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In einem jener hohen, wenig eleganten Zinshäuser der Reisnerstraße in Wien, die dem Stadtpark zunächst liegen, aber aus ihren Fenstern keinen Ausblick mehr auf die schönen Anlagen gewähren, lebte zur Zeit, da diese erst noch aus jungen Setzlingen und fast schattenlosen Wiesen bestanden, eine tatkräftige und in ihren Kreisen wohlangesehene Dame, die verwitwete Frau Katharina Knittl, Edle von Santa Lucia. Wie schon dieser Name jedem Kundigen erzählt, war ihr Gatte ein kaiserlicher Offizier höheren Ranges gewesen, der sich seinen Adel im Kriege unter Radetzky erkämpft. Ein Pustertaler Bauernsohn, hatte sich Mathias Knittl durch Bravheit und Anstelligkeit während der langen Friedenszeit zum Hauptmann, dann durch die Geistesgegenwart, mit der er einen günstigen Zufall verwegen auszunützen verstanden, am blutigen Tage von Santa Lucia zum Adeligen und Ritter des Theresienordens, im Herbst darauf in Ungarn zum Major emporzuringen verstanden. Kurz nachher war ihm auch ein lange vergeblich ersehntes Glück zugefallen; die Tochter seines Obersten, welcher der vierzigjährige Leutnant bäuerlicher Abkunft einst kaum im stillen nachzuseufzen gewagt, hatte fünfzehn Jahre später dem adeligen Major ihre Hand gereicht. Daß das alternde Mädchen nur eben noch Spuren der einstigen Schönheit aufwies, störte ihn nicht, wie sie an seinem derben, durch die Jahre und den Kriegssturm nicht eben zarter gewordenen Tiroler Bauerngesicht keinen Anstoß nahm, und es war eine zärtliche und friedliche Ehe gewesen, der eine preußische Kugel bei Königsgrätz ein Ende gemacht. An der Spitze seines Regiments – er war inzwischen zum Obersten aufgerückt – war der Greis bei der Deckung des Rückzugs gefallen; er trug die Todeswunde vorn an der Brust, und sein Name gehörte zu jenen, welche die gut gesinnten Österreicher gerne im Munde führten, wenn sie sich in dem Elend jener Tage den Trost gönnen wollten, daß über die kaiserlichen Waffen ein unsägliches Unglück, aber keine Schmach hereingebrochen.
Frau Katharina hatte die Todesnachricht bereits am zweitnächsten Morgen, dem 5. Juli 1866, durch die Zeitung erhalten; kaum eine Stunde gönnte sich die starke Frau die Erleichterung, ihren Schmerz laut und leidenschaftlich auszuweinen, dann nahm sie ihre harte Pflicht auf sich, um fortan das Bewußtsein derselben auch nicht auf Augenblicke zu verlieren. Sie richtete sich auf, rief ihre beiden jungen, schlanken Töchter herbei, küßte sie auf die Stirne und die verweinten Augen und sagte dann kein Wort des Trostes oder der Zärtlichkeit, sondern nur: »Wir wollen die Trauerkleider herrichten!«
Drei Jahre vorher hatte sie ihren Vater verloren, ihr eigenes Gewand ließ sich also noch gebrauchen, hingegen waren die Mädchen inzwischen emporgewachsen; die ältere, Helene, zählte nun siebzehn, die jüngere, Anna, sechzehn Jahre. Aber Frau Katharina nahm die Kleider entschlossen zur Hand und begann zu trennen, zu wenden und zu schneidern; »es muß gehen«, sagte sie zuweilen vor sich hin, und die Worte mochten ebenso der Arbeit in ihrem Schoße gelten wie dem Plane ihres künftigen Lebens, den sie sich während der Beschäftigung mit Nadel und Schere ihrem Wesen gemäß scharf, bestimmt und unerschütterlich zurechtlegte.
Endlich war das Werk so weit gediehen, daß sie es den Töchtern überlassen konnte; sie selbst ging in das Kriegsministerium. Auf dem weiten Wege zur Stadt – die Familie hatte damals die Oberstenwohnung in der Gumpendorfer Kaserne inne – sah sie manche Szene des Jammers, die einem weicheren Gemüte das eigene Leid bis zur Fassungslosigkeit aufgerührt hätte, auch manchen empörenden Auftritt, der die Witwe des greisen, für sein Vaterland n den Tod gegangenen Soldaten wild erregen konnte; sie schritt scheinbar unbewegt dahin, nur daß ihr stattliches, wohlgenährtes Antlitz starr und totenbleich erschien.
Auch im Ministerium benahm sie sich gefaßt; nur als sie in jenen Wartesaal gewiesen wurde, der zum Büro des Auskunft gebenden Generals führte, und den großen Raum voll von schluchzenden, schwarzgekleideten Frauen und Mädchen sah, armen Witwen wie sie, verlassenen Waisen wie jene, welche sie daheim bei der ärmlichen Flickarbeit gelassen, zuckte es in ihrem Antlitz, aber da gab ihr eine unangenehme Begegnung rasch die Kraft zurück. Die junge Witwe eines alten Generals, in eine neue, fast kokette Trauerrobe gehüllt, eilte auf sie zu, umarmte sie und schluchzte: »Nun werden auch Sie mich verlassen, teure Freundin; Sie übersiedeln ja wohl in eine kleine Stadt!«
»Nein«, erwiderte Frau Katharina kurz, aber freundlich, »wir bleiben in Wien; das ist uns zum Glück möglich.«
Nach langem Harren endlich bei dem General vorgelassen, fragte sie, ob es möglich sein werde, die Leiche nach Wien bringen und hier bestatten zu dürfen. Der alte Herr, auch sonst nicht der Gewandteste und heute durch die unzähligen Bitten und Fragen, auf die er keinen Bescheid wußte, vollends wirr geworden, atmete auf, weil darauf leicht zu erwidern war. »Nein«, sagte er fast freudig, weil die Leiche in Feindeshand geblieben. Und dem Zwange der Gewohnheit gehorchend, wie er sie in diesen traurigen Tagen angenommen, fügte er hinzu, der Staat werde für die Hinterbliebenen sicherlich das mögliche tun.
Die Witwe blickte ihn fest an. »Das mögliche, gewiß«, erwiderte sie. »Aber der Krieg endet unglücklich, der Staat wird große Lasten auf sich nehmen müssen, und so wird eben nur weniges möglich sein.«
Der alte Herr nickt eifrig, abermals sichtlich sehr erfreut. »Natürlich nur weniges!« bestätigte er behaglich. – »Das ist einmal eine vernünftige Frau«, sagte er zu seinem Adjutanten, nachdem sich die Türe hinter ihr geschlossen, »und sie scheint auch einiges Vermögen zu haben.«
Das gleiche Urteil fällten in den nächsten Wochen und Monaten auch alle Bekannten der Witwe; sie ordnete ihre Angelegenheiten ruhig und besonnen, ersuchte niemand um guten Rat und wies niemand ab, der ihn freiwillig darbot, betonte dem Vertreter des Ärars gegenüber, als es sich um die Witwenpension und den Erziehungsbeitrag für ihre Töchter handelte, mit Würde die Verdienste des Gatten, suchte jedoch durch keine Tränen das Mitleid zu erwecken, durch keine Beschwörung die rasche Regelung der Sache zu erflehen. Natürlich fehlte es an Stimmen nicht, die ihr diese Kaltblütigkeit verübelten und meinten, daß sie den schmerzlichen Verlust gar zu leicht verwinde. Aber man tat ihr unrecht; ihr Herz war wund, ihre Seele von dumpfem, grenzenlosem Weh erfüllt, und kein anderes Unglück der Welt hätte sie so tief treffen können wie dieses. Denn wohl hatte sie ihrem Gatten einst lediglich aus Vernunftgründen die Hand gereicht, aber der alte, knorrige Haudegen war allmählich der klugen, starkwilligen Frau so teuer geworden und geblieben wie nur irgendein Romeo seiner schwärmerisch angebeteten und kühn eroberten Julia.
Verschiedene Gründe trugen dazu bei: ihre grenzenlose Achtung vor seinem braven, grundehrlichen Wesen, ihre Selbstkenntnis, die ihr sagte, daß er das einträchtige Leben nur dadurch gesichert, weil er ihr in allem, was außerhalb seiner Pflicht lag, willig gehorcht, namentlich aber ihre Dankbarkeit, daß er sie durch die Heirat einem Lose entrissen, das an sich traurig genug war, ihr jedoch nach ihrem Wesen und ihren Erfahrungen als das furchtbarste hatte erscheinen müssen. Die Tochter eines bürgerlichen Offiziers, der seiner geringen Herkunft wegen trotz seiner Verwendbarkeit langsam emporgekommen und zudem in jungen Jahren die Unvorsichtigkeit begangen, aus reiner Neigung ein Mädchen aus gleichfalls bürgerlicher Familie zu ehelichen, das kaum die nötige Heiratskaution besaß, hatte Katharina einst alle Bitternisse des Schicksals ausgekostet, eine arme Offizierstochter zu sein. Andere Mädchen durften sich sehr einfach kleiden; sie aber und ihre ältere Schwester Antonie hatten die Pflicht, die halben Nächte über der Kunststickerei zu sitzen, um sich aus dem kargen, heimlichen Erlös die standesgemäßen Fähnchen anschaffen zu können. Andere brauchten auch nicht auf jedem Ball zu erscheinen, wie es bei den Töchtern des Herrn Majors in der kleinen Provinzstadt selbstverständlich war, und während diesen Glücklicheren die Mutter vor dem Ball höchstens den Befehl gab, auf ernsthafte, wohlhabende Tänzer zu achten, unterließ es der Major, dem nach dem frühen Tode der Gattin diese Aufgabe zugefallen, niemals, auch vor der nutzlosen Torheit zu warnen, einen jungen Kaufmann oder Gewerbetreibenden liebenswürdig zu finden.
