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Hochsommer. Erntezeit! Mittagstunde. In dem kleinen Dorfe im Etschthal glüht die Sonne auf weiße Mauern und holzgeschnitzte braune Treppchen und Galerien, auf den rothen Zwiebelthurm des Kirchleins, auf den heiligen Florian an dem kühlen, offenen Brunnen und auf die blutigen Wunden des bleichen, dorngekrönten Christus, der vorn am Dorfeingang am hohen Kreuze hängt.
Eine mächtige, lebenzeugende und erhaltende Sonne, diese Sonne des Etschthals! Mit breiten Blättern und zahllosen schwellenden Träubchen drängt sich die Rebe um die niederen Mauern und die braunen Balkone; spiegelblank, in weißen Lichtern, steht der Pfirsichbaum, und schon runden sich die flaumigen Früchte. Eine Fluth von Rosen schwillt um das Kruzifix, und weit hinaus von seinem Hügel wandert das Auge über fahlgoldene Felder, dunkelschattenden Wald, blaue Berge mit feierlichen weißen Häuptern.
Ganz still ist's im Dorf.
Alle sind sie ja draußen auf den Feldern, die Jungen wie die Alten, die Reichen wie die Armen. Träg, mit heraushängender Zunge, liegt da und dort ein großer Hund und blinzelt und schnappt nach den Stechfliegen, die heut gar zudringlich ihr blutsaugerisches Geschäft betreiben. In einer Reihe, mit eingeducktem Kopf, sitzen 106 die Tauben auf den Dächern, – nur die Schweine in den engen Koben grunzen unwirsch und unruhig und drängen den Rüssel zwischen die Latten und schieben an den rauhen Wänden hin und her, um sich den feisten Rücken zu kratzen.
Alle sind draußen, nur der alte Schneider sitzt auf der Holzbank vor der Thür; ihm brennt die Sonne nicht zu heiß für seine frostigen vierundachtzig Jahre. In den rothgestreiften Hemdärmeln und dem weißen Wams sieht er noch frisch genug aus, wenn auch der Bart schlohweiß vom gelbbraunen Gesicht absteht. Es wär' ja alles schon gut, – die Ruhe und Muße nach der langen Schaffenszeit, aber die Augen, die Augen wollen nimmer recht! Es flirrt ihm durcheinander: Grün und Weiß und Gelb! – Man unterscheidet nicht: ist's ein Haus oder ein weißer Schurz da vorn? Und der Himmel – ach! schon zu weit, zu weit! Da wird das Flirren zum Schmerz, wenn er den Himmel sehen möchte.
»Je nun!« Er seufzt und nickt und horcht hinaus. Sein Gehör ist scharf; durch all das Fliegensurren und Gansgeschnatter, – durch das Brüllen des durstigen Viehes in den Ställen und das Rasseln der Säge, dorfaufwärts am Wasserfall, – vernimmt er das langhinrauschende, rollende Singen des Stromes, der dort unten, fast eine halbe Stunde fern, seine schaumweißen Wellen gegen Meran wälzt. Den Weg ist er auch gewandert, als er jung war, immer der Etsch entlang, bald hüben, bald drüben, denn es ist ja krumm und eigenwillig, wirft den Pfad bald auf das rechte, bald auf das linke Ufer und tanzt und braust, das wilde grüne Wasser. Den Kopf mit dem rothen Käppchen auf die Brust gesenkt, träumt der Alte und horcht; – da streift es hart an 107 seinem Ohr vorbei wie der Hauch vom glühenden Backofen, und ein Zischen fährt daher, plötzlich, unangemeldet, wie ein Stoß durch die Luft. Und wieder einer und wieder einer – heiß, staubtragend, sausend und heulend – das ist der Föhn!
Der alte Schneider blickt sich um, – er hat's nicht gern, das Fauchen und Stöhnen in den Bäumen, das Krachen im Holzwerk des Häuschens, an dem er sitzt; er hustet, denn der Staub dörrt ihm den Schlund, wie tausend Nadeln zuckt's in den Gelenken, – und so allein! – Das ist ungut! Das ist unheimlich!
Mühselig steht er auf, tappt einige Schritte, aber der Sturm packt und schüttelt ihn, daß er sich an der niederen Gartenmauer halten muß. Dabei gleitet seine zitternde Hand über die jungen Melonen, die sonnenwarm und glatt sich schon zu gelben beginnen. Ein wohlgefälliges Lächeln huscht über die bläulichen Lippen. Ein gesegnetes Jahr! Ein wunderbar üppiges Jahr! Sie haben's ihm alle schon erzählt, wie es stehe in Baumgärten und Aeckern, in Rebgärten und Feigenpflanzungen, fröhlich und wundernd und mit dem bittenden Zusatz an den lieben Heiland, daß er sie's wolle heimbringen lassen ohn' Schaden und Gefährdung.
Aber der wilde Föhn, der ihn von seinem Plätzchen aufgescheucht, wie die unruhig durcheinanderfahrenden Tauben und Schwalben, drängt ihn wieder auf die Bank zurück, wie sehr ihn verlangt, bei der Nachbarin Schutz zu suchen. Sie ist zwar ein gar gebrechliches Weiblein, die alte Burghäuslerin, aber Augen hat sie wie eine Maus, so schnell und scharf, und alleweil weiß sie zu erzählen, was es Neues geben hat, und gibt es kein Neues, so holt sie etwas Altes vor, und das ist noch besser. 108
»Burghäuslerin!« ruft hüstelnd und seufzend der Schneider.
Aber die Alte hört ihn nicht. Eingeschlummert ist sie auf ihrem niederen Schragen, der vorm Hause steht, daß sie doch allweil der Sonne genießen soll. Die thut ihr wohl, die Sonne! Sie ist ja lahm an den Füßen, die Burghäuslerin, und die Sonne ist ihre einzige Medizin. Mit der spitzigen Nase liegt sie tief in den rothgewürfelten Kissen, und über ihrer spitzigen, weißen Haube hängt leichtschattend der blühende Granatbaum. Den mächtig gewucherten Kaktus aber voll feurig glühender Blumen, den die Bienen honiglüstern umschwirren, haben ihr die Enkelkinder neben das Lager gestellt, denn dies Volk kennt die Freude an den Farben und vielgestaltigen Formen der Blumen.
Sogar der Föhn erweckt die Greisin nicht. In der sengenden Sonne, unterm Gluthwind, inmitten leuchtender Blumen schläft das hagere, gelbliche Gesichtchen, friedsam und tief, als hätte sie Jahre des Schlafes nachzuholen.
