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Über die sonnige Heide ging ein Summen, leise und unablässig, als schliefe sie und das wäre ihres Atems Ton. Ich lauschte darauf, wie ich so langsam im Sonnenbrande dahinschritt, und lauschte und konnte nicht ergründen, woher das leise Tönen rühre. Ähnlich hört sich's, wenn urplötzlich – wer weiß, wovon? – ein Windhauch wach wird auf der Heide und im Wacholder wühlt. Aber diesmal standen die Lüfte still über der erhitzten Erde, und droben am Himmel waren die weißen Wölkchen wie angenagelt, und dennoch schwamm jenes seltsame Summen in den lauen Wellen des Äthers. Gezirpe von Grillen konnte es auch nicht sein; das klingt schrill und aus nächster Nähe; jenes Tönen aber zitterte sanft, halb verweht in mein Ohr. Einmal erlosch es ganz, und es war unsägliche Einsamkeit um mich; kein Ton und keine Bewegung, so weit die ungeheure Glocke des Himmels auf der Ebene stand. Dann wachte es wieder auf; zuerst von einer Richtung her, bis sich mählich wieder das Netz der Töne über die ganze Heide spann. War das Musik, eine Fiedel oder Flöte, aber fern, sehr fern? War's vielleicht Jacek der Spielmann? Der irre Greis hat sich ein Plätzlein gesucht, wo das Gesträuch dicht zusammensteht, und seine flickige Jacke darübergebreitet, und nun spielt er im Schatten leise auf seiner Fiedel, wild, süß, wirr, wie der Vogel sein Lied pfeift. Heut wär's ja nicht zum ersten Male; wie oft hab' ich ihn so getroffen, wenn ich aus der Klosterschule fort – und in die Heide lief, immer tiefer hinein, den Faltern nach oder den Wolkenschatten. Ja, der Alte wird es sein – vielleicht wieder drüben beim schwarzen Kreuz –, da hab' ich ihn an jenem Sonntag zuletzt getroffen ... Und rascher begann ich zu gehen und immer rascher und – blieb jählings stehen. Ein lautes Lachen kam mich an, und dennoch brannten leise meine Lider. Ich Tor, ich träumender Tor! Fünfzehn Jahre waren's seit jenem Sonntag, und der alte Jacek war längst tot und ich kein wilder Knabe mehr, sondern ein Mann, der sich in aller Herren Ländern müde gewandert und wieder einmal gekommen, die Heimat zu grüßen. Fünfzehn Jahre! Es ist eine lange Frist, und vieles kann da sterben um uns und im eigenen Herzen. Und vieles wandelt sich, selbst in dem abgelegensten Winkel der Erde, selbst in einem podolischen Heidestädtlein. Vielleicht waren auch die Leute von Barnow dieselben geblieben und nur ich ein anderer geworden – ich weiß nicht! Nur eines weiß ich: Während ich so durch die schmutzigen Gäßchen ging, vorüber an den dumpfigen Hütten und den verwahrlosten Menschen, da habe ich alle jene beneidet, welche ihrer Heimat als einer lichten, freundlichen Stätte gedenken können, ich habe sie sehr beneidet. Und zu jener Stunde war's mir unfaßbar, warum ich doch so sehr an dieser Heimat hänge.
Aber als ich auf die Heide kam, da verstand ich es. Die Zauber der Ebene kamen wieder über mich und machten mein einsames Herz traurig, ergeben und weit. Die alten Träume kamen über mich, und ich ging, ein Lächeln auf den Lippen und doch sonderbar bewegt, auf das »schwarze Kreuz« zu, als müßt' ich dort den greisen Spielmann treffen. Aber er war nicht zu gewahren, obwohl von dorther jenes Summen über die Heide klang. Je näher ich kam, desto deutlicher wurde es, desto schriller. Es waren zwei Hirtenpfeifen gewesen, die in der Ferne so zauberisch getönt.
Das Kreuz ist mächtig und plump gefügt, aus schwarz bemalten Tannenbalken. Kein Christus hängt daran, nur der Umriß einer Hacke ist am Fuß groß und roh eingeschnitten. An einem großen Tage ward dies Zeichen aufgerichtet: da die Hörigkeit von den Leibern dieser armen Menschen fiel. Darum haben sie die Hacke eingeritzt, das Merkzeichen des freien Mannes. Auch einige Birken sind ringsum gepflanzt, der einzige Schatten, so weit das Auge blickt. Darum rastet unter diesen Bäumen gern das fahrende Volk, das im Sonnenbrand über die Heide zieht: die Zigeunerschar, welche rastlos stehlend umherwandert und daneben wahrsagt, fiedelt und die Pferde kuriert; der Drahtslowake; der ukrainische Tagelöhner; der jüdische »Dorfgeher«, welcher von Sonntag bis Freitag von Gehöft zu Gehöft zieht und Ware und Schmeichelworte vertauscht gegen Geld und Schläge; der fremde Gaukler; der russische »Sänger«, sehr ehrwürdig und sehr eigentumsgefährlich, welcher unserem zahmen Bauer von den Großtaten seiner Ahnen und Stammgenossen, der Kosaken, berichtet und sich dabei demütig durchbettelt; endlich Bettler ohne poetische Beschönigung, Bettler schlichtweg, jeglicher Nation, jeglichen Glaubens, bis herab auf den »Schnorrer«, welcher daneben auch Talmudist ist und lebendige Zeitung für seine Glaubensgenossen. Sie alle rasten hier unter den Birken und trinken aus der Quelle, die hervorsprudelt; der Platz ist selten verödet, und selbst wenn von dem fahrenden Volk niemand zur Stelle, so freuen sich doch einige Hirten der Kühle. Denn der Hügel, auf dem sich das Kreuz erhebt, bildet zugleich die Markung zwischen den Triften des Städtleins Barnow und des Dorfes Wolowce.
Auch heute saßen nur zwei Hirten da und bliesen auf ihren Schalmeien wirr durcheinander, daß es schrill und häßlich klang. Aber als ich ganz nahe herankam, da verstummten sie und erhoben sich. Es waren Knaben, dreizehn-, vierzehnjährige, Flachsköpfe mit stumpfen Gesichtern und jenen sonderbar traurigen Augen, die man bei allen Menschen findet, welche einsam heranwachsen in der großen Ebene. Sie waren sehr einfach bekleidet, der eine nur mit Hemd und Hose aus gröbstem grauem Linnen, der andere hatte einen braunen Serdak an, aber dafür kein Hemd darunter. Überhaupt war der letztere der elegantere, denn er trug einen Strohhut, während sich der andere mit einem verschossenen blauen Soldatenkäppi behalf. Sie entblößten ihr Haupt vor mir, hielten aber die Kopfbedeckung dicht am Ohr, um sich mit derselben Hand hinter dem Ohr kratzen zu können. Höflichkeit schützt vor Verlegenheit nicht.
Ich mehrte diese Verlegenheit nicht, ich nickte den Hirten zu, aber ich sprach sie nicht an – was hatte ich auch von ihnen zu erfragen? Ob der oder jener noch lebe, der mir hier einst eine Pfeife geschnitzt oder eine Geschichte erzählt?! Tot! – Wie oft hatte ich diese Antwort heute drinnen im Städtchen gehört; ich hatte genug daran, übergenug ... Ich warf mich unter die letzte Birke hin, weitab von den Hirten, und dachte an die alte Zeit und jenen Sonntag vor fünfzehn Jahren.