Antonie hatte dies dennoch und mit Erfolg gewagt; sie war nach hartem Kampfe mit dem Vater die glückliche Gattin eines Agramer Holzhändlers geworden; Katharina aber, die jüngere und schönere, schien tatsächlich nur passenden Männern, Offizieren und Beamten, zu gefallen; leider war keiner darunter, der es ernst hätte meinen können oder wollen. So verging ihr in vergeblichem Hoffen, in mühseligem, heimlichem Entbehren und äußerlichem Prunken Jahr um Jahr, verging die Jugend und die Schönheit und mit ihnen der Mut und die Freude am Leben. Schließlich gab es in dieser armseligen Bitternis nur noch einen Wechsel, jenen der Garnisonen, und auch dieser bedeutete allmählich nicht einmal einen Wechsel in den Tänzern, da das verblühte Mädchen nur noch von den Offizieren des Regiments, das ihr Vater kommandierte, aufgefordert wurde. Wenn Katharina, von solchen Freuden heimgekommen, halb entkleidet vor ihrem Spiegel saß und in ihre verblühten Züge starrte, hier ein Fältchen mit der Hand glattstrich, dort das spitzer gewordene Oval befühlte, dann nahm ihr Antlitz einen überaus düsteren Ausdruck an; entsetzlich müde blickten die Augen vor sich hin; sie vergaß aller Vorsicht: Die Furchen der Stirne traten immer deutlicher hervor, es mußte ein grauenhafter Gedanke sein, dem sie nachsann, bis sie ein dumpfes Geräusch aus dem Nebenzimmer emporfahren machte; der greise Vater hatte seine Pfeife vor dem Schlafengehen zu Ende geraucht und klopfte sie nun sorglich aus. Nein, solange er lebte, wollte sie es nicht tun, gewiß nicht, aber wenn er gestorben – da war es ja das klügste, das einzige, was ihr blieb –, wie verlockend hatte der Fluß zu ihr emporgerauscht, als sie nach dem Ball, das Herz voll unsäglicher Öde, neben ihm hingeschritten ...
Aus solchen Stimmungen, aus solcher Lage hatte sie die Werbung ihres alten, einst verspotteten Anbeters erlöst; der brave Mathias hatte sie aus einer verhöhnten oder bemitleideten alten Jungfer zu einer glücklichen, respektierten Gattin und Mutter gemacht – und noch mehr, er hatte ihr mit dem Glück auch die Güte des Herzens wiedergegeben, daß sie nun wieder frisch und unverbittert ins Leben schaute wie einst als Siebzehnjährige. Und so war ihr durch jene Kugel aus dem preußischen Hinterlader nicht bloß der Gatte geraubt worden, sondern auch der einzige Wohltäter ihres Lebens, dem sie mit einer Dankbarkeit anhing, die viel leidenschaftlicher war als jede andere zärtliche Empfindung, die sie ihm widmen konnte. Ach, ohne Abschied war er von ihr gegangen, und es war ihr kein Trost geblieben, nicht einmal der, sich auf seinem Grabe ausweinen zu dürfen.
Aber nicht bloß dieser Schmerz machte die Tage der Witwe grau und ihre Nächte schlaflos, sondern auch die Sorge um die Zukunft ihrer Kinder. Als sie einst, nach einjähriger Ehe, ihre Helene zur Welt gebracht, da hatte sie das Antlitz der Neugeborenen mit Tränen betaut, an welchen ein bitteres Weh weit mehr Anteil gehabt als das Mutterglück; damals war ihr noch ihr eigenes Mädchenschicksal mit furchtbarer Deutlichkeit vor der Seele gestanden, und sie hatte es wie eine Erbarmungslosigkeit des Himmels empfunden, daß ihr heißes Flehen um einen Sohn unerfüllt geblieben. Später, in dem Maße, als jene Erinnerung an Kraft verloren, ihr Herz an Frische und Glücksgefühl gewonnen, war auch diese Empfindung zurückgetreten, und als ihr bei der Geburt Annas die Wehmutter gesagt, daß es wieder ein Mädchen sei, hatte sie nur noch leise und flüchtig aufgeseufzt. Es waren freilich nur eben arme Offizierstöchter, und der Vater ein greiser Mann, aber jener gute, alte Gott, der sie aus der verhöhnten »Schönheit« der Lundenburger oder Czernowitzer Bälle zu einer der geachtetsten Damen der Wiener Gesellschaft und ihren Mathias aus einem Tiroler Bauernknecht zum kaiserlichen Obersten und adeligen Herrn gemacht, dieser starke Gott sorgte gewiß auch für ihre Töchter, indem er ihnen brave, standesgemäße Freier zuführte. Daß sie, die Mutter, ihr Teil dazu beitragen müsse, war ja selbstverständlich; sie sorgte dafür, daß die Kinder, dem Fortschritt der Zeit gemäß, eine bessere Schulbildung genossen als einst sie selbst, und zur Einfachheit, zur Sparsamkeit und jeglicher Kunst der Nadel hielt sie sie ebenso eifrig an, wie einst sie durch ihre Mutter angehalten worden – das war aber auch das einzige, was sie dazu tun konnte, ihre Zukunft zu sichern. Denn wie sie auch in den bittersten, demütigendsten Stunden ihrer Mädchenzeit niemals daran gedacht, daß es anders um sie stünde, wenn man ihr die Möglichkeit eines eigenen Berufes eröffnet, wenn man sie nicht gezwungen hätte, einzig von dem Zufall den Inhalt für ein sonst nutzloses Leben zu erhoffen, ebensowenig kam ihr jetzt dieser Gedanke bezüglich ihrer Kinder. Wohl hatte sie ähnliches zuweilen gehört, aber als Unsinn verworfen, etwa als ob es sich um das Gehen auf dem Kopfe handelte statt des gewohnten Einherwandelns auf den Füßen. Es waren eben Mädchen; ihr Glück, geheiratet zu werden, ihr Unglück, sitzenzubleiben. Auch lag es vollständig außerhalb des Kreises ihrer Vorstellung, jetzt noch irgendwie Vorsorge für diesen, doch nicht ganz unmöglichen Fall zu treffen; vielmehr schien es ihre einzige Pflicht, alles aufzubieten, daß er unmöglich werde.
Das war nicht leicht: sie wußte es. Nur Anna versprach eine Schönheit zu werden, Helene war unhübsch und konnte es im besten Falle so weit bringen, durch ihre Erscheinung nicht zu stören – und beide waren so arm –, außer den Zinsen der kleinen Heiratskaution, die einst von Mathias und dem Vater Katharinens gemeinsam aufgebracht worden, hatte die Familie nur auf die winzige Pension zu hoffen, welche die Pflicht des Staates, auf die gleichfalls unerheblichen Erziehungsbeiträge, die eine tausendfach in Anspruch genommene Gnadenstiftung zu spenden hatte. Das Ausmaß beider Beiträge ließ sich durch Bitten und Vorstellungen nur unwesentlich erhöhen; vielleicht auch gar nicht. Frau Katharina wartete, wie erzählt, ruhig ab. Das war ja auch nach den Verhältnissen vorläufig das wirksamste Mittel, den Schein der Wohlhabenheit aufrechtzuerhalten. Kein falscher Stolz bewog sie hierzu, er war ihrer Natur fremd; auch nicht der echte, sie hätte ihn aus Mutterliebe in sich geknebelt und niedergerungen; aber die Klugheit gebot ihr dies Verhalten, um den Hauptzweck ihres Lebens zu erreichen.
»Es muß gehen!« war schon früher ihr Lieblingswort gewesen; nun glitt ihr vollends den Kindern gegenüber wie im Selbstgespräch dieser Satz unzählige Male über die Lippen. Sie wollte die künftigen Freier nicht täuschen, sondern nur eben ermöglichen, daß sie sich fanden. Darum mußte sie in Wien bleiben; nicht allein ihr eigenes Geschick, das sie in der Residenz die glücklichen, in den Provinzstädtchen die traurigen Jahre ihres Lebens hatte verbringen lassen, legte ihr die Abneigung gegen die öden Nester nahe, sondern auch ihre Kenntnis von Welt und Menschen. Nur in der großen Stadt konnte eine Familie unbeaufsichtigt so arbeiten und entbehren, wie es Frau Katharinen in ihrer Lage nötig erschien. Auch gab es ja hier allein eine »Gesellschaft« in größerem Stil, einen Kreis, den sie ohnehin hatte und nur zu erhalten brauchte. Die Stellung ihres Gatten hatte ihr die höheren Militär- und Beamtenschichten geöffnet, darüber hinaus hatte sie sich durch Liebenswürdigkeit und rege Bemühung den Verkehr mit einigen Familien des Geburtsadels, der eben aufschießenden Finanzaristokratie, aber auch, weil es sich hübsch machte, der gelehrten Welt zu sichern gewußt. Sie war in diesen Kreisen beliebt und angesehen; aber sie durfte ihnen dennoch nichts Unmögliches zumuten. Und eine Oberstenwitwe, die in einem Proletarierviertel wohnte, die Leute von ihren Gnadengesuchen an den Kaiser unterhielt und niemand bei sich sah, war gesellschaftlich eine Unmöglichkeit.
Darnach handelte sie.
