt, um Mimi den Wunsch geziemend vorzutragen. Torquato und Carducci, reife Männer. Mimi möchte eigentlich zu Bett gehen – aber, nun – ein Abschied! Auch lechzen Antonio wie Teresa nach Betätigung. Antonio rennt in den Keller, um Wurst und Speck, Teresa facht das Feuer an, stellt Wasser zu, mahlt den Kaffee. Mimi fühlt, daß sie herrscht, und läßt ein Weniges von ihrer Würde nach. Sie trägt die Schüssel mit Aufschnitt selbst herein, setzt sich zu uns, steht Rede und Antwort. Auch Vivi taucht, schlaftrunken, von irgendwoher auf. Polidoro blitzt sie an, sie bleibt verschlossen. Durch die halboffene Küchentür lugen Teresa und Antonio, die ihren Frieden gemacht haben.

Das letzte Glas der Compagnia! Dann der Kaffee. Die Nacht vor dem Fenster ist bleich geworden, die Welt ringt sich aus ihrem Schoß. Nun nichts mehr von Bett und Zimmerenge! Der Morgen wird mich besser kühlen als der kurze Schlaf.

Die Männer begleiten mich in den Stall hinaus. Der Schimmel steht und findet nichts dabei, daß er um diese Stunde gesattelt wird. Alle sind mit irgendeinem Griff bemüht. Torquato hält mir den Bügel beim Aufsteigen. Dank, Freunde, und auf Wiedersehen!

Ich reite in den jungen Tag.

 

Klapp, klapp: schwere Eisenschuhe auf Gestein. Ringsum, so innig schon vertraut, Schafgarbe, Quendel, Pfefferminz. Von der nahen Kiefernschonung weht es heimatlich herüber: taufeuchte Nadeln und Moos. Von der Höhe des ersten Kammes sehe ich, weit vor mir, die Berge ins Frühlicht ragen, Kuppen und Hänge von Perlenglanz überhaucht. Keine unerfüllte Sehnsucht mehr zwischen mir und euch, ihr Gipfel! Ich bin der frohe Reiter, mein Tier trägt mich zu euch!

Warum rührt ihr mir so ans innerste Wesen, ihr fremden Berge im Frühlicht, so anders als die Berge der Heimat? Habe ich dort nicht oft genug, als Jäger, den Tag herangewacht, wenn es dem Hahn galt, dem Bock oder dem Feisthirsch? – Wälder um mich, die Wälder meiner Jugend, weit wie ein Meer, dessen getürmte Wogen die junge Sonne vom Himmel schied, wie am ersten Tage.

Bin ich nicht oft, wie oft! mit der Sense hinausgezogen ins laue Dämmern, um den Tau zu nützen, der Gras und Blumen leichter an die Schneide bringt? – Grashalden und Waldstreifen; über tiefe Täler weg, von den ersten Niederalmen her, Weideglocken im Morgenwind.

Habe ich nicht, auf Hochalmen, im ersten Frühschein nach verstiegenem Vieh gesucht? Felswände ringsum, deren stolze Nacktheit jedem Samen trotzte, die Schellenton, Bachrieseln und meinen Ruf einander zuwarfen, in trügerischem Spiel.

Warum dort nicht die selige Beglückung, die nach keinem Weiter verlangt, in sich geschlossen? Warum nur lächelnde Wehmut über ewig dürstendem Wünschen, wie ein leichter Verband auf unheilbarer Wunde?

War es das Zweckbewußtsein, das mich stets umgab und mich in seinen Rahmen zwang, als Jäger oder als Wanderer, als Städter oder Bauer? Jedem sein Fach in dem großen Aktenschrank! Du hast studiert, du darfst kein Bauer sein!

Hier bin ich nur ein Mensch, der Erde sucht, und sie ist mir willig aufgetan. Wollte ich mir wieder, wie einst, mein Brot auf eigenem Boden bauen: hier dürfte mich kein Amtsjurist mit Paragraphen plagen, kein Ökonomierat mir auf furchtbar ungewaschenen nackten Füßen ins Haus Lappen, um meine Wirtschaftsführung zu prüfen.

