Ilse Frapan-Akunian
Schreie
Ilse Frapan-Akunian

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Die sich nie verstehen

Als Lulu bei ihrer Freundin Klotilde anklopfte, ertönte zu ihrer Ueberraschung ein zweistimmiges Herein. Neben Klotilden's tiefer, etwas bedeckter Stimme hörte sie den hellen, lauten Ruf aus einer Männerkehle, klingend wie ein Trompetenstoß.

Lulu stutzte, schob ihren Hut zurecht, strich sich das Haar hinter die Ohren, horchte dann erröthend noch eine Sekunde lang und öffnete endlich neugierig zaghaft die Thür.

Nun stutzte sie wieder, denn es war fast dämmerig drinnen, und Klotilde lag in einem hellen losen Morgenkleide lang und bequem ausgestreckt auf der Chaiselongue. Zwischen Wand und Rouleau, das herabgelassen war und das schmale Zimmer in ein rothes Dunkel hüllte, kam ein Abendstrahl herein und spielte auf dem schwarzen glänzenden Haar der Liegenden und auf der schmalen Hand, die sie Lulu entgegenstreckte.

»Guten Tag, Kleines! Du, Max, das ist sie! Sieh, Kleines, das ist mein vielbesprochener Bruder Max.«

»Der Doktor?« sagte Lulu schüchtern, indes sie sich nach rechts wandte und auch dort eine Hand in Empfang nahm. Der Eigenthümer war ein hübscher Mann, mittelgroß, schwarzhaarig wie seine Schwester, mit glänzenden, übermüthigen Augen. Diese Augen hefteten sich sogleich 148 beim ersten Händedruck mit lächelndem Interesse an dem Gesicht der Besucherin fest, die, wie magnetisch angezogen, nun auch ihn anblickte und dabei roth und röther wurde, bis ihre Backen so roth waren wie ihr Kleid. Da erst ließ er zaudernd ihre Hand frei und sagte lachend:

»Ob ich einmal irgendwo in meinem Leben ein Doktorexamen gemacht habe, – was geht denn das Sie an? Ich bin Klotilden's geliebter Bruder Max!«

Lulu verbiß ein verwundertes Lächeln und trat hastig zu Klotilde, die sich lebhaft über diese Begegnung ihrer beiden lieben Menschen zu amüsiren schien. Lulu wollte sie umarmen, aber da sie die Blicke des Doktors auf ihrem Rücken fühlte, zog sie ihre Arme, die sie schon ausgebreitet hatte, verwirrt an sich und legte flüchtig nur eine Hand um der Freundin Schulter.

»Meine süße Klotilde, bist Du krank?« Sie empfand aber keine Sorge, wußte überhaupt nicht recht, was sie sprach und that, denn der Doktor stand ganz nahe hinter ihr.

Klotilde blickte sie an und lächelte.

»Wir sind den ganzen Tag herumgelaufen, jetzt bin ich faul, nachher steh' ich auf. Nimm ab, Kleines! Max, komm, hilf mal! Nimm dem Kind den Hut ab! Deine unerwartete Erscheinung hat sie ganz decontenancirt!«

»Ach Du! durchaus nicht!« Lulu schlug ängstlich mit den Handschuhen um sich. In ihrem Leben war sie nicht so verwirrt gewesen.

Der hinter ihr Stehende stieß einen übertriebenen Schrei aus.

»Au! jetzt haben Sie mich ins Auge geschlagen! Jawohl, Fräulein Lulu, sehen Sie mich nur reuevoll an! Es hilft nicht, Staunekindchen, wie mein Freund Bierbaum so schön sagt!« 149

Er deckte sich das Auge mit der Hand, während er in dem dämmerigen Zimmerchen umherging und einen Platz für Lulu's Hut suchte, den er ihr hinterrücks vom Kopf genommen hatte.

»Kinder, vertragt Euch!« lachte Klotilde, »setz Dich, Kleines, steh nicht so kummervoll herum, das Auge ist noch nicht ausgeschlagen. Gib ihr 'n Stuhl, Max, mach Dich doch nützlich, mein Junge!«

Der Doktor hatte Lulu's Hut auf die Fruchtschale mit Trauben mitten auf dem Tisch gestülpt. Nun brachte er den Stuhl.

»Muß ich Sie auch noch draufsetzen oder können Sie das allein?« sagte er in harmlosem Ton und blitzte sie an mit den Schelmenaugen.

Lulu setzte sich hastig, als könne er seine Drohung wahrmachen. Sie fand sich heute hier nicht zurecht. Klotilde, mehr als zehn Jahr älter als sie, die verständige, ernste Freundin, zu der sie in Verehrung aufblickte, war sie noch dieselbe? Sie hatte Farbe auf den Backen und Lachpünktchen in den Augen, und sie half dem Bruder, Lulu necken und wie ein Wickelkind zu behandeln, daß diese es fast nicht mehr aushielt.

Der Doktor hatte sich neben Lulu gesetzt und betrachtete sie ungenirt.

»Also das ist die Dichterin,« sagte er schalkhaft, »die so wohlklingende feurige Liebeslieder an meine gute Schwester Klotilde schreibt! Dieses Staunekindchen mit dem rothen Kleid und den Kinderwangen ist die Dichterin!«

Lulu hatte sich gerade trotzig aufraffen wollen, nun erröthete sie von neuem, ward von neuem unsicher.

»Ach, haben Sie sie gelesen? Aber die sind ja gar nicht für die Oeffentlichkeit!« 150

Die Geschwister lachten.

»Fräulein Lulu, bin denn ich die Oeffentlichkeit? Klotilden's Herzensbruder Max und hoffentlich bald auch der Ihrige! Klotilde wenigstens hat mir gesagt, Sie wünschten mich schon längst kennen zu lernen und –«

Lulu drehte sich zu ihm um.

»Ja,« sagte sie treuherzig, »das ist wirklich wahr, aber –« und nun begann die Schelmerei um ihre Lippen zu spielen.

»Aber?« –

»Aber Sie sind sich ja kein bißchen ähnlich!«

»Ich bin hübscher, nicht wahr?« lachte der Doktor. »Ach, Fräulein Lulu, schlagen Sie nicht die Augen nieder, seien Sie aufrichtig! Großen Geistern ziemt Aufrichtigkeit, und ich halte Sie für einen großen Geist! Wahrhaftig, ohne Scherz!«

Sein Gesicht wurde ernsthaft, aber feurige, ungeheuchelte Bewunderung las Lulu darin. Ihr Herz that einen sonderbaren Luftsprung, weit über sich hinaus, und dann plötzlich begann sie alle ihre Befangenheit abzustreifen und klar und lebhaft zu reden.

»Hübscher? ja, ich weiß nicht! Natürlich ist für mich Klotilde die hübscheste! Sie sind auch nicht so groß und schlank wie sie, Sie können gewiß bald dick werden!«

»Halt!« der Doktor stieß einen Schrei aus und verstopfte sich die Ohren, »Kind, nicht weiter, Sie reden sich um den Kopf!« Er sprang auf, zog die helle Weste straff herunter und reckte den Hals:

»Dick? Wieso dick? Nein, das war nicht hübsch von Ihnen, das war unpoetisch! Und Klotilde haben Sie so poetisch besungen:

›Rebe bin ich, die mit warmem Triebe –‹ 151

wie geht es weiter, Klotilde? Nein, sehen Sie, Lulu, jetzt ist mir wahrhaftig alle Freude verdorben, wenn Sie mich dick finden!«

Lulu lachte schadenfroh und kindlich. Ihre Aufregung war wie ein leichter duftender Wein, der die Wangen röthet und die Gedanken beschwingt. Die ganze Atmosphäre war benebelnd hier heute, unter dem Glanz dieser Augen, die bald schelmisch, bald feurig an ihr hingen, jede ihrer Bewegungen verfolgten, sie herausforderten und beklemmten und doch gleichzeitig ihre Zunge lösten, daß sie zu schwatzen anfing, überstürzt, ins Blaue hinein, übertrieben, prahlerisch und dreist.