Und weiter dann, am Ende des Dorfes, wo die Treppchen löcherig sind, und die kleinen braunen Galerien schief und lotterig um die Häuser hängen, die hier so dicht, so ineinandergewirrt stehen, an der Berglehne hinauf, da ist noch Einer daheim, weil er eben nie fort kann, nichts schaffen, nichts helfen kann – der arme Seppi. Ja, das ist halt ein armseliges Menschenkind. Kein Wort kann er reden und ist doch gescheidt, und hört und sieht doch alles und weiß es zu deuten. Mitten auf der Dorfstraße, im weißen Staube, der um ihn herumwirbelt, hockt er auf den Knien – denn seine Füße sind verkrümmt und kraftlos – hat die Arme mit den einwärts geschlagenen Händen über der hageren Brust 109 gekreuzt und starrt mit vorquellenden schwarzen Augen zum Himmel hinauf, über dessen tiefe leuchtende Bläue weit voneinander gespreizte weiße Wolkenfittiche eilends dahinjagen. Der immer fröhliche Seppi – heut ist er nicht fröhlich, die Stirn ist zusammengezogen, die Flügel der kühnen Adlernase weiten sich, wittern hinaus, die stummen, schöngeformten Lippen hat er lechzend geöffnet: ihn beklemmt der Föhn, und ihn dürstet. Aber noch lang muß er warten, bis ihm eine hülfreiche Hand den labenden Trunk in den Mund gießt.
Da – ein Bübchen streicht vorbei, drüben an dem Heustadel, der sonnenbraun, mit zierlich geschnittenen Schindeln belegt, auf einem ausgedörrten Rasenflecken steht.
»Huhu!« macht der arme Seppi und wirft den langen, übermenschlich langen Hals hintenüber; er kennt das Bübchen ja, es gehört der Köli, der Gemeindearmen, und das Bübchen kennt ihn. Aber der Kleine achtet nicht auf Seppi's Geschrei, er ist sehr beschäftigt, seine rechte Hand umschließt etwas, das er dann und wann heftig schüttelt und zum Ohre hebt; – nachdenklich kommt er über den dürren, gelblichen Grasfleck, die Barfüßchen kaum aufhebend, im zerrissenen Hemd, das ihm von der Schulter herabhängt, den wirren, dunklen Strubelkopf gesenkt auf den Schatz, den er bald behorcht, bald betrachtet.
»Huh huh huh!« schreit Seppi und arbeitet sich einige Schritte vorwärts, den Hals verrenkend, um dem Heini zu winken, daß er ihm Wasser geben soll.
Nun hat er's doch gehört; die dunklen Kirschenaugen fahren nach rechts und links herum, aber den Sepp finden sie nicht, das Haus verdeckt ihn dem Kleinen. Und dann 110 hat er auch so viel zu thun. Nun sitzt er behaglich im Gras an der Stadelwand und schiebt und drückt an dem bunten Schächtelchen, das er dort unten beim Wirthshaus auf der Thürschwelle gefunden hat. Ein nettes Schächtelchen, gelb und roth, und oben darauf ist eine Puppe mit einem weißen Kleid und dünnen Beinen. Der Heini muß lachen, da er sie ansieht, er weiß selbst nicht warum. Hah! Da ist's endlich offen, und darin – was liegt in dem Schächtelchen? Heinis Augen rollen vor Freude, da sind drei gelbe kleine Dinger mit rothen Käppchen, drei schlanke gelbe Soldaten mit rothen Mützen, und sie können auch schießen, Heini hat's einmal gehört, wie der Adlerwirth sie hat knallen lassen – piff – sss! und dann hat's gebrannt, erst blau und dann roth, und danach hat er sich die Pfeife damit angezündet.
Im Armenhaus, wo Heini mit der Mutter wohnt, hat er nie so ein Hölzchen erlangen können; die Meisterin versteckt sie, hat auch nicht so nette, wie die da. Einen wüsten Geruch haben der Meisterin ihre, man weiß immer schon, wenn sie damit über die Wand gefahren ist. Einmal am Abend hat er ihr zugesehen, – einen hellen, blauen Weg hat das Hölzchen über die Wand gezogen, das war schön, aber grauslich. »Gib mir auch eins!« hat er gebettelt, er wollte das nachmachen, so einen hellen, dampfenden Strich an der Küchenwand, wenn's ihm auch gegraust hat, aber die Meisterin hat gesagt: »Nein, nein, nit für Buben!«
Aber jetzt – haha! Jetzt hat er doch drei, und gar von den schönen. Heini sieht sich um – »huuu«! ruft Seppi kläglich, aber der Kleine achtet's nicht. Mit lächelnder Erwartung packt er ein Hölzchen zwischen Daumen und Zeigefinger und streicht damit über die Schachtelwand, 111 grade wie's der Adlerwirth gemacht hat damals. »Ssss!« Heini fährt zurück vor dem kleinen Knall – vielleicht kommt noch mehr? Nein, der blaue Funke ist schon wieder todt, das rothe Mützchen ist schwarz geworden – gebrannt hat es nicht. Heini betrachtet mit aufgeworfener Lippe das schnell verbrauchte Spielzeug. Er streicht noch einmal über die Schachtel hin; aber nun fällt das Mützchen ganz herunter, und kopfschüttelnd wirft er das Hölzchen ins Gras.
Seine Miene erhellt sich; da sind noch zwei, zwei mit großen runden Köpfen. Die müssen jetzt länger vorhalten. Aber der Wind, der ihm Heuhalme um den Kopf wirbelt und heulend um die Dächer streicht, wird die Funken gleich wieder ausblasen. Hei, der Stadel ist ja offen! – Heini setzt sich in die Thür. Er lacht vor Behagen. Die Buben und Mädchen spielen nur selten mit ihm, aber er kann auch allein spielen. Nun sind sie alle mit draußen, wo die Eltern mähen und binden, sogar die Allerkleinsten liegen schlafend im Korn. Aber den Heini hat die Mutter nicht mit haben wollen, was thut auch so ein fünfjähriger Bub dort, als einen in der Arbeit stören?
Und die Köli muß nicht beim Schaffen gestört sein, sonst battet's bei ihr gar zu wenig. Wie sie dort draußen auf dem Acker in der vollen Sonnengluth steht und sich das rothgestreifte Tüchel ein wenig lüftet, das ihr der eigenwillige Wind gar über die Augen hinabgeschlagen hat, ist sie die hagerste, die dürftigste von all den Frauen. Braun wie eine Nuß, mit dünnen Armen, den Rock verschoben, den Schurz verrissen, müht sie sich mit lautem Lachen an dem Knoten im Tuche und ist weit hinter den Binderinnen zurückgeblieben. Die winken und rufen 112 ihr Spottnamen zu. Jeder höhnt über die Köli, die stets die letzte sein muß und die Schande nicht fühlt. Jetzt bückt sie sich gar nach ein paar Mohnblumen, rupft sie ab und nimmt sie zwischen die Zähne, die weiß aus dem dunklen Gesicht hervorblinken. Und dann, mit langen Sätzen wie ein Hase, springt sie den andern nach, lachend zu den Scheltworten, die ihr entgegenschwirren. Bei einer kräftig die Arme hebenden Frau, die ihr schweißbeperltes Gesicht sich abzutrocknen nicht die Zeit nimmt, steht die Köli still: »Jessas, Maria und Josef, wie bin ich g'sprungen!«
Und sie packt den bloßen braunen Arm der andern:
»Meisterin, ach, schaffet nit so g'schwind, 's wird einem angst und bang beim Zuschau'n; Köli, der arm' Tropf, kann ja nit nachkommen, ah – bin so müd, so müd«! Und laut aufweinend sinkt sie in die Stoppeln. Die Frau hat ihre Hand abgeschüttelt und schafft ruhig und ernsthaft fort. Sie blickt nicht hin auf die Schluchzende, sie weiß, nachher wird's nur ärger, artet aus zum Krampf. Man muß die Köli ganz gehen lassen, dann lacht und springt sie wieder, eh' fünf Minuten um sind.