Schon der erste Schritt war taktisch meisterhaft. Jene Häuserzeile der Reisnerstraße, wo Frau von Knittl sich eingemietet, nachdem sie die Amtswohnung hatte räumen müssen, war nichts weniger als fashionable und die Mietzinse billig, aber sie lag zwischen zwei höchst eleganten Stadtvierteln, den Metternichgründen, wo der alte Adel sich anzusiedeln begann, und dem Stadtpark, um den auf der Ringstraße ein Börsenbaron nach dem andern sein Palais erbaute. Die Reisnerstraße mußte auf der Visitenkarte jedem Kundigen einen vortrefflichen Eindruck machen. Und die Wohnung hatte noch einen anderen Vorteil: Sie lag unfern der damals noch als Universität benützten Jesuitenhöfe; einzelne Zimmer fanden hier an den Studenten willige Mieter. Frau Katharina nahm ein ganzes zweites Stockwerk, möblierte den größten Teil in zweckmäßiger Weise und hatte ihn bald vollständig an Mann gebracht, so daß sie selbst umsonst wohnte und noch einen kleinen Überschuß erzielte. Natürlich waren die Mietsräume von den ihrigen streng geschieden; die jungen Herren wußten kaum recht, bei wem sie wohnten. Als eigene Wohnräume aber wählte Frau von Knittl ein großes saalähnliches Gemach als Salon, ein etwas dunkles, aber heimeliges Hofzimmer als Speisezimmer und zwei enge düstere Kammern als Schlafstuben für sich und ihre Töchter. Und nachdem sie all dies geordnet, auch für billige, aber anständige schwarze Straßentoiletten gesorgt, machte sie in Begleitung der Mädchen Besuche bei allen Bekannten, um für die Kondolenzvisiten und teilnahmsvollen Briefe zu danken. Sie erklärte überall, daß sie trotz der Trauer nicht darauf verzichten wolle, die Freunde in kleinerem Kreise schon im Laufe dieses Winters bei sich zu sehen.
Das hieß mit anderen Worten: »Ihr dürft uns nur zu Bällen nicht laden.«
Es mußte gehen, und es ging. Frau Katharina konnte sich im nächsten Frühling mit Befriedigung sagen, daß es ihr gelungen, die alten Beziehungen zu erhalten und neue zu knüpfen. Und wie sie mit der Welt zufrieden war, so diese mit ihr. Die Abende im Knittlschen Hause blieben den Freunden in angenehmer Erinnerung; selbst ein scharfes Auge vermochte die bittere Armut nicht zu gewahren. Mit welchen Empfindungen die Witwe den letzten Gast gehen sah, wußte niemand; selbst die Töchter ahnten kaum die Last der Schmerzen und Sorgen, die das Herz der Mutter drückten. Die starke Frau bedurfte keiner Vertrauten; sie brachte alles mit sich selbst ins reine, obwohl sie sich sogar den Trost der Tränen nur zuweilen gönnte.
Wenn sie sich in später Nacht vom Stickrahmen erhob und vergeblich auf ihrem Lager den Schlaf ersehnte, wenn vor ihr Auge das Bild des Toten trat, die kleine Sorge für den nächsten Tag, die große um die Zukunft und ihre Lider sich feuchteten im übergroßen Weh, ließ sie den Tränen doch nur dann ihren Lauf, wenn die Ablieferung der Stickerei nicht drängte. Denn eine durchwachte Nacht machte ja die Augen am nächsten Tage für die feine, mühselige und doch so kärglich bezahlte Arbeit untauglich.
So verstrich das erste, so das zweite und dritte Jahr ihres Witwenstandes. Ihre Pension hatte sie nach dem Gesetze zugemessen erhalten, die Entscheidung über den Erziehungsbeitrag erfolgte erst im Frühjahr 1869; er war ihr zum geringsten üblichen Satze gewährt worden. Frau Katharina las den Bescheid ohne Bitterkeit; es war die Folge ihres Verhaltens; aber auch ohne Reue – sie hatte nicht anders gekonnt.
Obwohl jedoch nun jede Hoffnung einer besonderen Hilfe zerronnen war, lud sie sich dennoch kurz darauf eine neue Aufgabe auf. Die Familie war, trotzdem die Mode der Sommerfrische in ihren Kreisen bereits allgemein herrschte, die Sommer zuvor in Wien geblieben; liebevolle Freundinnen, die sich darüber wunderten, hatte Frau von Knittl darauf verweisen können, daß sie ja dicht vor dem Hause den schönsten Park Wiens habe. Gleichwohl hatte sie das Befremden darüber nicht verscheuchen können, und jetzt, gerade jetzt durfte derlei nicht Platz greifen. Helene war nun zwanzig, Anna neunzehn Jahre alt – die nächste Saison konnte von entscheidender Wichtigkeit werden. Auch sahen die beiden Mädchen, die im Winter dem Vergnügen und der Arbeit gleich angestrengt hatten dienen müssen, etwas bleich aus. Frau von Knittl reiste Mitte Juli mit den Mädchen nach dem Salzkammergut; drei Tage hielt sie sich in Ischl auf und suchte dort unter Beihilfe der zahlreichen Bekannten eifrig nach einer passenden Wohnung. Es war ein Scheinmanöver, zwei Zimmer in dem billigen Traunkirchen waren längst gemietet, aber an diesen unfashionablen Ort durfte man erst denken, nachdem man in Ischl nichts Passendes gefunden, da der Ort so überfüllt war.
Traunkirchen, das uralte, ärmliche Dörflein am Gmundener See, ist noch heute, wo es längst Bahn- und Dampferstation geworden, eine der stillsten Sommerfrischen des Kammerguts, und von den Unzähligen, die zur Sommerszeit diese wildschöne und doch anmutige Berggegend überfluten, bleiben nur jene hier haften, die sich durch die Stille und die Schönheit des Ausblicks für Komfort und die lauten Freuden der Geselligkeit entschädigt fühlen können. In jenen Tagen aber war es vollends öde in dem Dörfchen, und nur einige Pensionisten aus Linz verbrachten ihre Tage gähnend auf der Terrasse des einzigen Gasthauses. Frau von Knittl empfand diesen Mangel an geselligem Verkehr keineswegs unangenehm; die Mädchen sollten sich recht erholen, und ihr eigenes, von der Sorge und dem Zwange der ewigen Verstellung zerfoltertes Gemüt dürstete nach Ruhe.
Von außen her wurde sie hier nicht gestört, aber die Gedanken im Hirn ließen sich nicht verscheuchen. Der Oberstenwitwe war, wenn sie von ihrem Altan dem Ballspiel der Mädchen im Hausgarten zusah, zumut wie etwa einem Feldherrn, der, in diplomatische Geheimnisse eingeweiht, seine Truppen inspiziert; alle Welt glaubt an den Frieden, auch seine Soldaten; er aber weiß, daß in wenigen Monaten der Krieg losbrechen wird, in welchem all die im Frieden erworbenen Fertigkeiten sich werden bewähren müssen. Die nächste Saison ...! Die Brust der Mutter hob ein Seufzer, und mehr als einmal flüsterte sie vor sich hin: »Arme Helene!«
Die Besorgnis war nicht unbegründet. Die Schwestern ähnelten einander in einem Grade, wie er selbst bei dieser nächsten Blutsverwandtschaft nicht alltäglich ist, und dennoch war Anna entschieden schön, während Helene auch von wohlwollenden Beurteilern nur eben als »recht sympathische Erscheinung« bezeichnet wurde. Gemeinsam war ihnen der schlanke und doch üppige Wuchs, das prächtige Goldhaar, das wie eine Krone in schwerem Knoten auf dem Haupte lag, der Glanz der großen dunkelblauen Augen; und ihre Stimmen, tiefe, glockentönige Stimmen, wie man sie ja bei den österreichischen Frauen viel häufiger findet als bei denen eines anderen deutschen Stammes, hatten einen so durchaus gleichen Klang, daß selbst die Mutter sie kaum unterscheiden konnte und sich nur daran hielt, daß Helene etwas langsamer und leiser zu sprechen pflegte als ihre jüngere Schwester. Auch der Schnitt der Züge war eigentlich derselbe, und doch, welchen Unterschied bedeutete es für das Auge, daß die Wangen Helenens etwas schmaler, ihre Nase etwas stärker, ihr Kinn unbedeutender, ihre Stirn höher, ihre Augen tiefliegender waren als jene der Schwester; was sich dort zu einem Antlitz von sieghafter, fröhlicher Schönheit zusammenfand, gab hier ein unregelmäßiges, ja unhübsches Gesicht. Es war, als hätte ein grausamer Dämon bei der einen in Schatten gewandelt, was bei der anderen lauter Licht war, und auch die beiden einzigen großen Verschiedenheiten, die sich in ihrem Äußeren sofort aufdrängten, senkten die Waagschale zugunsten der jüngeren. Denn diese war von seltener Leichtigkeit und Anmut der Bewegung, während Helene langsamer und unsicherer war und namentlich an der Seite der Schwester ungraziös, ja schwerfällig erschien. Die zweite Verschiedenheit bestand darin, daß Helene, wie man es ja bei hellen Blondinen nicht selten findet, fast gar keine Augenbrauen hatte, was ihrem Gesicht im Verein mit der zu hohen Stirn einen etwas befremdenden, gleichsam immer erstaunten Ausdruck gab.
