Karl Emil Franzos
Moschko von Parma
Karl Emil Franzos

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160 Fünfzehntes Kapitel

Sturm und Guß wollten nicht enden in jener unheimlichen Nacht; Stunde um Stunde währte das eintönige Gebrause fort. Fedko konnte keinen Schlaf finden, sein erregtes Herz hielt ihn wach, und sooft der Sturmwind sich stärker erhob und an den Fenstern rüttelte, fuhr er erschreckt auf; ihm war's, als klänge Hilferuf durch die Nacht, die Stimme des Invaliden . . . Der Bursche machte sich bittere Vorwürfe, daß er ihn habe ziehen lassen, und als das erste Morgengrauen durch die Fenster schien, raffte er sich, von ihm unerklärlicher Angst getrieben, auf, um ins Städtchen zu eilen und sich zu überzeugen, daß Moschko glücklich heimgekehrt.

Der wüsten Nacht war ein wüster Morgen gefolgt; es regnete nicht mehr, aber noch hingen die Wolken dicht hernieder, und ein naßkalter Wind ging in kurzen, heftigen Stößen über das schlammige Heideland. Den Jüngling durchschauerte es, während er den Feldweg dahineilte und zuweilen anhielt und um sich blickte, so weit des Auges Sehkraft in diesem grauen Düster reichen konnte. »Was sollte ihm auch geschehen sein?!« sprach er dann laut vor sich hin, »das sind törichte Sorgen!« Doch immer wieder trieb es ihn vorwärts, immer wieder hielt er still und spähte umher. Ihm war's, als müßte er im nächsten Atemzuge erblicken, was ihm die erregte Phantasie vormalte: die morsche Gestalt im grauen Mantel, regungslos auf das schlammige Erdreich hingestreckt . . . Aber er gewahrte nichts und atmete erleichtert auf, als er die ersten Häuser des Städtchens erreichte. Noch regte sich kein Leben in den Gassen, sie lagen verödet, die Türen waren geschlossen. Nur im Klosterhofe der Dominikaner regten sich bereits die Knechte. »He, Fedko!« riefen sie ihn an, »wohin so früh?«

Aber er erwiderte nichts: erbleichend stand er still und starrte den Mann an, der ihm eben hastigen Schrittes entgegenkam. Es war Walerian. Auch er erschrak, als er Fedko gewahrte. »Ist er nicht bei dir geblieben?« rief er und bekreuzte sich, als der Bursche verneinte. »Alle Heiligen!« stöhnte er, »dann komm, er muß verunglückt sein!«

Sie eilten zum Städtchen hinaus, beide bleich und erregt. »Er 161 hat sich vielleicht verirrt«, murmelte Fedko. – »Das gebe Gott«, erwiderte Walerian, »aber ich glaube es nicht. Mir zittert das Herz, daß er sich selbst ein Leid angetan hat!« – »Nein! nein!« rief Fedko entsetzt und eilte noch rascher vorwärts.

Als sie an die Stelle kamen, wo der Feldweg zur Schmiede von der Heerstraße abzweigt, begegnete ihnen ein Chumak, ein ukrainischer Lohnkutscher, welcher neben seinem Ochsenwagen einherschritt. Achtlos wollten sie an ihm vorbei, er aber rief sie an: »He, ihr Leute, seid ihr Barnower?«

»Was willst du?«

»Seid ihr Barnower?«

»Bassama lenka, ja!« fluchte Walerian.

»Nun also«, sagte der Chumak langsam, »dann geht es euch an! Einige hundert Schritt von hier liegt an der Heerstraße ein alter Soldat . . .«

»Wo?« riefen sie entsetzt. »Warum hast du ihn nicht aufgehoben?«

»Ich bin ja kein Barnower!« erwiderte der Fuhrmann. »Übrigens hat es auch keine Eile, der Mann ist tot! Neben dem roten Kreuze liegt er!«

Von Entsetzen gepeitscht stürzten sie nach dem Kreuze hin. Fedko erreichte es zuerst; mit einem gellenden Aufschrei sank er neben dem reglosen Körper in die Knie. Es war genauso, wie er es früher in seiner Herzensangst gesehen: Moschko lag im Schlamme dahingestreckt, das Antlitz erdfahl, die Augen geschlossen. »Um meinetwillen ist er gestorben!« rief der Jüngling jammernd. »Er hat sich in der Nacht verirrt und ist hier kraftlos zusammengesunken und im Unwetter verschieden!«

Walerian war langsam herbeigekommen; seine Lippen zitterten, aber er sprach kein Wort. Stumm kniete er neben dem Körper hin, riß den Mantel auf und befühlte die Glieder. Dann legte er das Ohr an sein Herz. »Fedko!« rief er, »es ist noch Leben in ihm! Wir müssen ihn rasch heimbringen und den Doktor rufen!«

»Doch nicht in die Scheune?« rief der Jüngling. »Er braucht ein Bett, eine warme Stube. Wir müssen ihn in die Schmiede tragen.«

»Und was wird dein Tantchen sagen, du Tor?«

162 »Dafür lasse mich sorgen!« erwiderte Fedko.

Sie luden ihn auf und trugen ihn querfeldein, der Schmiede zu, denselben Weg, den er einige Stunden vorher gegangen. Der kranke Mann war wohl in der tiefen Dunkelheit vom Feldwege abgekommen und ziellos durch das Feld gewatet, bis er am Graben der Heerstraße hingesunken.

Die Schmiede war geschlossen, die Bewohner schliefen noch. So luden die beiden den Reglosen vorläufig auf dem Bänkchen am Tore ab, Walerian hielt ihn in den Armen, während Fedko in die Hütte trat. Der alte Soldat horchte mit gespannten Sinnen, aber drinnen blieb es eine lange Weile noch still. Dann endlich begann ein lautes Jammern, Zetern und Fluchen; Hawrilo und Veronia schrien wirr durcheinander, aber noch lauter erklang die Stimme des Fedko: »Nehmt ihr ihn nicht auf, so gehe ich noch heute zum ›Werbbezirk‹ und lasse mich assentieren, so wahr mir Gott helfe!« Darauf keifte nur noch das Täubchen fort, während Hawrilo verstummte und nach einigen Minuten mit betrübter Miene zu Walerian geschlichen kam. »Ach!« seufzte er, »was sind das für Geschichten! Du armer Moschko! Ich würde dich ja gerne aufnehmen, aber sage selbst, kann ein Mensch sich mit des Teufels Großmutter messen?« Moschko vernahm die Klage nicht, er lag noch immer bewußtlos da, und nur zuweilen entrang sich ein leises Röcheln seiner Brust.