Es ist schon so ein Schicksal mit dem armen Ding.
Die Meisterin des Armenhauses hat sie gekannt, als sie noch »der Flüevogel« hieß und braun und frisch und scheu war, wie ein Flüevogel. Der Nazi, des Adlerwirths einziger Sohn, hat ihr den Namen gegeben, denn sie hat den ganzen Tag gesungen, und ihm hat ihr Singen gar besonders gefallen . . .
Und dann – auf einmal – ein Gerede, ein Gerücht im Dorf: Jeder sagt's, jeder glaubt's, jeder weiß, was geschehen ist; nur der Adlerwirth weiß, glaubt nichts, 113 nur der Nazi schlägt auf den Tisch und flucht und schreit, es sei alles verlogen! Hinaus mit der Köli! Hinaus mit dem Flüevogel! Er hat falsch gepfiffen. Hinaus mit der armen Magd! Wie? Kaum siebzehnjährig und schon so verdorben?
Köli hatte noch die Mutter, und die Mutter ging ans Gericht, dieweil Köli sich vor Aller Augen in der Hütte verbarg; den Kopf in beide Hände gestützt saß sie im Winkel, Wochen, Monate lang, verlernte das Reden fast, hätte nichts genossen, wenn's ihr die Mutter nicht eingezwungen hätte.
Dann kam die Entscheidung. Die Klage war abgewiesen worden. Das Häuschen der Mutter ging auf für die Kosten. Sie mußte auf ihre alten Tage hinauf in ihr Heimathdorf Rateis, als Almosengenössige; – die Köli blieb in Staaben, auch als Almosengenössige. Denn sie war wunderlich geworden, machte alles verkehrt, lachte viel und weinte ohne Ursache, hätte auch ihren Buben, den Heini, nimmermehr recht zu ziehen gewußt; aber die Meisterin im Armenhaus erzog auch den Kleinen: neben ihrem Bette stand das vom Heini.
Zuweilen flüsterte etwas im Dorf, wenn der Adlerwirth wieder ein neues Baumgut erwarb, oder seinem sauberen Hause einen Anbau hinzufügte, daß Gewalt für Recht gegangen sei. Aber wenn dann der Nazi daherkam, stolz und flott, alle Taschen voll Geld, und der Veltliner wie dunkles Blut in die Gläser der Zechbrüder rann, dann hatte solch ein Flüsterer schnell die Lippen zusammengedrückt und den übermüthigen Burschen gegrüßt wie die andern. Es war etwas Gewaltthätiges in den Leuten vom Adlerwirthshaus; – sie hatten alle Zornadern auf der Stirn, der Alte, die Mutter und 114 der einzige Sohn; sie lebten auch untereinander nicht friedlich, und der Vater hielt sich als Gemeindevorsteher nur durch die Furcht, die er den Dorfgenossen einflößte. Von Zeit zu Zeit aber erschien es ihm angemessen, auch Leutseligkeit walten zu lassen. So hatte er heute, da er ein volles Dutzend welscher Schnitter eingestellt, die billiger und emsiger schaffen, als die Tiroler, ein umfangreiches Faß Wein selber heraus gefahren, um damit das Mittagsmahl unter den Nußbäumen zu begießen. Zwar hatte der Wirth gestern Nacht noch spät im Keller am Brunnen gewirthschaftet, um dem kühlen Trank die Gefährlichkeit zu nehmen, aber doch hatte die arglose Jugend dem grünen Fasse zugejubelt und bereits aus Feldblumen und Aehren ein schnellfertiges Gewinde darum geschlungen, so daß die Bauern mit ihren Knechten und Mägden neidisch und verbissen auf die festliche Anstalt sahen. Ja, der Adlerwirth ist eben ein Protz, aber er versteht's! Immer hat er etwas Apartes.
Die Mittagsglocke läutet, die gebogenen Rücken schnellen elastisch empor, oder sie werden vorsichtig, mühsam, mit manchem Weh und Ach gerade gestreckt. In den Schatten! In den Schatten! Zwar ein wenig weit ist's bis an die Kastanien auf dem runden Hügel, dem Köpfel, das wie ein riesenhafter Maulwurfshaufen gegen Norden des Dorfes liegt. Aber was hilft's? Näherzu ist kein Schattenstreif außer dem Nußbaumhain, und den hält der breite Adlerwirth mit seinen Leuten besetzt.
Wie ein General vor der Schlacht überschaut er von seinem Wagen aus das Gesinde, indeß die Adlerwirthin, auf ein paar Garben thronend, aus einer Extraflasche für sich einschenkt . . . Die Italiener haben 115 sich bequem gelagert; ihr Lachen und lautes Sprechen hat die Mägde angesteckt, oder ist's der Föhn, der das Blut aufpeitscht, daß alle Backen glühen und alle Augen blitzen? Halt – nun hebt der Gerolamo gar sein Glas zierlich empor, stützt den Fuß auf ein Wagenrad und beginnt zu reden. Man versteht's nicht, aber man lacht, denn des Gerolamo schlanke Landsleute gestikuliren lebhaft und lachen auch und rufen ihm zu. Der Nazi dreht den Schnauz und horcht mit zurückgeworfenem Kopfe; – mit einem lustig emporklingenden Refrain, in den die andern Welschen einstimmen, endet die Rede. Ein neues Lied beginnt. –
Da – was ist das?
Ein schriller, stöhnender Glockenton aus dem Kirchlein, noch einer, noch einer! Was ist das? Ein wildes Aufspringen! Rufen! Durcheinanderrennen!
Es brennt! Es brennt! Es brennt! Unser Dorf brennt! Sturm! Es läutet Sturm! Und der Föhn? der Föhn! Wo? Wo? Wohin zuerst?
Gleich unterm Köpfel schießt eine Flamme auf. Aber auch dort, am Kalvarienberg, und dort neben der Kirche! Wie blutübergossen schimmert der rothe Zwiebelthurm. In rasendem Fluge saust der Föhn von Osten daher, packt die langen Flammenzungen und treibt sie über die Dächer, über die Rebgärten, über die beladenen Obstbäume, die sich krachend, knisternd krümmen, beugen – endlich brechen.
Retten! Retten! Aber wo? Wo?
Helfen! Helfen! Aber wem? Wem zuerst? Wer wagt sich in dieses Flammenmeer, in diese rauchüberwogte Hölle?