Ähnlich stand es um die Seelen der beiden jungen, einander in innigster Liebe verbundenen Mädchen; auch hier war bei gleichem Grundzug die Verschiedenheit groß, nur daß sich Helene an innerem Werte getrost mit der Schwester messen durfte. Beide waren ehrlichen, schlichten Wesens, fleißig, anspruchslos und wohl begabt, jede bemüht, der Mutter und Schwester Liebes zu erweisen, aber auf beide schien sich auch etwas von der bis zum selbstlosen Heldentum gesteigerten und dann zuweilen wieder bis zum Eigensinn erniedrigten Tatkraft der Mutter vererbt zu haben. Auch waren beide leicht erregbare Naturen, nur daß Helene die Wallungen des Gemüts besser zu hehlen verstand als Anna, die sich in Freude und Schmerz gleich rückhaltlos gab und in derselben Stunde überaus lustig und tief betrübt sein konnte. Im übrigen begann auch ihnen, wie jedem Weibe, ihr Äußeres schon früh zum bestimmenden Schicksal für ihr Seelenleben zu werden: Anna liebte die Geselligkeit und ward immer gewandter und weltfreudiger, Helene blieb gerne daheim und griff oft nach einem guten Buche. Die kluge Mutter sah beides nicht ungerne; es stimmte zu ihrem Feldzugsplan, wonach Anna in der nächsten Saison gegen die Finanzaristokratie, Helene gegen die Professorenkreise energisch zum Angriff geführt werden sollte; eben darum pflegte sie auch Dritten gegenüber die ältere die »kleine Gelehrte«, die jüngere das »Weltkind« zu nennen. Daß sie Helenen viel geflissentlicher lobte, hatte übrigens nicht bloß darin seinen Grund, weil Anna besser gefiel, sondern weil sie ihre Erstgeborene im tiefsten Herzensgrunde nicht allein aus Mitleid, sondern aus einer Empfindung heraus, die sie selbst vergeblich als ungerecht zu bekämpfen suchte, viel inniger und leidenschaftlicher liebte.
Angesichts der schweren Sorgen für dieses Kind empfand sie eine Begegnung, welche die Stille der Traunkirchener Tage wohltätig unterbrach, wie eine Fügung des Himmels.
Als Helene an einem heißen Augustvormittag die kühlen Gänge des alten, längst aufgehobenen Franziskanerstifts durchschritt, um Mutter und Schwester, die sie im Klostergarten wußte, aufzusuchen, trat eben aus der Türe der sonst verschlossenen Bibliothek ein junger, schlanker, elegant gekleideter Mann, in dem sie sofort einen guten Bekannten aus Wien erkannte. Daß er sie dicht an sich heranschreiten ließ, ohne zu grüßen, machte sie nicht irre. »Guten Morgen, Herr Professor«, sagte sie freundlich, »was bringt Sie hierher?«
Der Mann lüftete den Hut und trat einen Schritt näher. »Fräulein Anna«, rief er sichtlich erfreut. »Wohnen Sie hier? Die Frau Mutter wohl auch und Fräulein Helene –«
»Ja, die ist auch hier und steht vor Ihnen«, erwiderte sie gutlaunig, ohne eine Spur von Spott. »Sie verwechseln mich mit meiner Schwester, was bei dem Düster in diesem Korridore sehr begreiflich ist –«
»Entschuldigen Sie«, sagte er eifrig, aber ohne jede Verlegenheit. »Sie kennen ja meine Kurzsichtigkeit und haben immer Geduld mit mir gehabt.« Er legte eine gewisse Betonung hinein, daß das junge Mädchen errötete.
»Sie dürfen wohl noch immer keine Brille tragen?« fragte sie, empfand dies aber als ungeschickt und wurde wieder rot.
»Nein!« erwiderte er mit einem leichten Seufzer. »Die Ärzte werden es mir wohl auch nie wieder gestatten; ich liefe sonst Gefahr, die Sehkraft ganz zu verlieren!«
»Merkwürdig«, meinte sie, »man sieht es Ihren Augen gar nicht an und ebensowenig Ihren Bewegungen.« Darüber errötete sie zum drittenmal, weil Mama es wiederholt verboten hatte, jemals einem jungen Manne ein Kompliment über sein Äußeres zu machen. Dann aber tröstete sie sich damit, daß es ja kein Kompliment, sondern die Wahrheit war. In der Tat hatte der Professor – sein Fach war die Archäologie, sein Name Heinrich Klauser – so lebhafte, geistvoll blickende dunkle Augen, daß ihnen niemand ihre Schwäche angesehen hätte. Auch benahm er sich sicher und gewandt, und nur zuweilen zeigte die Art, wie er im Solan den Fuß vorsichtig vorschob oder nun auf dem Kiesweg des Gartens, als er neben dem Mädchen herschritt, mit dem Stöckchen tastete, daß er den Boden zu seinen Füßen nicht deutlich gewahren konnte.
Frau von Knittl begrüßte den Professor, der so unerwartet daherkam, mit einer Freude, die, wie wir bereits wissen, sehr ehrlich gemeint war. Klauser war freilich nur Dozent mit dem Titel eines außerordentlichen Professors, aber nicht bloß ein sehr geschätzter und zukunftsvoller Gelehrter, sondern auch der Sohn eines wohlhabenden Bergwerkbesitzers in der Steiermark. Daß er daneben ein weltfreudiger Mann, ein liebenswürdiger, heiterer Gesellschafter war, schien ihr fast der Vorzüge zuviel. Ihn vor allem hatte sie sich im vorigen Jahr als rechtes Ideal für ihre Helene ersehen und darum eifrig in ihr Haus gezogen, das er wiederholt besucht. Daß Helene keinen der jungen Herren des Kreises lieber in Traunkirchen gesehen hätte, war ihr zudem wohlbekannt. Auch Anna war recht erfreut; der Professor hatte sie, als sie einmal seine Tischnachbarin gewesen, vortrefflich unterhalten, und mindestens hier, wo man nicht tanzte, kam er ihr willkommener als die meisten anderen. Denn dieses Vergnügen war ihm, mit Rücksicht auf sein Gebrechen, versagt.
Dem Professor schien die Begegnung gleichfalls angenehm; wenigstens versicherte er dies mit einer Wärme, welche die Hoffnungen der Frau Oberstin hell anfachte. Er war aus seinem Vaterhause in den steirischen Bergen über Ischl auf eine Woche nach Traunkirchen gekommen, um ein wenig in der Klosterbibliothek zu stöbern und den uralten, bisher wenig gewürdigten Kryptenbau des Sankt-Johannis-Kirchleins näher zu untersuchen. Die Vormittage waren seinen Studien gewidmet, die Nachmittage nahm Frau von Knittl für gemeinsame Ausflüge in Beschlag, was er dankend annahm.
So ward am selben Tage eine Kahnfahrt nach Ebensee, am nächsten ein Spaziergang zu dem schön gelegenen Gasthofe »Am Stein«, am dritten abermals ein Ausflug zu Wasser, nach der Karbachmühle, unternommen. Man unterhielt sich vortrefflich und fand sichtlich immer mehr Gefallen aneinander; insbesondere waren die Damen darüber entzückt, daß sich der gelehrte und geistvolle Mann so einfach, fröhlich und anspruchslos gab. Daß die Urteile der Mädchen gleich warm klangen, beängstigte die Mutter nicht, hingegen war es ihr wenig willkommen, daß der Professor Anna zum mindesten ebenso aufmerksam behandelte wie die Schwester, ja zuweilen sogar auszuzeichnen schien.
Namentlich bei jenem Ausflug nach der Karbachmühle wollte sie dies bedünken. Während ein Traunkirchner Fährmann die kleine Gesellschaft über den spiegelglatten See zum malerischen alten Bauwerk am jenseitigen Ufer hinüberruderte, fragte Helene den Professor, ob er die Hero- und Leandersage kenne, die das Volk an diese Stelle knüpfe: Ein Müllerbursche in der Karbach habe eine Nonne im Frauenklösterlein bei Traunkirchen geliebt und sei allnächtlich, dem Scheine ihrer Zellenlampe folgend, hinübergeschwommen, bis einmal, da die Geliebte im Harren eingeschlafen, der Wind die Lampe gelöscht und er im ziellosen Schwimmen ertrunken.
»Es ist mehr als Sage«, erwiderte Klauser, »es ist Wirklichkeit und die Geschichte eigentlich viel interessanter als die Sage. Der Held war ein armer Ritter, sein Kastell lag in der Karbach; die Geliebte aber war eine Grafentochter aus dem Geschlechte der Herbersteine. Der Vater wollte nichts von dem armen Bewerber wissen und erklärte ihm höhnend: ehe er nicht hunderttausend Goldgulden aufweise, könne aus der Heirat nichts werden; gleichzeitig gab er die Tochter den Nonnen zu Traunkirchen in Verwahrung. Die Liebenden verständigten sich, er schwamm allnächtlich hinüber, nach dem Schein des Lämpchens, wie es die Sage berichtet. Nur war der Ausgang in Wirklichkeit poetischer; die Geliebte schlief nicht ein, sondern wurde von den Nonnen, die den Frevel entdeckt hatten, in Gewahrsam getan und das Lämpchen absichtlich gelöscht, so daß er ertrank. Der Chronist aus dem fünfzehnten Jahrhundert, der uns diese Begebenheit als Zeitgenosse berichtet, beschreibt die Schönheit der Herbersteinin mit vieler Begeisterung.«
»Wie sah sie denn aus?« fragte Anna.
»Wie Sie,« erwiderte der Professor.
Darauf war es eine kurze Weile still.
»Eine traurige Geschichte«, meinte dann Helene. »Aber sie sind doch wenigstens glücklich gewesen, ehe sie sterben mußten.«
Anna lachte auf. »Wäre der Karbacher klüger gewesen und hätte er sich irgendwo im Kriege die hunderttausend Goldgulden erbeutet, so hätten sie auch glücklich miteinander leben können.«
Auch der Professor lachte. »Zwei sehr verschiedene Standpunkte, die beide ihre Berechtigung haben. Ich meinesteils würde es lieber mit dem Rezept von Fräulein Anna gehalten haben!«
Frau vor Knittl biß sich auf die Lippen; sie hatte alle Mühe, ihren Mißmut zu verbergen. Aber schon auf der Heimfahrt sollte sie entschädigt werden.