»Ach so!« sagte sie und fuhr mit den Blicken über den Doktor hin, »Sie finden sich selber hübsch! Das ist zum Todtlachen! Aber die Männer sind alle so eitel!« Sie seufzte altklug. »Wir sind gar nicht eitel, nicht halb so, aber immer heißt es: die Weiber! die Weiber! Ueberhaupt – alles wird uns auf den Hals geschoben, und nachher muß es wohl wahr sein! Ja, die Männer sind schrecklich. Ich möchte nie heirathen! Sie haben solche große Stiefel und riechen nach Tabak; alle zusammen riechen nach Tabak, auch wenn sie selber nicht rauchen. Uebrigens – ein Herr, der nicht raucht, – das ist auch wieder nur halb. Bei den Männern kann man nichts Poetisches finden, wenn man sich auch noch so viel Mühe gibt! Ha, die Männer!«

»Haben Sie sich schon viel Mühe mit ihnen gegeben, Fräulein?« unterbrach sie der Doktor lustig.

»Ich? pah!« sie machte ein verächtliches Gesicht, auf dem doch allmählich und ihr selber unbewußt wieder das geschmeichelte Lächeln des seligen kleinen Mädchens erschien, das sich als Mittelpunkt fühlt. »Ich gäbe mir 152 Mühe um Männer? Koketterie ist entsetzlich! Ich verachte sie schrecklich. Neulich sagte eine Dame zu mir: ›Wenn ein Herr da ist, gehen die jungen Mädchen alle auf wie die Berliner Pfannkuchen!‹ Ich begreife nicht, wie eine Frau so etwas sagen kann! Es war noch dazu in Gesellschaft. Ich schämte mich für sie. Vielleicht war sie solch ein Pfannkuchen, nicht wahr, Klotilde? Ist es nicht abscheulich?«

Mit glühenden Wangen schmiegte die Kleine sich an die Freundin, die sie mit halb zugedrückten Augen, nicht ganz ohne Spott, betrachtete, aber nichts sprach.

Lulu schien den Doktor ganz vergessen zu haben.

»Meine Klotilde!« sagte sie, über sie gebeugt, »meine Klotilde!«

Als es sich hinter ihr räusperte, fuhr sie, tief erröthend herum.

»Aber die Brüder, Fräulein Lulu,« sagte Max mit gedämpfter, liebkosender Stimme, »die Brüder dürfen doch Zutritt haben zu dem Heiligthum der schönen Gefühle, nicht wahr? Die Brüder der Freundinnen sind doch keine Männer! Klotilde hatte mich so neugierig gemacht. Kommen Sie, lassen Sie uns einen heiligen Bund gründen für Idealität, schöne Gefühle und so weiter! Ich bin ja ganz dabei!«

Lulu sah ihn mißtrauisch an, sie wartete auf das Gelächter am Schluß.

Als es nicht kam, als sein warmer Blick sie wieder einhüllte, senkte sich eine neue Rosenwolke auf sie herab, und sie lächelte, gläubig und entzückt. Sie lispelte:

»Ach, wie wäre denn so etwas möglich? Solch ein Bund, wie Sie sagen? Ich kann mir das gar nicht vorstellen –« 153

»Sie müßten auch an mich Gedichte machen und ich an Sie, Lulu. Ach, nun staunt sie wieder so lieb! Klotilde, wo hast Du eigentlich dies kleine Meerwunder aufgegabelt? Na, na, nicht übelnehmen! Es war wahrhaftig gut gemeint.«

Er faßte ihre kleine, zitternde Hand und drückte sie heftig. Klotilde lachte gutmüthig.

»Du verwöhnst sie, Max! Sie hält sich für nichts Besonderes, die Kleine, für kein Meerwunder. Lulu, er ist 'n Spaßvogel, aber 'n guter Junge. Ich kenn' ihn ja schon lange. Und Gedichte macht er auch.«

»Ja, ich weiß!« Lulu schlug lebhaft die Augen zu ihm auf, »sehr hübsche Gedichte, ähnlich wie Heine.«

Der Doktor, der seinen dicken schwarzen Schnurrbart zu drehen angefangen, ließ plötzlich ab:

»Sehen Sie mal! so boshaft! solch ein zweischneidiges Kompliment!« Er drohte mit dem Finger.

Lulu lächelte fein. »Ich bin vielleicht doch kein so kleines Kind, wie Sie denken! Ich weiß sehr gut, was ein Plagiat ist, Herr Doktor!«

Sie reckte das Köpfchen stolz und gerade. Ihre Stimme wurde sehr vernünftig.

»Man muß die Anklänge vermeiden! Man wird immer dazu verleitet, aber – wer nicht original sein kann, ist kein Dichter.«

»Donnerwetter, gut gegeben! Also das ist sie! Solch ein schneidiges Mädel. Wahrhaftig, alle Achtung vor Ihrer Aesthetik! Klotilde, Deine Kleine gefällt mir immer besser. Also ich muß mich bessern, Fräulein Lulu? Jetzt gleich?«

»Ja, das ist nothwendig!« sagte Lulu strahlend, »Sie scheinen sich die Sache sehr leicht zu machen, Herr Doktor!« 154

»Völlig verblüfft! Welche Sache, Sie strenge junge Dame?«

»Das Dichten! Es ist gerade, als ob Sie manchmal Heine selbst zitiren wollten. Das ist keine Kunst,« rief sie triumphirend. »Vielleicht hatten Sie gerade Heine gelesen, als Sie sie machten?«

Der Doktor schlug sich aufs Knie.

»Immer besser! Aber es ist wahr! Sie haben vollständig recht! Bitte, nehmen Sie mich in die Lehre! Ich bin unwissend, aber gelehrig, nicht wahr, Klotilde? Stiften wir den Bund, stiften wir den Bund!«

»Lieber Max, fasele nicht! Lulu, iß Trauben! Kleines, da auf dem Tisch, nimm! Max, so gib ihr doch! Du siehst ja, wie blöde sie ist trotz all ihrer Talente.«

»Blöde? O durchaus nicht!« lachte Lulu verwirrt, an den Tisch tretend und nach einer Traube greifend. Der Doktor schob ihr ein buntes Tellerchen zu und deckte lachend ihren Hut, den er einen Augenblick abgenommen, von neuem über die Fruchtschale.

Klotilde lachte ausgelassen. »Du hast wohl Angst, daß sie kalt werden? Na, Kleines, sag, wie findest Du meinen geehrten Herrn Bruder?«

Mit einer grünen Beere zwischen den rothen Lippen blickte Lulu sie an.

»Ich weiß nicht; ich finde, er stellt uns hier alle auf den Kopf!«

»Uns alle ist gut! Aber wahr ist's. Seit den drei Tagen, wo er hier ist, haben wir mehr Dummheiten geschwatzt, mehr gelacht als sonst in drei Monaten.«

»Drei Tage schon?« sagte Lulu, Max bedauernd anblickend.

Er gab denselben Blick zurück, nur viel offener, dreister. 155

»Drei Tage verloren!« sagte er mit einem leisen Seufzer.

Nun drohte Klotilde ihm.

»Nimm Dich in Acht, Lulu, er schneidet Dir auf Tod und Leben die Cour; er hat mir's vorausgesagt, als ich ihm Deine Gedichte gezeigt hab'.«

Lulu schrak zusammen, ihr Herz schlug unsinnig vor Verwunderung und Freude. »Ach, nicht doch!«

Max saß jetzt neben ihr und pickte die Beeren von ihrer Traube. Er sah sie ernsthaft an.

»Das war mein Eindruck! So groß war der Eindruck. Und ich bin auch ein bißchen Aesthetiker, trotz Ihnen.«

Sein Ton war vollständig ernst, ehrerbietig sogar.

»Aber das hindert doch nicht, daß Sie ein süßes kleines Mädchen sind,« sagte er plötzlich umschlagend und sah ihr zärtlich in die Augen.

»Sie verstehen doch Latein, glaub' ich?«

»Ein klein bißchen,« stotterte Lulu erschrocken.