Und wie fände er den Weg? Was ergriffe er 116 zuerst? Kann man Häuser forttragen? Gärten auf die Schulter heben? – –
Ein zitterndes, von weißem Haar umflattertes Männchen sitzt an dem Kruzifix, mitten unter den Rosen, und erzählt mit jammernder Stimme, er sei alt, sehr alt, dreiundachtzig Jahre, und die neue Sündfluth sei da, die sei lebendiges Feuer, vom Himmel heruntergefallenes Feuer, um die Gottlosen zu verderben.
Pater Joseph rennt daher, zwei verkrümmte Füße schlagen ihm auf die Brust, – er hat den armen Seppi den Flammen entrissen; wie? weiß er selber nicht. Der Schrecken in den Augen des Stummen ist entsetzlich beredt; in seinem rothgeschwollenen Gesicht arbeitet der heiße Wunsch, ein Wort, nur ein Wort zu sagen – aber sein Aechzen und Uh!-Schreien findet keine Hörer. Sein Retter legt ihn auf den Hügel am Kruzifix, neben den Schneider, eine Rauchwolke hüllt sie alle in Finsterniß.
Keine Hülfe, keine Rettung möglich! Auf den erblaßten Lippen erstirbt das Angstgeschrei, das planlose Durcheinanderlaufen hat fast aufgehört; nur hier und da ruft noch eins in schluchzendem Ton nach seiner Geiß, oder einer Lieblingskatze. Die Stille der Verzweiflung ist auf die Heimgesuchten herabgesunken, sie drückt sie in den Boden.
Was denn! Wie denn? Hier stehen sie mit gekreuzten Armen, ohne Hoffnung, ohne Besinnung fast, indeß ihr Hab und Gut, das Werk ihrer Hände und die Gabe des überreichen Jahres in Flammen aufgeht.
Sie stehen nicht mehr aufrecht, die wenigsten nur wagen noch den Blick auf das Gluthgewoge zu richten; – die andern haben das Gesicht an die Erde gedrückt und umklammern sie mit beiden Armen, außer sich, 117 ohne Sinn und Begriffe, als lebenhemmende Furcht, als stumpfe Verzweiflung.
Und der Föhn rast, und die Flammen lohen, ohne Einhalt. Neben der Kirche das Spritzenhaus – ja wer dränge bis dorthin? Und das Wasser? Unten bei der Säge, der Schnalser Bach, gut zehn Minuten weit; aber worin es fassen? Ganz einsam liegt das Dorf, und eh' Hülfe kommt von Naturns oder Rabland – –
Die Flammen lohen – dann plötzlich ersterben sie. Was ist geschehen, daß alles auf einmal schwarz daliegt und keine rothe Schlange mehr emporzüngelt? Fort wälzt der Sturm den dichten Dampf, fährt stoßend hinein und zerreißt ihn in Fetzen, die nach allen Seiten flattern – da stehen nur rauchgeschwärzte Mauern, verkohlte Strünke, glimmende Trümmerhaufen, wo eben, vor kaum zwanzig Minuten noch, ihr schmuckes Dorf gewesen! Ihre liebe Heimath!
Kaum zwanzig Minuten! Pater Joseph, der an dem Kruzifix kniet und mit verbrannten Händen und versengtem Haar schmerzhafte Gebete um Hülfe, um gnädigen himmlischen Beistand in der jäh hereingebrochenen Noth hinausruft, – er hat's gesehen, daß nur zwanzig Minuten vergangen sind, seit die ersten Flammen aufstiegen: auf dem grünen Zifferblatt unter dem rothen Zwiebelthurm, der einzig aufrecht steht von all den verwüsteten, dachlosen Heimstätten, hat er zufällig die Zeit abgelesen, da aus des Adlerwirths Heustadel die Gluth hervorbrach. Danach ist er in die Kirche und hat am Seil gestürmt, eh' der Meßner herbeikam, aber bald haben sie beide gesehen, daß es hier nichts mehr gibt, als schnelle Flucht, und da haben sie denn auf ihrem Kreuz- und Querwege durch das verlorene Dorf die 118 Stallthüren aufgerissen und das Vieh hinausgejagt. Manches Stück ist trotzdem zurück in die Flammen in seiner Angst.
Der Föhn rast um die nackten Mauern, und wie ein ungeheurer Jammerschrei erhebt sich die Stimme der Beraubten, die nun, da das Feuer erloschen, hineinstürmen in den beißenden, blindmachenden Qualm, in den schwarzen, flatternden Staub, um ihre Heimathstätten irren und sie nicht wiederfinden.
Wie im fürchterlichen Traum starren sie einander ins Gesicht: Alle verarmt, alle obdachlos, sechshundert und mehr – es ist wie ein Wiedersehen in der Hölle!
Hie und da ein Haus – anscheinend vom Feuer übersprungen! Hoffnungsvoll, in zitternder Spannung, fliegt der Glückliche darauf zu, dem es gehört, – aber auf der Schwelle steht sein Fuß: verkohlt der Hausrath, rauchend und glimmend die hölzerne Täfelung, und er schlägt die Hände vors Gesicht und rennt davon, als ob ihn jemand verfolge.
Ueberall das gleiche Bild der Zerstörung, an keinem Herde ist's mehr heimelig, auch wo die Mauern, sogar die Fenster, unversehrt sind; kein grünes Blatt mehr zittert um die schwarzen Aeste, wie rußige Stricke hängen die Reben an den Spalieren.
Der Adlerwirth und sein Weib und der Nazi stehen in einem Häuschen der italienischen Arbeiter, und unbekümmert um die Fremden fahren sie fluchend und fäusteballend gegeneinander in besinnungsloser Wuth.
»Warum bist nicht rechtzeitig nach Meran?«
»Hab' ich etwa fort können, so mitten in der Ernte?«
»Hah, was Du schaffst! Mit der Zunge, sonst doch nichts!« 119
»Hab' ich nit den Nazi g'schickt? Gestern schon? Aber der! Folgt denn der Nazi seiner Mutter? 's wär' das erste Mal!«
»So? Und warum ist die Mutter nit gangen, wenn ihr ein Unglück geahnt hat? Muß ich immer den Sündenbock machen? Und wem g'schieht denn der Schaden, wenn nit mir?«
»Dir? Ist der Adler schon Dein etwa, Du Lapp?«
»Der Adler! Da! Ha!« hohnlacht der Nazi gegen die ausgebrannten Mauern hin.
Vater und Sohn erheben die Faust gegeneinander, die Mutter kreischt, die Zuschauer fahren zurück, da legt sich ein Arm auf Nazis: »Besinnt Euch! Händel in solcher Stund'. Der Herr hat uns gestraft!« ruft Pater Joseph mit erhobener Stimme.