»Du hast studiert und willst nicht schreiben oder handeln, willst Zurück zu härtester Arbeit? Tu, wie du willst! Da ist das Land, sieh zu, was du ihm abringst!«

Darum wohl, darum zeigt die Erde hier ein anderes Gesicht. Sie fühlt sich nicht behütet vom Kastengeist der Ökonomie- und Regierungsräte; sie kennt ihre Kräfte und Widerstände, wie ihre Macht, Unberufenen das Spiel mit dem Boden zu verleiden. Glatt und sauber liegt sie da, wie ein Wildtier, eine Hindin etwa, deren straffes Haar der Regen wäscht, der Wind kämmt und die Sonne überglänzt.

Daheim aber – markierte Wege und Steige, Verbots- und Warnungstafeln, Feldschutz und Bergwacht bis zu letzten Höhen –: Bürstenstriche im Fell stallgewohnten Hausviehs. Ich schmähe dich nicht, Heimat; ich suche nur hier, was du mir versagt hast: gebefreudige Weite. –

Auf hohem Kamm mein Weg, Gipfel mein Ziel; mir alle Weite! – Die ersten Sonnenstrahlen stehen über dem Berg im Osten, wie die Wimpern eines königlichen Auges, das Gnade und Gewährung blicken wird, mir, mir, dem frohen Reiter.

Vorbei die Kiefern, das Farnkraut, die Heide; Buchen in der Morgensonne: Ich werde viele euresgleichen sehen in diesen Sommertagen und will sie alle von euch grüßen, die ihr mir Richtung gabt und reines Gedenken. – Run die Steinwüste, doch ohne Schrecken. Das Schellenband um meines Tieres Hals bannt die Gespenster: ich bin der frohe Reiter! Wo meines Schimmels Glocke klingt, hat Böses keine Macht.

Bald stehe ich wieder auf dem Kamm, von dem der Weg hinüberführt ins Köhlertal, ins Tal der Verdammten, wie es mir an jenem ersten Tage schien. Nun weiß ich, daß das Märchen dort drüben wohnt in dem verborgenen Kessel, aber ich weiß auch, daß es vermessen wäre, heute schon wieder mein Ziel dahin zu legen. Wer will sagen, in welcher Gestalt es mir heute entgegentreten, ob es sich mir überhaupt nochmals zeigen wird? Gestern Märchen, heute Fest, morgen schmutziger Alltag – das geht so schnell! Hüten wir die Erinnerung, die reiner Glaube ist!

Agostino werde ich nicht mehr sehen, wenn ich hier abbiege. Er belädt wohl eben erst dort drüben seine Tiere, wird kaum vor einer Stunde hier oben sein. Nun, es ist kein Abschied für immer: Ich komme sicher noch einmal in das Haus an der großen Straße.

Gerade hinunter also, und das breite Tal durchritten, das mich von den Hochkämmen trennt. Gipfel, meine Gipfel, heute abend will ich in den Buchenbüschen schlafen, die euch umkränzen. Mein Schimmel aber soll frei auf euren Höhen werden!

Bergab, bergab – der Weg ist rauh, mit Steinen übersät. Mein Schimmel tappt ihn gleichmäßig hinunter, sucht kaum Fühlung mit der Zügelhand. Er hat, so jung er ist, Schwereres als mich auf schlechteren Wegen getragen. Ob er weiß, was ich mit ihm vorhabe? Er scheint jedenfalls nicht mißvergnügt: einen langen Abend und mehr als die halbe Nacht vor Hafer, Kleie und Heu, dann den leichten Sattel und den mageren Reiter, der sich überdies noch leicht zu machen strebt – es läßt sich leben! Buchenlaub, Erika, Beerengesträuch würdigt er keines Blickes; sogar die Gräser und Blumen am Wege liegen außerhalb seines Interesses: ich bin Besseres gewöhnt! – Durch den Sattel spüre ich, wie die Kleie angenehm in seinem Bauch gurgelt; gelegentlich grunzt er wollüstig vor sich hin. Er hat sich ungeheuer vollgefressen: diese Tatsache bleibt fest und wahr, was immer nun auch folgen mag. Sollte sie sich wiederholen, so wird sie ihn ebenso gerüstet finden, wie Hunger und Schläge.