Endlich hatte auch Veronia ausgetobt. »Ach!« schluchzte sie, »wer mir gesagt hätte, daß ich den Burschen nur deshalb auferziehe, damit er mir einmal tote Juden ins Haus bringt! So schaffe ihn doch wenigstens nur in den Stall und nicht in dein eigenes Bett! Versündige dich doch nicht so gegen Gott!«

Aber Fedko blieb verstockt, bettete den Kranken in seiner Kammer und lief dann ins Städtchen zurück, den Arzt zu holen. Walerian und Hawrilo blieben bei Moschko und mühten sich, ihn durch Branntwein, mit dem sie ihm die Lippen netzten, wieder zum Bewußtsein zu bringen. Aber wohl atmete der Kranke nun leichter und tiefer, seine Augen jedoch blieben geschlossen. »Das ist ein schlimmes Zeichen!« klagte Walerian. »Der Ärmste hat schon so lange keinen guten Tropfen mehr getrunken, daß er jetzt sicherlich vor Freude die Augen auftäte, wenn auch nur halbwegs noch Leben in ihm wäre!«

163 Nach einer Stunde kam der Stadtarzt vor die Schmiede gefahren; ein sehr ernster, aber freundlicher Mann in mittleren Jahren. Er beugte sich über den Kranken, prüfte sorgsam seinen Zustand und verordnete einige stärkende Mittel. »Das Fieber hat ihn betäubt«, sagte er. »Es läßt sich bannen, nicht aber die Entkräftung, die darauf folgt. Er wird in kurzer Zeit erlöschen wie eine Lampe, die kein Öl mehr hat.«

Fedko schluchzte laut. »Und hätte er ohne diese Nacht noch länger leben können?« fragte er angstvoll.

»Gewiß!« erwiderte der Arzt. »Es war das Schlimmste, was einem Menschen, der am Zehrfieber leidet, zustoßen konnte. Aber das ist schon an sich eine tückische, kaum zu besiegende Krankheit. Diese Nacht hat sein Ende beschleunigt, nicht herbeigeführt!«

»Um meinetwillen muß er sterben!« rief der Bursche verzweifelt und erzählte dann dem Arzt die Ereignisse der letzten Zeit.

Der ernste Mann hörte ihm aufmerksam und staunend zu. Vielleicht ahnte er, der sehr klug und sehr gut zugleich war und das Menschenherz kannte, schon damals, was den kranken Invaliden immer zur Schmiede getrieben. Aber er erwiderte nichts, sondern trat nur noch einmal an das Lager hin und legte die Hand auf die fieberheiße Stirn des Kranken. »Ich werde morgen wiederkommen«, versprach er. Und als darauf Veronia, die an der Türe horchte, mit gellender Stimme rief: »Das werdet Ihr nicht, Herr Doktor! Ich zahle Euch keinen Heller!«, da erwiderte er auch ihr nichts, sondern sagte nur zu Hawrilo, der ihn zum Wagen begleitete: »Ich werde kein Entgelt beanspruchen!«

Aber das wohlgenährte Antlitz des wackeren Schmiedes blieb umwölkt. »Ach, Herr Doktor«, seufzte er, »es ist ja nicht wegen des Geldes. Aber saget selbst, wie kommt ein Christenhaus dazu, durch einen sterbenden Juden entweiht zu werden? Es ist ja ein jüdisches Spital im Städtchen, könnte man ihn nicht dorthin schaffen? Ihr hättet es näher, und die Kosten würde ich gerne bezahlen!«

»Ich werde mit dem Vorsteher sprechen«, versprach der Arzt, bestieg den Wagen und fuhr ins Städtchen zurück. Wieder einmal empfand sein Herz lebhaft jenes Weh, welches ihm ein treuer Begleiter durchs Leben war. Er war in Podolien geboren, 164 ein Sohn wohlhabender jüdischer Eltern, und hatte früh aus eigener, bitterer Erfahrung den doppelten Druck kennengelernt, der auf den Juden seiner Heimat lastete, den Glaubenshaß und den eigenen Fanatismus. Denn als er sich entschlossen, deutsche Bildung zu erwerben, da verketzerten ihn die eigenen Glaubensbrüder, und die Patres Piaristen wollten ihn nicht in das Gymnasium seiner Vaterstadt aufnehmen. Sein Wille jedoch war stärker als diese Hindernisse; er ging nach Wien, nach Deutschland, vollendete seine Studien und ließ sich dann als Arzt in München nieder. Aber sein Herz zog ihn mächtig zur Heimat zurück: die Sehnsucht nach den greisen Eltern, noch mehr der Drang, den Geknechteten ein Retter und Helfer zu werden. So wählte er denn das kleine, armselige Städtchen der Ebene zur Stätte seines Wirkens und widmete sich mannhaft seiner doppelten Aufgabe an Kranken und Gesunden. Wer im Lichte gewandelt, gewöhnt sich schwer an die Dämmerung, aber darüber kam er hinweg; die Trostlosigkeit der Zustände, auf die er traf, stählte nur seinen Willen, und wenn ihn seine Freunde einen Schwärmer nannten, so schüttelte er lächelnd das Haupt: »Laßt mich, ihr werdet einst anders sprechen!« Aber diese Zeit wollte nicht kommen, im nutzlosen Ringen vergingen ihm die besten Jahre, im vergeblichen Kampfe gegen übermächtige Gewalten zersplitterte sich seine Kraft. Kaum vermochte er das Vorurteil gegen sich selbst zu besiegen; die Christen vergaßen nie, daß er »doch nur ein Jude« sei, die Juden redeten ihm seine »Aufgeklärtheit« bitter nach; nur mühsam konnte er sich durch sein edles Herz, sein tüchtiges Wesen die liebevolle Achtung beider erringen. Er war ein vielbeschäftigter Arzt, dem sie willig die Sorge für ihre körperliche Gesundheit anvertrauten; über ihre Seelen gewann er keine Macht. Er hatte sich zwei praktische Ziele gesetzt; er wollte einen Krankenverein begründen, der für die armen Siechen beider Bekenntnisse sorgen sollte, und eine jüdisch-deutsche Volksschule. Beides wollte nicht gelingen; Christen und Juden sträubten sich gegen jedes gemeinsame Wirken, und die letzteren wollten von einer Schule nichts wissen, welche ihren Kindern den frommen Glauben rauben müsse. Aber dieser edle Mann war ja ein »Schwärmer«; er wurde sich bewußt, daß der einzelne wenig gegen das Vorurteil vermöge, 165 aber diese Erkenntnis konnte weder sein Herz verbittern noch völlig entmutigen: er blieb sich gleich in seiner reinen, werktätigen Liebe zu den Menschen, in seinem Hoffen auf lichtere Tage. Darum rührte ihn die Erzählung des Fedko tief; er hatte den Invaliden nie vorher gesehen und nur weniges von ihm gehört; aber es tat seinem Herzen wohl, hier einer rein menschlichen Beziehung zu begegnen, welche allen Vorurteilen des Glaubens trotzte. Der sterbende Jude im Christenhause gepflegt – er hätte diese Tatsache kaum für möglich gehalten! Aber diese schöne Stimmung währte kurz; dafür sorgte das Keifen der Veronia, die Bitte des Hawrilo. Was dem Arzte durchs Herz ging, während er heimfuhr, war ja nur dieselbe schmerzliche Empfindung, die ihm täglich neu im Herzen erwachte, aber diesmal bewegte sie ihn tiefer, weil sie einer lichten und schönen folgte. Mit seinem Versprechen an den Schmied war es ihm ernst; er wollte nicht, daß der Todkranke noch in seinen letzten Tagen durch höhnische, gehässige Reden gekränkt werde. Darum ließ er seinen Wagen vor dem Hause des Vorstehers halten und trug diesem die Sache vor.