»Nun, was heißt ›Amanda‹, bitte?«

»Ich weiß nicht! Geliebte vielleicht? Nein, ich weiß nicht!« sagte Lulu innig beschämt, kleinlaut.

»Eine zu liebende heißt es! Na, mit Ihrem Latein ist es nicht weit her! Da werde ich Sie wohl unterrichten müssen. Aber ›Amanda‹ – wie gefällt Ihnen der Name? ›Amanda‹ werd' ich Sie nennen.«

»Hör mal, Max!« warnte Klotilde.

Er wandte lässig den Kopf gegen sie.

»Ach, laß doch, Klotilde, wir verstehen uns ja. Wir sind ja Bundesgenossen, Fräulein Amanda und ich. Amanda!« wiederholte er sanft, »der Name duftet, nicht wahr? nach Verheißungen, nach Frühling! Prosit, Amanda!« 156

Er schenkte sich ein Glas Wein voll und trank es Lulu zu.

»Genug!« rief Klotilde, vom Sopha aufspringend, »Du machst mir die Kleine ganz verdreht! Sie sitzt und guckt Dich an, als wärst Du der Messias!«

Sie nahm Lulu's Arm. »Kommt, drüben wird wohl schon gedeckt sein. Ich habe Hunger. Es sind frische Sprotten gekommen, von Kiel, und wir haben Pumpernickel mitgebracht. Nimm die Trauben, Max, ach so – da ist noch Lulu's Hut –«

Lulu riß sich von Klotilde los, ergriff den Hut und schleuderte ihn in eine Ecke, wo er zu Boden fiel.

Sie jauchzte und sprang.

»Lassen Sie ihn liegen! 's ist 'n alter Deckel, liebe Klotilde!«

Sie schmiegte sich von neuem an die Freundin, die sie verwundert von der Seite beobachtete. Lulu begann zu schwatzen.

»Klotilde, denk Dir, es gibt Raben, die sprechen. Ich habe einen gesehen und sprechen gehört! Ich möchte so gern einen haben! Einen zahmen Raben, der sprechen kann! Er sollte zu meinen Füßen sitzen, oder auf meiner Stuhllehne!«

»On the pallid bust of Pallas!« sagte Max hinter ihr.

Sie blickte sich fragend um.

»Kennen Sie das nicht, das Gedicht von Edgar Poe? ›Der Rabe, the Raven‹ von Edgar Poe, Amanda?« Das letzte Wort hatte er nur mit den Lippen, ohne Ton ihr zugesprochen; Klotilde hörte es nicht. Feuerroth, außer sich gab Lulu keine Antwort. Aber sie horchte gleichwohl auf die wohlklingende Stimme, die hinter ihr, während sie ins Eßzimmer gingen, pathetisch rezitirte. 157

»Warum bist Du denn so aufgeregt, Kleines?« sagte Klotilde mütterlich und streichelte Lulus Haar; der schnelle Athem des jungen Mädchens umfächelte sie.

»Ich weiß es nicht,« sagte Lulu beklommen, »ich bin gar nicht aufgeregt; ich möchte nur einen zahmen Raben haben, so furchtbar gern! so unbeschreiblich gern! so entsetzlich gern!«

Klotilde lachte laut auf und betrachtete kopfschüttelnd die glänzenden Augen, das ganze blühend erschlossene Gesicht ihrer jüngeren Freundin.

»Pumpernickel ist gut gegen Phantasterei! Wir wollen essen. Es genirt Dich hoffentlich nicht, daß ich keinen Gürtel umhabe,« sagte sie halblaut, »es ist ja nur der Max da, und der ist von seiner Mieze –«

Sie rief plötzlich laut:

»Du, Max, zeig Lulu mal das neueste Bild von Mieze – das in Deinem Taschenbuch!«

Ein kleiner, spitziger Stich durchfuhr Lulu; ein kalter, eisigkalter Stich.

Ihre Finger lockerten sich auf Klotilden's Arm, wurden leblos, dann plötzlich klammerten sie sich so fest, daß Klotilde auf die kleine Hand niedersah.

»Ach ja,« sagte Lulu, wie im Schlaf sprechend, »das Bild Ihrer Frau, zeigen Sie doch!« Sie sprach gerade hinaus, mechanisch lächelten ihre Lippen fort, aber ein unerklärliches körperliches Unbehagen hatte sie auf einmal überfallen, – sie hätte weglaufen mögen, jetzt auf der Stelle.

»Wie heiß!« murmelte sie, als im Eßzimmer alle drei sich wieder gegenüberstanden, und sie fing an, sich mit den Handschuhen zu fächeln, die sie irgendwo wiedergefunden hatte.

»Nun, Max, zeig doch! Es ist nämlich eine reizende 158 Momentphotographie: Mieze im Morgenhäubchen, wartend am Frühstückstisch –«

»Ist's nicht im andern Rock?« sagte Max langsam, mit einem vorwurfsvollen Blick nach der Schwester. Sie beschäftigte sich jedoch mit dem Pumpernickel und lud auch die andern zum Sitzen.

»Nein, nein, nur heraus damit, Strohwitwer! Hast mir's ja vor einer Stunde erst gezeigt.«

Der Doktor suchte umständlich.

»Ach, vielleicht interessirt es Sie überhaupt nicht!« sagte er nachlässig. »Solch ein Amateurbild –«

»Gerade die sind nett. Ich möchte es furchtbar gern sehen!« betheuerte Lulu.

»Hier.«

Lulu heftete ihren Blick darauf, aber sie sah nicht viel. Sie war verwirrt und abwesend.

»Sehr hübsch,« sagte sie in zerstreutem Ton, »also das ist Ihre Frau?«

»Es gefällt Ihnen also nicht!« er verzog den Mund und steckte das Bildchen ein, nachdem er noch einen warmen Blick darauf geworfen.

»O, gewiß!«

»Ach, Sie sagen das so gleichgültig! Aber ich wußte es im voraus. Eine Ihnen vollständig Fremde.«

»Lulu kennt ja Miezes frühere Bilder!« rief Klotilde. »Kinder, die Sprotten sind glorreich! Frisch und fett wie die Engel! Das wäre was für Deine Mieze. Warum hast Du sie nicht mitgebracht?«

»Ja, warum nicht?« echote Lulu.

Max zuckte die Achseln.

»Eine Reise von fünf, sechs Tagen, das ist nichts für Mieze! Sie reist nur mit Koffern, so hoch. Und 159 übrigens ist ja Mama da, die Mutter meiner Frau,« fügte er mit einem erklärenden Räuspern gegen Lulu hinzu.

Die saß und strich sich Butterbrötchen, eins nach dem andern, biß eins nach dem andern an und strich noch mehr.

Alle drei waren eine Weile still. Nicht wie Leute, die schweigen, weil sie mit dem Essen beschäftigt sind, sondern willkürlich, gedankenvoll still.

»Wir haben heut zusammen ein Kleid für sie gekauft,« warf endlich Klotilde hin.

»Für Mieze, – Brokat, blau, ich zeig' es Dir nachher, Kleines – fein, sag' ich Dir.«

»O!« Lulu lächelte zerstreut.

»Ein junger, viermonatlicher Ehemann muß doch etwas mitbringen.«

»Natürlich!«

»Wie schön sie darin aussehen wird!« sagte Klotilde. »In dem Kleid läßt sie sich jedenfalls gleich wieder photographiren.«

»Jedenfalls,« sagte der Doktor ruhig.

»Dann bekomm' ich aber 'n Bild, Max!«

»Und ich bekomm' auch eins, bitte!« sagte Lulu, die fast an ihren Butterbrötchen erstickte.

Max verbeugte sich nach rechts und links, legte die Hand an die Schläfe und grüßte noch einmal nach beiden Seiten, immer mit der ruhigen, etwas gelangweilten Miene, die er jetzt zur Schau trug.

»Ihre Frau ist sehr hübsch!«

»Danke verbindlichst.«

Wieder lange Pause.

»Lulu, Kind, was machst Du eigentlich? Trinkst fortwährend aus der leeren Tasse! Erst so redselig und jetzt so stumm und zerstreut. Launisches Kleines!« 160

Klotilde reichte der Freundin die Hand über den Tisch hin, aber als Lulu mit fragendem Blick die ihre hineinlegte, lachte sie laut auf.