Bei der ersten Senke hört die Wildnis auf. Zu beiden Seiten des Weges sind meterhohe Trockenmauern aus Feldsteinen aufgeschichtet, mit allerlei Stachelgewächsen überdeckt. Rostrot leuchtet der welke Wacholder; die dürren Akazien- und Schlehdornzweige blühen von bunten Flechten; die Brombeerranken aber, mit den fingerbreiten, zentimeterlangen Stacheln, ziehen sich nackt hin, giftig böse. Alle die toten Waldkinder schützen die Habe der Menschen. Hinter den bewehrten Mauern liegen ebene Weiden, auf deren grünen Teichen da und dort ein alter Nußbaum;, eine Kastanie oder ein Buchengebüsch als Schatteninseln schwimmen. Erika, Heidelbeeren, Ginster sind mit Feuer und Schwert ausgerottet; nur in vergessenen Winkeln noch winden sich die aschgrauen, versengten Stämmlein klagend ins Licht: wem konnte unser Blühen schaden?

Kühe, vom schönsten Oberländerschlag, wandern unruhig auf und nieder; die Fliegen sind grimmig wach in der Vormittagssonne, auch der Schatten schreckt sie nicht. Die Grillen haben, wie stets, das große Wort und wissen alles. Sie sind zahlreich und unermüdlich, und so muß jeder andere Laut, der sich durchsetzen will, mit ihrem Grundton rechnen. Ihr scharfes Feilen zerbeißt jede Pause. Die Eisenschellen tönen heiser, abgerissen. Irgendwo im Schatten singen Hirtenkinder ein Lied; sie nehmen ein paar Takte hastig Anlauf und ziehen dann einen mehrstimmigen Akkord lang aus. Es ist wie der Zug des kleinen Rüttelfalken dort im Blauen: ein suchendes Schwingenschlagen und ein freies, weites Gleiten.

Auf die Weiden in der Senke folgen, in neuem Bergab, die Terrassenfelder mit Klee, Weizen, Kartoffeln, alle mit Steinmauern und Dornen gezäunt. Das Dorf ist nahe, der Weg hat schon grobes Pflaster und hohe Wasserschläge. Hinter einer Bodenfalte tauchen die Häuser auf, wie die Nester einer Vogelkolonie: unverputzt, aus Grobsteinen aufgemauert, mit groben, zweifingerstarken Schieferplatten gedeckt, wollen sie kein Gesicht haben, nur Obdach sein. Der Weg, zwei Meter breit, führt steil und stufig mitten durch. Unrathäufchen, Abwässer aus Stall und Küche bilden träge Pfützen, warten auf den nächsten Regen oder auf die Mittagssonne, die nur die Titanen unter ihnen leben lassen, die Kleinen zu Staub dörren wird.

Den Häusern habe ich unrecht getan: hier gegen die Hauptstraße zu zeigen sie grimme Mienen, Freitreppen, Torbögen, wuchtige Gitter. Jedes eine feste Burg; kein Fleckchen gewachsener Boden – Stein alles, Pflaster und Mauern. Doch aus den mörtellosen Ritzen wuchern Fetthenne, Farren, hängende Gräser. Hier zweigt ein Seitenweg ab: er ist unter massigem Bogen, der für jedes Schloßportal ausreichen würde, gerade durch ein Haus geführt, das aus kleinen Gitterfenstern niederblinzelt. Dahinter ein Hof, von dem eine Freitreppe in ein Obergeschoß strebt, noch ein Bogen durch ein Haus, wieder ein Hof und noch ein Bogen: ganz unten freies Grün von Hecken und Bäumen. Was von weitem, von außen, eine Vogelkolonie schien, stellt hier innen gewaltige Ansprüche: dies ist kein Dorf, kein Markt – es ist, wohl in kleinen Ausmaßen, doch echt in trotziger Gebärde, eine Stadt. Und wird doch kaum mehr als zweihundert Seelen bergen. Nichts von der Weite unserer Dörfer; kein Vorgärtchen mit Blumen gegen die Straße; kein Wiesenstreifen mit Obstbäumen gegen den Nachbarn zu. Doch immer wieder die Merkmale städtischer Bodenknappheit: schmale Fronten; zwei, drei Stockwerke übereinander; winkelige Seitenwege, schmale Durchlässe; jedes Fleckchen ausgenützt. Häufig die Eckhäuser, die mit spitzen, rhombischen Kanten, wie mit Schiffsbügen, in die Wege schneiden. In Florenz habe ich sie oft gesehen, dort auch begriffen, als letzten Ausdruck des Renaissance-Geistes: dies Haus hier ist mein treues Schiff, es trägt mich durch ein Meer von Stein.