Nathan Grün hörte ihn respektvoll an. Dann aber erwiderte er: »Herr Doktor, daraus wird nichts. Sie wissen, ich bin kein harter Mann. Als Sie den Krankenverein gründen wollten, habe ich gesagt: ›Ich trete nicht bei, aber dreißig Gulden jährlich will ich bezahlen.‹ Und wenn Sie mich um Unterstützung für einen Kranken ersuchten, habe ich nicht erst gefragt, ob es ein Christ oder ein Jude ist. Aber dieser Mensch wird nicht in unser Spital aufgenommen; er hat sich im Leben selbst von uns geschieden und soll geschieden bleiben. Stirbt er, so werden wir ihm den Platz auf dem ›guten Orte‹ nicht weigern, weil wir aus Klugheit gutwillig tun wollen, wozu uns das Amt sonst zwingen würde. So – das ist alles!«

An dieser Festigkeit prallten die Vorstellungen, die Bitten des Arztes ab. »Ich tue es nicht aus Rachsucht«, beteuerte Nathan, »obwohl er mich greisen Mann einen Hund genannt hat. Ich tue es um Gottes willen. Was er an mir getan, würde ich ihm gern mit Guttat vergelten; was er an Gott getan, darf ich ihm nicht verzeihen!«

»Gut«, erwiderte der Arzt, »ich will mich auf Ihren 166 Standpunkt stellen. Ich will glauben, daß der Unglückliche einen unsühnbaren Frevel gegen Gott begangen, indem er seine zweite Kapitulation antrat, will glauben, daß es eine Sünde wäre, ihn zu pflegen. Aber muß es in Ihren Augen nicht eine noch größere Sünde sein, wenn ein Jude einsam dahinstirbt, wenn kein Glaubensbruder an seiner Seite ist, der ihm das letzte Bekenntnis abhört und dem Sterbenden das ›Höre, Israel!‹ zuruft?!«

»Nein, Herr Doktor!« erwiderte Nathan. »Es ist eine fromme Handlung, die Beichte des Sterbenden zu hören, aber nur deshalb, weil ihm damit eine Wohltat geschieht. Denn sie hat keinen andern Zweck, als ihm das Herz zu erleichtern. Sie wissen ja: bei uns kann kein Mensch dem anderen seine Sünden vergeben, vor Gott sind wir alle gleich und haften jeder für sich. Und ebenso ist es nur eine Wohltat für den Sterbenden, wenn wir im Augenblicke, wo sein Auge bricht, das Glaubensbekenntnis rufen. Er soll daran erinnert werden, daß nur sein Körper stirbt, während die Seele zu Gott zurückkehrt. Wohltaten jedoch haben wir dem Sellner Mosche nicht zu erweisen. Und wer sagt Ihnen, daß es eine Wohltat für den Sünder wäre, an die Unsterblichkeit seiner Seele erinnert zu werden? . . . Ich weiß, was Sie denken: Ein harter Mensch! Aber ich kann nicht anders, und wenn es eine Sünde war, so zu sprechen, so mag mich Gott dafür strafen!«

»Nein«, erwiderte der Arzt, »keine Sünde, sondern ein trauriger Irrtum. Und in fünfzig Jahren werden Ihre Söhne und Enkel erkennen, daß es ein Irrtum war!«

»Davor sei Gott!« erwiderte Nathan. Aber er hat unrecht behalten und sein edler Gegner recht. Schon heute gibt es viele jüdische Männer in Podolien, nicht minder gottesfürchtig als Nathan, die doch anderen Bescheid auf ähnliche Bitten wüßten. Noch sind sie Ausnahmen, aber die Zeit ist nicht ferne, da auch hier die Menschlichkeit siegen wird!

Als der Arzt am nächsten Tag wieder in die Schmiede kam, erlebte er eine unverhoffte Freude. Verlegen trat ihm Hawrilo entgegen. »Herr Doktor«, sagte er, »ich habe gestern, will mir scheinen, eine arge Dummheit begangen. Verzeiht, aber das kann ja selbst einem so gescheiten Menschen, wie ich bin, geschehen – nicht wahr? Nun also! Kaum, daß Ihr gestern 167 fortgefahren, begebe ich mich stracks zum Hochwürdigen von Korowla und trage ihm die Sache vor. ›Was?‹ schreit er. ›Einen Juden? Wirf den Kerl auf die Straße, dort mögen ihn die anderen Juden auflesen.‹ Das scheint mir aber ungebührlich, und ich bitte: ›Darf ich ihn wenigstens so lange behalten, bis er abgeholt wird?‹ – ›Liegt dir an ihm?‹ fragt er. – ›Ein wenig wohl!‹ erwidere ich und erzähle ihm von der alten Kameradschaft, und dann sei es auch wegen des Fedko. ›Hm!‹ sagt er, ›dann ließe sich ja etwas tun‹, geht zum Tische und zieht aus der Lade ein kleines Bild meines Schutzpatrons hervor, des heiligen Gabriel. ›Wenn ich dir dieses Bild verkaufe‹, sagt er freundlich, ›und meinen Namen auf die Rückseite schreibe, so kann der Jude sogar in deinem Hause sterben, ohne daß eine Sünde auf dich kommt. Es kostet aber fünf Gulden!‹ Ich besinne mich eine Weile: das Bild ist fünf Kreuzer wert, und was der Name des Hochwürdigen wert ist, weiß man ja auch nicht recht! – ›Hm, Pope‹, sag ich, ›ich werde mir die Sache überlegen‹, und gehe heimwärts. Da begegnet mir die Kasia, nämlich meine Schwester, und ballt schon von weitem die Faust gegen mich. Und wie ich näher komme, macht sie mir die bittersten Vorwürfe: ›War nicht der Moschko stets dein guter Kamerad? Bist du nicht ein Christ, dem das Erbarmen von seinem Herrn und Heiland befohlen ist?! Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! Und du willst den Sterbenden fortschaffen!‹ Kurz, sie walkt mir die Seele windelweich durch und weint dabei heftig, und ich weine auch, weil ich mich der alten Zeiten erinnere. Und da, Herr Doktor, da bin ich vernünftig geworden! Ich gehe heim und rede meinem Weibe zu, ganz freundlich, aber entschieden: ›Wenn du noch ein Wort sprichst oder die Suppe nicht kräftig genug kochst, so bleibt dir kein Knochen im Leibe ganz!‹ So, jetzt ist Ruhe im Hause, wie sie ein Kranker braucht! War das nicht recht, Herr Doktor?«

»Recht und vernünftig«, erwiderte der Arzt lächelnd und trat in die Stube. Nur Walerian saß neben dem Kranken. »Ich habe den Fedko schlafen geschickt«, meldete er mit militärischem Gruße, »weil er die ganze Nacht durchwacht hat.«

»Und wie hat sich unser Moschko aufgeführt?«

»Zu Befehl – wahnsinnig!« erwiderte Walerian. »Den ganzen 168 gestrigen Tag und die Nacht hindurch hat er um sich gehauen und geglaubt, der Fedko wäre sein Sohn und ich der Feldmarschall Radetzky; den Hawrilo hat er für eine Kanone angesehen und die Veronia für eine Fahnenstange, kurz –wahnsinnige Sachen. Auch jetzt noch ist er bewußtlos, aber er tobt nicht mehr!«

Als sich der Arzt über das Lager beugte, schlug Moschko die Augen auf und musterte ihn irren Blickes. »Nein!« stammelte er angstvoll, »der Fedko darf es ja nicht erfahren!«

Wieder verordnete der Arzt einige Mittel und ging. »Ich glaube nicht, daß er im Fieber sterben wird«, sagte er dem Hawrilo. »Die Bewußtlosigkeit wird weichen, ehe der Tod eintritt!«

»Das wird meiner Schwester sehr tröstlich sein«, erwiderte der Schmied. »Sie möchte ihn gerne noch einmal sprechen und ihm für die Nachrichten danken . . . nämlich, ich war auch darin nicht gescheit, daß ich den Jacek Hlina . . . nämlich, aber . . .«

Während er so in höchster Verlegenheit wirre Worte stotterte, kam ein kleiner zerlumpter Knabe in den Flur gelaufen. »Was willst du?« fragte Hawrilo grimmig.