Es war dies ein schöner, schier lenzheller Septembertag gewesen, und ich war auf die Heide hinausgegangen, Abschied von ihr zu nehmen, denn morgen sollte ich wieder fort auf die lateinische Schule. Und wie ich also, recht müde gewandert, hier unter den Birken saß und ringsum war große Stille – nur zuweilen ging ein Windstoß wie ein jäher Seufzer über die Heide –, da wurden mir die Lider schwer, und ich schlief ein. Aber ein schrilles Tönen schnitt meinen Traum entzwei, und als ich jählings auffuhr, da glaubte ich erst recht fortzuträumen. Vor mir stand der alte Spielmann, noch zerlumpter als sonst, aber einen großen Blumenstrauß an der Brust, und in den sonst so traurigen, glanzlosen Augen glühte es wildfreudig. Bald küßte er seine Fiedel und drückte sie an die Brust, bald strich er wie toll über die Saiten; es klang so beiläufig wie der »Radetzkymarsch«. »Grüß Gott, Paniczu! Ich habe dich geweckt, ich muß dir etwas erzählen. Aus dem Kreisgericht komme ich und meine Fiedel habe ich wieder, weil die Muhme Kasia sie mir aufbewahrt hat, und jetzt übe ich mir den Marsch da ein – den spiele ich, wenn man den Herrn Wincenty doch endlich zum Galgen führt.« Und wieder klangen lustig die Takte. »Aber wo sind die anderen?« fragte ich. – »Noch im Kerker – wegen Rebellion! Mich haben die Schreiber freigelassen: ›Du kannst gehen, du bist verrückt.‹ Nun, Paniczu, verrückt bin ich, das ist wahr, der Starost hat mich verrückt gemacht, wie ich noch jung war. Aber das weiß ich doch: Noch lebt der Kaiser, und er wird erfahren, was geschehen ist, und was dann?! Hei! Dann legt er den Mund an den Draht und sagt den Schreibern beim Kreisgericht: ›Lasset die Leute von Wolowce heim, es sind brave Leute, auch wenn sie in der Verzweiflung Dummheiten gemacht haben, und was den toten Husaren betrifft, so laufen ja noch genug Zigeuner herum, die man einfangen kann und blau anziehen und auf ein Pferd setzen.‹ Und dem kleinen boshaften Schreiber in Barnow sagt er: ›Laß den Herrn Wincenty henken, die Bauern haben recht gehabt, als sie es tun wollten; er hat es redlich um den Fedko verdient und um die anderen auch.‹ Und dann muß der Dicke dran, ob er will, ob nicht, und nimmt sich wieder die Husaren mit, und sie ziehen den Pallasch und blasen und reiten nach Wolowce; aber diesmal gilt's nicht uns, sondern dem Herrn und seinen Knechten! Und der Dicke sagt betrübt zum Wincenty: ›Herr Bruder, es tut mir leid, aber hängen mußt du!‹ Und sie führen ihn zum Galgen. Ich aber gehe neben dem Karren und spiele diesen Marsch – hörst du, Paniczu! Diesen Marsch ...«
Es klang mir noch im Ohr, wie er damals gespielt an jenem schönen Septembernachmittage ... Aber auf Erden hat der alte Spielmann nicht mehr lange gefiedelt, im nächsten Frühling war er tot. Und der Kaiser hat es nicht erfahren, die Leute von Wolowce sind noch lange im Kerker gelegen, und der Herr Wincenty ist durchaus nicht gehenkt worden, ›obwohl er es redlich um den Fedko verdient‹ ... Immer tiefer lockte mich die Erinnerung in jene verschollenen Geschichten, und ich dachte an jenen düsteren unseligen Kampf, der hier gestritten worden, einen Kampf ums Recht, und an den sonderbaren ›Aufstand von Wolowce‹ ...
Ich grübelte lange darüber. Es ist nicht gut, mußte ich mir schließlich sagen, daß solche Geschichten geschehen. Es ist nicht gut für die Polen, nicht für die Ruthenen, nicht für die österreichische Regierung. Und in aller-, allerletzter Linie ist es auch nicht gut für – den lieben Gott! Je höher ein Herr steht, desto mehr muß er auf seine Reputation sehen. Und der liebe Gott steht am höchsten. Er ist allgütig, allgerecht – und da läßt er in Podolien eine solche Geschichte zu ... weiß Gott! Es ist auch für Gott nicht gut, daß sie geschah. Aber – sie geschah.
Recht alltäglich begann, recht seltsam endete sie. Und in ihre erschütternde Tragik mischte sich ein grell komischer Zug. Das Dorf Wolowce bei Barnow ist ein großes schönes Gut. Es gestattet seinem Besitzer ein stattliches Leben. Selbst nach Paris kann er von Zeit zu Zeit gehen und dort den Schneidern, Kokotten und Professionsspielern vergnügte Tage machen. Zu vergnügten Jahren freilich reicht das Einkommen nicht hin. Und wenn sich der Mann gar zehn Jahre nicht um seine Wirtschaft kümmert, sondern fortwährend nur die Pariser Menschheit vergnügt macht, dann muß er freilich im elften Jahre notgedrungen heimkehren, und über sein Haupt kommt Trübsal. Und die Juden dazu.
Damit ist das Geschick des adeligen Herrn Wincenty Barwulski genügend berichtet. Da saß er nun in dem düsteren, verfallenen Edelhofe und kämpfte gegen die Trübsal und kämpfte gegen die Juden. Mit verschiedenem Erfolg! Denn was die Juden betrifft, so warf er sie freilich anfangs kurzweg hinaus, aber schon in den nächsten Jahren mußte er sie zuerst um die Prolongation bitten, ehe sie hinausflogen, und schließlich beschränkte er sich aus guten Gründen gar nur auf das Bitten und gewöhnte sich das Hinauswerfen ganz ab. Die Juden also besiegten den Herrn Wincenty, hingegen besiegte er die Trübsal. ›Denn‹, sagt Pestalozzi schön und richtig, ›ein guter Mensch ist auch glücklich; ihm fließt aus dem reinen Herzen ein unerschöpflicher Quell harmloser Freuden.‹ Wort für Wort paßt das auf den Besitzer von Wolowce, welcher ein guter Mensch war, ein Normalmensch, ein Mustermensch. Den Müßiggang haßte er glühend; ein vergähnter Nachmittag, ein verschnarchter Abend dünkte ihm mit Recht etwas Gräßliches. Darum hasardierte er am Nachmittag und am Abend bis in die Nacht hinein. Wer Makao spielt, der geht nicht müßig, er sitzt und tut etwas: Er verliert sein Geld. Übrigens gewann auch der Normalmensch zuweilen, sogar auffällig, und stand daher bald im ganzen Kreise im Rufe eines fleißigen, fingerfertigen Menschen ... Aber ärger noch als den Müßiggang haßte er alle geistigen Getränke, und sein Ceterum censeo war: ›Der Schnaps ist des Menschen Fluch!‹ Darum vertilgte er ihn, wo er ihn traf, in unglaublichen Quantitäten, nicht minder Wein oder Met. Allnächtlich schlug er die Schlacht gegen den Dämon Alkohol, allnächtlich ward er besiegt und sank im Morgengrauen unter den Tisch; aber gegen die Mittagsstunde erhob er sich wieder und begann düster und entschlossen die Schlacht von neuem. Er gab seinem Erbfeind keinen Pardon, er forderte keinen – es lag Größe in diesem guten Menschen, sittliche Größe ... Aber diese Heldenseele war auch weich und zartester Empfindung fähig: Herr Wincenty konnte kein Weib weinen sehen, am wenigsten sein eigenes Weib. Denn er hatte bald nach seiner Heimkehr aus Paris geheiratet, teils der Trübsal, teils der Juden wegen. Eine reiche adelige Erbtochter hatte er freilich nicht gefunden, nur eine Schullehrerstochter. Aber keine gewöhnliche. War da nämlich irgendwo in einem podolischen Städtchen ein Schullehrer, der eine schöne Frau hatte, und ein Dominikanerkloster, das einen stattlichen Prior hatte. Die Schullehrerin gebar dem Schullehrer ein Mädchen, und als die kleine Aniela heranblühte, erwies es sich, daß sie dem Prior ähnlich sah. Darum liebte sie der Hochwürdige und bestimmte ihr eine große Mitgift. Aber es fand sich kein Freier trotz der Mitgift und trotz der rührenden Schönheit des armen Kindes, welches aus seinen braunen Augen so scheu und traurig in die Welt blickte, als müßte es die Menschen um Vergebung bitten für das Schandmal, welches ihm unverschuldet auf dem holden Antlitz brannte. Die Ähnlichkeit war zu groß – es fand sich kein Freier. Aber ein Mustermensch kehrt sich an keine Vorurteile, Herr Wincenty heiratete die Aniela, und solange die Mitgift vorhielt und der Prior lebte, hatte die Ärmste keine Launen. Aber als der Hochwürdige starb, da kam Frau Aniela auf sonderbare Einfälle: Nur in einem eiskalten Zimmer wollte sie schlafen, nur schimmeliges Brot als einzige Nahrung genießen, und dazu geißelte sie sich täglich so heftig, daß der arme junge Leib über und über bedeckt war von blutigen Striemen. Ja! Sie tat sich das alles selbst an; so versicherte wenigstens Herr Wincenty seine Spießgesellen, wenn selbst diese rohen Herzen etwas Mitleid verspürten und ihm sagten: ›Bruder, fürchte dich vor Gott, nimm eine Hacke und mach's auf einmal ab, aber quäle deine Tränenweide nicht so stückweise zu Tode!‹ Die ›Tränenweide‹; denn die Frau weinte beständig. Und der gute Wincenty konnte sein Weib nicht weinen sehen. Darum jagte er sie einmal in eisiger Winternacht zum Tor hinaus. Am nächsten Morgen fand man sie erfroren auf der Schwelle ...