»Deine Tasse, Kleines! Max schüttle sie 'n bißchen. Entweder schläft sie oder sie macht Gedichte. Und darüber vergißt sie all ihre Butterbrötchen auf ihrem Teller.«

Lulu schlug die hübschen braunen Augen weit auf, mit einem fast feindseligen Blick.

»Ich bin gar nicht so klein, Klotilde, ich mache auch keine Gedichte. Entschuldige, daß ich zerstreut war, ich dachte so mancherlei.«

Mit einem plötzlichen, heftigen Entschluß sah sie voll den Doktor an, der sich ganz still verhalten hatte. Ihre Backen glühten auf, ihre Augen blitzten sonderbare grünliche Funken. Sie lehnte sich in den Stuhl zurück.

»Ich denke es mir entsetzlich, verheirathet zu sein! Ich werde es nie thun. In meinem ganzen Leben nicht. Für Männer, ja« – sie nickte weise und gedankenvoll –, »für Männer ist es wohl nothwendig, damit sie veredelt werden. Aber – sagen Sie, bester Herr Doktor – ist es nicht ein bißchen langweilig?«

Ihr Gesicht hatte sich bei den letzten Worten gesenkt. Der Doktor staunte mit halboffenem Munde, verdutzt, sprachlos. Ueber Lulu kam es wie ein Rausch.

»Ich denke es mir langweilig! Immer mit demselben Menschen? O Gott! o Gott, nein!« Sie lachte nervös, als sie Klotildens Gesicht sah. Aber ihre Erregung wuchs nur.

»Nicht wahr,« triumphirte sie, »das hättest Du nicht von mir gedacht, Klotilde? Aber so bin ich. So ketzerisch sind meine Ansichten, die ich niemals ändern werde. Niemals, solange ich lebe! Ich bin also kein solcher Backfisch, wie Du immer meinst. Ich habe sehr meine 161 eignen Ansichten! Ich weiß wohl, unter Fremden und besonders bei Männern machen sie mich unmöglich, aber das geht mich nicht an. Hier bin ich unter Freunden, nicht, Herr Doktor? Nun, wie finden Sie es, daß ich nicht immer ein und denselben haben möchte?«

Der Doktor schluckte, indeß er die Kleine unverwandt, wie etwas Neues, Niegesehenes, anstarrte.

»Das ist sogar sehr hübsch von Ihnen,« sagte er mit dumpfer Stimme.

»Ach, sie meint es ja nicht so!« rief Klotilde wegwerfend.

Lulu bäumte sich auf:

»Ich meine es nicht so? Ich meine es nicht so? Seit wann glaubst Du mir nicht, liebe Klotilde? Es ist ja wahr, ich habe bisher über meine Ansichten geschwiegen, aber gehabt habe ich sie immer! Man kann doch auch nicht immer dasselbe essen, nicht wahr, Herr Doktor?«

»Vollständig wahr!« murmelte Max verdutzt. »Sagen Sie – haben Sie das – haben Sie das aus sich selber?« Er beäugelte sie neugierig. Das Mädchen erröthete zornig.

»Von wem denn sonst? Immer habe ich so gedacht!«

»Was sagst Du zu diesem Lallen der Unmündigen?« murmelte Max über den Tisch seiner Schwester zu, die gelassen eine Birne schälte. Ihre Miene war etwas abweisend geworden.

»Lulu weiß nicht, was sie spricht,« sagte sie trocken: »sie ist exaltirt heute Abend, Gott weiß, wieso.«

Aber nun standen helle Thränen in Lulu's Augen.

»Weil ich auch immer geneckt werde! Weil man mich heute plötzlich für ein Wickelkind ansieht!« rief sie trotzig. 162

»Nein, nein, Sie sind kein Wickelkind!« sagte der Doktor langsam, »Sie sprechen sogar so –« er fixirte sie scharf, das runde Gesichtchen, das beständig die Farbe wechselte, die kindlich unfertige Gestalt in dem auf Zuwachs berechneten Kleide, das lebhafte Spiel der schönen feinen Hände . . .

Klotilde war aufgestanden und stellte sich wie ein Schutzgeist mit langen Flügeln in ihrem lichten Gewande hinter Lulu's Stuhl.

»Ein Kind, aber ein kluges, zu klug vielleicht!« sagte sie herzlich, mit einem ernsten Blick auf das erregte Gesicht ihres Bruders, indeß sie Lulu's Kopf zurückbog und das Mädchen auf die Stirn küßte. »Du weißt doch, wie ich's mit Dir meine,« flüsterte sie liebkosend der Kleinen zu.

»Ja!« stammelte Lulu, und die Thränen liefen ihr über die Backen. Klotilde küßte sie auf die nassen Augen. »Kleines! Kleines! Liebes!«

»Und ich bin ausgeschlossen? Mit mir wollen Sie sich nicht wieder vertragen?« sagte der Doktor vorwurfsvoll.

Lulu sah ihn zweifelnd an. Aus ihren Augen brach ein Lächeln.

»Aber Sie müssen artig sein!«

»Mit Wonne! Nun, und wann stiften wir den Bund?«

»Sie sind ja gar nicht hier!« Lulu's Stimme klang betrübt.

»Pah, Berlin! In Berlin ist man doch nicht aus der Welt? In ein paar Stunden ist man hier. Ich werde natürlich korrespondirendes Mitglied!«

Lulu lächelte. »Und Ihre Frau muß auch etwas werden.« 163

»O Mieze wird Ehrenmitglied, versteht sich!«

»Und was für ein Mitglied werd' ich?«

»Sie? Sie werden Präsidentin natürlich!«

»Nein, Präsident muß Klotilde sein!« Lulu umfaßte die Freundin.

»Ist es euch noch nicht langweilig?« sagte Klotilde.

»Langweilig? Ja, aber, was seid ihr für Frauenzimmer! Die Ehe langweilig, der Tugendbund langweilig –«

»Tugendbund? Ach nein!« bat Lulu lachend.

»Warum denn nicht?«

»Gott, Tugend ist doch so veraltet!«

»Wahrhaftig, Sie sind mir über!« rief Max. »Ich falle vom Stengel! Da kommt man nun von Berlin, um sich hier in Hamburg in ländlicher Unschuld und Sitte zu erholen und erlebt solche jungen Mädchen! – Und die Tugend, sie ist doch kein leerer Wahn! Wissen Sie nicht?«

»Ha, das war zu Schiller's Zeit! Ja, damals war die Welt schön!« rief Lulu schwärmerisch.

»Uebrigens heißt es: ›Und die Treue,‹« fiel Klotilde ein, »›die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn!‹«

»Ja, richtig. Na, aber jetzt ist doch die Treue erst recht ein leerer Wahn!« Lulu sah Max mit einem kleinen, schnellen, boshaften Blick an. Er musterte sie frappirt.

»Nein, diese jungen Mädchen!«

»Wenigstens bei den Männern!« sagte Lulu, funkelnd vor Bosheit. Ihr ganzes Wesen war Herausforderung. Sie fühlte sich sehr glücklich.

»So, die Männer! Immer nur die armen Männer! Und die Frauen sind Engel, nicht wahr?«

Lulu zuckte die Achseln. 164

»Sie nehmen sich allmählich die Männer zum Muster!«

»Donnerwetter! niedliches Selbstbekenntniß!« Max drehte den Schnurrbart mit nervös zitternden Fingern.

»Gör! Gör!« schalt Klotilde und klopfte Lulu mit der flachen Hand auf den Scheitel.

»Ja, Klotilde, wahr ist es doch! Sieh, wenn Schiller sagt: ›Die Treue ist kein leerer Wahn‹, so sagt Goethe: ›Die Falsche sucht ein ander Theil, die Treue macht mir Langeweil!‹ Nein, ich möchte Niemand Langeweile machen!«

»Na, das sollte Mieze hören!« lachte Klotilde, »schade, daß sie nicht hier ist.«

»O, Ihre Frau denkt höchst wahrscheinlich ebenso,« sagte Lulu, den Kopf senkend und stark erröthend.