»Mich sendet der Hochwürdige von Korowla«, meldete der Kleine. »Er läßt Euch sagen: ›Weil Ihr es seid, so läßt er Euch das Bild um drei Gulden!‹«

»Schönen Dank!« erwiderte Hawrilo, »ich habe es nicht mehr nötig!«

Wieder fuhr der Arzt in seltsamen Gedanken heim. »Ach!« seufzte er, »was ist das für ein trauriges Dilemma, aus dem es keinen Ausweg gibt. Gewiß! diese armen Menschen bedürfen des Glaubens und sänken unergründlich tief, wenn man ihn ihnen freventlich rauben wollte! Und doch! – dem einen gebietet sein Glaube, einem Sterbenden jede Hilfe zu weigern, und dem anderen, ihn auf die Straße zu werfen, sofern sich nicht zufällig einige Gulden dabei verdienen lassen . . . Hier hat nun freilich die Menschlichkeit gesiegt, aber wie oft ereignet sich dies auf Erden?! Muß es so sein? Ist ein Glauben ohne Aberglauben wirklich nur ein Traum?!«

Als der edle Mann so dachte, ahnte er nicht, daß ihn dieselbe Veranlassung noch tiefer hineinlocken würde in die Grübelei 169 über Fragen, auf welche es keine allgemeingültige Antwort gibt, und daß ihm doch zugleich aus dem Herzen eines armen, unwissenden Menschen ein Licht aufgehen würde über die Art, wie jeder einzelne sich selbst die ihm richtige Antwort suchen muß durch Erforschung des eigenen Herzens, durch Betrachtung der eigenen Schicksale . . .

Die Krankheit des Invaliden nahm jenen Verlauf, welchen der Arzt vorhergesehen. Die Betäubung wich, das Fieber minderte sich, aber mit ihm auch die Kraft. Ruhig, mit einem so sanften, verklärten Ausdruck, wie man ihn diesen verwüsteten Zügen nimmer zugetraut hätte, lag Moschko auf dem Leidenslager, den Blick auf das Antlitz des Fedko gerichtet. »Mir ist so gut«, flüsterte er immer wieder, »ich hätte es mir nie träumen lassen, daß das Sterben so schön ist! Fedko, sei gesegnet, sei tausendfach gesegnet.« Auch dem Arzte erwies er sich mit Wort und Blick überaus dankbar.

Der wackere Mann kam täglich, und als er eines Tages im April – es war der erste schöne Frühlingstag gewesen – über Land hatte fahren müssen, da ließ er sich die Mühe nicht verdrießen, noch am späten Abend in der Schmiede vorzusprechen. Er fand Moschko schwächer, aber auch heiterer als je. »Was sind Sie für ein Mensch!« empfing ihn der Kranke lächelnd. »Sie wissen so gut wie ich, daß mir nichts mehr helfen kann, und bemühen sich doch täglich, nur um einem alten Soldaten die Todesangst zu ersparen! Sie denken sich: wenn ich täglich komme und ein Rezept verschreibe, so wird der Alte betrogen und glaubt an Rettung! Gott segne Sie für diesen Betrug, Herr Doktor!«

Der Arzt zwang sich zu einer heiteren Miene. »Einen Betrüger hat mich doch noch keiner meiner Kranken genannt!« sagte er. »Ist das Euer Dank, Mosche?« Und etwas unsicheren Tones fuhr er fort: »Übrigens glaube ich wirklich an keine Gefahr . . .«

Da aber wurde der alte Soldat unruhig. »Nein, Herr Doktor«, murmelte er, »ängstigen Sie mich nicht! Es geht nicht, daß ich gesunde, es darf nicht sein! Jetzt gerade steht die Rechnung zwischen mir und ihm ganz gleich, gerade so, wie sie stehen soll: es hat keiner von uns ein Guthaben und keiner eine Schuld! Ich will nicht, daß die Rechnung von neuem angeht . . ..«

170 Der Arzt schüttelte den Kopf und griff ihm nach der Hand, den Puls zu fühlen.

»Sie glauben, es ist wieder das Fieber?« fragte der Kranke. »Ach! Herr Doktor, so gescheit wie jetzt war ich mein ganzes Leben nicht! Verstehen Sie nicht, daß ich die Rechnung mit dem da droben meine?«

»Mit dem rechnet man nicht!« sagte der Arzt feierlich. »Er ist ein Allerbarmer!«

Moschko hob abwehrend die Hand. »Nein!« erwiderte er, »er ist ein Allgerechter. Und darum macht er mit jenen Menschen, die es nur ein wenig verdienen, die Rechnung schon diesseits ab – und jenseits ist dann Ruhe und Frieden. So ein Glücklicher bin auch ich. Aber nur jetzt, in diesem Augenblicke. Denn wenn ich länger lebe, so fängt wieder das Schuldenmachen und Bezahlen an!«

Der einzige Zeuge dieses Gesprächs, der gute Hawrilo, hatte bis dahin schweigend neben dem Bette gesessen. Er hatte die Worte angehört, ohne sie zu verstehen, Moschko sprach jüdischdeutsch, der Arzt erwiderte hochdeutsch. Nun aber, da er den Kranken so heftig reden hörte, mischte sich der Schmied besänftigend ein: »Schone dich, Alter! Der Herr Doktor meint es ja gut!«

»Wir zanken nicht«, versicherte der Arzt lächelnd und übersetzte ihm die Worte des Kranken.

»Ja! ja! Herr Doktor«, versicherte Hawrilo, »so komisch sind immer seine Reden! Ich halte es für ganz verrücktes Zeug, aber die Kasia, der ich davon erzählt habe, meint, es sei ein gewisser Verstand darin. Nun meinetwegen!« Und er zog die Achseln so hoch empor und schnitt eine so finstere Miene, als ob diese Ansicht der Kasia eine schwere persönliche Beleidigung für ihn sei.

Aber der Arzt schien es gleichfalls mit der Kasia zu halten. Er faßte die Hand des Kranken und hielt sie in der seinen. »Soviel ich von Eurem Leben weiß«, sagte er mit wehmütigem Lächeln, »braucht Ihr Euch diese Sorge nicht zu machen! Wenn schon gerechnet werden soll, dann will mir scheinen, als hättet Ihr, armer Mann, noch ein so stattliches Guthaben, um davon viele Jahre zehren zu können!«

171 »Nein, Herr Doktor! Da irren Sie! Ach! was wissen Sie von meinem Leben?!« Er wollte sich aufrichten, sank aber sofort zurück und schloß die Augen. So lag er eine Weile da, und weil auch seine Atemzüge ruhig gingen, so glaubte ihn der Arzt im Einschlummern und wollte seine Hand sanft zurückziehen. Aber bei dieser Bewegung schlug Moschko die Augen wieder auf.