So ein Mustermensch war Herr Wincenty Barwulski. Weitere Proben wären überflüssig; auch schreibt es sich schlecht, wenn sich die Hand unwillkürlich zur Faust ballt. Aber ein schöner Zug muß notwendig hervorgehoben werden, weil sich auf ihm diese Geschichte aufbaut. Herr Wincenty war nicht schön, nein. Auf dem schwammig aufgedunsenen Körper, welchen zitterige Beinchen mühsam vorwärtsschleppten, saß ein Kopf, ganz kahl, selbst ohne Brauen, einem runden, gelblichgrünen Kürbis überaus ähnlich. Nur allnächtlich zur späten Stunde, wenn sich die Schlacht wieder einmal ihrem Ende und Herr Wincenty der Diele zuneigte, da flammte der Kürbis violett. Schön also war er nicht; aber warm schlug sein Herz für das Schöne. Darum war kein Weib und keine Dirne in Wolowce vor ihm sicher; folgte sie nicht willig, so brauchte er Gewalt – wozu hat ein Edelmann Knechte und Stricke im Hause?! Anfangs liefen die armen Bauern nach Barnow und klagten dort dem »Schreiber« ihr Leid, dem allmächtigen k. k. Bezirksvorsteher, dem adeligen Herrn Teofil von Strusek, was zu deutsch »Hausknechtlein« bedeutet. Manchmal nahm der Mann die Klage zu Protokoll, manchmal auch nicht; der Effekt blieb derselbe. In der Tat war es lächerlich, einem adeligen Polen zuzumuten, daß er einer armseligen ruthenischen Dirne wegen einen andern adeligen Polen ins Zuchthaus bringe, es war höchst lächerlich! Das erkannten allmählich selbst die dummen Bauern und sparten sich den Gang in die Stadt. Auch wußten sie, daß Herr Wincenty ihnen schließlich ihre Weiber und Töchter wiedergab – in drei, vier, höchstens acht Tagen –, der Gute konnte ja kein Weib weinen sehen! ... Aber eine furchtbare Erbitterung sammelte sich allmählich in diesen sonst so stumpfen, geduldigen Menschen, ein unsäglicher Haß ...
Jählings sollte er zum Ausbruch kommen. Es ist eine Art Dorfgeschichte, freilich nicht in dem beliebten und lieblichen Idyllengenre. Da lebte nämlich zu Wolowce ein junger, stattlicher Bauer, Fedko Hawliuk. Ein prächtiger Mensch, dieser Fedko, ein riesenstarker, schöner, ernster Bursche – wer ihn so ansah, mußte an die alten Heldenlieder dieses geknechteten Volkes denken; das war noch eines jener »Falkenangesichter«, vor denen einst Polen und Tataren sich zitternd verkrochen. Er hielt auch etwas auf sich und blickte sehr stolz in die Welt, erstens als der Erbsohn des reichsten Bauerngutes im Dorfe, welches nach dem Tode seiner Mutter an ihn fallen mußte, zweitens als verabschiedeter k. k. Korporal von Nassau-Infanterie. Er war Soldat gewesen, hatte Lesen und Schreiben gelernt und war in den westlichen Provinzen auf die Entdeckung gekommen, daß auch der Bauer ein Mensch ist. So hätte sich dieser Mensch auch ohne besondere Ursache nicht glücklich fühlen können als Untertan des Herrn Wincenty. Es war aber auch noch eine besondere Ursache da.
Natürlich eine Liebesgeschichte. Xenia hieß das Mädchen und war ein hübsches, blondes Ding, dabei sehr arm. Trotzdem machte sie der Fedko zu seiner Braut und nicht, wie er wohl gekonnt hätte, zu seiner Metze. Er hatte sie eben so recht mit dem Herzen lieb – zuweilen kommt das auch bei podolischen Bauern vor. Ja, so sehr liebte er sie, daß er, zum großen Staunen der ganzen Gemeinde, sein wildes Blut im Zaume hielt, wenn er auf Urlaub zu Hause war. »Meine Xenia muß mit dem Kränzlein im Haar vor den Altar treten«, pflegte er stolz zu sagen.
Aber als er nun endlich mit dem Abschied heimkam, da war es nichts damit, nicht mit dem Kränzlein, nicht mit der Hochzeit. Das hatte Herr Wincenty verschuldet mit seinen Knechten und Stricken ...
Als der Fedko das hörte, wurde er totenblaß, doch sagte er nichts. Nur ging er sogleich nach dem Schlosse und suchte den Herrn. Aber Wincenty war damals gerade im Bade Iwonicz. Dann ging der Bauer zu seiner Braut. Sie sah entsetzlich aus, um zwanzig Jahre gealtert. Aber sie wurde nicht ohnmächtig, als er kam; sie konnte ihm ruhig ins Auge blicken und erzählte ausführlich, wie sich die Untat gefügt. »Du mußt ihn töten!« schloß sie. »Natürlich muß ich das«, erwiderte der Fedko. »Leider ist er nicht da, wir müssen warten. Wenn er kommt, dann erschieße ich ihn und lasse mich sogleich mit dir trauen. Und dann gehe ich nach Barnow und übergebe mich des Kaisers Schreibern ...«
Das stand fest in ihm, ganz fest.
Aber es kam doch anders. Da war ja außer der Xenia auch noch seine Mutter, die ihn in Todesangst anflehte, sich nicht zugrunde zu richten; da war der Pope, der ihm mit dem ewigen Feuer kam und den Höllenstrafen; da war sein Kamerad, der Exgefreite Hritzko Barila, welcher ihm sagte: »Herr Korporal! Was wird das Regiment sagen, wenn es hört, daß du als Mörder am Galgen gestorben bist ...?« Das wirkte auf den Fedko, vielleicht das letzte am meisten. Vierzehn Tage ging er einsam umher und grübelte, dann kam er heim: »Ich will's versuchen zu leben.« Und der Xenia sagte er: »Verachte mich, aber ich kann's nicht tun.« – »Dann kann ich auch nicht dein Weib werden«, erwiderte sie. Und sie ging aus dem Dorf fort und verschwand spurlos.
Sie ist nie wiedergekommen. Es gibt tiefe, stille Weiher auf unseren Heiden ...
Darauf vergingen drei, vier Jahre. Und während dieser Jahre verging keine Woche, in der nicht der Fedko einem Heiratsvermittler die Tür gewiesen hätte. Denn durch Zwischenhändler schließen alle Leute in Podolien die Ehe: die Juden in den Städten, die Adeligen auf den Höfen, die Bauern in den Dörfern. Man sieht darauf, daß das Geld und die Familien einander ebenbürtig sind; die Herzen haben ja dann Zeit, sich zu finden, nach der Hochzeit ... Vielleicht wundert das manchen, und er denkt: Im rohen Osten, wo doch elementare Leidenschaften häufiger unter den Menschen, sollte auch die Liebe oder mindestens das sinnliche Begehren bei der Eheschließung ein größerer Faktor sein, als dies, scheußlich genug!, im Westen der Fall. Aber der vergißt, daß auch der Trieb nach Besitz ein elementarer Trieb ist, just bei rohen Naturen am stärksten – ein ganz verwünscht elementarer Trieb ...
Darum ist es ein blühendes Geschäft, dieser Menschenhandel, bei uns und in Podolien. Auch zum Fedko kam endlich einer, der nicht hinausgeworfen wurde. Aus verschiedenen Gründen nicht. Erstens hatte der junge Bauer schon häufig über das Sprüchlein nachdenken müssen, welches in allen Zungen des Ostens klingt: »Eine Wirtschaft ohne Frau ist wie eine Schenke ohne Schnaps.« Zweitens handelte es sich da um eine sehr hübsche, sehr brave und sehr reiche Dirne. Und drittens wußte der Fedko, daß diese schwarze Hanusia aus Okulince ganz rasend in ihn verliebt sei. Vielleicht entschied dies letztere. Denn dieser Bauer hatte ein Herz, ein schwärmerisches Herz sogar; er hat es auch später oft bewiesen bis zu jener Stunde, da die Kugel aus dem Rohre des krummen Michalko geflogen kam und dies stolze, unglückliche Herz durchbohrte ... Also: der glückliche Zwischenhändler kam und ging zwischen Wolowce und Okulince, und bald kam und ging auch der Fedko, und einige Wochen darauf war die Hochzeit.
In Wolowce wurde sie gefeiert, an einem Sonntag so um die Pfingstzeit herum, wenn der Frühling in Podolien anhebt. Denn in diesem Lande ist er ein später Gast, aber wenn er gekommen, dann ist er hold und wundertätig, wie allüberall. Die öde Heide blühte, der Himmel lachte und die Lerchen sangen, und auf der Erde lachten und sangen die Menschen, daß der Frühlingstag zitterte. Am Vormittag war die Trauung gewesen, und weil das junge Paar sehr reich war, so hatte der Pope eine ungeheuer lange Predigt gehalten. Und während er bei Minderbemittelten zu schließen pflegte: »So möget ihr denn mit Gottes Hilfe recht glücklich sein!«, schloß er diesmal: »Ich weiß es bestimmt, es ist Gottes Wille, daß ihr sehr glücklich werdet.« Es war dies etwas unvorsichtig von dem Manne, denn entweder wußte er es doch nicht bestimmt, oder änderte sich Gottes Wille binnen wenigen Stunden. Über beider Haupt ist unsägliches Unglück gekommen ...
Nach der Trauung zog alles zur Schenke, auch der Pope, und trank und tanzte, auch der Pope, und sehr viele besoffen sich, auch der Pope. Es war eine Hochzeit, wie sie das Dorf noch nie gesehen; drei Kapellen spielten auf, Juden, Tschechen und Zigeuner, und außerdem noch der alte Jacek. Und als die Dämmerung einbrach, da konnte der kleine Moschko noch dreister betrügen als bisher und den Schnaps zur Hälfte mit Wasser mischen – es merkte doch kaum mehr jemand, was er trank.