»Mieze?« Das Birnenviertel entfiel des Doktors Hand, ungläubig starrte er das junge Mädchen an, dann seine gleichmüthig lächelnde Schwester.

»Das Zeitalter der Enthüllungen!« murmelte er ironisch, »so etwas sollte man eigentlich vorher –«

Plötzlich zog er sein Taschenbuch heraus und betrachtete prüfend die anmuthige Photographie, die hübsche junge Frau mit dem sehnsüchtig hinaus gerichteten Blick, allein am zierlich gedeckten Frühstückstisch. Sein Gesicht erhellte sich immer mehr, er lachte beruhigt; dann steckte er das Buch leise pfeifend zu sich.

»Wollen wir jetzt den Brokat für Mieze besehen?« fragte Klotilde.

* * *

Lulu lag im Bett, ohne zu schlafen. Es war auch Mondschein, bei dem sie nie ruhig schlief. Sie pflegte 165 als kleines Kind mit geschlossenen Augen aus dem Bett zu steigen und auf die Fensterbank zu klettern, um sich in ihrem Nachtkleid, zusammengeduckt wie ein weißes kleines Gespenst, im Mondschein zu baden. Ihre Mutter kam dann oft herein, hob sie, schlafend und widerstandslos, wie sie war, in ihren Armen von der gefährlichen Stelle herunter und trug sie in ihr Bett zurück. Dann ward das Fenster verbarrikadirt und verhüllt, und sie verschlief den Morgen, wenn sie nicht geweckt wurde.

Sie hatte die Geschichte eben auf der Straße dem Doktor erzählt, als er sie nach Hause begleitete. Sie hatte ihm sehr vieles erzählt. Sie fühlte ihm gegenüber einen sonderbaren Drang zu Enthüllungen; – sogar Dinge, die sie fast sich selber kaum bis jetzt eingestanden, ihre Gedanken, ihre Gefühle hatte sie ihm mitgetheilt. Es war das erste Mal, daß sie solch eine unbezwingliche Lust empfand, von sich selber zu sprechen. Es mußte kommen, weil er Klotildens Bruder war. Er hatte auch eine Art, zuzuhören, vorauszuahnen, hervorzulocken und zu verstehen, die ihr nie vorgekommen war. Sie fühlte sich von ihm gestreichelt mit den zartesten Fingern. Noch nie hatte sie so den Genuß ihrer eigenen Persönlichkeit durch einen andern Menschen gehabt; noch nie war ihr ein Mann so nahe getreten, noch nie hatte ein Mann in dieser eigenthümlich vielsagenden Sprache mit ihr verkehrt, in der auch das Geringfügigste Bedeutung gewinnt. Er war ihre erste Eroberung. Denn daß sie ihn erobert hatte, zuerst durch ihre Gedichte und dann durch ihr »Wesen«, das hatte er ihr in sehr verschiedenen, bald scherzhaften, bald ernsten Wendungen mitgetheilt. Sie fühlte sich beobachtet, bewundert, zu der Würde einer voll Mitgezählten erhoben. 166

Ganz still, ohne eine Bewegung, lag sie auf dem Rücken in ihrem vom Mondschein überflimmerten Bett, und ihre Augen blickten groß und weit offen. Eine köstliche Beruhigung war über sie gekommen. Alle Verwirrung war fort. Es war wie ein seliger Anfang von etwas unerhört Schönem, das in der Zukunft auf sie wartete. Irgendwo aus einer Falte der Zukunft, strahlten sie goldene liebende Augen an. Sie blickte lächelnd, zuversichtlich hinein.

Der Heimweg war unsagbar schön gewesen. Die Außenalster mit ihrer Lichterstickerei von Silber- und Goldfäden ringsum unter einem blauen, mondhellen Himmel. Der Weg vor ihnen weiß, nur hie und da der schon lichtgewordene Schatten der sterbenden Blätter an einem jungen Alleebaum. Auf der Lombardsbrücke hatten sie stillgestanden, und auch die Unterhaltung war stiller und einsilbiger geworden. Leise ruderten die Schwäne an ihnen vorüber.

»Schlafen sie nicht?« hatte sie gefragt.

»Nein, die sind wie die kleinen Elfen, die auch nicht schlafen, sondern im Mondlicht baden.« Dazu ein langer, freundlicher Blick.

Ein wenig beklemmend, aber doch reizend war es gewesen.

»Nun wollen wir aber gehen,« hatte sie schnell gesagt.

Da hatte er geseufzt.

»Denken Sie an Ihre Frau?« hatte sie mit stockendem Athem herausgebracht.

»Ja,« hatte er ruhig geantwortet. Es hatte ihr wieder einen kleinen Stoß gegeben, aber dennoch hatte es sie auch ganz sicher und behaglich ihm gegenüber gemacht. 167

»Ich möchte sie kennen lernen!« hatte sie gerufen.

»Warum denn nicht? Natürlich lernen Sie Mieze kennen.«

»Mieze!« Sie verzog ein wenig verächtlich den Mund, während sie jetzt an sie dachte. Der Doktor liebte sie wohl sehr, diese Mieze, die sich in jedem neuen Kleide photographiren läßt! Solch ein eitler Affe! Eitel und kokett sah auch ihr Bild vom Frühstückstisch aus. Solch eine Manier, sich mit Kaffeetassen und Butterglocken photographiren zu lassen. Aber seine Liebe zu der Mieze gefiel ihr, gefiel ihr ganz entschieden.

Es war hübsch von ihm, daß er seine Frau liebte, da er nun doch einmal verheirathet war. Wenn ich ihn jetzt auch wirklich gern mag, was ist dann dabei? Gar nichts. Einen verheiratheten Mann, der seine Frau liebt, kann man jedenfalls in aller Sicherheit gern mögen. Man kann es ihn zur Noth sogar ein bißchen merken lassen, wenn er zugleich Klotilden's Bruder ist.

»Nie und nimmer kann sich der etwas einbilden,« sagte Lulu ganz laut und fröhlich vor sich hin.

Noch dazu weiß er, was er von mir zu erwarten gehabt hätte, selbst wenn er mich früher kennen gelernt hätte! Vor seiner Mieze! Pah, Mieze! Es ist ein Katzenname, und eine Katze wird sie wohl auch sein. Aber er merkt das natürlich nicht. Er denkt fortwährend an sie und kauft ihr noch mehr Kleider, damit sie sich noch mehr photographiren lassen kann. – Ach! – Na, von mir wenigstens kann er so etwas nicht denken, wie, daß ich ihn genommen hätte, wenn – – Ich habe ihm das gleich gut gegeben. Jedes Mädchen ist nicht zu heirathen, aha! Sie lachte und triumphirte und gefiel sich selber sehr gut. »Mieze wird meine Schwester 168 sein,« sagte sie plötzlich, und die Rührung stieg ihr in die Augen. Einen Moment sah sie nicht deutlich, das Zimmer schwamm in einem weißen Nebel . . .Vielleicht kann ich sie auch von dem ewigen Photographirenlassen abbringen, das ist ja abgeschmackt. Hat er Elfe gesagt oder Fee? Nein, nein, es ist sogar famos, daß er verheirathet ist, ganz famos, ganz famos!« Sie griff nach einem ovalen Handspiegel auf ihrem Nachttisch und besah sich darin. Im Mondlicht erschien sie sich bleich, die Locken um die Stirn fast schwarz gegen den Hintergrund von weißen Kissen. »Elfe oder Fee? Wie sagte er?« Sie lächelte sich zu, sie gefiel sich zum ersten Mal. »Aber die Nase ist zu klein.« Sie legte den Spiegel fort und zog an der kurzen Nase. »Wenn ich sie jeden Tag ordentlich recke, vielleicht hilft es.«

Plötzlich durchzuckte es sie mit einem ganz neuen freudigen Schrecken: morgen wieder! An der Hausthür war er noch lange mit ihr stehen geblieben, erstlich, um ein Gespräch über die »Versunkene Glocke« zu beenden, von der sie beide entzückt waren.