»Der Herr hat uns gestraft!« murmeln hundert zitternde Lippen nach, und alles drängt sich zu dem Tröster und Ankläger im Priesterkleide. »Der Herr hat uns gestraft! Aber der Adlerwirth ist halt bös' dran – er ist nicht versichert, die Schrift war abgelaufen, seit gestern, hört Ihr's denn nicht? Er hat's ja ausgeschrien, selber.«
»Nicht versichert? Bist Du versichert?«
»Ich, nein! Aber ich bin ein armes Leut', ach Du mein Heiland, und der Adlerwirth war reich.«
In sein verbranntes Gewese ist er nun eingedrungen, der Wüthende, hinter ihm der Nazi und die Italiener, auch sie in höchster Erregung, obschon sie kein Haus verloren haben. Keuchend, mit blutenden Fäusten, schmettert er zu Boden, was noch aufrecht steht im neugebauten Tanzsaal, im Herrenstübel. Stumm, mit drohenden Augen und untergeschlagenen Armen folgt ihm sein Sohn, in die Fenster herein schallt lautes Weinen der Mutter 120 und der Mägde: »Alles hin! Alles verloren! Und das Letzte schlägt der Wirth in Stücke! Er ist hintersinnig worden! Man sollte ihn binden!«
Aber Pater Joseph ist in die Kirche geeilt; und nun kommen sie beide, der Meßner und er, mit der schweren Bildgestalt, mit der Mutter Gottes auf dem Thron. Ihr hellblaues Atlasgewand hat keinen Brandfleck, der weiße Rosenkranz auf ihrem Haupte ist unversengt; ihr mildes, mütterliches Antlitz, das den Dörflern so oft unter dem Schein der Altarkerzen Trost zugelächelt, – es lächelt auch jetzt unter der sengenden Mittagssonne, inmitten der rauchenden Ruinen, und ein Schrei bebt gen Himmel: »Heilige Mutter Gottes! Heilige Mutter Gottes, bitte für uns!«
Vergessen ist der Adlerwirth und seine Sinnenverstörung, zusammen strömen sie um das Gnadenbild, das seltsam gerettete. »Ein Mirakel!« geht es schauernd von Mund zu Munde. »Seht, sie ist unversehrt! Heilig! Heilig! Heilig! Die Himmelskönigin!«
Und alles sinkt in die Knie, alles murmelt Gebete, beugt sich zum Boden, schlägt die Brust und hebt die Augen zu dem weißlich umflorten Himmel. Es ist ein Augenblick der Stille, ein Aufhorchen mitten im Jammer, eine Erhebung der zerschmetterten Seelen in ewige Fernen, wo alles licht und groß und unwandelbar bleibt, gleichviel, was hier unten geschehe!
Ueber Pater Joseph's kluges, schwarzbärtiges Antlitz zuckt ein Strahl demüthiger Dankbarkeit. Neben dem Marienbilde hat er gekniet, nun hebt er sich schlank und gebietend in der verbrannten schwarzen Kutte vom Boden und winkt mit beiden ausgestreckten Armen. Seine Stimme rollt: »Die Kirche steht! Maria ruft Euch! Kommt in 121 das Gotteshaus, Ihr Obdachlosen! Raum hat es und Schutz für Euch alle!«
Vier Jünglinge erheben das Marienbild; aus der Kirche ruft die Glocke zur Messe.
Pater Joseph in aufrechter Haltung, nur hie und da mit zurückgewendeten Augen seine Herde lockend, schreitet wie ein Sieger gegen die offene Thür zwischen den verbrannten Pappeln. Da gellt eine Weiberstimme hinter ihm: »Der Brandstifter! Der Mordbrenner am Altar!«
Ein hundertstimmiger Schrei, ein wüster Aufruhr, ein plötzliches Getümmel, ein wildes Durcheinander auf der Kirchenschwelle!
»Wo? Der Mordbrenner?«
»Wer ist's?«
»Der Mordbrenner? Der Brandstifter?«
»Der uns alle verderbt hat?«
»Der uns alle zu Bettlern macht?«
»Wer ist es? Wer kann es sein?«
Und die gelle Stimme erwidert aus irgend einem unsichtbaren Winkel:
»Der Bub' der Köli war's! Der gottvergessene Schelm hat den Stadel vom Adlerwirth anzündet. Vom Fenster aus hab' ich zug'schaut und nicht können so g'schwind die Stiegen ab. Grad' hält' er noch die Zündschachtel in der Hand!«
Ein Gebrüll erhebt sich.
»Der Bub' der Köli? Die Köli? Der Flüevogel? Der faule Balg aus dem Armenhaus? Und wir haben's fütteret? Und das Weib traut sich her? Unter ehrliche Leut'? Unter die Leut', wo ihr Hab und Gut verloren haben durch ihre Schuld? Fangt sie! Schlagt sie! Wo ist sie? Laßt sie nicht entwischen! Hah, Flüevogel!« 122
»Einen Strick um den Hals und in die Etsch mit ihm!«
»Und mit dem Weib, seiner Mutter!«
»Wo ist er? Wo sind sie? Der Feuervogel!«
»Alles hin, und um solche Brut!«
»Um der Barmherzigkeit willen hat man sie gefüttert, und so lohnt sie's!«
»Ins Loch! Wo sind sie? Ins Loch! alle beide!«
Und auf der Schwelle der Kirche kehrt alles um, rennt und stiebt nach allen Seiten, mit Verwünschungen auf den Lippen, die eben noch beteten, mit Rachsucht in den eben noch weinenden Augen, mit wildfuchtelnden Fäusten, die eben noch demüthig gefaltete Hände waren. Die Glocke ruft, aber Niemand horcht ihr. Auch Pater Joseph ist machtlos jetzt, und freiwillig wirft er den letzten Rest seiner Gewalt von sich. Auch er ballt die eben noch segnende Hand.
»Entarteter Bube! Pflichtvergessene Mutter!« ruft er mit Richterstimme, mit funkelnden Augen. »Züchtigt die Frevler! Fangt sie! Sperrt sie ein! Wo sind sie? Wo sind sie?« – Nun ist er Einer, wie alle.
»Einsperren? Wo? Es ist ja alles leer und offen!« jammerte eine schluchzende Stimme auf, und plötzlich stimmten hundert ein:
»Alles hin! Alles verbrannt! Kein Dach, keine Thür, kein Fenster mehr, das dicht hält! Wir sind geschlagen, geschlagen! Und der Mordbube hat noch gelacht und selber die Schachtel gezeigt – hinaus mit ihnen!«
»Hinaus! Hinauf in den Wald!«
»Und über den Wald in die Berge!«
»Jagt sie in den Kar!«
»In den ewigen Schnee!« 123
Hinaus! Hinaus! Hinaus!«
Ja, wenn man sie finden könnte! Einen kurzen Augenblick hat man den kleinen Buben mit dem dunklen Strubelkopf auf dem Altargitter sitzen sehen, wie er ein Schächtelchen schüttelt und ans Ohr hält, aber dann, als die gelle Stimme erklang, ist er herabgesprungen wie ein Vogel vom Zweig und fort. Der plötzliche Lärm vor der Kirchenthür hat ihn erschreckt, verjagt.