»Ich habe nicht geschlafen«, murmelte er, »ich habe bloß nachgedacht, ob ich es schon heute tun soll. Ich will es wagen – vielleicht ist es morgen zu spät . . . Herr Doktor, Sie sind so gut gegen mich! Darf ich Sie doch noch um etwas bitten? Sie haben den ganzen Tag gearbeitet und sind ermüdet; daheim warten Ihr Weib und Ihre Kinder auf Sie. Ich weiß das und bitte Sie dennoch: schenken Sie mir heute noch eine Stunde Zeit!«

»Gern, von Herzen gern!«

»Ich danke Ihnen . . . Lieber Hawrilo, laß uns allein!«

»Was sind das wieder für Geschichten?« grollte der gute, dicke Mann. »Willst du dich wieder aufregen? Ich verstehe dich ja ohnehin nicht!« Aber auch der Arzt winkte ihm zu gehen, und so verließ er murrend die Stube.

»Setzen Sie sich neben mich«, bat der Kranke und deutete auf den Stuhl an seinem Bette. Dann faßte er die Hand des Arztes und blickte ihm fest in die Augen.

»Herr Doktor!« sagte er, »ich werde in einigen Tagen sterben!«

Wieder wollte der Arzt eine Ausflucht suchen, aber als er in diese ruhigen, fast verklärten Züge blickte, fand er nicht den Mut zu einer, wenn auch noch so edelmütigen Lüge. Er schwieg.

»Ich danke Ihnen! Und nun eine zweite Frage. Sie wissen ja, ich habe immer in demselben Regimente fortgedient . . .«

»Bei Parma?!«

»Ach nein! bei Parma freilich auch, aber das meine ich nicht, verzeihen Sie, ich rede mit Ihnen jetzt so wie sonst nur mit mir selbst. Ich meine, bei dem Regimente, zu welchem ich schon durch meine Geburt assentiert worden bin . . .«

»Ihr seid beim jüdischen Glauben geblieben?«

»Ja – obwohl ich schon seit langer Zeit weiß, daß ich bei einem Wechsel nur unter einen anderen Obersten gekommen wäre. Der General ist für alle Regimenter derselbe. Ich habe aber 172 meine Montur doch nicht gewechselt, obwohl ich dadurch zur Kavallerie gekommen wäre, die immer hoch zu Roß sitzt. Aber, da rede ich schon wieder . . .«

»Ich verstehe Euch«, versicherte der Arzt.

»Nun also, ich bin eben bei der armen Infanterie geblieben, die immer schwer bepackt geht und es immer schlimmer hat auf Erden als die anderen. Und darum möchte ich auch sterben und begraben werden wie jeder andere vom selben Regiment. Nun habe ich gehört, durch den Walerian, dem man es im Städtchen erzählt hat, daß Sie, Herr Doktor, mit Nathan Grün über mich gesprochen haben. Was hat er Ihnen gesagt?«

Wieder wollte ihm der Arzt die Antwort barmherzig verschweigen, aber wieder zwang ihm der Bann dieser leuchtenden Augen die Wahrheit auf die Lippen. Er befürchtete eine schmerzliche Erregung des Kranken, aber dieser blieb ruhig.

»Also Nathan meint, daß wir geschieden sind, ich und die anderen?« fragte er lächelnd. »Es überrascht mich nicht, es gehört mit zu meiner Rechnung! Und warum sollt er's nicht meinen, er weiß ja nicht, wer Gott ist! Sein ganzes Leben lang ist es ihm gut ergangen, und er hat seine Nase nicht aus Barnow herausgesteckt, da soll man Gott kennenlernen? Ich nehm es ihm nicht übel; wenn er Schmied gewesen wäre wie ich und dann Soldat bei Parma, wenn er so viel in der Welt herumgekommen und dann in der Schlacht gestanden wäre, in der Schlacht, Herr Doktor, da lernt man Gott kennen, da weiß man, daß er ein General ist und kein Oberst! Nun aber, es dient ja doch jeder nur eben in seinem Regimente, wo werde ich begraben werden?«

»Auf dem ›guten Orte‹«, versicherte der Arzt. »Auch Nathan ist nicht dagegen. Für einen Grabstein will ich sorgen . . .«

»Schönen Dank, den begehre ich nicht!« unterbrach ihn der Invalide. »Ein Grab ist notwendig, ein Stein nicht; ich habe mich mein Leben lang mit dem Notwendigen begnügt. Wozu sollen Sie sich die Kosten machen? Und dann, wenn sie Ihnen erlaubten, mir einen Stein zu setzen, eine Inschrift werden sie nicht zulassen. Ich bin ja ein ›Sünder‹, also ›soll mein Name nicht genannt werden‹! Ich bin damit ganz zufrieden; ich will ruhig schlafen. Die Leute meinen freilich: ein Stein und der Name darauf sind notwendig, sonst kann ja der Engel, der zum Jüngsten 173 Gericht weckt, den Namen des Toten nicht lesen und ihn vor Gott rufen. Aber das beweist wieder nur, daß sie nie in der Schlacht waren. Da werden Hunderte in einem Grabe verscharrt, ein Hügel wölbt sich darüber – das ist alles! Und doch! wenn der Engel den Nathan Grün ruft, dann wird er auch jene braven Soldaten nicht vergessen. Ich will es nicht besser haben als meine Kameraden. Mit dem Grabe also wären wir in Ordnung, Herr Doktor! Nun ist aber noch zweierlei zu bereden. Wenn ein Jude stirbt, so muß jemand dabeisein, der ihm zuruft: ›Schema Jisroel, adonai eloheni, adonai echod!‹ (Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist ein einiger, einziger Gott!) An meinem Sterbelager wird niemand diesen Ruf erheben, aber auch dies grämt mich nicht. Nur auf eines möchte ich nicht verzichten: auf das letzte Bekenntnis!«

Moschko seufzte tief auf und heftete seinen Blick flehend auf das Antlitz des Arztes.

»Sprecht nur«, sagte dieser bewegt, »ich will Euch gerne zuhören. Und wenn Ihr mir vielleicht noch einen Auftrag geben wollt, er soll nach bester Kraft erfüllt werden!«

»Nein! nein!« rief der Kranke, »es ist ohnehin Gnade genug! Manche Guttat haben Sie schon getan, aber nie eine größere! Übrigens will ich Sie nicht zu lange belästigen. Ich will Ihnen nur sagen, wie es mir mit ihm ergangen ist!«

Dann begann er: »Sie haben meinen Vater, mit dem Friede sei, noch gekannt?«

»Nein!«

»Nun, es ist ohnehin nicht viel über ihn zu sagen! Er war fromm und hat sich mühselig durchs Leben geschlagen. Ich will ihm nichts Böses nachreden, es war nicht seine Schuld, aber dennoch hatte ich schon dadurch ein Guthaben bei ihm, daß er mich als jüngsten Sohn von Avrumele Schulklopfer geboren werden ließ. Sie dürfen mich aber nicht schlecht verstehen, Herr Doktor. Ich mache ihm nicht das Regiment zum Vorwurf, zu welchem er mich assentiert hat. Denn es ist ja doch ein gutes, altes Regiment, und wenn es auch größere Strapazen ertragen muß wie die anderen, so gleicht sich dies aus, weil hier die einzelnen einander treulich helfen, die Mühsal zu tragen. Ich habe einmal geglaubt, daß es ein Unglück ist, als Jude geboren zu werden, aber jetzt bin ich klüger: es ist weder ein Glück noch ein Unglück, es ist ein Schicksal wie jedes andere. Auch klage ich ihn nicht deshalb an, weil er mir so arme Eltern gegeben hat, es kann nicht jeder reich sein. Aber als Jüngstes, als Sechstes hätte er mich ihnen nicht aufbürden sollen! Das war bitter für diese armen Leute und noch bitterer für mich. Ein Kind soll seinen Eltern eine Freude sein und nicht eine schwere Last, denn sonst wird ihre Liebe von der Sorge erstickt. Meine Eltern haben mich nicht lieben können – und das ist mein Guthaben bei ihm, schon von der Geburt her! Denn dieses Glück sollte so allgemein sein wie der Sonnenschein. Mir ist es nicht geworden!