Hier in freien Höhen aber – woher da der Bürgerstolz und die trotzige Bescheidung? Ach ja, ich vergesse – dieser weite Landstrich war vor wenig mehr als hundert Jahren noch den Doria hörig, deren Fronvogt auf der Zwingburg hoch im Gebirge saß und nach Gutdünken die Siedelung geregelt haben mag: hier drei Familien, da fünf, dort zehn; der Baugrund den kostbaren Bergwiesen und den Wäldern abgeknappt, wie nur je in einer festen Stadt, die Wallmauern würgen; zum Schlafen braucht ihr kein Licht und wenig Luft. Tagsüber, bei der Arbeit in Feld und Wald, habt ihr beides im Überfluß! – Stein? an Steinen fehlt es nicht; es gibt zuviel davon in diesen Bergen. Sand führt der Wildbach. Kalk wird an Ort und Stelle gebrannt, in einem schnell errichteten Ringofen. Schiefer liegt überall frei zutage – spaltet ihn in Tafeln! Zu Zimmerdecken und Dachsparren dürft ihr ein paar Krüppeleichen nehmen, ein Dutzend für jedes Haus. Reichen sie in der Länge nicht von Wand zu Wand, so mauert euch einen Pfeiler mitten ins Zimmer, mit Querbögen; so könnt ihr Abfall nützen. Für den Fußboden tun es Schieferplatten; die Kinder werden sie schon blankwetzen, wie auch die Stiegen.

Und alle Sehnsucht nach Weite und Freiheit schwingt in Bögen aus, in Freitreppen und Söllern, wie die Herren sie haben …

Weiter, weiter! Die Sonne steht hoch, doch ich will nicht in Häusern rasten. Dort unten in der waldigen Schlucht rauscht der Fluß, dort wollen wir, mein Schimmel und ich, uns vor dem Pan bergen, dem der Sommermittag freigegeben ist.

Klapp, klapp – Eisenschuhe aufs Gestein. Die Schellen klingen matter. Die Fliegen kennen keine Nachsicht – sie müssen und müssen jede ihr Maß Blut haben, und sollten sie darüber zugrunde gehen. Meines Schimmels Hals ist überpünktet von den Leichen, die ich zermalmt habe. Die andern schreckt das nicht: Was soll ein Leben ohne Rausch?

Das Dorf hinter uns ist schon Mieder in einer Hügelfalte verschwunden. Nur der Pflasterweg und die ummauerten Terrassen, die sich zum Fluß niedersenken, erzählen noch von seiner Nähe. Da ist die Brücke, uralt, in spitzem Bogen über den Fluß gewölbt. Wie ein offener Fischrachen liegt sie da, ein dreikantiger, ewig bereit, den Fluß zu verschlingen. Die brausenden Wasser stürzen sich todesmutig in die Höhlung: wir bereiten den Weg; die nach uns kommen, werden siegen!

Wäre ich nun allein, so wollte ich wohl den Pflasterweg hinansteigen, bis zu dem Votivbild im Scheitelpunkt, wollte über die Brüstung hinunterschauen in den jagenden Gischt, bis meine getäuschten Sinne mir die Strömung starr gebannt zeigten, mich selbst aber, mit der Brücke, in milder Fahrt. Scherze, Scherze! Wozu die Wasserkünste, Wenn ich doch im Sattel sitze! Auch ist die Frage nicht genügend geklärt, wie der Schimmel sich zu Schwindelmanövern verhalten würde. Lassen wir die Brücke unbetreten. Dagegen dürfte ein Bad in Betracht zu ziehen sein, ein Mittagessen und ein Schläfchen. – Ich reite dem Ufer entlang stromauf. Wo die dicken Hasel- und Erlenbüsche, die den Fluß säumen, eine Lücke lassen, zwänge ich mich durch. Einem Pferd wäre der Sprung über die schlüpfrige Uferböschung hinunter, auf Geröll und grobe Steine, kaum zuzumuten. Der Mulo findet nicht viel dabei; er prüft mit einem kurzen Blick die Sachlage, sucht mit den Vorderhufen bedächtig Halt, schiebt die Hinterhand nach und rutscht hinunter, alles leicht und mühelos. Im Flußbett steige ich ab, hüpfe anmutig von Stein zu Stein und ziehe den Schimmel am Zügel nach. Er planscht durch das knietiefe Wasser und zeigt nicht übel Lust, sich niederzutun. Verzeihung, das darf nicht sein! Ich bin der Sklave deiner Lüste, treues Tier, liebend um dein Wohl besorgt – doch auch der Sattel und das bißchen Zeug daran sind mir ans Herz gewachsen. Sieh, wenige Schritte vor uns hat sich das Wasser ein Bett aus blankem Stein gehöhlt: dort wird sich über manches reden lassen!