Der See war etwas unruhig, Klauser erbot sich, dem Fährmann zu helfen, und regierte das andere Paar Ruder, das sich im Kahn vorfand, mit Kraft und Geschick. Als er jedoch einmal eine kurze Pause machte und nun wieder die Ruder fassen wollte, griff er in der Dämmerung daneben. Das schien Anna, da sie dicht vor ihm lagen, so komisch, daß sie, ohnehin in übermütiger Stimmung, ein kurzes Auflachen nicht unterdrücken konnte. Helene aber beugte sich rasch vor und legte ihm die Ruder in die Hände.
»Ich danke Ihnen, Fräulein Helene«, sagte er. »Sie haben immer viele Geduld mit mir; ich weiß es ja längst.«
Trotz der Dämmerung konnte Frau Katharina gewahren, wie sich das Antlitz ihrer Lieblingstochter mit dunkler Röte überzog.
Als die drei Damen nach dem Nachtessen in ihrem Gärtchen beisammen saßen, befahl Frau Katharina: »Du gehst schlafen, Anna. Mit Helenen habe ich noch zu sprechen.« Aber als sich das Mädchen erhob und ihr zur guten Nacht die Hand küßte, besann sie sich plötzlich:
»Noch einen Augenblick! Ich –«
Sie wollte ihr die Ungezogenheit vorhalten, mit der sie den Professor seines Gebrechens wegen ausgelacht. Aber ein plötzlicher Gedanke hemmte ihr das Wort auf den Lippen, und obwohl sie es deutlich so empfand, als ob sie sich dieses Gedankens schämen müßte, konnte sie ihn doch nicht überwinden.
»Es ist nichts Wichtiges«, sagte sie. »Ich will es dir morgen sagen.« Dann aber, als Anna gegangen war, fragte sie:
»Woher weiß der Professor, daß du Geduld mit ihm hast?«
»Eine Kinderei, Mama.«
»Ich möchte es wissen.«
Nun erzählte Helene, daß Klauser einmal im vorigen Herbst zufällig einem kleinen Tanzkränzchen beigewohnt, das ganz improvisiert im Hause des Professors Brichta stattgefunden. Auf dringendes Zureden der Frau Professor habe auch er sich zu einer Tour entschlossen und sie, Helene, engagiert. Sie habe aber nach wenigen Sekunden gemerkt, wie peinlich ihm das Tanzen sei, weil er seiner Kurzsichtigkeit wegen den anderen Paaren nicht auszuweichen vermochte. Darum habe sie, nachdem sie einmal um den Salon gekommen, laut erklärt, sie fühle sich plötzlich unwohl. Er habe sie schweigend zum nächsten Sessel geführt und dann verlassen, als sie aber den ganzen Abend über kein Engagement angenommen, sei er zum Abschied noch einmal auf sie zugetreten und habe gesagt: »Das war nett von Ihnen, Fräulein Helene.«
Die Mutter nickte. »Das sage ich auch. Schlaf wohl, mein Kind!«
Sie küßte sie zärtlich auf die Stirne, blieb noch eine Weile im stillen, dunklen Garten sitzen und gab sich den schönsten Träumen hin.
Die beiden nächsten Tage brachten keine Äußerung Klausers, die Frau Katharina hätte betrüben, aber auch keine, die sie hätte erfreuen können. Eben darum fühlte sie sich beunruhigt und sagte am Abend zu Helenen:
»Ich habe die Empfindung, daß sich der Professor nachgerade mit uns langweilt. Er muß uns für Barbarinnen halten, weil wir uns so gar nicht für seine Wissenschaft interessieren. Nun verstehe ich freilich nichts von dem Zeug und Anna ebensowenig. Aber du wirst doch wohl mit ihm darüber zu reden wissen?«
»Ach nein«, sagte Helene schüchtern. »Ich weiß ja kaum einiges davon, was im kleinen Lübke steht.«
»Du sollst ihn auch nicht belehren, sondern nur dein Interesse daran erweisen. Das aber erfordert die Höflichkeit, und du wirst es morgen tun!«
Am nächsten Tage, als die vier wieder im Boot saßen, diesmal, um nach Altmünster zu fahren, entledigte sich Helene als gehorsames Kind des Auftrags.
Doch hatte das Mädchen soviel Takt, nicht eben ein gelehrtes Gespräch vom Zaun zu brechen, sondern fragte nur zaghaft, warum sich der Professor einst dieser Wissenschaft zugewendet habe.
Aber Frau Katharina bekam nichts zu hören, was sie erfreuen konnte.
»Ehrlich gestanden«, sagte er, »nicht aus wissenschaftlichem Trieb, sondern aus Freude am Schönen. Ich hatte schon als Knabe einen wahrhaft brennenden Durst darnach und konnte mich auf Stunden glücklich fühlen, wenn ich ein schönes Gesicht sah, in Wirklichkeit oder auf der Leinwand oder in Marmor. So verliebte ich mich zunächst in einen Atlas klassischer Skulpturen, und da mich auch die gelehrten Kommentare dazu nicht gerade langweilten und ich ferner keinerlei schöpferisches Talent in den bildenden Künsten zeigte, so geriet ich schon auf dem Gymnasium halb und halb in diese Liebhaberei, und dann wurde sie fast naturgemäß mein ernstes Studium. Das klingt seltsam, da sich ein Mann meiner Wissenschaft wahrlich nicht bloß mit Schönem abgeben darf; aber es ist so – mein unglückseliger Schönheitssinn ist daran schuldig ... Noch heute«, fügte er arglos zu, »juble ich über jedes schöne Gesicht, während mir ein häßliches Pein macht und mir ein unregelmäßiges zum mindesten nicht angenehm ist.«
Anna hörte harmlos zu, Helene ward einen Schatten blässer, Frau Katharina aber war so ärgerlich, daß sie sich nicht enthalten konnte zu sagen:
»Da sollten Sie Ihren Augen nur dankbar sein; sie ersparen Ihnen viel Pein und bringen Sie nicht um allzuviel Freude – denn gar so viele vollendet schöne Gesichter gibt es nicht.«
Er sah gleichmütig auf.
»Es ist doch wohl nicht ganz so«, erwiderte er, »und ich empfinde mein Gebrechen um so peinlicher, als ich ja erst seit fünf Jahren damit behaftet bin. Ich hatte von Natur recht gute Augen; wie hätte sich sonst der Schönheitssinn in mir entwickelt, wie hätte ich daran denken dürfen, meiner Wissenschaft ein Diener zu werden! Wollte ich pathetisch werden, so könnte ich sagen, daß diese Wissenschaft die Schuld daran trägt.«
»Wieso?« fragte Anna teilnahmsvoll.
»Vor fünf Jahren«, erzählte er, »ging ich nach Unterägypten, um dort einige bisher wenig beachtete Tempelreste genau zu durchforschen, auszumessen und aufzuzeichnen. Bei der Arbeit im grellen Sonnenbrand fühlte ich bald meine Augen ermatten, dann schmerzte mich die ewige gleißende Helle; wie ein Dürstender nach einem Trunk sehnte ich mich nach Dunkelheit und Schatten, aber um mich war immer nur der erbarmungslose Glanz der Wüste und des hellen Gesteins. Meine Araber warnten; auch ich fühlte, daß meine Sehkraft schwand, und strengte sie eben darum doppelt an, um baldmöglichst zu Ende zu kommen. Ich konnte es nicht mehr; blind, mit höllischen Schmerzen in den Augen und im Hirn, mußte ich mich von meinen Begleitern zur nächsten Dampferstation tragen lassen; sie lieferten auch mich und meine Mappen treulich ab, alles andere freilich stahlen sie. Der Schiffsarzt gab schlechten Trost, ein so bedenklicher Fall von Augenentzündung war ihm noch nicht vorgekommen; in der Tat dauerte es ein Jahr, bis ich meine Augen überhaupt brauchen konnte; sie waren und blieben geschwächt, und ich kann auch heute nur wenige Stunden täglich arbeiten. Mein Buch über jene Tempelbauten ist erst vor zwei Jahren erschienen; es hat einigen Anklang gefunden und mir die Ernennung zum Professor eingebracht – ich habe einen teuren Preis dafür gezahlt ...«
Er sagte es schlicht, ohne jeden Nachdruck, um so herzlicher fühlten sich die Hörerinnen bewegt.
»Sie Ärmster!« rief Anna. »Wie mögen Sie täglich, stündlich entbehren! Und so unverdient!«
»Ja«, erwiderte er, »ich entbehre viel. Aber zuweilen« – er stockte und beugte sich dann wie unwillkürlich vor und zu ihr hin –, »zuweilen können sich auch meine armen Augen am Schönen laben!«
Helene saß stumm da; wohl fühlte sie instinktiv, durch die gesenkten Lider den mahnenden Blick der Mutter auf sich haften, aber sie konnte nichts sagen, die Kehle war ihr wie zugeschnürt.
Als Frau Katharina an diesem Abend heimkehrte, war sie übelster Laune; wer hätte daran denken mögen, daß just dieser Mann auf Schönheit besonderes Gewicht lege – ›und das will ein Gelehrter sein‹, dachte sie in komischem Ingrimm, ›so kurzsichtig ist er noch obendrein!‹ Aber morgen war ja auch noch ein Tag – freilich der letzte seines Traunkirchner Aufenthaltes –, dann sah man sich in Wien wieder; sie gab die Sache noch lange nicht verloren.
Freilich war es unbedingt notwendig, Anna sofort aufzuklären. Darum war es ihr lieb, als Helene sich bald zurückzog; sie wollte noch einen Brief an ihre Freundin, Lina Brichta, die Tochter des Professors schreiben.