Sehen Sie, das hat er auch gefühlt und darüber nachgedacht, welchen Ersatz er mir dafür geben soll. Und da ist er auf den merkwürdigen Einfall gekommen: Ich will ihn durch seine Schicksale dazu bringen, daß er mich erkennt, wie ich bin! Die anderen Leute in Barnow halten mich nur für einen jüdischen oder einen christlichen Gott, ich aber bin ein Gott für alle Menschen. Die anderen glauben, ich ließe mich durch Flehen beugen, ich aber rechne mit jedem und gebe jedem, was er verdient. Ich bin kein Gott der Barmherzigkeit und kein Gott der Rache, sondern ein Gott der Gerechtigkeit! Und wenn es auch die anderen nicht wissen, der Mosche Veilchenduft soll dies erkennen! Ja, Herr Doktor, das war seine Absicht mit mir, und er hat sie getreulich erfüllt.

Sein erstes war, daß er mich stark und kräftig werden ließ und darum anders als die übrigen. Mit der Kraft kommt der Mut, und mit dem Mut kommen sonderbare Gedanken. Wenn ich früher über mein Leben nachgedacht habe, dann habe ich mir gesagt: diese Kraft war mein Unglück! Aber jetzt weiß ich es besser: es war damit genauso wie mit meiner Jüdischkeit – kein Glück, kein Unglück, sondern eben ein Schicksal! Darum mußte ich Schmied werden, und dann mußte der Wurm zu bohren anfangen, und dann mußte ich die Liebe . . .«

»Welcher Wurm?« fragte der Arzt erstaunt.

Der Kranke erklärte es ihm ausführlich, wie ihm die Zweifel gekommen, zuerst bei dem Feste im Hause des »goldenen Mendele«, dann auf der Straße, als Baron Starsky den Beer Blitzer beschimpfte, endlich bei seinen Unterredungen mit 175 Hawrilo und dem alten Wassilj. Und ebenso offen erzählte er, wie er »die Liebe bekommen«, und verschwieg nichts als den Namen des Mädchens.

»Dieses alles«, fuhr er fort, »ist nur deshalb über mich gekommen, weil ich kräftig war. Die Richtung hat er mir gegeben, damit ich ihn erkenne, aber jeden einzelnen Schritt hat er mir nicht vorgeschrieben. Das tut er überhaupt nicht, er läßt den Menschen die Freiheit, Gutes und Böses zu tun, und begnügt sich nur, die Rechnung darüber zu führen und sie von Zeit zu Zeit auszugleichen. Lange, fast durch sieben Jahre, hatte er dies bei mir nicht nötig, sie stand ohnehin glatt. Was ich etwa an kleinen Sünden begangen, büßte ich durch den ›Wurm‹ ab und durch den Schmerz, den mir meine Liebe im Herzen machte. Da aber, Herr Doktor, beging ich einen schweren Frevel: ich begehrte das Mädchen und riß es an mich. Dazu hatte ich kein Recht; auf Kosten eines anderen Menschen glücklich zu sein steht niemand zu; ich war es auf Kosten der armen Dirne. Mein alter Freund, der Marschallik, mit dem Friede sei, hat damals gemeint, es sei deshalb eine Sünde, weil sie eine Christin sei – und ich selbst dachte manchmal Ähnliches. Sehen Sie, so selbstsüchtig wird ein Mensch, wenn er ihn nur für seinen eigenen Obersten hält und nicht für den General aller! Es war eine Sünde, weil sie ein ehrlich Mädchen war!

Nun, ich habe es gebüßt! Ganz still, ohne viel Lärm hat er es mir vergolten – durch meine Assentierung. Mir geschah dadurch, was mir gebührte, das Schlimme, und dem Mädchen, was ihm zukam, das Gute. Denn indem er mich in die weite Welt schickte, konnte sie daheim vergessen und verschmerzen und mit einem anderen glücklich werden. Auch für das Kind war es das beste. Und da gibt es noch Menschen, die gegen seinen Ratschluß murren, der er ein Allgerechter ist!

Mir freilich war es sehr traurig zumute, als ich fortzog, und es war gut für mich, daß ich immer gehorchen mußte wie eine Maschine, denn ich war wirr, mein Kopf wüst und mein Herz verbittert. Alles widerte mich an: meine Kameraden und der neue Stand und am meisten ich selbst. Es erging mir anfangs wirklich übel; die Juden sind weder bei den Soldaten noch bei den Offizieren gut angeschrieben, man hält sie für faul und feig, 176 und so mußte ich für Sünden büßen, an denen ich unschuldig war. Was ist da viel zu klagen, so sind nun einmal wir ungerechten Menschen! Auch die Kost wollte mir nicht behagen; ich werde nie vergessen, wie schwer es mir wurde, zum ersten Male Speck zu essen. Das Bitterste aber war mir, daß ich so gar nicht begriff, wozu mein Stand taugte. Wie kam ich, ein tüchtiger Handwerksmann, dazu, meine Tage in diesem nutzlosen und doch so ermüdenden Müßiggang zuzubringen? Kurz, alles verdroß mich, sogar mein neuer Name. Zu Hause war ich Mosche gerufen worden, in der Schmiede Moschko, nun wurde ich plötzlich ein ›Moses‹. Ich haßte den Namen, und sooft ich ihn hörte, empörte sich mein Trotz dagegen, daß sie mich wider meinen Willen umgenannt hatten wie einen Hund. Nun ist aber Trotz keine Eigenschaft, die einem Rekruten nützen kann – wie viele Kolbenstöße und Ohrfeigen ich von meinen Vorgesetzten bekommen habe, ist gar nicht zu zählen. Das mußte mich aber, wie schon meine Natur war, nur noch finsterer und trotziger machen. Wir waren inzwischen durch das ganze Österreich marschiert und nach Mailand gekommen; ich merkte es kaum, meine Augen blickten gar nicht in die schöne Welt, sondern nur immer in mich und mein Elend hinein. Es hätte wohl schlimm mit mir geendet, wenn nicht damals gerade zufällig ein neuer Regimentspater zu uns gekommen wäre. Der kleine, dicke Mann, ein Kapuziner, machte sich an mich heran und wollte mich zum Christentum bekehren. Er gab sich gar keine Mühe, mich zu überzeugen, sondern fragte nur einmal: ›Höre, Jude, was möchtest du gern?‹ – ›Heim!‹ sagte ich, ›und wieder in einer Schmiede arbeiten!‹ – ›Das erste ist nicht möglich‹, meinte er, ›wohl aber das zweite. Ich will dich in einer Feldschmiede unterbringen, da hast du deine gewohnte Beschäftigung, guten Lohn und bist ein freier Mann!‹ Ich dankte ihm herzlich, er ging und kam am nächsten Tage wieder. ›Es ist alles in Ordnung, du brauchst dich nur taufen zu lassen. Auch ist eine Gräfin hier, die dir außerdem fünfzig Gulden Patengeschenk gibt!‹ Davon wollte ich nichts wissen: ›Es wäre eine Sünde an dem Gott meiner Väter!‹ Und dabei blieb ich, was er auch sagen mochte. Ich bereue es noch heute nicht, ich handelte recht und vernünftig, denn es wäre eine schwere Sünde gegen ihn gewesen, wenn ich mich 177 hätte taufen lassen. Denn ihm ist es ja gleich, in welcher Art man ihm dient, aber seinen Namen anzurufen, um aus einem Gemeinen ein Feldschmied zu werden – das tut nur ein schlechter Kerl!