Ein ungeheurer Fels ragt aus dem Bergesinnern, ein Berg für sich, im Urgrund verwurzelt. Ein Wasserfaden kommt von irgendwo herunter, macht halt vor seiner Übermacht: »Wer bin ich, Erhabener, daß ich dich zu überklettern wagen sollte? Laß mich deine Füße küssen!« Der Fels läßt es geschehen. Der Wasserfaden rinnt und rinnt, zieht einen Tümpel groß, der bald des Erhabenen Knie umfängt, dann seine Hüften, sich jagend an seine Brust gibt: laß mich leben, Gewaltiger! – Der Fels läßt es geschehen. Er ist so groß, so ganz Riese, daß er des Schmeichelns da unten kaum gewahr wird.

Blitze halten Ernte in den Bergen, fällen Bäume, morden, brennen. Was können sie gegen den gewachsenen Fels, der von Anbeginn ragt? Die Blitze können dir nichts tun, Gewaltiger, und nichts der Donner. Der Guß aber, der sie begleitet, gibt dem Wasserfaden Gewalt, läßt ihn alle Demut vergessen, macht ihn zum rasenden Feind, der erbarmungslos gegen dich anrennt und zuschlägt, wo er gestern gestreichelt hat. Dein eigenes Geschlecht hat er zum Kampf aufgerufen; sieh die Felstrümmer, die er zum Sturme vorschickt! Wie sie dich haßerfüllt anspringen: du bist groß und wir sind klein – doch du bist einer und wir sind viele – du mußt, du mußt, du mußt unterliegen!

Da merkt der Fels, daß sein Stolz von gestern, die erdgebundene Starrheit, nur Panzer ist, nicht Waffe gegen die stürmende Menge; könnte er sich nur rühren, ein klein wenig rühren – wie wollte er die Zwerge erdrücken mit seiner Wucht! Doch seine Anker halten fest, er bleibt an seinen Thron gekettet. Die Wasser werden nicht müde – sie berennen ihn, zermürben ihn, reißen Fetzen aus seiner Haut, graben sich in sein Fleisch, bis er ihrem Drang nichts mehr entgegenzustemmen weiß: da hat der König von gestern, der glutgeborene, seinen Meister gefunden, den Wasserfall, und muß sein herrisches Brausen erdulden. Die eigene Riesengestalt vollendet sein Schicksal; im Sturz von seiner Höhe gewinnen die Wasser Kraft, auch seine Grundfesten anzunagen. Ein tiefer Tümpel wächst an des Gewaltigen andrem Fuß, erzwingt sich den Ausweg über letzte Sperren: der Fluß strömt frei zu Tal. Der Riese bleibt zurück, zum Spielzeug erniedrigt, den Tod vor Augen. Die Vielen siegen immer, entthronter König, wenn die Großen nur auf ihre Größe pochen, sie nicht Schlag auf Schlag zu wahren wissen!