»Das war ein hübscher Tag«, sagte die Mutter zu Anna, als sie allein waren. »Der Professor ist genau der Mann, wie ich ihn mir für Helene wünsche. Darum freut es mich, daß er sich so merklich für sie interessiert. Du hast es doch auch bemerkt?«
Anna schwieg.
Frau Katharina hielt es für unnötig, auf eine Antwort zu dringen. »Es ist sonnenklar«, fuhr sie fort. »Ich hoffe, er gefällt auch ihr, wenn sie ihn näher kennenlernt. Du darfst ihr aber nichts darüber sagen, es könnte ihre Unbefangenheit stören.«
Auch darauf erwiderte Anna nichts und folgte bald der Schwester auf das Zimmer. Helene schrieb eben an die Freundin, ob sie ihr nicht das Buch des Professors Klauser über die ägyptischen Tempelbauten schicken könne; sie wisse wohl, daß es ein gelehrtes Werk sei, wolle aber doch versuchen, es zu lesen.
Der nächste Nachmittag war regnerisch; man konnte zum Abschied keinen Ausflug unternehmen; so führte denn der Professor die Damen nach der Krypta des Felskirchleins Sankt Johannis und erläuterte ihnen die bauliche Einrichtung des Gotteshauses, der ältesten kirchlichen Siedelung im Traungau.
»Aber Gmunden ist als Wohnstätte älter?« fragte Helene. »Da haben ja die Römer gehaust.«
Er bestätigte es.
»Woher hast du das wieder, du Gelehrte?« fragte die Mutter.
»Aus der Zeitung«, gestand das Mädchen. »Da stand im Mai die Notiz, daß man in Gmunden Römersteine gefunden hat; sie interessierte mich, weil wir ja schon damals an den See zu gehen gedachten.«
Frau Katharina biß sich auf die Lippen; das Mädchen war zu ungeschickt. Es zerstörte sich selbst den Nimbus und gab noch obendrein das Geheimnis preis, zu dessen sorglicher Maskierung die Oberstin das Opfer des dreitätigen Aufenthalts im teuern Ischl gebracht. Und das Unglück wollte es, daß nun der Professor wirklich sagte:
»Ich dachte, Sie hätten ursprünglich vorgehabt, in Ischl zu bleiben. So erzählte wenigstens ein junger Herr, mit dem ich dort zufällig auf meiner Durchreise bei Frau von Bartenegg zusammentraf. Seinen Namen habe ich bei der Vorstellung überhört; aber Sie werden ihn ohne Zweifel nach seiner Vorliebe für zwei seltsame Worte leicht erkennen: er findet alles babylonisch oder aztekenhaft ...«
»Hötzinger!« rief Anna lachend. »Der Gustel Hötzinger! Er ist ein babylonisch guter Mensch, aber aztekenhaft dumm!«
»Anna!« verwies die Mutter scharf. Dem Professor erläuterte sie:
»Ein liebenswürdiger junger Mann, der einzige Sohn meiner Freund ...«, sie stockte und verbesserte sich hastig – »einer Bekannten, Frau von Hötzinger ... Den Namen dürften Sie schon gehört haben?«
Er nickte.
»Welcher Österreicher kennt ihn nicht!« sagte er etwas bitteren Tones. Dann aber gab er dem Gespräch rasch eine neue Wendung.
Da sich das Wetter gegen Abend aufklärte, so setzte Frau Katharina doch noch einen Spaziergang durch und wählte das Ziel so, daß man einen engen Pfad gehen mußte, der nur für zwei Raum gab; sie stützte sich auf Annas Arm, Helene ging neben dem Professor.
Diesmal hätte die Mutter Freude an dem Gespräch gehabt, wenn sie ihm hätte lauschen können. Er erzählte von seinen Reisen, insbesondere jenem Aufenthalt in der Wüste, und Helene tat so anteilsvolle und vernünftige Fragen, daß er ordentlich warm wurde. »Sie haben das seltene Talent, vortrefflich zuzuhören«, sagte er, »das kann man in der Jugend nur, wenn man gut und klug zugleich ist.« Auch noch ein anderes freundliches Wort, das nicht minder aufrichtig gemeint war, verdiente sie sich in derselben Stunde von ihm. Als sie das Ziel, einen Aussichtshügel, erreicht und die tiefgrüne Seefläche, das herrliche Anland im roten Schein der Abendsonne vor ihnen lag, sagte er:
»Ich habe fast nur den Eindruck, wie sanft und schön die Farben ineinanderfließen, und auch das ist herrlich genug! Wie müssen Sie erst genießen, da Sie auch die Umrisse der Landschaft genau sehen können!«
»Nein, nein!« erwiderte sie rasch. »Das Farbenspiel ist eigentlich das Schönste daran, und die Umrisse sehe auch ich nicht scharf.«
Er lächelte nicht darüber, wie unlogisch sie der Eifer des Mitleids machte, sondern sagte fast gerührt:
»Es bleibt dabei, Fräulein Helene, Sie sind gut. Ich wußte das freilich schon seit jenem Abend bei Brichtas.«
»Sie beschämen mich«, sagte sie ernst und fügte dann wieder heiteren Tones hinzu: »Das lasse ich mir nicht gefallen und will Ihnen sofort Gleiches mit Gleichem vergelten! Wissen Sie, was Professor Brichta einmal von Ihnen sagte? ›Er ist der zartfühlendste Mensch und würde lieber sein Lebensglück opfern, als einem anderen wehe tun. Sein Zartgefühl grenzt an Schwäche!‹ So, da haben Sie's!«
Der herzliche Ton zitterte noch zwischen den beiden nach, als Frau von Knittl endlich mit Anna auf dem Hügel anlangte, und sie gewahrte es mit Entzücken. Aber wie grausam enttäuscht wäre sie gewesen, wenn sie in seinen Gedanken hätte lesen können, als er in der Dämmerung, wieder in herzlichem Geplauder, an Helenens Seite zu Tale schritt.
›Das gemütvolle, arme, unhübsche Mädchen!‹ dachte er. ›Wird sie den Mann finden, den sie verdient? Ich muß Vollmer im Herbste bei Knittls einführen, er mag wollen oder nicht.‹ Vollmer war der Sanskritist der Universität und sein bester Freund, ein trefflicher, aber weltscheuer und wortkarger Mann, hoch in den Vierzigern, der nie vom Heiraten hören wollte. »Warte nur«, hatte ihm Klauser einmal gedroht, »ich korrigiere die Natur, die uns nicht als Brüder geboren werden ließ, indem ich dich zu meinem Schwager mache!« Er mußte jetzt an den Scherz denken ...
Am nächsten Tage – Klauser war bereits in der ersten Frühe abgereist – waren Mutter und Töchter merkwürdig schweigsam. Erst beim Abendessen brach die Mutter den Bann, indem sie den Abgereisten zu loben anfing. Daß Helene schwieg, fand sie ganz begreiflich; als jedoch auch Anna nicht einstimmte und sie aufblickend gewahrte, wie das schöne Mädchen mit glühendem Antlitz und feuchten Augen vor sich hin blickte, erschrak sie heftig. »Da muß etwas geschehen«, dachte sie, und eine Stunde später wußte sie auch, was zu geschehen habe.
»Bertha Hötzinger hat dir ja neulich geschrieben«, begann sie »Sie amüsiert sich prächtig in Ischl und lädt dich ein. Nicht wahr?«
»Ja«, erwiderte Anna kurz.
»Hast du den Brief zur Hand?«
Das Mädchen brachte ihn herbei.
»Bertha ist ein liebenswürdiges Mädchen«, sagte die Mutter, nachdem sie gelesen, »und die Leute kommen uns sehr freundlich entgegen. Sie schreibt, ihre Mama wolle die Equipage um dich schicken. Ich denke, du antwortest ihr morgen, daß du bereit bist.«
Sie erhob sich und ging auf ihr Zimmer. Ob Anna einverstanden sei, hatte sie nicht gefragt; das war im Hause nicht Brauch.
Am zweitnächsten Tage hielt die Equipage vor dem Häuschen in Traunkirchen; Frau von Hötzinger war sogar so zartfühlend gewesen, ihre Gesellschafterin mitzuschicken, damit das junge Mädchen die kurze, kaum dreistündige Reise nicht allein mache.
Als der Wagen mit Anna auf der Chaussee gegen Ebensee, eine Staubwolke hinter sich aufwirbelnd, dahinrollte, blickte ihm Frau Katharina lange nach.
Sie war seit langer Zeit, vielleicht seit ihrem Verlobungstag zum ersten Male wieder nicht ganz mit sich zufrieden und wußte nicht genau, ob sie recht gehandelt. Denn um den Verkehr mit jener Familie, deren Name jedem Österreicher bekannt war, hatte es ihre eigene Bewandtnis.
Georg Hötzinger, ein reicher Tuchfabrikant aus Brünn, hatte in den ersten Monaten von 1859, als Österreich fieberhaft rüstete, einen Teil der Monturenlieferung für die Armee übernommen, war kurz vor Beginn des Krieges zur Belohnung seiner Promptheit in den Adelsstand erhoben und kurz nach dem Kriege wegen Betrugs angeklagt und in Untersuchungshaft genommen worden. Der Prozeß zog sich lange hin und endete mit der Freisprechung Hötzingers: Die schlechte Beschaffenheit des Materials war ihm nicht genügend nachgewiesen worden, und der Unterschleif, von dem alle Welt sprach, gar nicht; ein Hauptzeuge, ein hoher Militär, der mit ihm im Einverständnisse gewesen, hatte sich während des Prozesses selbst entleibt. Hötzinger durfte seine Millionen, auch den Adel behalten, aber die allgemeine Verachtung mußte er mit in Kauf nehmen. Nachdem er, schon nach zwei Jahren, gestorben war, übersiedelte die Witwe nach Wien, und hier gelang es ihr allmählich, durch ihr Geld wie durch ihre Klugheit, sich gewisse höhere Gesellschaftsschichten zu öffnen, in erster Linie jene der Finanzwelt. Gustel Hötzinger, der einige Jahre an der juridischen Fakultät inskribiert gewesen und nun Volontär in einem großen Bankhause war, fand Freunde genug, die von seinem Champagner tranken, seine Schwester Bertha, ein hübsches und gutmütiges Mädchen, Tänzer und Hofmacher in Fülle, auch die Soireen bei Hötzingers waren gut besucht; aber wer hinging, pflegte nicht zu erzählen, daß er dort gewesen.