Und danach ist noch ein Aufkreischen gehört worden, da und dort, wie es in Todesangst ein gehetztes Thier ausstößt, und einer hat zwei graubräunliche, nackte Füßchen über den Köpfen zappeln sehen, und ein anderer hat eine dünne, huschende Gestalt in wahnsinnigen Sätzen davon springen sehen. Grad' hat er schreien wollen: »Da ist die Köli! Da läuft sie!« Aber im selben Augenblick ist's ihm gewesen, als drücke ihm jemand den Mund zu, so hat er nachher erzählt. Deutlich hat er's gefühlt, es war der Finger der Mutter Gottes! Da hat er sich geduckt und hat gehorcht, und wie seine Lippen wieder frei worden sind, da ist die Köli verschwunden gewesen droben zwischen den Arvenbäumen. Wenn man sie finden könnte? Seine Wuth an ihnen kühlen, sein Elend rächen könnte! Durch die Ruinen stürmen sie, racheberauscht, möchten sie treffen, sie zerreißen, in die Etsch werfen, und sollten sie stundenweit die schuldigen Opfer dorthin zerren müssen. Und hinaus aus dem Trümmerdorf, unter die Nußbäume, wo die Flamme Halt gemacht hat, über das Küpfel, das noch grün und schattig bewaldet steht, jagen zerstreut die Verfolgenden. Bis hinan gegen die ersten Waldbäume . . . nichts!
Und dann, nach all der Noth und Verzweiflung, sinken sie müd' und zerschlagen unter den grünen Aesten 124 ins dürre Gras und Moos; unlustig zu weiterer Verfolgung, zu elend zum Zorn, mit öder, hoffnungsloser Seele, mit erstorbenen Kräften . . .
Ach, dort rasseln Wagen heran auf der weit übersehbaren Landstraße! Die Spritzen kommen! Die Spritzen von Naturns oder gar von Meran? Die Spritzen! Jetzt! Wo kein Funke mehr glimmt, weil alles Brennbare, dürr von der langen Sommerhitze, in der Gluth zu Asche geworden in weniger als einer halben Stunde!
Und von neuem beginnen die Thränen der Frauen, die Verwünschungen der Männer, und niemand erhebt sich vom Boden, um den Helfern, deren Hülfe zu spät kommt, entgegen zu gehen.
Dennoch – vor den entsetzten Zurufen, den theilnahmsvoll dargebotenen Händen der Nachbaren, die staub- und schweißbedeckt von den Wagen sprangen, hielt die Apathie der Verzweiflung nicht stand. Gesenkten Hauptes, aber doch hörend und hie und da Antwort gebend, folgten die meisten den Anrufen, und langsam kehrten sie mit den Befreundeten in die verwüsteten Gassen zurück, jeder auf seine eigene Brandstätte. Es glomm noch hie und da unter dem Schutt, es fand sich noch manch unversehrtes Stück Hausrath, manch Geräth, das noch zu brauchen war. Der Wein und Most in den Kellern war nicht ausgelaufen, die Dunghaufen nur oberflächlich verkohlt; erschrecktes Geflügelvolk, das sich aus den Gassen voll Flammen hinausgeflüchtet, kehrte gackernd zurück; man fing an, aufzuräumen, das verjagte Vieh zu suchen, die Größe des Unglücks zu überschauen, die Höhe des Schadens in Ziffern zu berechnen. Kein Menschenleben war verloren als das der alten Burghäuslerin, die im Schlafe erstickt zu sein schien. Sie traten an ihr Lager, 125 auf dem sie, kaum verändert, lag, sich beugend und bekreuzend. Der blühende Baum über ihr war zum schwarzen Gerippe versengt, aber das Bett der Burghäuslerin hatten die Flammen verschont.
Die meisten von der Dorfschaft waren versichert, man berieth nur, ob die Gesellschaft auch zahlen werde bei dem Massenverlust. Nur der Reichste von gestern war heute der ärmste Mann – der Adlerwirth konnte auf keinen Ersatz rechnen, und er wüthete, jedem Zuspruch, jedem Mahnwort unzugänglich, um den Rest zu zerschlagen. Wenn er damit fertig sei, dann, mit dem letzten Strick, werde er sich aufhängen, so drohte er.
Aber als die Nacht kam und mit ihr Wagen voll Brod und Fleisch und Obst und Kleidungsstücke, die man von Meran den Verunglückten sandte, da ließ sich's der Adlerwirth doch gefallen, daß sein Weib ihm ein Brod in die Hand steckte, und er biß knirschend hinein und saß, im Winkel kauernd, mit stumpfer Miene, bis er in Schlaf fiel.
Der Nazi war ohne Abschied auf einen der fortrollenden Wagen gesprungen; mochten sie sehen, wie sie fertig würden, er ging nach Meran, vielleicht nach Wien! Was von baarem Gelde noch im Hause gewesen, das befand sich jetzt sicher in seiner Tasche – des Vaters sinnlose Wuth hatte ihm den freien Spielraum gewährt, nach dem es ihn längst gelüstet. – –
So gut es ging, hatten sich die Abgebrannten in ihren Mauern gebettet; viele übernachteten auf freiem Felde, da den alten Häuser der Einsturz drohte. Die Nacht war schwül, ohne Abkühlung, tief dunkel, so daß man einander nicht sah – der Föhn schwieg, aber seine Wirkung war noch in der erschlaffenden Schwere der 126 Luft zu spüren, in dem fast unerträglichen Brandgeruch, der über dem verunglückten Dorfe stehen geblieben war und das Athmen beklemmte. Das Stöhnen und Wehklagen war verstummt, ja ganz vereinzelt erklang wieder ein Auflachen, ein Scherzwort – dann sprach jemand unter den dunklen Bäumen ein lautes Gebet mit ergebener Stimme, andere Stimmen fielen ein – ein langer Seufzer wehte über das Land, und danach ward es stille.