Mir nun wird die Walstatt zum Lustort. Hast du so vieles schon erduldet, majestätischer Fels, so wirst du auch meine bescheidenen Vergnügungen mitanzusehen wissen. Ich sattle den Schimmel ab, breite die verschwitzte Satteldecke auf den sonnenwarmen Felswänden zum Trocknen aus, mein Eßbündel aber berge ich im tiefsten Schatten. Ich liebe die Sonne, doch meine Salami soll sie vergessen. Dann leite ich den Mulo an der langen Strickhalfter ins Tiefe. Er geht bis zum Bauch hinein; die paar Bremsen, die sich in stillen Winkeln geborgen wähnten und haltlos Blut soffen, erkennen zu spät den Sinn des Geschehens; der Strom reißt sie mit sich. Der Schimmel trinkt in langen Zügen, schaut gedankenvoll vor sich hm, wird plötzlich weich in den Beinen und legt sich um, so hemmungslos, daß ich fürchte, der Schlag habe ihn gerührt. Doch der langohrige Kopf, bleibt über Wasser, grinst Trost und Ruhe in mein flatterndes Herz zurück. Über den ruhenden Leib rauscht das Wasser hin, nimmt ihm Farbe und vertraute Gestalt. Verdammt, was hab' ich da an meinem Strick – halt' ich es, oder hält es mich? Hat nicht Mimi von Schlangen erzählt mit Pferdeköpfen? Damals, am heiligen Herdfeuer, habe ach gelacht darüber. Heute, in dieser Sommermittagsstunde, scheint es mir weniger unmöglich. Wer kennt den Pan und feine Tücken?

Da kocht das Wasser, da regnet es Funken, da schnaubt ein Untier – fahr' hin, du sonnige Welt! – Doch es ist nur der Mulo, mein Mulo, wie ich aufatmend bemerke, der sich mit einem Satz erhoben hat und sich die Nasse aus dem Fell beutelt. Gut, gut – doch ein andermal weniger Überschwang, wenn ich bitten darf! Ich bin kein Knabe mehr, wie du, und neige dazu, im Plötzlichen stets auch das Furchtbare zu erwarten! – Von freiem Auslauf kann hiernach für den Augenblick nicht mehr die Rede sein: ich habe für den Nachmittag noch bedeutende Pläne und denke nicht daran, sie von deiner Laune abhängig zu machen. Hier bist du festgehängt – der Strick läßt dir Spielraum genug, dich in der Sonne zu trocknen oder im Schatten vollzufressen; das schönste Gras wächst dir bis zum Bauch. Du sollst nicht leiden, aber auch nicht jubeln. So will ich es, ich, dein Herr! – Ich recke den Arm königlich empor, als wollte ich mir ein wenig frisches Gottesgnadentum vom Baum des Himmels pflücken. Mein Schattenbild sogar ist hingerissen von der Macht meiner Gebärde und ballt sich hündisch zu meinen Füßen. Der Schimmel kehrt mir den Rücken zu und beginnt zu fressen, wie ich es ihm befohlen habe. Fort mit allen Zweifeln – es ist ein Sieg!

Und nun keinen Blick mehr, keinen Gedanken dem Sklaven, dem in sein Nichts Zurückgebändigten! Erstarrt, ihr Felsen, stürze nieder, Wasserfall: ihr sollt meine alabasterne Nacktheit schauen! – Der Wind will mir beim Auskleiden behilflich sein, er meint es gut, er keucht vor Eifer. Verzeihen wir ihm das bißchen Ungeschick. Das Hemd bauscht sich, flattert, mag sich nicht trennen von mir. Nun, nun – deine Treue ist bemerkt; es gibt ein Wiedersehen! Geh jetzt! –

Ich steige in das Felsbecken, bis zum Knie zunächst. Südliche Lauheit ist nicht zu merken. Von Eiseskälte gepeitscht, überspringt das Weltgefühl meiner Füße einige Jahrmillionen, gaukelt ihnen die Zeit vor, da Greifhände an meiner Stammväter Beinen saßen, erfüllt sie mit dem sündigen Ehrgeiz, sich zu Fäusten zu ballen. Doch das Weltgefüge hält dem Wahnwitz stand; die Zehen finden in die Gegenwart zurück und begnügen sich mit lasterhaften Verrenkungen. Einige Forellen bergen sich unter Steinen in der Tiefe, sprachlos entsetzt. Mit großer Kraft wächst mir eine Gänsehaut über den Leib, von gesträubten Borsten starrend. Meine Zähne werden unzuverlässig und zeigen Lust, klappernd zu den Rebellen überzugehen. Dies ist der rechte Augenblick, den Teufel mit Beelzebub auszutreiben: drei Handvoll Wasser über Brust und Nacken, und hinein! Sechs, sieben, neun Schwimmstöße bis zum andern Rand. Der Wasserfall greift nach mir, ganz lind, er möchte mich wohl als weichen Lappen in die Tiefe nehmen und den Boden mit mir ein wenig kehren. Nichts da! Ich habe von dem Schicksal des Felsens gelernt und bin auf meiner Hut! Zurück mit der Strömung, vier, fünf, sechs Stöße, dann stehe ich wieder auf dem hohen Rand, tränke den Fels und gebe Sonne und Wind an mir zu schaffen. Ich werde gut bedient. Auch das Essen ist gut und reichlich. Ein Schlückchen Grappa ist ein erfreulicher Schlußpunkt. Dann wickle ich mich nackt in meine Decke, den Sattel als Kissen. Wasser und Wind singen mich ein. Die Sonne hütet meinen Schlaf.