Auch Frau Katharina hatte es ähnlich gehalten, und unter allen gesellschaftlichen Kunststücken, die sie hatte lösen müssen, war ihr keines schwerer erschienen, als in jedem Winter einmal jene Gesellschaft zusammenzustellen, zu der auch Hötzingers geladen werden mußten. Und nun hatte sie sich zu einem so ostensiblen Schritt entschlossen, der ja nur als Beweis höchster Vertraulichkeit gedeutet werden konnte.
Es war nicht deshalb geschehen, um Gustel Gelegenheit zu bieten, seine nie verhehlte Bewunderung für Anna ausgiebig betätigen zu können. Daran dachte Frau von Knittl nur nebenbei und mit gemischten Gefühlen; er war allerdings der Erbe von Millionen, aber doch auch ein einfältiger Müßiggänger mit anrüchigem Namen. Hauptsächlich war es ihr darum zu tun gewesen, Anna auf andere Gedanken zu bringen und die Schwestern zu trennen; eine offene Aussprache zwischen beiden konnte jetzt für ihre Pläne gefährlich werden. Aber gab es dazu kein anderes Mittel als jenes erste, das ihr beigefallen ...? Gleichviel, nun war es geschehen und wenn Frau von Bartenegg, die Gattin eines Geheimrats, eine Exzellenz, mit Hötzingers verkehrte – freilich nur in Ischl –, so konnte man ihr dies selbst für Wien nicht übelnehmen.
In den nächsten Wochen wichen ihr vollends alle Zweifel. Anna schrieb die heitersten Briefe, in denen sie sehr viel von Ausflügen und Tanzkränzchen sprach und kein einziges Mal von Professor Klauser. Von dem Bruder ihrer Freundin war oft die Rede, aber nur einmal fand sich das Urteil: »Gustel ist wirklich ein guter Junge, auch nicht so dumm, wie er aussieht, sondern noch viel dümmer.«
Erst Ende Oktober fand sich die kleine Familie wieder vollzählig in Wien zusammen; Frau Katharina war bereits einen Monat vorher heimgekehrt, um ihre Stuben bei Beginn des Semesters an die Studenten zu vermieten; dann kam Helene von einem Besuch bei Tante Antonie in Graz, die nun dort als Witwe in gesicherten Verhältnissen lebte; zuletzt Anna, die mit Hötzingers von Ischl aus auf einige Wochen nach Venedig gegangen war. Die Mutter hatte dies nur auf ihre dringende briefliche Bitte gestattet und bereute es nun nicht; Frau von Hötzinger schwärmte von dem Mädchen in kaum mißzuverstehender Weise, und das war auf alle Fälle gut; wies Anna später einmal den guten Gustel ab – und gezwungen sollte sie keinesfalls werden –, so bedeutete es doch die beste Reklame für ein armes Mädchen, die Werbung eines Millionärs abgelehnt zu haben.
Auch mit dem fröhlichen, liebenswürdigen, wenngleich nun etwas lauten Wesen ihrer schönen Tochter war Frau von Knittl sehr zufrieden; wie sich ein Mädchen benahm, das geheimes Sehnen hegte, konnte sie ja an Helenen sehen. Anna jedoch sprach nur von den bevorstehenden Freuden der Saison und meinte, wenn die Rede auf Traunkirchen kam, es sei dort hübsch, aber langweilig gewesen; Klausers Namen nannte sie dabei mit vollster Unbefangenheit. Rechnete Frau Katharina hinzu, daß ihr die gütige, wohlwollende Frau Professor Brichta auf eine diskrete Andeutung hin nicht bloß die beste Auskunft über Klausers Charakter, insbesondere sein seltenes Zartgefühl gegeben, sondern auch ihren Beistand zugesichert, indem sie, plötzlich von Helenen sprechend, die Vorzüge des Mädchens hervorgehoben, so konnte sie dem Kommenden mit einiger Ruhe entgegensehen.
Peinlich war es der starkwilligen Frau nur, vorläufig tatenlos harren zu müssen. Der Professor war noch nicht in Wien eingetroffen und hatte den Beginn seines Kollegs von Woche zu Woche verschoben. Ein trauriger Grund hielt ihn in der Heimat fest, sein hochbetagter Vater lag schwer krank darnieder. Eines Tages brachte Frau Brichta die Nachricht, Klauser habe ihrem Mann eine erfreuliche Besserung gemeldet, doch war dies wohl nur das letzte Aufflackern einer verlöschenden Lebensflamme gewesen; denn als Helene eines Morgens am Frühstückstisch die Zeitung durchsah, rief sie plötzlich erblassend, mit halberstickter Stimme aus: »Klausers Vater ist tot!« Auch Anna wechselte die Farbe; Frau Katharina aber sagte nach einigen Worten aufrichtiger Teilnahme:
»Er war ein sehr alter Mann! Natürlich werde ich Klauser sofort, auch in eurem Namen schreiben. Wir haben seit diesem Sommer ein Recht dazu, nicht erst seine Anzeige abzuwarten.«
Es war etwa zwei Monate später, Ende Januar, und ein heller, klarer Wintertag. Anna saß in einer Fensternische des Salons, über eine Stickarbeit gebeugt, Mutter und Schwester waren zum Jour bei Frau von Bartenegg gegangen; sie hatte über heftiges Kopfweh geklagt, um daheim zu bleiben. Der wahre Grund war, weil sie Gustel Hötzinger dort wußte; die Bewerbung des beschränkten Menschen war ihr nachgerade peinlich geworden, und kaum wußte sie noch, wie sie ihm abwehren sollte, da seine Liebe nun fast denselben Grad erreicht hatte wie seine Dummheit und er jedes Spottwort aus ihrem Munde wie eine Gunst aufnahm. Mama hatte sie ihres Übermuts wegen schon zuweilen strafend angeblickt, auch heute bei ihrer Weigerung ungeduldig das Haupt geschüttelt; offenbar war sie deshalb darüber ungehalten, weil sie Gustels Bewerbung begünstigte. Natürlich, er war ja reich, und wenn nur Helene glücklich wurde, was galt ihre Zukunft!
Sie fühlte die Bitterkeit in ihrem Herzen aufsteigen und kämpfte dagegen an – gewiß, Mama meinte es mit ihren beiden Kindern gleich gut, und wenn sie Klauser Helene zugedacht, so war es nur in der Überzeugung geschehen, daß er diese bevorzuge und sie auch besser für ihn tauge. Das war wohl auch richtig – Helene hatte ja weit mehr gelernt, war auch sanfter als sie – oh! Die hätte gewiß nicht mit so häßlichen Empfindungen zu kämpfen gehabt, wie sie nun zuweilen über ihr Herz kamen, wenn Mama hinwarf, Klauser sei nun seit Neujahr wieder in Wien, verkehre zwar vorläufig nur bei Brichtas, habe sich aber schon oft nach Helenen erkundigt ... War dies richtig? Gewiß! Und doch! Sie dachte an die Traunkirchner Tage, an dieses Wort, an jene kleine Szene – immer süßer und bitterer zugleich wurde ihr zumute, bis ihr die Tränen aus den Augen stürzten und die widerstreitenden Gedanken in wirren Worten auf die Lippen traten ...
Während das holde, junge Geschöpf so fassungslos vor sich hin schluchzte, überhörte es, daß die Magd eingetreten war, und fuhr erst beim Klange ihrer Stimme empor.
»Oh!« murmelte die Treue bestürzt. »Nun weinen Sie auch noch, und der Herr läßt sich nicht abweisen!«
»Wer?« rief Anna und fuhr sich hastig mit dem Tüchlein über Augen und Wangen.
»Der Herr Professor Klauser. Ich habe ihm schon gesagt, daß es nicht unser Jour ist, daß Sie allein sind und Kopfweh haben, aber er sagte darauf: ›Vielleicht empfängt sie mich doch!‹ Was soll ich sagen?«
Anna war sehr bleich geworden.
»Nein!« stieß sie mühsam hervor. Aber als sich die Magd zur Türe wandte, widerrief sie den Befehl. »Ich lasse bitten«, murmelte sie. Es fiel der braven Marie, die sich sonst nicht gern überflüssige Gedanken machte, auf, wie seltsam das Fräulein dabei aussah und nun wie von Flammen überhaucht dastand.
Er trat ein; nicht bloß der Flor um den Hut, auch sein Antlitz verriet, daß in letzter Zeit Schweres über ihn gekommen. Aber seine Augen leuchteten dem Mädchen in einem Glanze entgegen, der ihr ungewohnt war und sie noch verlegener machte.
»Es ist gütig von Ihnen«, begann er, »daß Sie mich dennoch empfangen. Zu Ihrem Jour mochte ich nicht kommen, ich vertrage die vielen Leute noch nicht ...«
»Es ist eine Auszeichnung, die Sie uns erweisen«, erwiderte sie mit zitternder Stimme und lud ihn zum Sitzen. Sie hatte ihm nicht wie sonst, die Hand gereicht; nun fiel es ihr bei, aber sie wagte nicht, es nachzuholen. »Mama und Helene werden aufrichtig bedauern ... Wir haben so oft von Ihnen gesprochen und warmen Anteil an Ihrem Schmerze genommen. Helene sagte –«
Sie stockte. Sie hatte sich fest vorgenommen, edelmütig zu sein, ja in dem Wirrsal der Empfindungen, welche sie vorhin bei der plötzlichen Meldung überflutet, sich selbst überredet, daß sie ihn zu diesem Zwecke empfangen müsse, aber nun wollte es ihr beim besten Willen nicht einfallen, was Helene besonders darüber geäußert.