Zu dieser Stunde also, da bereits draußen dichte Schatten lagen und nicht minder in den Köpfen, kam ein unerwarteter Gast zu dem Feste. Ein guter Mensch nimmt auch an fremder Leute Freude gern teil ... Von draußen hörte man, wie die Zigeuner einen Tusch losließen, aber jählings stockten, dann, wie die Bauern wirr durcheinanderriefen. Und durch die Reihen, welche sich ihm zögernd öffneten, schritt, von den Nüchternen scheu begrüßt, von den Trunkenen grimmig angeglotzt, Herr Wincenty daher und in die Schenkstube an den Tisch des Brautpaares. Er grinste freundlich, und als er bemerkte, wie alles jählings verstummte und der Fedko entsetzlich bleich wurde, grinste er noch freundlicher. »Guten Abend, ihr Leute! Ich komme dir meinen Glückwunsch zu bringen, du glücklicher Bräutigam, von Herzen, von ganzem Herzen!« Der Vater der Braut erhob sich verlegen, aber Fedko blieb sitzen und starrte seinen Todfeind finster an. »Also das ist die Braut!« fuhr der Gute herzlich fort und kniff die Hanusia in die Wange. »Wetter! Ist das ein Prachtmädel! Das ist doch ein anderer Bau als bei der Xenia. An der war nicht viel dran, mein lieber Fedko, glaube mir.« Der junge Bauer sprang auf, alles Blut schoß ihm in den Kopf, jählings tastete seine Hand nach der Stelle, wo er sonst den Gürtel trug und das breite Messer drin. Herr Wincenty bemerkte es, und der gelbe Kürbis wurde noch gelber, sofern das überhaupt möglich war. »Also gute Unterhaltung, ihr Leute, gute Nacht.« Und rasch machte er sich aus dem Staube.
Es ist ungewiß, was er mit diesem Besuche vorgehabt. Vielleicht wollte er sein Opfer noch einmal öffentlich höhnen, ehe er es in der Stille ganz vernichtete. Vielleicht wollte er sich auch vorher die Hanusia ansehen, ob sie des neuen, ungeheuren Frevels wert sei. Tatsache ist, daß dieser Frevel geschah.
Das frohe Lärmen war bald wieder losgebrochen, nachdem Herr Barwulski gegangen. Nur Fedko saß still und finster da, die übrigen tanzten und tranken weiter. Und als die zehnte Stunde schlug, formierte sich alles, was noch die Beine bewegen konnte, zu einem fröhlichen Zuge. Die Musikanten vorauf, mit Fackeln und Laternen geleitete man die Neuvermählten in das Haus des Fedko. Dort blieb das Paar allein zurück, alle anderen zogen wieder in die Schenke. Und weiter ging das Tanzen, Trinken und Johlen, aber schwächer und schwächer. Immer weniger Füße tanzten, immer mehr Kehlen schnarchten. Drinnen im dumpfigen Raum und draußen auf dem Anger lagen die Schläfer dicht umher. Auch die Musikanten waren eingenickt, und der kleine Moschko wankte vor Müdigkeit und vergaß sogar das Mischen. Als der Morgen grau und zögernd herankam, saß nur noch ein Haufe unverwüstlicher Zecher, darunter Hritzko Barila, um den Tisch vor der Schenke, und der alte Jacek spielte ihnen unermüdlich auf, was ihm in die Finger kam.
Da brach er schrill ab und starrte auf die Dorfgasse, als sähe er dort ein Gespenst. Im fahlen Scheine der Dämmerung kam da langsam, sehr langsam eine Gestalt herangewankt, auf die Schenke zu. »Jadwiga!« schrie der Greis wild auf – wer weiß welche Erinnerung dem armen Wahnsinnigen im Herzen erwachte! – »Jadwiga! Meines Starosten Tochter!«
Aber der Hritzko erkannte es besser. Mit einem Angstschrei sprang er auf und auf jenes Weib zu, welches sich da mühsam heranschleppte. »Hanusia! Was ist geschehen? Wo ist der Fedko ...?«
Sie starrte ihn an, als verstünde sie ihn nicht. Ihre Züge waren gräßlich verzerrt; Grauen und Schmerz lagen ihr auf dem Antlitz wie eingemeißelt. Sie war halb entkleidet; an Nacken und Armen die Spuren von Geißelhieben; die wenigen Kleider hingen ihr zerfetzt, blutgetränkt um den mißhandelten Leib. »Euer Herr!« stöhnte sie. »Der Fedko liegt gebunden ... mich haben sie ins Schloß geschleppt: ... und jetzt hinausgestoßen ...«
Sie brach ohnmächtig zusammen. »Tragt sie in die Schenke!« befahl der Hritzko und stürzte mit einigen Gefährten ins Haus des Fedko. Schwaches Stöhnen klang ihnen entgegen. In der Kammer lag auf der Diele der unglückliche Mann, einen Knebel im Munde, Hände und Füße mit Ketten und Stricken in einen Knäuel zusammengekoppelt. Sein Gewand war zerrissen, alles Geräte in der Kammer zerschlagen, Blutspuren und Haarbüschel ringsumher; der Mann mußte sich furchtbar gewehrt haben. Die Leute banden ihn los. Als sie ihm ins Gesicht blickten, erschraken sie sehr, sie glaubten, er sei wahnsinnig geworden. Er aber fragte vor allem: »Sind die Leute noch alle in der Schenke?« – »Ja, auch die Hanusia.« – »Dann kommt!« Aber sie mußten ihn im Gehen stützen. Sie vermieden es, ihm dabei ins Antlitz zu sehen – es ward ihnen zu unheimlich dabei. Denn dies Antlitz war aschgrau und ganz starr, nur die Augen zeigten seltsam wechselnden Ausdruck: Bald lohte es wild in ihnen auf, bald wurden sie starr, fast glasig, wie die eines Toten.
Um die Schenke war alles wach. Drinnen mühten sich die Weiber wehklagend um die Hanusia. Vor der Schenke standen die Männer, keiner sprach laut, nur zuweilen ging ein dumpfes Flüstern durch die Reihen. Der Rausch war ihnen verflogen; es gibt Dinge, so furchtbar grell, daß sie selbst in das umnebeltste Hirn dringen und die Dünste daraus vertreiben.
Als der Fedko herankam, wurden nur wenige Zurufe laut – es liegt dies nicht in der Natur dieses Volkes, welches langsam und bedächtig ist und unsäglich zäh. Schweigend gaben sie ihm Raum, der Hritzko führte ihn zu einer Bank, darauf ließ er sich nieder. Dicht drängten die Bauern heran, es war eine dumpfe Stille unter den zweihundert Menschen. Nur ein Greis rief schluchzend: »Du armer, guter Mensch!« Aber die anderen wiesen ihn zur Ruhe: »Jetzt hat nur der Fedko zu befehlen, wie es zu geschehen hat!«
Was geschehen mußte, war ihnen allen klar ...
Der Fedko erhob sich. »Ihr Leute« – begann er. Aber noch konnte er nicht sprechen. Wie er so die geschmückten Leute ansah, geschmückt zu seinem Hochzeitsfeste, und bedachte, was nun gekommen und was er ihnen nun sagen müsse, da war's ihm, als presse eine eiserne Faust seine Kehle zusammen. Eine jähe, schwere Träne brach ihm aus den Augen und rollte die Wange herab. Dann begann er wieder; »Ihr wißt alles, jenes von der Xenia und das Jetzige. Dieser Mensch ist ein wildes Tier, und wir sind ohne Schutz in seine Hand gegeben und ohne Recht; des Kaisers Schreiber ist ein Pole und sein Freund. Da müssen wir selbst uns rächen und verteidigen; es ist nicht unsere Wahl, wir müssen. Wie wir uns zusammentun, den Wolf totzuschießen, so wollen wir jetzt alle hingehen und diesen Menschen aufhenken – es ist derselbe Fall. Wer tut mit?«
»Wir alle!« scholl es ihm stürmisch entgegen.
»Dann kommt!« ... Fast lautlos setzte sich der Zug in Bewegung und wälzte sich langsam durch die Dorfgasse. Hier und da blieb ein Häuflein stehen, Hacken, Sensen, alte Gewehre wurden herbei gebracht. Die Männer bewaffneten sich. Sie blickten ernst drein; ihnen war wirklich zumute, als zögen sie zur Wolfsjagd aus. Jeder weiß: »Es kann mein Tod sein.« Aber jeder weiß auch: »Es ist meine Pflicht.«
So zogen sie in der roten Morgenfrühe stumm auf das Schloß zu.
So begann der Aufstand von Wolowce ...
Der Edelhof von Wolowce ist anders gebaut als die meisten Herrensitze in Podolien. Das sind in der Regel große, stattliche Steinhäuser aus dem achtzehnten Jahrhundert, wo dieser Adel noch viel Geld hatte, oder kleine ärmliche Steinhäuser aus dem neunzehnten Jahrhundert, wo er wenig Geld mehr hat. Stilvolle Prachtbauten finden sich überaus selten, schier noch seltener altertümliche Burgen. Es ist eben in alten Zeiten gar zu viel Sturm, Krieg und Not über das arme Land dahingebraust. Da kamen Mongolen und Kumanen, Türken und Rumänen, Schweden, Tataren und Moskowiter und was der sauberen Gäste mehr waren. Was nicht niet- und nagelfest war, das stahlen sie, und was sich nicht in den Schnappsack stecken ließ, so Burgen und Stammwarten, das zündeten sie an. So steht in dieser Landschaft nur weniges aufrecht aus vergangenen Tagen. Und das wenige läßt man – rascher als nötig – verkommen.