Nun kam eine böse Zeit, die schlimmste während meines Dienstes. Es war dem lustigen, dicken, durstigen Kapuziner gar nicht um meine Seele zu tun, aber jene alte Gräfin zahlte ihm hundert Gulden für jeden Bekehrten, und die wollte er mit aller Gewalt an mir verdienen. Darum steckte er sich, als es in Güte nicht ging, hinter die Offiziere und machte mir das Leben so sauer, daß ich jeden Tag daran verzweifelte, auch noch den morgigen ertragen zu können. Aber gerade diese Verfolgung wurde mir zum Segen. Sie sollen wenigstens keinen Grund haben, mich zu quälen, dachte ich und wurde so aus Trotz der eifrigste, pflichtgetreueste Soldat der Kompanie. Die Kameraden bekamen Respekt vor mir, und die Offiziere ließen von mir ab, ja, sie behandelten mich nun mit großer Güte, weil sie erkannten, daß mich das Pfäfflein nur verleumdet hatte, um zu neuem Geld für seinen Durst zu kommen. Und was ich anfangs nur aus Trotz getan, tat ich bald aus Gewohnheit, endlich auch aus gutem Willen. Gern tat ich meinen Dienst und fühlte mich wohl dabei. Dazu kam es, daß wir einige Jahre in Italien blieben, wo ein gutes, lustiges Leben für den Soldaten war. Nur wenn ich an die Heimat dachte, gab es mir einen Stich durchs Herz, aber auch dies ereignete sich immer seltener.«

Moschko schwieg und lehnte sich erschöpft zurück, die lange Rede hatte ihn ermüdet. »Und so blieb es bis zu Eurer Wiederkehr?« fragte der Arzt.

»Ach nein!« seufzte der Kranke, »da liegt noch viel dazwischen: schwere Versündigung und harte Buße und vor allem, wie ich ihn erkannte. Sehen Sie, Herr Doktor, der Soldatenstand ist schön, selbst wenn man nur Gemeiner bei Parma ist, aber eine Gefahr ist dabei für jeden: der Kaiser gibt täglich Brot und Löhnung, gestern, heute, morgen – man hat keine Sorgen, man lebt so lustig vor sich hin und macht sich keine Gedanken. So erging es mit der Zeit auch mir: ich dachte nur an die Sachen, welche der Tagesbefehl verkündete, und von Gott war darin nicht die Rede, auch nicht von meiner Zukunft. Wenn 178 meine Stubenkameraden zur Messe kommandiert wurden, blieb ich allein zurück, aber da zog ich auch nicht die kleinen Tefillim (Gebetriemen) hervor, welche mir ein frommer, mährischer Jude einst in meiner Rekrutenzeit geschenkt hatte, sondern pfiff Schelmenlieder vor mich hin oder dachte an des Hauptmanns Köchin, die mich trotz meines Glaubens wohl leiden mochte. Wenn ich an die Chassidim (jüdischen Fanatiker) daheim dachte, mußte ich lachen; wie schauten die die Welt an, was wußten die von der Welt?! Ich kam mir ganz stolz vor in meiner ›Aufgeklärtheit‹, und gar so unrecht hatte ich ja auch nicht. Wenn man so jahraus, jahrein mit Christen brüderlich zusammen lebt, von denselben Lasten gedrückt, von denselben Freuden gelabt – wie sollte man da noch hochmütig auf seinen Glauben sein und sich, wie ein Chassid, für besser halten als ein anderer, bloß weil man ein Jude ist?! Aber Unrecht war es von mir, daß ich nicht bloß die Tefillim vergaß, sondern auch ganz und gar Gott. Das wurde immer ärger, je länger ich fortdiente, und endlich kam ein Tag, wo ich mich meines Glaubens schämte und ihn aus Eitelkeit verleugnete.

Das begab sich in folgender Weise. Wir waren aus Italien nach Steiermark versetzt worden, nach der Stadt Marburg. Dort durften gar keine Juden wohnen; die Leute von Marburg hatten einen großen Rischchus (Judenhaß), und wenn einer meiner Kameraden mich auf der Straße anrief: ›Moses‹, da blieben alle stehen, blickten mich scheu an und beschimpften mich. Nun war mit der ganzen Kompanie natürlich auch der Hauptmann und seine Köchin nach Marburg gekommen, und während sich dieses Weibsbild in Verona gar kein Gewissen gemacht hatte, mich zu lieben, gab sie mir nun den Laufpaß. Dies alles war mir natürlich nicht angenehm. Und so, Herr Doktor, fasse ich mir eines Tages ein Herz, trete vor den Herrn Hauptmann und bitte, ob ich nicht einen anderen Vornamen haben könnte. ›Hoho!‹ lacht er, ›wozu?‹ Ich erzähle ihm alles. ›Nun, dann laß dich taufen!‹ – ›Das geht nicht‹, sag ich, ›ich will die Scherereien mit Messe und Beichte nicht und möchte auch die Pfaffen nicht anlügen.‹ Da aber wird er zornig und macht mir ein Höllendonnerwetter. ›Kerl‹, ruft er, ›ein Soldat muß gottesfürchtig sein, das steht sogar im Reglement!‹ Dann aber beruhigt er sich doch wieder. 179 ›Also – was willst du eigentlich?‹ – ›Ich möchte ’Moriz‘ gerufen werden‹, bitte ich. – ›Sonst nichts‹, lacht er. ›Das soll dir gewährt sein!‹ Und die Sache war in Ordnung . . .

Als ein solcher ›Moriz‹ habe ich die zweite Kapitulation angetreten. Sie wissen, wie sehr mir die Leute im Städtchen die Tat verübelt haben, und auch ich muß sie als Frevel erkennen, obgleich anderer Gründe wegen. Denn nur aus Eitelkeit, aus Leichtsinn, aus Schlechtigkeit habe ich für weitere sieben Jahre den Handschlag geleistet. Der ›Gefreite‹ lockte mich, die Prämie und die Auszeichnung, das könnte ich mir noch verzeihen. Aber ich blieb auch deshalb beim Militär, um das sorgenlose Leben fortzusetzen, und wenn mir mein Kind in den Sinn kam« – die Worte fielen ihm nur mühsam von den Lippen –, »da dachte ich: Die Mutter wird es schon versorgen! Oh, Herr, haben Sie schon je solchen Frevel gehört?«

»Vierzehn Jahre sind eine lange Zeit!« tröstete der Arzt. »Ihr hattet ja das Kind nie gesehen! Und dann, wie schwer habt Ihr diesen Fehler gebüßt!«

»Ja!« rief der Kranke und richtete sich erregt empor, »Gott sei Preis und Dank, ich habe ihn gebüßt und brauche nicht hinüberzugehen mit dieser ungezählten Schuld auf meiner Rechnung!«