Die Meisterin des Armenhauses schläft nicht. Sie hat den grauen Kopf auf eine Garbe gedrückt; es raschelt bei jeder Bewegung, die scharfen Grannen stechen die Haut, aber ihre Haut ist derb und wettergewöhnt, und sie hat schon härter geschlafen. Zuweilen fallen ihr die Lider zu, und sie ist einen Augenblick schlafbenommen, aber dann schreckt sie auf, streckt die rechte Hand aus und tastet umher, zieht die leere Hand an sich und seufzt und liegt und sinnt. Da, zu ihrer rechten Seite, in dem räucherigen elenden Loch, das nun auch verbrannt ist, hat sie Nacht für Nacht seit mehr denn fünf Jahren den Heini gefühlt, den Unglücksbuben, den Malefizbuben, den lieben, schelmischen, gescheidten Buben, den Jüngsten im Armenhaus, der nun das große Elend über das Dorf gebracht hat. Ja, ja, er ist's gewesen, sie zweifelt nicht! Sie hat ihm schon einmal solch ein gefährlich Spielwerk entwunden. Wo ist er hin? Ist die Köli nicht wunderlich? Wenn man nur wüßt', ob sie ihn glücklich, unverletzt aus dem Dorf gebracht hat! Ueber Tag ist's der Meisterin nicht so gekommen, daß sie hätte Mitleid gehabt mit der Köli. Der Zorn hat sie gepackt, wie die anderen auch! Was schaut die Köli nicht zu ihrem eigenen Buben, daß er kein Unheil anstiftet! Aber jetzt, da im Dunkeln, sind die Gedanken ganz anders. 127
»Bin ich nicht die Armenmutter?« sagt sie auf einmal vor sich hin. Es ist ihr von selbst auf die Zunge gekommen. Ja, sie hat ihr Amt schlecht verwaltet, sie fühlt es. Darum kommen sie halt ins Armenhaus, weil sie arm sind, arm an Leib und Seele! Gott hat das Unglück zugelassen, sonst wär's ja nicht geschehen! Blitze schlagen in eine Heimath und zünden nicht. Hier hat ein Streichhölzchen in unschuldiger Kinderhand das ganze Dorf vernichtet.
In unschuldiger Kinderhand? Ist die Hand unschuldig, die so viel Leid über so viele Menschen gebracht hat?
Die Meisterin springt auf einmal auf die Füße. »Ich bin die Armenmutter!« sagt sie und athmet tief. Ihr Herz ist ganz warm, ganz durchglüht von diesem Gedanken. Wärmer ist's ihr kaum gewesen, meint sie, als sie vor vielen Jahren gejubelt hat: »Der Friedel ist mein Schatz!« Ach, lebte er noch, der Friedel! Fünf Jahre nur hat sie ihn gehabt, dann hat ihn beim Holzfällen droben im Walde der uralte Arvenbaum erdrückt.
Aber wenn er lebte, er stände ihr bei! Der Friedel hat immer beim Recht gestanden. So viele Jahre schon ist er todt, ihre einzige Tochter ist lange aufgewachsen, hat geheirathet und schon eigene Kinder, aber wenn die Meisterin etwas Besonderes will und sinnt – immer kommt der Mann aus seinem Grabe, faßt sie an die Hand und hilft ihr. Es ist kein Schreckniß dabei, er kommt nicht im Leichengewand, nein, wie sie ihn gekannt hat, im Bauernkittel, mit den treuen Augen und der Pfeife im Mund . . . »Wohl! wohl!« mehr sagt er nicht.
Nein, es ist noch zu dunkel, die Meisterin muß sich wieder hinlegen. Aber die Gedanken schlafen nicht. 128
Ist nicht ein Wagen voll Brod gekommen? Haben nicht alle gehabt, um den Hunger zu stillen? Aber die Köli? Der verflatterte Flüevogel und der kleine Bub'?
Es drückt die Meisterin im Magen; jeder Bissen, den sie genossen hat, drückt sie.
Droben im Kar sitzt die Köli, verhetzt und verhungert! Die hier sind auch im Leid, aber sie sind bei einander! Gott im Himmel, ist's noch nicht bald Tag?
Aber vielleicht ist die Köli abgestürzt sammt dem Buben? Liegt zerschmettert, verschmachtend zwischen den Felsen! Gott im Himmel, ist's nicht bald Tag?
Wenn einer von der Gemeinde auszieht auf die Gemsenjagd, da geben ihm die Jungen das Geleit bis an den Kar, und die Weiber beten für ihn in der Kirche, daß er gesund heimkomme. Und kehrt er nicht zurück zu gehoffter Zeit, dann macht sich das halbe Dorf auf, ihn zu suchen. Ist's Nacht, so zündet man Fackeln an, und das Jodeln und Juhschreien klingt bis an den Morgen. Aber die Köli haben sie absichtlich in die Wüste verstoßen!
Und nachher, bei der Brodvertheilung, hat keiner nach der Köli gefragt, hat keiner die Köli genannt. Die Meisterin selber auch nicht.
Man will die Köli also verhungern lassen dort oben?
Die Meisterin faltete die Hände. »Bin ich nicht die Armenmutter?« flüstert sie.
Und da zieht das erste graue Morgendämmern über den Himmel.
Die Meisterin steht auf, sie fängt an, mit leisen Schritten durch das Lager zu gehen. Dem ersten, der wacht, will sie's sagen, daß der Köli auch etwas gehört 129 und dem kleinen Buben, von den Vorräthen, und daß man sie heimholen müsse. Aber je weiter sie geht, um so mehr sinkt ihr das Herz. Die Männer liegen da mit geballten Fäusten, noch im Schlafe finster und drohend.
Hie und da schreit ein Säugling, aber die erschöpfte Mutter mit den verzerrten, gramvollen Zügen erwacht nicht, kaum daß ihre Hand im Schlaf nach dem Kinde fährt. Im Dorf aber, unter den Trümmern ist's gar entsetzlich; so schwarz, so todt, als ob die Kriegsfurie darüber hingebraust wäre. Ja, wenn man ein Stücklein Brod fände! Der Meisterin Hunger schärft sich bei dem Gedanken an die zwei hungernden Vertriebenen im Wald.
Sie begann nach allen Seiten auszuspähen. Zog nicht ein großer Frachtwagen mit weißem Leinendach auf der Landstraße daher? Fern noch, nur wie ein weißliches Pünktchen, aber doch erkennbar für ihre scharfen Augen. Die mußten früh aufgestanden sein in Meran, um ihnen das Morgenbrod zu bringen.
Die Meisterin bedachte sich nicht lange. Sie raffte einen Stock auf, der am Boden lag, sprach ein schnelles Gebet vor dem Kruzifix, in dem sie den ihr auch anvertrauten armen Seppi der barmherzigen Hülfe anempfahl und ging dann mit eilenden Schritten dem langsam nahenden Wagen entgegen . . .
»Wo ist die Meisterin vom Armenhaus?« hieß es bei der zweiten Gabenvertheilung. Bei der ersten war's noch wild hergegangen, wie wenn Räuber über einen Schatz gerathen, und jeder sieht nur zu, daß er sich die Taschen füllt, und keiner denkt an den andern.
Aber die Kurgäste in Meran hatten sich zusammengethan und ein Ordentliches für die Abgebrannten 130 gerüstet; ja sie kamen sogar in Person gefahren, und man sah Touristenkleider und bunte Sonnenschirme in dem heimgesuchten Dorfe auftauchen, und viele brachten offene Hände und theilnehmende Worte mit. »Wo ist die Meisterin?« fand man endlich Zeit zu fragen. »Sie wird doch nicht verbrannt sein?« fügte ein anderes hinzu.
Keiner entsann sich so deutlich der Einzelheiten des Unglückstages, daß er hätte sagen können, ob er die Vermißte gestern nach dem Brande gesehen habe oder nicht. Am Vormittag freilich hatte sie mit den drei Insassen des Armenhauses, die noch schaffen konnten, auf dem Felde gebunden, allein über die Stunden darauf wußte Niemand Auskunft.