Darum ist die alte, düstere Feste von Wolowce mit den geschwärzten Riesenmauern, den engen Fensterlein und Schießscharten, den drohenden Ecktürmen eine große Rarität im Lande. Es stecken in dem Bau viele gute, große Quadersteine, eine seltene Ware in der Ebene, und Herr Wincenty hätte sie gerne versilbert. Aber noch stehen die Steine zu fest gefügt. Diesen soliden Kitt der Altvordern hat der Mann oft verwünscht, nur in jenen blutigen Tagen nicht, welche der Hochzeit des armen Fedko folgten, da ward ihm dadurch das armselige Leben gerettet. Freilich half dazu auch die eigentümliche Lage der Feste. Hart, ganz hart an den Fluß hin ist sie gestellt, an den Sereth. Das ist ein trüber, langsamer Geselle; aus stillen Teichen windet er sich zögernd hervor und schleicht langsam seine freudelosen Wege durch die öde Heide und bleibt zuweilen gar stehen und bildet große Sümpfe, bis sich seine gelben Wasser mit dem Blau der Dnestrwoge mischen und rasch fortgerissen werden gegen den Pontus zu. An einer der Stellen, wo der Träge stehenbleibt, ist die Feste aufgerichtet, und so ist sie von der Flußseite her durch den Sumpf hinlänglich gedeckt. Auf der Landseite aber ist ein breiter und tiefer Graben gezogen, über den nur eine schmale Holzbrücke zum Tore führt, und im Graben stehen dunkle, ewig stille Wasser, welche im Sommer bedenklich zum Himmel emporduften. Aber in jenen Frühlingstagen haben sich dieser Sumpf und dieser Graben um den Hals des Herrn Wincenty gleichfalls sehr verdient gemacht. Das Hauptverdienst freilich gebührt dem katholischen Pfarrer von Okulince oder vielmehr nur zweien seiner Eigenschaften, erstens, daß er eine Nichte hatte, zweitens, daß er ein dicker Mann war, welcher unmöglich rasch gehen konnte. Darum ist Wincenty Barwulski schließlich doch beim Leben geblieben.
Des Menschen Herz wird häufig von Ahnungen beschlichen, besonders des reinen, des feinfühligen Menschen Herz. Darum befahl Herr Barwulski in jener Nacht seinen Knechten, als es schon gegen Morgen ging: »Nun geißelt mir das Weib noch ganz gehörig im Hof unten, dann aber rasch hinaus mit ihr, sonst kommen am Ende diese dummen Bauern und holen sie ab.« Darum beruhigte sich sein Herz nicht, auch nachdem dies geschehen war, und er rief wieder seinem getreuen Leibdiener, dem krummen Michalko: »Der Mikita soll die Braunen vor die Britschka spannen, wir fahren nach Barnow.« Und in Gedanken fügte er hinzu: »Ich weiß nicht, aber mir schwant, daß mir dieser Fedko am Ende sonst noch heute hier Unannehmlichkeiten macht; hat schon gestern so seltsam dreingesehen, das Hundsblut.« Aber ehe der Mikita wach ward und das Gefährte gerüstet, wurde es heller Tag. Und als der Michalko mit zwei anderen Knechten die Riesenflügel des schweren, uralten, eisenbedeckten Tores öffnete, damit die Britschka hinausfahren könne, da blieben sie entsetzt stehen und schlugen darin eiligst die Flügel zu. In demselben Augenblicke ward auch droben im Fenster des ersten Stockwerkes der gelbgrüne Kürbiskopf des Herrn Wincenty einen Moment lang violett und dann entsetzlich gelb. Denn da wand sich schon der Zug der Bauern zwischen den Obstgärten des Dorfes hervor, auf die Heide hinaus, der Feste zu. Langsam und lautlos schritten sie, wie das Verhängnis schreitet, und das junge rote Sonnengold umglitzerte ihre Sensen ...
»Da kommt der Tod!« ... So durchzuckte es droben den Wincenty, so dachte unten in der Einfahrt der krumme Michalko. Aber während darauf der adelige Wicht nur die Hände zitternd vors Gesicht schlug und ein halbvergessenes Gebet zu lallen begann, handelte der Knecht kaltblütig und klug für sich und ihn. Denn ein Halunke war dieser verkrüppelte Diener, ein Halunke, der jedem Galgen zur Ehre gereicht hätte; aber ein Mann war er dabei, das bewies er in jener Stunde. Er befahl, die anderen Knechte gehorchten. Binnen wenigen Minuten war das Tor verrammelt, die Dienerschaft bewaffnet und an die Schießscharten verteilt. Es waren mit dem Michalko vierzehn Mann im Schlosse; ferner einige Weiber, darunter Herr Wincenty, die bargen sich heulend unten im Erdgeschoß ... »Pfeife ich einmal, so schießt jeder zweite Mann und in die Luft; pfeife ich zweimal, so schießt ihr alle und in die Menge!« So befahl der Krumme, öffnete die Mitteltür des Stockwerks und trat auf den kleinen Balkon ob der Einfahrt.
Auf etwa fünfzig Schritte von dem Brücklein waren die ersten des Haufens bereits herangekommen. »Halt!« rief Michalko. »Was wollt ihr?« Stumm drängten sie vorwärts. »Halt! Oder es ist euer Tod!« wiederholte er und pfiff; ein Knall aus sieben Büchsen, die Kugeln zischten über die Köpfe der Menge. Sie stutzte, wich einige Schritte zurück. Der Michalko nützte den Moment. »Brüder! Was wollt ihr denn eigentlich?! Lebend betritt niemand die Brücke, das sage ich euch! Aber vielleicht vertragen wir uns im Frieden? Redet – was sucht ihr im Schlosse?« Darauf erwiderte zuerst nur ein lustiges Gefiedel – der tolle Jacek. Dann erhob ein Urlauber in den letzten Reihen das Gewehr, zielte und schoß auf den Knecht. Die Kugel bohrte sich ob dessen Haupt ins Mauerwerk. Aber der tapfere Halunke lachte: »Also um meinetwillen gebt ihr dem Schlosse die Ehre? Oder war es ein Irrtum? Haltet ihr mich für einen andern oder gar für einen Rehbock? So sprecht doch ...!«
Derlei wirkt immer; es fand sich kein zweiter Schütze, der auf den kleinen Menschen angelegt hätte, welcher sich da oben auf dem offenen Balkon als Zielscheibe hinstellte.
Der Fedko beriet flüsternd mit seinem Adjutanten, dem Hritzko. Sie hatten nicht daran gedacht, ob sie Widerstand finden würden oder nicht; es war ihnen auch gleichgültig; den Wincenty mußten sie fangen und henken, das stand ihnen fest. Und einige seiner Knechte dazu, daran dachten sie so nebenbei. Nun sahen sie, daß die Sache etwas schwierig sei. Das Tor war verrammelt, die Schießscharten besetzt. Wohl hatten auch sie einige Gewehre, aber was nützte das gegen die Mauern! Das Eisentor mußte eingerannt werden, das war klar. Aber die Büchsen der Belagerten bestrichen den Zugang, das hölzerne Brücklein. »Es muß sein!« sagte der Fedko seinen Leuten. »Aber einige von uns müssen sterben.« – »Was liegt daran?« antworteten sie ihm. »Wenn es eben sein muß ...« Es ist ein Zug des Fatalismus unter allen Slawen: bei diesem Stamme ist er ins Ungeheure gesteigert. »Ich falle ja doch nur, wenn es mir bestimmt ist«, dachte jeder. »Der Mensch muß eben seine Pflicht tun ...«
Aber der Fedko hatte Mitleid mit ihnen. Er selbst war vernichtet und zerschmettert wie vom Blitz der Baum, aber die anderen sollten es nicht um seinetwillen werden. Der Wolf mußte freilich getötet werden, aber vielleicht ging das, ohne daß Menschen ihr Blut vergossen. Es mußte versucht werden. Eine unheimliche eisige Ruhe war über den Mann gekommen, nur in einem Winkel seines Bewußtseins fühlte er sein wahnsinniges Weh lauern wie eine Wolke.
Er ließ die anderen zurücktreten, er allein trat vor, bis auf das Brücklein. »Höre, Michalko!« begann er. – »Ich höre!« – »Wir suchen den Herrn.« – »Was wollt ihr von ihm?« – »Das ist unsere Sache.« – »Aber meine auch; ich hüte ihm das Haus.« – »Wenn du es wissen willst, wir bergen es nicht: wir wollen ihn henken!« – »Gut! Aber da müßt ihr ihn in Barnow suchen, er ist in die Stadt gefahren.« – »Du lügst!« – »Ich lüge nicht!« – »Du kannst es beschwören?« – »Ja!« – »So wahr deine Seele dem Herrn Christus zugehören möge und nicht dem Teufel?« – Der Michalko zauderte einen Augenblick; es ist ein furchtbarer Schwur. Aber meine Seele gehört auch ohnehin unter jeder Bedingung dem Teufel, dachte er. »Ja!« erwiderte er laut.