»Aber warum wird Rautendelein ein Mensch voll Liebesgram?« hatte sie gefragt.

»Weil er ihr eine Seele gegeben hat durch seine Liebe, Rautendelein!«

War es eine Anrede gewesen? Es war zu süß gewesen, es so zu nehmen! –

Sie griff wieder nach dem Spiegel, riß fragend die Augen auf und murmelte: »Rautendelein?«

Aber jetzt hatte sie doch ganz andere Gedanken über den leichten Elfengeist. Es waren noch nicht klare Gedanken, aber sie gährten schon. Nein, Rautendelein hätte sie anders gezeichnet. Sie mußte die körperlose, 169 schmerzenlose Else bleiben, ein Stückchen Ewigkeit. Und an diesem Stückchen Ewigkeit mußte Heinrich, der sterbliche Mensch, zerschellen. So wäre es schöner gewesen und ganz rund. Ihr Herz begann heftig zu klopfen, ihr Kopf brauste. »Sie fliegt ja über ihn fort wie ein buntflügliger Vogel! Nun lockt sie einen andern! Wußte er denn das nicht?« murmelte sie erregt. Vor ihren Augen erstand das Bild; wieder liegt Heinrich am Boden; er hat die Menschen verstoßen, den Uebermenschlichen hat er sich gesellt; nun wirft ihn ihr neckendes Koboldlachen ins Bodenlose; »Du gleichst dem Geist, den Du begreifst, nicht mir!« Ist nicht das das eigentliche Ende?

»Aus ihrem Demantauge starrt die Ewigkeit –«

Von Bildern umtanzt, von Versen umklungen, sank sie endlich in Schlaf.

* * *

Ein wenig befangen erschien Lulu am zweiten Abend bei Klotilde. Sie kam nicht so häufig sonst. Aber Klotilde freute sich um so lebhafter, obgleich sie sie sofort mit Max zu necken begann.

»Du, Kleines, er schwärmt von Dir den ganzen Tag! Und Du – na, na, sag nur nichts! Zum Glück ist es ja ungefährlich! Da liegt schon wieder ein Brief von Mieze, eben gekommen.«

»Schreiben sich wohl jeden Tag?« fragte Lulu neugierig.

»Max, glaub' ich, zweimal, Mieze einmal täglich. Eben bringt er seinen auf die Post, er war etwas zu spät damit. Sonst ängstigt sich die Gute!«

»Lieber Gott!« lispelte Lulu, die Hände faltend. Dann hob sie die Augen:

»Wie ist Mieze?« 170

»Mieze? O, reizend! Du kennst doch die meisten Bilder. Groß, blond, voll, mit einer Taille wie eine Wienerin. Sehr fesch und lieb.«

»Nein, ich meine innerlich!?«

Klotilde musterte sie etwas verwundert.

»Mieze ist sehr gebildet, sogar sehr! Spricht mehrere Sprachen, malt allerliebst und ist eine prachtvolle Hausfrau, wie Max sagt.«

»Ja, aber –«

Klotilde nahm sie in den Arm.

»Nach allem Weiteren mußt Du Max fragen. Er ist schrecklich verliebt. Er ist ja auch erst vier Monate verheirathet. Mieze ist der Ausbund aller Vollkommenheit für ihn.« Sie seufzte.

»Ich fürchte, zwischen uns, ihm und mir wird es auch nicht so bleiben; wenn die Brüder heirathen! – Sie sagt selbst, daß sie ihn um den kleinen Finger wickeln kann.«

»Das glaub' ich wohl,« nickte Lulu.

»Was glaubst Du?«

»Daß man ihn leicht wickeln kann –«

Unter dem Gelächter der Freundinnen trat der Doktor ein.

Mit leuchtendem Gesicht schwenkte er Lulu ein paar herrliche Rosen entgegen, die sie freudig erröthend in Empfang nahm.

»Aha!« sagte Klotilde resignirt, »meine Zeit ist in jeder Hinsicht vorbei.«

»Du zwei, ich zwei!« Lulu hielt ihr schnell eine dunkelrothe und eine gelbe hin, aber Klotilde wehrte ab.

»Behalt sie nur! Wenn Max galant sein will gegen Dich, Kleines, darf er's gern sein, dagegen hab' ich gewiß nichts! Ich scherzte nur.« 171

»Selbstverständlich!« der Doktor hängte sich seiner Schwester in den Arm. Sie spazierten ein paarmal auf und ab. Max war sehr liebenswürdig.

»Weißt noch, Klotilde, wie wir das nannten? ›Im kleinen Jungfernstieg‹ sagten wir, wenn wir in Großmutters Saal auf und nieder gingen.«

Klotilde seufzte.

»Ich hoffe, Mieze kratzte mir nicht die Augen aus, wenn sie 's sähe.«

»Mieze? Aber wie denn?«

»Na ja! Ihr erstes Gebot heißt doch: ›Du sollst keine andern Götter haben neben mir.‹«

Er lachte. »Sehr vernünftig von einer Frau. Laß sie nur immer fordern.«

»Kriegen kriegt sie's doch nicht, meinst Du?«

»O – das – Aber Fräulein Lulu, warum so still?«

»Ja, ich verstehe doch nichts von den verheiratheten Sachen.«

»Na, wenn Sie das verheirathete Sachen nennen!« –

»Aber junge Mädchen denken doch, wie man weiß, gern an ihren künftigen Beruf,« sagte Klotilde spottend.

Lulu wurde roth.

»Was ist mein künftiger Beruf?« schrie sie zornig, »Du weißt ja doch, Klotilde –«

»Dummes Kleines.«

Der Doktor kam Lulu zu Hülfe.

»Nein, dies Kind ist klüger als wir beide! Es will nur den Rahm abschöpfen!«

»Ja, das will ich!« rief siegesgewiß das junge Mädchen. »Den Schaum vom Champagner!«

Max fixirte sie eindringlich.

»So wunderbar klug,« sagte er nachdenklich. 172

»Aber was ist es nur? Ist das Natur oder Angelesenes?«

»Natur!« zürnte Lulu mit blitzenden Augen. »Immer hab' ich so gedacht.«

»Aber nein! wozu, sagen Sie mal ernsthaft, hat man die Frauen?«

Sie zuckte verächtlich die Achseln.

»Zum Kochen, denk' ich.«

Max und Klotilde sahen sich an und brachen in Lachen aus.

»Zu weiter nichts?« fragte Max eindringlich, »na, denken Sie mal nach!«

»N–n–ein!«

Lulu hielt sich die Ohren zu.

»Sie wollen nicht nachdenken?«

»N–n–n–ein! Was geht mich das an?«

Sie wandte sich auf einmal wie ein kleiner, zorniger Rattenfänger gegen ihre beiden großen Quälgeister.

»Ueberhaupt – warum soll ich nicht ein Mensch für mich sein? Immer quält man mich mit scheußlichen Geschichten. Das mag ich nicht und mag ich nicht! Ich bin, wie ich bin. Ich quäle ja auch Niemand!«

»O doch, Sie quälen mich,« sagte Max halblaut.

»Ich? Womit?«

»Mit Ihrem ganzen Wesen! Weil Sie ein Räthsel sind!«

Lulu lächelte geschmeichelt.

»Inwiefern?«

»So klug und so dumm, so reif und so kindisch zugleich!« sagte Klotilde.

»Ach so.« Nun ließ sie die Lippe hängen. Dann sah sie bittend Max an. 173

»Nein. Sie sind nicht dumm, nicht kindisch, Sie sind eine kleine kluge Fee,« sagte er mit einem Seufzer.