 

Wasser und Wind tragen meinen Schlaf wieder mit sich fort, wie sie ihn gebracht haben. Der Wasserfall liegt schon im Schatten und weht mir seinen feuchten Atem zu. Auf jetzt, es will Abend werden, und ein weiter Weg liegt noch vor mir! Der Schimmel scheint es zufrieden, daß die Rast ein Ende hat; er hat ein, bedeutendes Loch in das Ufergrün gefressen und hätte das Tempo schwerlich durchhalten können. Als ich den Sattelgurt anziehe, gurgelt er einen halben Kubikmeter Luft aus. Leb wohl, du Fels! Ich habe dein Schicksal bedauernd zur Kenntnis genommen, kann aber im Augenblick nichts für dich tun.

Auf die steile Uferböschung meinte ich den Mulo hinaufziehen zu sollen. In Wahrheit aber erwies er sich als geschickter im Klettern und jagte mich hinauf. Kein Anlaß zur Überhebung: du hast vier junge Beine, ich zwei alte, darunter ein krummes. Wagst du es, meine Atemlosigkeit zu belächeln? Paß auf, bis wir den Berg dort hinaufreiten, dann werde ich, auf deinem Rücken, mir einige Bemerkungen darüber gestatten, daß dir das Steigen schwerer zu fallen scheint als mir!

Nun müssen wir doch noch über die Bogenbrücke. Im Vorbeireiten sehe ich in der Votivnische ein flammendes Herz aus Silberblech an die weiße Wand genagelt. Darunter mit Kohle geschrieben: »O Maria! Bitte für das Herz der armen Palmyra!« Arme Palmyra, du weißt wohl nicht, wie reich du bist? Laß dein Herz nicht zu kühlem Metall erstarren, nagle es nicht an getünchte Wände – halt' es warm in deiner Brust, von rotem Blut durchspült, und tu es auf, weit auf, für dieses Land, dein Land! Glaub' mir, das hilft! Hat es doch mir, dem Fremdling, geholfen, daß ich nun auf Fürbitte leicht verzichten kann!

Jenseits geht es bergan durch alten Kastanienwald. Die Bäume stehen schütter, doch ihre Kronen sind ineinander verwoben. Den felsigen Grund deckt kurzer Rasen, von den Fruchtschalen des Vorjahrs und welken Blättern übersät. Heldentum liegt in der Luft; hier sollten nackte Frauen, vom Begehren des hütenden Drachen bedroht, den Ritter herbeiseufzen, dem Kampf und Tod ein Spiel sind, Sieg die Schwelle zur Liebe. – Ich stemme meine Haselgerte kriegerisch unter die rechte Achsel und lasse die Kochkessel klappern, um Wehrgehäng und Harnisch vorzutäuschen. Kein Drache zeigt sich, keine nackte Frau; kann das die Größe meines Vorhabens mindern?

Weiter bergauf. Buchen lösen die Kastanien ab. Buchen in hohem Gras.

Buchen, Buchen. Die Stämme werden zu Stangen, die Stangen zur züngelnden Dickung, die kein Gras mehr zwischen sich duldet. Der Weg ist steil, doch mein Mulo schnauft nicht, steigt unbekümmert im Gleichschritt; eins, zwei, drei, vier, eins, zwei, drei, vier. – Erwartest du meinen Hohn, Bursche, den angekündigten, und möchtest ihm trotzen? Gut: ich werde dich durch Liebe zerschmettern – ich steige ab! – Wie ich aber, die Zügel über den Arm gehängt, vorangehe, beginnt er mich schon wieder unverschämt zu treiben; er reibt geradezu sein weiches Maul an meinem Rücken. Sind das die Zinsen, die mein Wohltun trägt? Kennst du keine Dankbarkeit, oder willst du mir nur wieder tückisch einen Denkzettel geben, unergründlicher Lehrmeister?