»Du lügst!« sagte Fedko kalt. »Du bist ein meineidiger Hund, ärger wie ein Jude, ja sogar ärger wie ein Pole. Aber ich spreche weiter mit dir, weil ich Menschenleben schonen will. Du bist ein Galgenstrick, aber ein Ruthene bist du doch! Michalko, ich frage zum letztenmal: Ist der Herr da drin? Schwöre es mir, so wahr deine tote Mutter Ruhe habe im Grabe! Wenn du auch da ›Ja!‹ sagst, so ziehe ich mit meinen Leuten ab und schlage den Wolf in der Stadt tot!«
Der kleine Mensch erblaßte; zu allem auf Erden war er fähig, aber seiner toten Mutter im Grabe die Ruhe zu rauben, das bringt kein Sohn dieses Volkes übers Herz. Zweierlei trägt dazu bei: ein sehr düsterer und ein sehr lichter Zug dieses seltsam gearteten Volksgemüts – der Aberglaube, welcher sich sehr viel mit den »Ruhelosen« beschäftigt, so daß just in diesem Stamme die Sage von den Vampiren geboren ward und von da zu den Polen, Moskowitern und Rumänen überging, und andererseits eine rührende Kindesliebe.
Der kleine Schurke stritt einen schweren Kampf, aschgrau wie die Steinwand wurde sein Gesicht; »das kostet mir den Hals«, flüsterte er dumpf, dann aber rief er gellend: »Du Narr, du Hahnrei, du glücklicher Bräutigam der Xenia, du glücklicher Gatte der Hanusia! – Höre! Der Herr ist im Schlosse! Hole ihn, wenn du Mut hast ...!«
Wild heulten die Bauern in Wut auf, aber der Fedko stand unbeweglich und winkte sie zur Ruhe. Neben den Michalko war Mikita, der Kutscher, auf den Balkon getreten, ein junger schlanker Bursche. Er war sehr blaß, aus den weit aufgerissenen Augen starrte die Todesangst, und mit bebender, durchdringender Stimme schrie er: »Hört an, ihr Leute, hört an mit Barmherzigkeit, was euch alle Knechte sagen lassen. Sofern sich eure Rache mit dem Herrn allein begnügt, wollen wir sogleich das Tor öffnen und keinen Schuß tun. Aber schwöre uns, Fedko, daß wir bei Leib und Leben bleiben. Wenn ihr uns durchprügeln wollt, in Gottes Namen ...« – »Du Hund!« schrie der Michalko wütend. »Du verräterische Milchfratze!« Er sprang an dem schlanken Jungen empor und rang ihn blitzschnell an der Gurgel nieder und spie ihm ins Gesicht. »Der Abhub von des Herrn Tische hat dir geschmeckt, und der Abhub von des Herrn Bette hat dir geschmeckt, und in der großen Not willst du ihn verraten? Geh zu den Bauern, geh!« Und mit übermenschlicher Kraft schwang er den Körper des Röchelnden empor und stürzte ihn über die Brüstung des Balkons hinab in die Tiefe. Auf dem Steinrande des Schloßgrabens schlug der Kopf des Mikita auf und zerschellte, jäh stürzte der Körper in die Flut, daß sie hoch emporsprang, dann schlossen sich die dunklen Wasser, und nur ein leichtes Kräuseln war noch auf ihrem Spiegel ...
Das war der erste Mensch gewesen, der im Aufstand von Wolowce sein Leben lassen mußte.
Einen Augenblick stand alles starr und atemlos. Dann sprang der Krumme vom Balkon ins Gemach zurück, und im gleichen Moment kam aus einer der Schießscharten ein Blitz, ein Knall, ein leichtes blaues Wölkchen, und Fedko wankte. Die Flinte entsank seiner Hand, der braune Serdak färbte sich dunkel. Das war der erste und letzte Schuß gewesen, den Herr Wincenty selbst getan. Er hatte sich, als alles stille geblieben, aus seinem Verstecke hervor und an die Schießscharte gewagt. Da sah er den Todfeind so allein und nahe vor dem Schlosse stehen, so recht zum Schusse bequem. Da hatte er's gewagt loszubrennen, weil es niemand merkte.
Des Führers Wunde entflammte die Bauern. »Urraha! Urraha!« erhoben sie betäubend den uralten Schlachtruf der Kosaken, und vorwärts stürmten sie über das Brücklein und auf das Tor. Fürchterlich hallte der wütende Schlag der Äxte auf das Eisen, fürchterlich das Rufen, dazwischen knatterte das Gewehrfeuer der Belagerten, das Ächzen, der schrille Notruf der Verwundeten, das Wehegeschrei der Weiber und Kinder im Hintergrunde. Und dazwischen immer und immer das Gefiedel des Wahnsinnigen ... Aber über all dem Schlachten, Schreien und Streiten, über all den unsäglichen Nöten spannte sich, tief und mild leuchtend wie ein ruhig sinnendes Auge, der lichte Frühlingshimmel ...
»Urraha!« scholl unablässig der Schlachtruf der Männer. »Heilige Jungfrau, dich rufen wir!« klang unablässig in ihrem Rücken der schluchzende, durchdringende Ruf aus den hundert Frauenkehlen. Aber nichts nützte das Kampfgeschrei, nichts die Tapferkeit, nichts das Beten. Der Kampf war zu ungleich. Auf Erden siegt, nicht wer das bessere Recht, sondern wer die bessere Waffe hat. So hat es sich allzeit und allorts und allimmer begeben, und so begab es sich auch an jenem Frühlingstage in diesem abgelegenen Winkel der Erde, da sich ein Häuflein Gemarterter gegen ihren Zwingherrn erhob. Der Kampf war zu ungleich. Eisen vermag nichts gegen Eisen, und so widerstand das Tor den Äxten. Die Bauern aber wurden reihenweise durch die Salven niedergemäht. Auch die vorderste Reihe, die dicht am Tor stürmte, stand nicht ganz gedeckt, denn sie konnte aus den Schießscharten der vorspringenden Ecktürme beschossen werden. Und so mußten die Bauern endlich die toten oder verwundeten Körper der Ihrigen aufladen und sich aus der Schußweite zurückziehen.
Kaum eine halbe Stunde hatte das Schlachten gewährt, die sechste Morgenstunde war knapp vorbei; der Tau blitzte auf den Gräsern mit den Blutstropfen um die Wette, die Lüfte wehten kühl und duftig – ein wonniger Lenzmorgen, und so viel Jammer auf der Erde! Kaum eine halbe Stunde hatte das Schlachten gewährt, und acht Menschen lagen erschossen und wohl fünfmal so viele verwundet. Von den Knechten im Schlosse war einer tot, einer verwundet. Beide hatte der Hritzko Barila gefällt. Er war der einzige gute Schütze unter den Bauern, der zugleich ein gutes Gewehr hatte. Da hatte er sich nun vor das Brücklein hingekniet, das Gewehr im Anschlag, und hatte scharf gelugt, aus welcher Scharte der Blitz hervorkam und das blaue Wölkchen. Und wie sie hervorkamen, so fuhr auch seine Kugel in die Scharte. So hatte er einen Knecht ins Auge, den krummen Michalko ins Schulterblatt getroffen. Die übrigen Toten und Verwundeten waren Bauern. Herzzerreißend scholl das Jammern ihrer Schwestern, Weiber und Mütter ...
Herr Wincenty war ein schlechter Schütze gewesen; Fedko hatte nur eine stark blutende, aber leichte Wunde im Oberarm erhalten. Kaum litt er, daß man sie verbinde, dann war er wieder ganz Tat. »Beleuchtet die Kirche wie am höchsten Festtag, bahrt dort die Toten auf, alle in einer Reihe – für eine heilige Sache sind sie gestorben. Die Verwundeten schafft in ihre Häuser. Gregori Barila, des Hritzko Bruder, fährt nach Okulince um den Feldscher.« Dann berief er die Ältesten zum Kriegsrat. »Tagsüber können wir nichts ausrichten. Wir müssen die Nacht abwarten, wo die Hunde auf die Stürmenden nicht zielen können. Dann drauf und dran auf das Tor und zugleich brennende Pechkränze in alle Fenster. Man ergibt sich doch lieber, ehe man verbrennt.« Alle stimmten zu. Dann schlug er vor, wie man die Zeit bis zur Dämmerung nütze. »Einige winden mit den Weibern die Pechkränze, andere halten das Schloß im großen Halbkreis umschlossen, daß sich die drinnen nicht mit den Barnowern in Verbindung setzen. Der Rest reitet in die nächsten Dorfschaften, sagt den Leuten, was hier geschehen ist, bittet sie, uns zu helfen. Auch bei der Wolfsjagd, im Winter helfen sie uns, heute halten wir Wolfsjagd im Frühling. Wir bedürfen Verstärkung, mir schwant, daß es des Kaisers Schreiber in Barnow erfährt und mit den ›Spitzhauben‹ kommt. Zwei Bursche auf den Glockenturm, sie sollen die Notglocke läuten, daß es die Leute in den Einschichten hören.«
So geschah's. Drinnen im Dorfe wurde das Brandgeräte gefertigt, und zugleich hallte jedes Haus vom Jammer über die Toten, die Sterbenden, die Verwundeten. Aber draußen auf der Heide, die in der ersten Morgenfrühe von so gräßlichem Lärmen widergehallt, war es jetzt totenstill. Im weiten Halbkreis um die Feste glitzerten die Sensen der Bauernwache; auf der Flußseite wachte für sie der Sumpf. Nur zuweilen kam neuer Zuzug singend gezogen. Oder der Jacek fiedelte urplötzlich einen Tanz. Oder die Notglocke erhob wieder ihre Stimme, und die kurzen Schläge schrillten unheimlich durch die laue Luft ...