»Klotilde bemuttert Sie, weil sie Sie lieb hat, und ich bewundere Sie. Und ich bewundere auch Klotilde, daß sie den Muth hat, Sie zu bemuttern.«

»Komm Max, verdirb sie mir nicht!«

»Sie schöpfen den Rahm ab!« sagte er, Lulu betrachtend, »Sie sind weise mit blonden Haaren. Ihr Haar ist jawohl blond. Beiläufig mir vollständig einerlei! Haben Sie schon einmal – abgeschöpft?«

»Wahrscheinlich,« sagte Lulu mechanisch. Sie war wieder im Rausch, eingehüllt in die sonderbare Atmosphäre dieses Mannes. Es war fast schmerzhaft süß, seine Blicke zu fühlen, die sich an ihr festsogen. Gewaltsam den Bann abschüttelnd, in dem er sie hielt, sprang sie, wie gepackt von wilder Lustigkeit ans Klavier:

»Singen! Klotilde, singen!«

»Na, wenn Du so kräftig begleiten willst, dring' ich nicht durch!«

Klotilde sang mit geschulter Stimme, aber Max drängte sie bald weg.

»Na, laß mal mich! Hier: ›Könnt ich als Sonne hoch am Himmel schweben‹, können Sie mich begleiten?«

»Wenn Sie als Sonne schweben können, ja!« Ihre lachenden Augen tauchten ineinander.

»Also vorwärts!«

Max sang mit Feuer und lockender Zärtlichkeit »nur um Dein kleines Fenster – nur um Dein kleines Fenster –« Lulu begleitete mit verständnißvollem Eingehen auf allerlei Willkürlichkeiten, die er sich mit der süßen Melodie erlaubte. Sie schwebte selber mit »hoch 174 am Himmel«. Ihre Seele bebte in Entzücken. So schön war das Leben? so schön? so schön?

»Und nun das Lied der Lieder! Begleiten Sie auch das?« »Reich mir die Hand mein Leben –« sang er triumphirend, jeder Ton blitzte von Uebermuth und Verlangen. Lulu begleitete auch das. Ihr Herz that große Freudensprünge dabei, sie wußte nicht mehr recht, wo sie war, noch was sie that, ihre Backen glühten, die Finger gehorchten ihr, ohne daß sie wußte, wie; zuweilen kam es ihr vor, als packte sie ein flügelschwingender Greif mit seinen Krallen – sie wühlten in ihrem Fleisch, aber es that nicht weh – als trüge er sie, Siegeslieder singend, in seinen hohen Felsenhorst über den Wolken.

»Bravo, Max!« rief Klotilde, »ich bin hingerissen,« und sie umarmte ihren Bruder. Der wischte sich die Stirn:

»Wenn's mal mit der Juristerei nicht mehr geht, werd' ich Sänger. Jawohl.« Er reichte Lulu die Hand. »Danke! das war fein. Na, was für ein erschrockenes Gesicht? Daß die Rose abgeblättert ist? Ach, Kindchen, davon gibt's jeden Tag frische!«

Es war spät geworden, als Lulu endlich aufbrach. Sie hatte Zeit und Stunde vergessen, es war ihr ganz gleichgültig, was man zu Hause sagen würde. Und wenn sie ja einmal vom Fortgehen gesprochen, hatte auch Klotilde sogleich gewehrt: »Max begleitet Dich ja, Kleines! Das Wetter ist prachtvoll. Wenn mir nicht mein Fuß weh thäte, ginge ich auch noch mit, nachher.«

Nun standen sie auf der Straße, die weiß und menschenleer ihnen entgegenblinkte. Der Doktor zeigte nach dem Sternenhimmel, der jetzt, da der Mond sich schon neigte, in hellerer Pracht aufzustrahlen begann. 175

»In solcher Nacht! – In solcher Nacht« – und er fing an zu rezitiren. Seine Stimme war voller Klang.

Lulu lauschte stumm. Die Schönheit, die sie um sich empfand, nahm ihr die Sprache. Nur manchmal streifte sie ihren Begleiter mit einem freudig dankbaren Blick.

Endlich fing er solch einen Blick auf, stockte und ergriff ihren Arm, um ihn durch den seinigen zu ziehen.

»Was ist Ihnen, kleines Fräulein?«

»Ich habe Sie so furchtbar lieb,« sagte Lulu mühsam, »wirklich ganz furchtbar.«

Er blieb stehen und sah sie an. Sie schlug die Augen nicht nieder, sie erröthete nur, verwirrt und treuherzig.

Er lachte gezwungen.

»So wie Ihren Papa?«

»O nein, ganz anders. Nicht wie Papa!«

»Wie Ihren Großpapa?«

»Ach!« Sie warf die Lippe auf.

»Wie Ihre Brüder?«

Sie schüttelte den Kopf, auch ganz nachdenklich.

»Wie dann?« Sein Arm zitterte.

»Wie einen guten alten Freund vielleicht,« sagte Lulu hastig.

»Halten Sie mich für alt?«

Sie lachte in sich hinein.

»Ach, nicht doch.«

Sie gingen ein paar hastige Schritte. Er athmete heftig.

»Wir können ja langsamer gehen,« sagte Lulu, es bemerkend.

»Warum?«

»Weil Sie außer Athem sind.« 176

»Außer Athem? Wieso? Ach, richtig, Sie finden mich ja dick.«

»Nein, Sie sind nicht dick!«

»Wie schmelzend sie das sagt! Nein, Sie sind nicht dick!« Er ahmte ihre Stimme nach: »wunderliches Kind!«

»Bin ich wunderlich?«

»Sehr!« Er seufzte und drückte ihren Arm, »kleine Freundin!«

»Ja,« lispelte sie, »das macht mich glücklich.«

»Macht es Sie glücklich? Ach, Kind!«

»Gehen wir noch zu schnell, Herr Doktor?«

»Sagen Sie wenigstens Herr Max!«

»Nein, das kann ich nicht.«

»Warum nicht?«

»Wenn das Mieze hörte!«

»Sie hört es ja nicht.« Er lachte leichtsinnig, fügte dann aber schnell hinzu:

»Sie halten Mieze wohl für so eine Art Oger?«

»Ach nein.«

»Uebrigens – Geständniß gegen Geständniß, ich habe Sie auch furchtbar lieb bekommen!«

»Ja, wirklich?«

»Wirklich! Schnürt Ihnen das die Kehle zu?«

»Ein bißchen.«

»Süßes, aufrichtiges Kind!« Er verstummte, um ihren Arm zu drücken. Lulu gerieth in eine unsägliche Aufregung. Sie wollte gern ihren Arm da herausziehen, aber wie ging denn das? Ihn beleidigen? Schrecklicher Gedanke! Es war ja auch nicht unangenehm, den Druck da zu spüren, gar nicht unangenehm, im Gegentheil – aber trotzdem schlug ihr Herz so schrecklich, und dann 177 wieder setzte es ganz aus. Sie kamen an ein erleuchtetes Haus, der Doktor blieb stehen.

»Möchten Sie nicht noch etwas trinken? Melange? Ich habe Durst zum Ersticken« – er holte tief Athem und sah sie an, »und Sie wahrscheinlich auch?« Er sprach hastig.

Der Anblick der hellen Fenster, durch die runde Marmortischchen und vergoldete Stuhllehnen schimmerten, verlockte sie gleich. Und wir werden so viel länger noch zusammen sein, dachte sie, und diese Beklommenheit wird man dann auch los werden.

»Ja, ich habe auch Durst,« sagte sie lächelnd. »Ha, hier ist's elegant.«

Sie ließen sich los. Er ging voran durch die von dicken Kaffee- und Cigarettendämpfen beschwerte Luft des großen Saals zu ebner Erde. Lulu sah blasse, merkwürdige Gesichter hinter Zeitungsblättern oder aus dem Nebel auftauchen, Frauengesichter mit schwarzen Ringen um die Augen, wie Puppen, unnatürlich und unheimlich. Sonderbare Kleider, sonderbare Hüte, sonderbare schwere Parfüms, die ihr zu Kopf stiegen.

Was für ein Abenteuer, dachte sie, so spät in einem Café zu sein. Aber die Blicke, die ihr folgten, drückten, wie es ihr vorkam, starke Mißbilligung darüber aus, daß sie diese Fremden so anstarrte, und sie ging nun gesenkten Kopfes weiter. Das sind natürlich lauter Reisende, dachte sie, aber sonderbar, daß man sie bei Tage niemals auf der Straße sieht, ich muß mal den Doktor danach fragen.