Wir treten auf eine Mooswiese hinaus, von Buchendickicht rings umschlossen. Dort drüben, zwischen den Felsen, erwartet uns die letzte Steile, dann die Höhe. Der Boden federt weich unter meinem Schritt, ich fühle mich als Jüngling. Ach, es ist wirklich nur der Boden, der federt: eben bin ich durchgetreten und bis zur halben Wade ins Moor gesackt. Wie ich mich, nicht ohne Not, befreie, glaube ich, über die Schulter zurück, in des Schimmels Auge Spott aufglimmen zu sehen. Das geht zu weit! Ich nehme einen kindskopfgroßen Stein vom Wege, zwänge ihn in die Rocktasche und steige in den Sattel; trage zur Strafe, zu deines Herrn Gewicht, noch die unnütze Last!

Ein Bächlein birgt sich zwischen Gräsern, zitternd besorgt, ich könnte merken, daß es rot ist von Eisengehalt, und ein Bergwerk eröffnen. Keine Angst, du Bächlein! Ich will nichts gesehen haben! Aber ich bitte, bei Gelegenheit jene vorgeschobene Pfütze dort hinten abzuberufen; sie ist ohnehin nur noch halb voll – die andere Hälfte trage ich in meinem Schuh mit mir fort.

Meine Rache war, nun, nicht blind, aber etwas kurzsichtig: der große Stein drückt hart mit scharfen Kanten. Die Lektion dürfte übrigens schon gewirkt haben – der Schimmel zuckt mit keiner Wimper. Ich schäle den Felsbrocken aus den krachenden Nähten und lasse ihn unvermerkt zu Boden gleiten. Die Wollgräser umwehen ihn ehrfürchtig: er ist vom Himmel gefallen!

Wieder bergauf. Felsen zersplittern die Einheit der Dickung, Wächter vor des Gipfels fürstlicher Blöße. Flechten in leuchtendem Taubengrau und Schwefelgelb, schwarz durchädert, beseelen das düstere Gestein. Dazwischen blitzen Glimmerstreifen in der Abendsonne.

Weit unter mir die Vorberge, weit unter mir der leidvolle, haßvolle Alltag, der in den Tälern wohnt. Die Sonne versinkt makellos hinter fernen Kämmen. Mein Tier und ich, wir stehen frei im Bergwind, der der Nacht voraneilt. Habe ich dich erreicht, du mein Abend auf der Höhe, ohne Stolz, doch ganz gelöst in Weite!

Freundin, süße Freundin, diese Träne gilt dir – letzte Bitterkeit rinnt mit ihr fort. Was bleibt, ist Klarheit und Erwartung, sonnenwarmer Boden, der dich tragen will, meine Blume!

Die Sterne sind da, nun heißt es zur Nacht rüsten. Ich muß ein Stück bergab, bis zum ersten Buchengebüsch, aus dem ich vorhin eine Quelle rieseln sah. Doch es ist kein Weg von dir, Höhe – mein Herz bleibt dir als Unterpfand!

Abgesattelt und mein Haus bestellt: über das Feuer aus Abfallholz kommt der kupferne Dreifuß und der Kessel mit dem Teewasser. Bis es kocht, habe ich Zeit, unter den Buchen meinen Schlafplatz zu wählen. Hier ist eine kleine Mulde, wie ein Muschelbett. – Der Schimmel wird nackt ausgezogen, nur der Schellenriemen bleibt. Es ist unsere erste Nacht in Freiheit, mein Bursche – nicht wahr, du wirst mich nicht verlassen? Sieh, ich bin so glücklich – du wirst mich nicht verlassen? – Er geht ins blaue Dunkel. Die Schellen klingen Ruck um Ruck, den Gräsern, die unter seinen Zähnen sterben, ein Grabgeläut. Mein Feuerchen ist eine Insel im Meer der Nacht. Als es seinen Dienst getan hat, bringe ich es unter feuchtem Rasen zur Ruh'.

Satt und müde lege ich den Kopf auf den Sattel. Der Wind biegt mit feinen Fingern die Zweige über mir zur Seite, um den Sternen mein Gesicht zu weisen. Die Erde hält mich warm.


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