Gegen Mittag kam das »Wort Gottes« von Wolowce keuchend auf die Heide gelaufen. Vergebens hatte sich die Pfarrerin bemüht, es früher aus dem Bette zu bringen; das »Wort Gottes« hatte sich gestern bei der Hochzeit gar zu schwer besoffen. Jetzt freilich kam es so rasch als möglich und schlug schon von weitem die Hände über dem Kopf zusammen. »Fedko!« rief es von weitern. »Das ist ja Empörung!« – »Notwehr!« erwiderte dieser kalt. – »Aber Gottes Wille ist, daß man sich bei der Obrigkeit das Recht sucht!« – »Wenn man es dort kriegen kann! Im übrigen scheint es mir, Hochwürdiger, als wüßtest du Gottes Willen nicht immer ganz genau. Erinnere dich an die Schlußworte deiner gestrigen Traurede!« – »Aber du kannst ja noch glücklich werden!« – »Glücklich!« lachte der arme Mann bitter auf. Dann fügte er leise und dumpf hinzu, daß es wie ein unterdrückter Weheschrei klang: »O wär' ich tot!« – »Geh heim, Hochwürdiger!« befahl er dann. »Oder hilf die Kranken pflegen. Jedenfalls aber fahre heute nicht nach Barnow, es könnte dir unangenehm werden!«
Verdutzt, sehr verdutzt ging das »Wort Gottes« von dannen.
Gleichwohl erfuhr man in Barnow bereits um die Mittagsstunde von dem Aufstand. Die erste unbestimmte Kunde hatte ein Bettler gebracht. Dann kam ein Bote der Belagerten, ein zehnjähriger Knabe. Er sah scheußlich aus, ganz so, wie in der ruthenischen Sage der Moorteufel – über und über mit einer schwarzen Schlammkruste bedeckt. Er hatte sich aus einem Fenster des Schlosses in den Fluß gestürzt und war hindurchgeschwommen und hindurchgewatet; es war ein Wunder, daß er nicht erstickte. Er brachte im Gürtel ein Schreiben des Wincenty an Teofil von Strusek, den kaiserlich-königlichen Herrn Bezirksvorsteher und Duodeztyrannen von Barnow. Fast unleserlich waren die Schriftzüge, so sehr hatte dem Wicht die Hand dabei gezittert. »Die Munition gänzlich verschossen ... das Tor aus den Fugen ... dreitausend wütende Bauern ... wenn nicht augenblicklich Hilfe kommt, sind wir verloren.« – »Verloren!« wiederholte Herr Strusek und rannte in seinem Büro umher. »Verloren!« und verlor den Kopf. Dann raffte er endlich sich und seine bewaffnete Macht auf. Es waren ganze vier Gendarmen. Aber der Bezirksvorsteher Strusek liebte und achtete den Menschen Strusek viel zu sehr, um ihn in eine Gefahr zu stürzen. Er beorderte seinen Untergebenen, den k. k. Bezirkskommissär Ladislaus Krapulinski. »Schaffen Sie Ordnung im Dorfe!« befahl er kurz und bündig. Und so stieg die Staatsgewalt, fünf Mann hoch, auf einen Leiterwagen und rollte den »dreitausend« Bauern entgegen.
Es klapperten aber einem Fünftel der Staatsgewalt auf dem Wege die Zähne sehr bedeutend. War just kein Held, dieser Ladislaus Krapulinski. War überhaupt ein sonderbar Stück Menschheit, dieser k. k. Bezirkskommissär, wert, daß man es hier so im Vorbeigehen betrachte. Ein hoffnungsvoller Jüngling in den Vierzigern, eine langgestreckte plumpe Gestalt mit ungeheuren Händen und Füßen, die er komisch nach auswärts streckte, der Rücken gekrümmt von Milliarden und aber Milliarden Verbeugungen, die er im Leben gemacht, das Gesicht, in welchem eine rötliche Nase funkelte, unsäglich süßlich. Der Mann hatte nie studiert, war in seiner Jünglingszeit Laborant in einer Apotheke gewesen; wodurch war er k. k. Kommissär geworden? Durch Verbeugungen! So war er Schreiber, so Kanzlist, so Bräutigam der ältlichen Schwester seines Chefs und Konzeptsbeamter, durch weitere Verbeugungen – die lästige Brautschaft hatte er, nachdem der Zweck erfüllt war, natürlich als Ehrenmann abzuschütteln gewußt – endlich k. k. Bezirkskommissär geworden. Freuen wir uns, daß eine solche Karriere im heutigen Österreich nicht mehr möglich ist. Oder gäbe es noch heute im Osten solche Beamte? ... An wen er sich sacht heranwand, dieser k. k. Bezirkskommissär Ladislaus Krapulinski, den Rücken gebeugt, das Antlitz sanft und süß schmunzelnd, der hatte das unheimliche Gefühl, als krieche da ein giftiges Reptil an ihn heran. Freilich hatte leider nicht jeder sogleich das richtige Gefühl.
Aber der Fedko hatte es.
Kurz und drastisch war die Szene. Als dem Fedko das Nahen der fünf berichtet wurde, versammelte er einen Haufen seiner Leute um sich und ließ die Staatsgewalt herankommen. Es war ergötzlich – oder war es mehr traurig? –, wie sie herankam. Die vier Gendarmen schritten, je zwei und zwei, langsam und ruhig daher. Aber vor ihnen, dann neben ihnen und schließlich hinter ihnen trippelte mit knickenden Beinen, das totenblasse Antlitz ins Süßliche verzerrt, der k. k. Ladislaus. Als sie dicht vor dem Bauernführer standen, mußte er freilich vorschleichen. Demütig zog er den Hut und grüßte ergebenst. Dann begann er zitternd: »Mein lieber Herr Fedko ...« Aber haarscharf schnitt ihm der Bauer das Wort ab. »Kommissär, du weißt, daß ich kein Herr bin, und ich weiß, daß ich dir nicht lieb bin. Spare deine guten Worte, sie nützen nichts. Der Wolf muß erschlagen werden. Zu bösen Worten wirst du es nicht bringen, denn du scheinst mir ein bißchen Furcht zu haben, aber auch das würde nichts nützen. Geh heim, ich rate dir gut, geh schnell heim!«
Krapulinski folgte, er drückte sich vorläufig gehorsam hinter die Gendarmen. Dem Postenführer, einem alten Soldaten, stieg die Schamröte ins Gesicht. »Im Namen des Kaisers –«, begann er.
Aber auch ihn ließ Fedko nicht weitersprechen. »Kamerad, du bist ein braver Kerl, aber sieh doch ein, daß du hier unnütz bist. Reden nützt nichts, und was das Handeln betrifft, so seid ihr vier gegen dreihundert. Was aber das Wort betrifft, welches du da gesprochen hast, das Wort, daß ihr in des Kaisers Namen hier seid, so möchte ich noch mit dem Furchtsamen darüber reden. Komm nur heran, Pole, zittre nicht so, ich beiße dich nicht. Höre an, was ich dir sage, und erzähle es dem Hauptschreiber in der Stadt. Das Blut, das heute hier geflossen und fließen wird, ihr habt es auf dem Gewissen und gegen euch zeugt es vor Gott. Wenn ihr gewaltet hättet, wie es der Kaiser will, gerecht und gut, wenn ihr uns geschützt hättet gegen die Bestien, dann hätten wir uns nicht selbst schützen müssen. Pole! Du kommst an unserer Kirche vorüber, steige ab und sieh dir die stillen Männer an, die dort liegen, sie sind heute früh noch sehr laut gewesen. Und denke dann auf dem Wege darüber nach, Pole, warum sie jetzt still sind, denke gründlich darüber nach. Und nun – geh!«
Sie gingen und kamen in Barnow bei sinkender Sonne an. Auf der Treppe des Amtes erwartete sie Herr Strusek. »Es hat nichts genützt!« berichtete Ladislaus. »Kein Imponieren und keine Drohungen. Sie haben sich vor mir gebeugt und den Saum meines Rockes geküßt, aber auseinandergehen wollen sie nicht, ehe sie Herrn Barwulski erschlagen. Fünftausend Mann sind's beiläufig. Gegen mich, wie gesagt, waren sie sehr devot und haben mir sogar einen Gruß an den Herrn Bezirksvorsteher auf die Seele gebunden, aber sonst sind sie sehr wütend. Da kann nur Militär helfen –«
Aber woher Militär nehmen? In Barnow stand keines; in der Kreisstadt, welche sechs Meilen fern war, eine Eskadron Husaren. So telegraphierte denn Herr Strusek an den Kreishauptmann: »In Wolowce und Umgebung ungeheurer Bauernaufstand losgebrochen. Achttausend Bauern zusammengerottet, plündern und morden in allen Edelhöfen. Größte Gefahr für Stadt. Augenblicklich Regiment schicken.«
Wie ein blutroter Ball klebt die Sonne am westlichen Rande der Heide, und stumm blicken ihr die Aufrührer nach. Vielleicht zuckte es durch jedes Herz und Hirn: »Wer weiß, ob ich sie morgen aufgehen sehe?« ... Die Nacht brach ein, und es war eine furchtbare Nacht, eine Nacht der Greuel und der Schrecken, und mancher Mutter Sohn hat an jenem Abend die Sonne wirklich zum letzten Male gegrüßt; als sie wieder aufging, da lag er tot, erschossen oder erschlagen, erhenkt oder verbrannt. Es ist Unmenschliches geschehen in jener Nacht, und schließlich würgte die Bestie die Bestie ab; es ist Unsägliches geschehen – sollte es hier dennoch breit und behaglich gesagt werden?