Eben wandte er sich, an der hinteren Saalthür, zu ihr zurück.

»Hier bleiben wir nicht. Hier ist es zu voll.« 178

»Ja,« sagte Lulu, und sie gingen weiter.

Auf dem Vorplatz, den sie jetzt beschritten, brannte nur dürftig Licht. Es war kalt und feucht dort, Lulu schauerte.

»Die Treppe hinauf!«

Max ging wieder voran, eine ziemlich lange, dunkle Treppe.

»Warten Sie einen Augenblick hier.«

Er war fort.

Lulu schauerte noch. Sie fürchtete sich fast, hier allein zu stehen. Die Leute dort unten im Saal hatten ihr nicht gefallen, sie hätte nicht gemocht, daß einer von ihnen heraufkäme und sie hier fände.

Da klappte die Thür, und der Doktor trat eilig wieder heraus, gefolgt von einem Kellner, der eine Lampe und einen Schlüssel trug.

Max ergriff ihren Arm.

»So, da werden wir wenigstens allein sein,« sagte er, als der Mann vor ihnen eine andere, plötzlich aus der Dunkelheit hervortauchende Thür geöffnet hatte.

Lulu sah in ein Zimmer mit einem runden Tisch vor einem rothen Plüschsopha. Der Doktor schob ihr einen breiten, tiefen Lehnstuhl hin, in den sie versank. Er begleitete den Aufwärter bis an die Thür, Lulu hörte, wie er Melange und Wein bestellte.

Der Kellner ging, der Doktor warf sich ins Sopha, reckte die Arme über den Tisch.

»So!«

Lulu musterte unbefangen das helle Zimmer mit dem französischen Kamin und der nichtgehenden Uhr darauf zwischen den zwei Armleuchtern. Die Luft war bedrückend, voll Parfüm.

Es klopfte, der Aufwärter kam und stellte zwei 179 Gläser Melange hin. Es war ein älterer Mann mit einem schafsartigen Profil.

»Trinken Sie!« rief ihr der Doktor zu. Er ging mit dem Kellner hinaus.

Lulu trank, aber ohne Vergnügen. Sie hatte sich das Abenteuer ganz anders gedacht. Sie hatte gehofft, man würde sich gemüthlich gegenübersitzen und so weiter plaudern wie bei Klotilde. Max würde ihr Süßes sagen, und sie würde es erwidern, und vielleicht sogar würden sie sich ewige Freundschaft und Liebe schwören, da sie sich ja doch nicht heirathen konnten. Er kennt ja meine Grundsätze, ganz abgesehen davon, daß er schon eine Frau hat, dachte sie beruhigt.

Da trat Max wieder herein.

Sie hörte einen dumpfen, halberstickten Ton, der sie auffahren und erschrocken sich umschauen machte.

»Lulu,« klang es, aber so fremdartig, so hervorgestoßen – eine ganz unbekannte Stimme.

Sie sah ihn und prallte zurück.

Sein Gesicht war geröthet, die Augen starr, um den Mund spielte ein Zucken, das ihn grausam entstellte.

Er breitete die Arme aus:

»Komm! Komm!«

Lulu's Stuhl fiel krachend hinter ihr zu Boden. Max hatte ihre Schulter berührt und ihr etwas zugeflüstert.

Mit vorgestreckten Händen, in Todesschrecken und Todesangst, wich sie rückwärts.

»O Gott, o Gott, o Gott!«

Das war ja nicht mehr Max, das war ein ganz fremder – entsetzlicher –

Sie schloß die Augen, taumelnd, betäubt; sie faltete die Hände und schluchzte: 180

»Mama, Mama!«

Vor ihrem Ohr seufzte es, wieder hörte sie geflüsterte, unbegreifliche Worte. Sie riß sich mit Gewalt auf. Ihre Kraft kehrte zurück, der Ekel gab ihr sogar die Sprache wieder.

»Pfui, wie dumm! Wie dumm! Schämen Sie sich doch lieber!« rief sie mit flammenden Backen, »was wollen Sie von mir? Was soll ich überhaupt hier? Wozu bin ich mitgegangen? Hier ist es ja abscheulich! Lassen Sie mich auf der Stelle! Ich will weg! Ich will nach Hause!«

Er starrte nur. Zu echt war ihr Entsetzen, zu deutlich der Ekel auf den erblaßten Lippen. Er wurde auf der Stelle stumm, ernüchtert, beschämt. Mit einer Gebärde, als ob er vor sich selbst erröthe, als ob er über den verschmähten dummen Kerl erröthe, zog er sich in eine Ecke zurück.

Lulu klapperte an der Thür. Sie war verschlossen.

»Erlauben Sie,« sagte er kleinlaut, mit einem Versuch zu lächeln, der kläglich mißglückte, und herantretend schob er den Riegel zurück.

Sie sah ihn nicht an. Mit finster gefalteter Stirn, über alle Maßen enttäuscht und beschämt, stürmte sie die Treppe hinunter.

Als sie auf der Straße war, überlegend, wohin sie weiter laufen solle, sah sie ihn im Hut aus der Hausthür treten. Sie schrak zusammen und lief ein paar Schritte.

»Die andere Richtung, Sie gehen verkehrt!« rief er ihr nach. Aber sie mochte nicht hören, sie mochte nicht gehorchen. Die dunkle Straße erschien ihr wie ein sicheres Asyl jenem abschreckenden Zimmer gegenüber.

Bald hörte sie, daß ihr Jemand folgte. 181

»Fürchten Sie nichts!« rief es hinter ihr, »ich gehe auf der andern Seite, so kommen Sie wenigstens nach Hause.«

Sie konnte es nicht hindern, sie konnte nicht sprechen, sie konnte nichts denken. Endlos dehnten sich die Straßen, sein Schritt ging taktmäßig mit dem ihren, er wagte sich nicht zu ihr herüber.

Nur als sie vor ihrem Elternhause stand, trat er plötzlich hinter sie und sagte mit dumpf grollender Stimme:

»Und das nennen Sie den Rahm abschöpfen?«

Als keine Antwort kam, schrie er trotzig:

»Gute Nacht!«

Sie dachte nicht einmal daran, zu antworten.

* * *

Vierzehn Tage später kam Klotilde zu Lulu, die sie blaß und matt empfing.

»Wo bleibst Du, Kleines? Max ist vorgestern erst abgereist. Wir hofften jeden Tag, Dich zu sehen, besonders Max!«

»Es war mir nicht recht wohl,« entschuldigte sich Lulu.

»Er läßt Dich noch vielmal grüßen. Hoffentlich hast Du Dich nicht in ihn verliebt? Ach, weißt Du, er ist ein lieber Mensch, aber seine Frau möchte ich trotzdem nicht sein.«

Lulu lächelte spöttisch:

»Doch nicht?«

»Nein – es sind da so gewisse Sachen – na, das verstehst Du noch nicht, Kleines.«

Lulu sah vor sich nieder. Sie schwieg und fuhr sich mit der Hand über die zusammengezogene Stirn. 182

»Wie zerstreut Du heute bist,« sagte Klotilde, »Du hast noch Kopfweh, Armes!«

»Ja.«

Klotilde umschlang sie tröstend.

»Uebrigens – Mieze hat auch schon geschrieben, seit Max zurück ist; sie kennt Dich auch schon sehr gut; Max hab' ihr immer vorgeschwärmt; Du mußt sie in Berlin besuchen. Unbedingt. Sie rechnet darauf.«

»Von mir geschwärmt –« murmelte Lulu ungläubig.

Klotilde drückte sie an sich.

»Na, Du kennst doch Max!« lachte sie; »bei mir nannte er Dich nur ›die kleine Fee‹ oder –«

Lulu zitterte ein wenig, sie rümpfte die Lippe. »Pah, laß doch!«

Beleidigt gab Klotilde sie frei.

»Na, nimm es nur nicht übel! Uebrigens – gewöhnlich nannte er Dich ›die kleine Kokette‹ und manchmal auch ›der freche Backfisch‹. Jetzt kannst Du Dir aussuchen!« –



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