Man hat hier gefragt, dort gefragt, und als keiner Antwort gegeben, hat man bedenklich die Köpfe geschüttelt, denn die Meisterin haben alle gern gehabt. Der arme Seppi hat den Hals erschrecklich lang gezogen und sich die Augen im Kopf verdreht, so hat er nach der Meisterin ausgeschaut; dann – als sie sich auch Abends nicht eingestellt hat, bei der Speisenvertheilung, hat Pater Joseph eine Messe für sie gelesen; traurig, ja weinerlich hat das Glöcklein gerufen, und viele sind ihm gefolgt, um einen Rosenkranz zu beten für das brave Weib, das gewiß einen unbekannten, aber schrecklichen Tod gefunden hat.
»'s ist ein braves Weib gewesen, unsere Meisterin! Wer hat's auch können denken, daß sie wird ins Feuer rennen und verbrennen! Sie ist ja gescheidt für drei; nein, nein, wer wird sich jetzt annehmen um unsere Armuth?«
»Und mein Nazi ist auch fort!« jammert die Adlerwirthin. 131
»Ha, der Nazi! Der lebt lustig in Meran, um den sorg' Dich nit, – aber die Meisterin, das war eine! So treu und schaffig und gescheidt! Jetzt ist unser Armenhaus im Feuer aufgegangen, und die Armenmutter ist auch hin!«
So haben die Weiber geklagt, und von den Männern hat mancher eingestimmt. Immer mehr Gutes ist ihnen von der Meisterin eingefallen. Und sie haben im Schutt geräumt und gekratzt, denn wenn man sie findet, der gehört einmal ein ehrliches Begräbniß, wenn sie auch keine reiche Bäuerin war wie die Burghäuslerin, die Niemand einen Heller gegönnt hat.
Aber die Trümmer sind aufgehoben worden, man hat sogar Soldaten zu Hülfe bekommen am zweiten Tag, weil alle Hände im Dorf noch mit der Ernte beschäftigt sind, und keine Leiche ist zum Vorschein gekommen.
Wie ein unheimlicher Druck hat's auf den Herzen gelegen. Nun hat jeder von der Meisterin geredet, und wieder sind Messen gelesen worden für ihre arme Seele, und der Seppi hat so kläglich geschrien und Thränen geweint, daß es fast nicht zu hören gewesen.
»Sein guter Geist ist von ihm 'gangen!« hat die eine gesagt, und bald hat man's im ganzen Dorf können hören: »Der gute Geist ist von uns 'gangen, jetzt ist unsere Armuth gar verlassen.«
Am dritten Abend, wie die Vesperglocke eben ausgeläutet hat, und der purpurrothe Abendschein über das Thal ergossen ist, daß man meint, Erd' und Himmel brennten in einander, kommt die kleine Filomena gelaufen, fast außer Athem und schreit: »Die Meisterin! Die Meisterin! Die Meisterin!«
Da hat sich alles umgesehen und seinen Augen 132 nicht getraut, denn wer wandert vom Walde daher, mühsam und schwer, aber frisch und gesund?
»Die Meisterin! Die Meisterin!« rufen sie einander zu, und wer noch Kraft in den Füßen hat, der läuft der Todtgeglaubten jubelnd, wundernd entgegen.
Ja, wie sollte sie nicht schwer daherkommen; trotz aller Rüstigkeit! Auf dem rechten Arm trägt sie ein Kind, das, den Kopf auf ihre Schulter gelegt, ruhig schläft, mit dem linken Arm umfaßt sie ein gebeugtes mattes Weib, das neben ihrer Breite fast verschwindet.
Aber sie sehen weder das Kind an noch das junge schmächtige Geschöpf, das sein Gesicht in seinem Tuche verbirgt, – sie haben nur Augen für die gefurchten Wangen, über die die Thränen aus den guten Augen herablaufen.
»Die Meisterin ist wieder da!«
Wie sie ihr das Kind abgenommen haben, ihr die Hand schütteln wollen, fällt sie mitten auf freiem Felde auf die Knie und zieht die Verhüllte mit.
»Wenn ihr mich wieder wollt, so müßt ihr auch die Köli haben und den Heini, sie sind ja fast verhungert da droben!« ruft sie laut, und dabei leuchtet ihr die Freude aus dem Gesichte, und ihre Stimme ist ohne Furcht. Ja, sie hat sie gesucht und gefunden.
»Wie die heilige Genofeva!« sagt sie und macht das Kreuz über die Kniende, »in der Felsenkluft neben dem Wildbach mit dem Buben auf ihrem Schoß.«
»Steh auf, Meisterin!« ruft es.
Aber einer blickt doch finster. 133
»Sie sollt's einmal probiren, wie's ist,« – beginnt er.
Niemand gibt ihm Antwort, im Gegentheil – sie stoßen ihn weg; »schweig doch jetzt, Du!« Nur die Alte schaut ihn an und sagt:
»O, das ist ein armes Ding, mein Hans, hat's ihr Leben lang probirt, hat einmal nichts Gut's erfahren!« Sie räuspert sich verlegen: »Aber vielleicht versteh' ich's nit, weißt, bin ja nur die Armenmutter.«
Da ruft es eifrig: »Wohl, wohl, verstehst es schon! Bist gescheidt, Armenmutter! Komm nur, – wir machen nichts!«
Und die anderen sehen sich an:
»Ja, wer hat denn die Köli vertrieben! Und so ein Bub', der noch von nichts weiß? Schämen sollten sich die Leut', die so etwas machen, wo sie doch selber gestraft sind! Wer ist's denn gewesen? Wer hat die Armuth verjagt?«
Da kommt der Pater Joseph daher, er kommt gerade recht, man macht ihm gefällig Platz.
»Pater Joseph, Ehrwürden, die Meisterin ist heimkommen, und sie bringt die arm' Köli mit und den kleinen Buben! Droben in der Felskluft hat sie's gefunden, wie die heilig' Genofeva, akkurat wie die! Ist's nit Sünd' und Schand', daß man die Armuth austrieben hat? Wer ist's denn gewesen?«
Ueber Pater Joseph's kluges Gesicht huscht ein verstehendes Lächeln, fein und verschönend.
»Ich mein', nur der Adlerwirth war's und sein Nazi, das sind halt so unbarmherzige!«
Und er macht den Segen über die Heimgekehrten.
Aber nun jubelt alles. 134
»Freilich! Freilich! das sind so Unbarmherzige! Aber wir – behüt' uns unsere Liebe Frau! Köli, armes Ding, gelt, Du bittest für uns?«
Und eine faßt die Köli an die Hand, den scheuen Flüevogel, der nicht weiß, wie ihm geschieht, und Pater Joseph hat den Heini auf seine Schulter gehoben; und die Meisterin, ganz verklärt, murmelt bald hierhin, bald dorthin gewendet, während sie vorwärts wandern, ihren endlosen Rosenkranz.