Nur kurz, was unbedingt nötig. Unter dem Schutze der Nacht stürmten die Bauern noch einmal gegen das Tor an. Wieder fruchtlos. Wieder wurden ganze Reihen durch die Büchsen der Knechte niedergestreckt. Sie schossen eben in die dunkle festgeballte Masse und trafen auch so sicher, ohne zu zielen. Wieder wichen die Bauern zurück.
Aber bald nahten sie wieder, mit Pechkränzen, Fackeln und anderem Brandgeräte. Das Dunkel wich grellem, rotem Licht. Nun hätten die Knechte ihren Feind noch sicherer niederschießen können. Aber ihr Feuer schwieg, sie hatten sich verschossen. Das merkten die Bauern und kamen dichter heran, und auf ein Signal flogen die Feuerbrände an hundert Stellen zugleich, mit Steinen beschwert, ins Schloß. Manche Fackel erlosch, in manchem Zimmer löschten die Knechte, aber es war vergebliche Arbeit. Eine halbe Stunde später schlug die helle Lohe zu jedem Fenster heraus, zum Dache empor und in den dunklen Nachthimmel hinein. Das Schloß und seine Bewohner waren verloren, und schauerlich scholl das jubelnde »Urraha!« der Sieger durch die Nacht.
Nur die beiden Ecktürme und das massive Geschoß unmittelbar über der Einfahrt blieben vom Feuer verschont. Letzteres war günstig für die Bauern; das Eisentor geriet nur in mäßige Glut, und das Holzbrücklein blieb erhalten. So konnten sie noch einmal gegen das Tor heran, und diesmal ging es aus den Fugen. So stürzten sie durch Rauch und Flammen in die Feste.
Auf manchen Leichnam stießen sie, aber auf keine lebendige Seele. »Sucht nur in den Ecktürmen!« befahl Fedko. Er hatte richtig vermutet. Aber auch in einem der Türme waren die Geflüchteten bereits im Rauch erstickt. Es waren die Weiber, welche im Schlosse gewesen, dann drei Knechte, darunter der Michalko. Sie schafften die Leichen ins Freie, und siehe! Der Michalko begann in der reinen Luft wieder zu atmen. Da banden sie ihn und schleppten ihn jubelnd auf die Heide. Das war ihr erster lebendiger Gefangener. Im anderen Turme fanden sie deren noch vier: drei Knechte und Herrn Wincenty. Er war vor Angst bewußtlos geworden. Die Bauern warfen sich auf ihn, als man ihn vorbeischleppte. Aber Fedko deckte ihn mit seinem eigenen Leibe. »Nicht von eines ehrlichen Menschen Hand, durch den Strick soll der Wolf verenden.«
Sie verließen darauf das brennende Schloß und scharten sich auf der Heide um ihre fünf Gefangenen. »Und darauf wurde leider viel Zeit vertrödelt«, hat später der Hritzko Barila vor den Richtern gesagt. Da zimmerten sie zuerst fünf regelrechte Galgen. Dazu brauchten sie einige Stunden, und es wurde heller Tag darüber. Und dann henkten sie die Knechte nacheinander auf, damit Herr Wincenty einen guten Vorgeschmack habe. Als Wincenty sah, daß er nur noch wenige Minuten zu leben habe, stürzte er vor Fedko nieder und bat, ihm einen Beichtvater zu gestatten. Und dieser Bauer hatte, wie erwähnt, ein schwärmerisches Herz; er gewährte die Bitte und schickte um den katholischen Pfarrer im nahen Okulince. Inzwischen knüpften sie zum Zeitvertreibe den Michalko auf und schnitten ihn wieder ab, um das Spiel noch einmal wiederholen zu können ...
Der Pfarrer von Okulince ließ lange auf sich warten. Denn er hatte eine Nichte, und diese Nichte war zärtlich und wollte ihn nicht zu den wütenden Bauern ziehen lassen. Und als sie ihn endlich aus ihren Armen ließ, da zog er langsam, denn er war dick. Und als er endlich ankam, da waren bereits andere Leute früher gekommen.
Das war gegen die neunte Morgenstunde. Die Bauern hatten den Michalko zum zweiten Male vom Galgen geschnitten und machten Miene, ihn zum dritten Male aufzuhängen. Da dröhnte der Boden – erst fern, dann näher und näher – dumpf hallend wie ein schweres Wetter – helle Fanfaren erklangen drein –, die Husaren waren da.
Der Kampf war kurz und eigentlich kaum ein Kampf zu nennen. Ein panischer Schreck hatte die Bauern ergriffen, sie warfen die Sensen fort und liefen davon. Nur einer brauchte sein Gewehr, der Fedko, der erschoß einen Husaren. Das war der letzte Tote im Aufstand von Wolowce. Rudelweise wurden die Bauern gefangen, die Untersuchung begann, ein hartes, sehr hartes Geschick ereilte die Unseligen, aber ein Todesurteil ward nicht ausgesprochen.
Der einzige, dem der Strick zugedacht war, war entkommen. Der Fedko hatte sich ins Hochgebirg' geflüchtet. Er wurde ein »Haidamak«, wie die Räuber in den Karpaten heißen. Aber ein sonderbarer Räuber: was er den Reichen nahm, gab er den Armen.
Darum verehrten ihn die Bergbewohner abgöttisch und alle Versuche, ihn zu fangen, waren vergeblich. Alle Preisausschreibung nützte nichts – den Fedko verriet keiner. Er war ja »unser Rächer«!
Aber er trieb es doch nicht lange. Der Michalko hatte einen Schwur getan, ihn zu töten, und er hielt den Schwur. Freilich! – Er hatte diesen Schwur an einer ernsten Stätte gelobt – am Galgen. So schlich sich denn der tollkühne Mensch ins Gebirge, lauerte dem Räuber auf und erschoß ihn.
Michalko und unser Herr Wincenty lebten in tausend Freuden fort. Der erstere lebt noch heute. So viele gute Menschen mußten sterben und verderben – nur diese beiden nicht. Denn die Tugend wird auf Erden gelohnt und das Laster gebührend bestraft ...
Das war der Aufstand von Wolowce, und diese traurigen Geschichten gingen mir durchs Herz, als ich an jenem Sommertage, fünfzehn Jahre später, im Schatten der Birken lag, neben dem »schwarzen Kreuz«, wohin mich die Schalmeien gezogen, die in der Ferne so zauberisch getönt.
Die Bursche saßen noch immer da. Ich erhob mich und trat auf sie zu. »Wie geht's denn jetzt dem Herrn Wincenty?« fragte ich.
»Jetzt geht's ihm endlich schlecht«, erwiderte der ältere und lachte.
»Wo ist er denn jetzt?«
»In der Hölle.«
»Also ist er tot?«
»Seit fünf Jahren.«
»An welcher Krankheit ist er gestorben?«
»Es war so der Schnaps ...«
»Und wer ist jetzt euer Herr?«
»Der Armenier –«
»Welcher Armenier?« – »Der Bogdan.«
»Wie heißt er sonst noch?«
»Sonst heißt er die Wanze.«
»Also seid ihr nicht zufrieden?«
»O ja!« erwiderte der Junge. »Der Vater sagt immer: ›Die Wanze beißt, der Wolf zerreißt. Und‹, sagt er, ›ein Engel wird doch nie Gutsherr in Podolien ...‹«
Engel brauchten es nicht zu sein, dachte ich, wenn es nur Menschen wären!
Dann ging ich langsam wieder der Stadt zu. Die weite Heide schwamm im warmen Rote der Abendsonne, nur das »schwarze Kreuz« hob sich dunkel vom leuchtenden Hintergrunde.
Es ward aufgerichtet, da die Hörigkeit von den Leibern dieser armen Menschen fiel. Wann kommt der Tag, da sie von ihren Seelen fällt?
Armes, armes Volk, wann kommt dein Tag?!