Dann sank er wieder zurück und fuhr mit leiser, aber fester Stimme fort: »Meine Buße begann vier Jahre später, bei dem ersten Treffen da unten in Italien. Ich blieb ruhig, als die Nachricht vom Kriege kam, und konnte sogar darüber lächeln, wie nun plötzlich so viele fromm wurden. Denn wohl dachte ich an Gott, aber an welchen sollte ich glauben? Zu dem Gotte der Chassidim konnte ich nicht beten und ebensowenig zu dem Manne am Kreuze. Trotzig ging ich ins erste Feuer und empfand keine Todesangst. Aber während des Treffens, da der Tod mähte, und noch später, da wir die Gefallenen begruben, Christen und Juden, die Unsrigen und die Italiener, alle in einem Grabe, da gingen mir wieder dieselben Schauer durchs Herz wie schon einst in der Jugendzeit, da erkannte ich ihn, den Allgerechten, und klammerte mich an ihn an. Es war nicht die Furcht vor dem Tode, die mich hierzu trieb, denn nachdem ich ihn erkannt, nachdem mir mein ganzes Leben klargeworden, da 180 wußte ich ja, daß ich nicht sein Erbarmen erwarten dürfe, sondern nur seinen Zorn! Ja, Herr, das wußte ich, und dennoch beugte ich mich ihm und mühte mich, täglich genauer sein Walten zu erkennen in meinem und der anderen Leben! Warum? Wenn wir einen weiten Marsch in Italien tun mußten und die Sonne brannte verdorrend hernieder, daß uns die Zunge am Gaumen klebte, und wir kamen an tiefen, stillen, kühlen Wassergrotten vorbei, da stürzte immer die halbe Kompanie auf die Quelle zu und trank von dem Wasser, obwohl die Leute wußten, daß sie sich damit vielleicht das Fieber in den Leib tranken und den Tod dazu! Wer verschmachtet und nun endlich die Quelle sieht – o Herr, wie hätte ich mich nicht vor dem Allgerechten beugen sollen, obwohl ich wußte, wie meine Rechnung bei ihm stand?! . . .

Nun – ich habe meine Schuld bezahlt! Hätte er mich von einer Kugel fallen lassen, rasch und schmerzlos, wir wären nicht ausgeglichen gewesen. So aber hat er mir Wunden geschickt, die mir furchtbaren Schmerz bereitet haben, und Fieber, das meine Kraft verzehrt hat, und mit vierzig Jahren hat er mich zum hilflosen Greise gemacht – unsere Rechnung stand wieder glatt. Nun kam ich heim und wurde von Türe zu Türe gescheucht wie ein unreines Tier, meinem eigenen Sohne mußte ich ein Fremder bleiben! Das erkannte er, der Allgerechte, und vergalt es mir: ich durfte meinem Kinde mit dem Rest meiner Lebenskraft noch einen Dienst leisten –«

Er unterbrach sich erschreckt – »und werde in seinen Armen sterben dürfen!« hatte er sagen wollen. Aber war nicht ohnehin schon zuviel verraten? Denn so grenzenlos sein Vertrauen zu diesem edlen Manne war, er durfte ja dieses Geheimnis nicht preisgeben, das nicht ihm gehörte. Doch ein Blick in das Antlitz des Arztes beruhigte ihn wieder. In diesen klugen, klaren Augen schimmerten Tränen.

»Herr Doktor«, stammelte der Kranke, »das verdiene ich nicht!«

Der Arzt hatte sich erhoben und ergriff die Hand des Invaliden. »Ihr habt recht!« sagte er feierlich. »Er ist ein Allgerechter!«

»Und drüben wird Ruhe und Friede sein!«

»Amen!« sprach der Arzt und verließ tiefbewegt die Stube.

Das war die letzte lange Unterredung, die Moschko hatte. 181 Als er sich am nächsten Morgen noch viel schwächer fühlte, winkte er den Hawrilo an seine Seite.

»Lieber Kamerad«, sagte er, »du hast mir oft gesagt, die Kasia sei draußen und wünsche mich zu sprechen. Ich habe sie stets gebeten, den Besuch aufzuschieben, weil – weil ich mich zu schwach fühlte. Aber heute fühle ich mich stark genug . . .«

»Heute?« fragte Hawrilo, und seine Lippen bebten; er wußte ja, daß der Mann vor ihm ein Sterbender war.

»Heute! Willst du sie nicht rufen lassen? Ich habe ihr noch etwas zu sagen –«

»Von dem Polen? Ich verstehe; ich werde dich allein mit ihr lassen . . .«

Eine Stunde später trat das kräftige, noch immer hübsche Weib in die Stube. Sie hatte den Kranken bereits vor wenigen Tagen, da er schlummerte, heimlich betrachtet; sie wußte, daß dieser Greis keinen Zug mehr gemein habe mit dem Jünglingsbilde, das ihr in der Erinnerung lebte, aber als sie seine Stimme wieder vernahm, da sank sie fassungslos an dem Fußrande seines Lagers nieder und weinte bitterlich.

Ihm aber war es, als wäre seine Jugend noch einmal zu ihm gekommen, ihn vor dem Sterben zu grüßen. Lange, lange hatte er nicht mehr geweint, nun fühlte er noch einmal das tröstende Naß seine Lider netzen . . .

»Kasia!« sagte er, »ich weiß, daß du mir verziehen hast. Aber ich wollte nicht gehen, ohne es aus deinem eigenen Munde zu hören!«

»Du Armer! Du Guter!« schluchzte sie. »Ich habe dir ja nichts zu verzeihen!«

»Doch! Aber du bist gut und barmherzig. Wegen des Fedko habe ich dir nichts mehr zu sagen: er ist wohlgeraten, und es wird ihm gut ergehen. Nur für mich selbst hätte ich noch eine Bitte! Es ist die Sitte bei uns, daß der Sohn am Todestage seines Vaters immer ein Gebet spricht. Erinnere den Fedko daran, daß er alljährlich an meinem Sterbetag ein Vaterunser für mich spreche. Es ist ein christliches Gebet, und ich bin ein Jude, aber er wird es dennoch hören und – vielleicht auch ich!«

Sie versprach es unter heißen Tränen. Dann trat Hawrilo ein und geleitete die Weinende aus der Stube.

182 Von Stunde zu Stunde minderte sich die Kraft des Sterbenden. In rührenden Worten dankte er Hawrilo, Walerian und dem Arzte für all ihre Liebe und Sorge. Nur dem Fedko sagte er noch kein Wort des Abschieds. »Bleib bei mir«, bat er.

Aber es hätte dieser Bitte nicht bedurft. Keine Macht der Welt hätte den Jüngling von seinem Platze an diesem Sterbelager fortscheuchen können.

So verging der Tag; es wurde Dämmerung. Moschko war still atmend mit geschlossenen Augen dagelegen. Nun aber regte er sich plötzlich, versuchte sich aufzurichten und tastete nach der Hand des Jünglings.

»Fedko«, murmelte er, »leb wohl.«

Angstvoll schlang dieser seinen Arm um den Verscheidenden. »Soll ich den Arzt . . .«, rief er.

»Nein! – Deine Hand – ich danke dir . . .«

So ist Moschko von Parma in den Armen seines Sohnes verschieden.

Am nächsten Morgen begruben ihn die Leute von der »heiligen Brüderschaft« auf dem »guten Orte«. Er schläft am Rande des Friedhofs, hart an der Heerstraße.

Kein Denkstein steht an seinem Grabe. Aber es ist wohlgepflegt, und von den ersten Frühlingstagen bis in den späten Herbst hinein blühen darauf die schönsten Blumen der Ebene.


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