»Ich danke Ihnen«, sagte er. »Mit meinem Vater ist mir zugleich der herzlichste Freund gestorben. Der weise, milde Greis war auch frisch und teilnahmsvoll wie ein Jüngling.«
»Ja, das sagte uns meine Schwester«, fiel sie ein. »Sie haben ihr einmal erzählt, wie tapfer und edelmütig er ihren Entschluß aufgenommen hat, sich Ihrer Wissenschaft zu widmen, obwohl ihm dadurch sein Lieblingsplan zertrümmert wurde und das Bergwerk nun an Ihre Herren Schwäger fällt.«
Er sah befremdet auf.
»Sie irren!« sagte er lächelnd, aber es war ein schmerzliches Lächeln. »Ich habe für unsere Traunkirchner Tage ein besseres Gedächtnis – Sie waren's, der ich dies erzählte ...«
»Ganz richtig – uns beiden.«
»Ihnen allein; Fräulein Helene war zufällig nicht dabei.«
»Verzeihen Sie!« murmelte sie ganz zerknirscht. In welches Licht hatte sie nun ihre edelmütige Lüge gesetzt! Dann jedoch biß sie die Lippen aufeinander; ›es ist wohl so am besten!‹ dachte sie. Aber lügen wollte sie ferner nicht mehr, es war ja auch nicht nötig. Und darum begann sie nun nach einer Pause verlegenen Schweigens:
»Wir haben uns in der Zwischenzeit auch anderweitig mit Ihnen beschäftigt. Helene hat sich von Brichtas Ihr Tempelwerk geliehen und es ganz durchstudiert.« Und sie erzählte ausführlich, wie die Schwester alle andere Lektüre beiseite gelegt und sich ausschließlich seinem Werke gewidmet, obwohl es ihr anfangs natürlich rechte Mühe gemacht, es ganz zu verstehen.
»Und ist es ihr gelungen?« fragte er.
»Gewiß! – Oh, Sie wissen kaum, wie ernst und gebildet meine Schwester ist.« Und wieder erzählte sie ihm in hastiger Rede und eingehender, als ihm lieb war, was Helene seit ihrer Kindheit alles gelesen und studiert habe.
Er hörte ihr mit schmerzlicher Empfindung zu. Das schöne Mädchen war in Traunkirchen seinem Herzen wahrhaft teuer geworden; er hatte sich all die harten Tage seither sehr nach ihr gesehnt, mühsam in den Wochen seit seiner Rückkunft den Drang bezwungen, zu ihr zu eilen, und es dann wie eine Fügung des Schicksals begrüßt, als er sie allein sprechen konnte. Daß sie nun die Schwester so geflissentlich vorschob, war nicht etwa Koketterie – dieser Zug war ihrem Wesen fremd –, sondern eine milde Form der Abweisung. Sie liebte ihn nicht, im Gegenteil, er erschien ihr seiner Kurzsichtigkeit wegen lächerlich, darum rühmte sie ihre Schwester, hatte sich sogar zugunsten Helenens allzu vergeßlich gestellt, nur um ihn von einem warmen Wort abzuhalten, vielleicht auch weil sie wußte, daß Helene die passable Partie nicht ausschlagen würde. Und dann fiel ihm bei, was ihm Frau Brichta jüngst von Gustels Bewerbung erzählt. Eine herbe Enttäuschung krampfte ihm das Herz zusammen, mit jeder Sekunde Zuhörens wurde er ungeduldiger.
»Das ist ja sehr schön«, fiel er ihr endlich möglichst gleichmütig ins Wort. »Wie ernsthaft Fräulein Helene ist, wußte ich längst. Sie ist überhaupt ein vortreffliches Mädchen.«
»Das ist sie!« rief Anna. »Viel« – die zurückgehaltenen Tränen drohten ihre Stimme zu ersticken, aber sie brachte es doch hervor – »viel edler und bescheidener als ich!«
Er horchte hoch auf. Ihr Antlitz konnte er nicht sehen, obwohl er ihr nicht ferne saß, weil bereits die frühe Dämmerung des Wintertags in das Zimmer brach, aber der Ton der Stimme befremdete ihn. Ein neuer Gedanke blitzte in ihm auf, er konnte wieder lächeln.
»Ihr Bekenntnis deutet gleichfalls nicht gerade auf Unbescheidenheit!« bemerkte er. »Nun müssen Sie mir aber auch erzählen, was Sie getrieben haben. Sie waren mit Hötzingers in Venedig?«
»Ja«, erwiderte sie kurz und fügte erst nach einer Weile hinzu: »Es war sehr schön!«
»Babylonisch schön?!« fragte er lachend, obwohl sein Herz ungestüm zu pochen begann.
Sie wurde purpurrot. Nein! Dies eine sollte und durfte er nicht von ihr glauben, nur dies nicht!
»Ja«, sagte sie und suchte sich gleichfalls zu einem scherzhaften Ton zu zwingen, »aber zuweilen auch aztekenhaft langweilig. Der gute Guste hat sich weniger gut amüsiert als wir Damen; alte Kirchen und Paläste sind nun einmal nicht seine Spezialität!«
»Und worin wäre die zu suchen?«
»Interessiert Sie das?« fragte sie etwas scharf zurück. »Mich nicht, Herr Professor! Mir ist der ganze Mensch gleichgültig, sehr gleichgültig!«
»Aber Sie ihm nicht!«
»Das ist nicht meine Schuld! ... Ich bin ihm immer abweisend begegnet ...« Sie war in höchster Erregung. »Wenn man Ihnen das Gegenteil gesagt hat, so hat man gelogen! Und wenigstens in diesem einen will ich in Ihren Augen nicht schlechter erscheinen, als ich bin!«
Er erhob sich und faßte ihre Hand; beide bebten.
»In diesem einen nicht?« fragte er fast murmelnd, weil ihn ein ungestümes Glücksgefühl zu übermannen drohte. »Und in andern Dingen wollten Sie mir schlechter erscheinen? Ja, Sie wollten es ... Warum?« fragte er sanft.
Sie erwiderte nichts.
»Sie sind ein edles Mädchen, wie Ihre Schwester«, sagte er. »Gewiß, ich schätze Fräulein Helene und gönne ihr das beste Glück der Erde. Ich aber, Fräulein Anna – erinnern Sie sich noch, aus welchem Grunde ich mich einst meiner Wissenschaft –«
»Guten Abend!«
Eine scharfe, laute Stimme schnitt ihm das Wort ab: in der geöffneten Türe stand Frau von Knittl. »Sehr erfreut, Sie zu sehen, Herr Professor.« Sie trat auf ihn zu und begrüßte ihn herzlich. »Sorge für Licht, Anna!«
In der nächsten Minute, wo er in der Dämmerung der energischen Frau gegenübersaß und die Flut ihrer teilnehmenden Worte über sich ergehen ließ, fühlte sich Klauser wenig behaglich, und seine Stimmung besserte sich auch nicht, als die Magd mit der Lampe erschien, hinter ihr die beiden Schwestern. Im Gegenteil, als ihm Helene errötend, in sichtlicher Befangenheit die Hand reichte, ward ihm erst vollends klar, was er bisher nur geahnt, und schwer drückte ihn der Gedanke, daß er sein Glück durch die Kränkung eines anderen, wahrhaft guten Herzens werde erkaufen müssen.
Er wollte sich empfehlen, sobald es die Höflichkeit irgend gestattete.
»Ich will Sie jetzt nicht zurückhalten«, sagte Frau Katharina, als er sich erhob, »es könnte Ihnen sonst für heute unserer Gesellschaft zuviel werden. Wir verbringen auch den Abend gemeinsam bei Brichtas – die Frau Professor lud uns ein, sans façon zu kommen, als wir bei Barteneggs zusammentrafen!«
Der Professor verbeugte sich, murmelte etwas von unverhoffter Freude und ging.
In Wahrheit war seine Empfindung eine recht gemischte. Die Aussicht, Anna so bald wiederzusehen, lockte ihn, und doch fühlte er das Bedürfnis, in aller Stille zu überlegen, wie der entscheidende Schritt zu machen sei. Auch hatte ihm Brichta versichert, daß er nur Vollmer finden werde. Aber das war nun nicht zu ändern, und dann tauchte ihm, wie zum Troste, jener Einfall wieder auf, der ihn einmal in Traunkirchen an Helenens Seite überkommen: Wie, wenn Vollmer an ihr Gefallen fand?! In ungewohnter Erregung verbrachte er die Stunden auf seinem Zimmer, bis es Zeit war, zu Brichtas zu gehen. –
Anna hatte sich, nachdem der Professor gegangen, sofort auf ihr Zimmer zurückgezogen; es schien ihr unmöglich, jetzt mit Mutter und Schwester ein gleichgültiges Gespräch zu führen oder gar eines, das ihn betraf.
Doch trat die Mutter nach einer Weile bei ihr ein, erkundigte sich nach ihrem Befinden und fragte dann wie ganz beiläufig:
»Worüber hast du mit dem Professor gesprochen?«
»Hauptsächlich über Helene.«
»Wie hat er über sie geurteilt?«
»Wir haben sie beide nach Verdienst gelobt.«
»Was hat er zuletzt von seiner Wissenschaft gesagt, als ich hinzukam?«
»Ich weiß nicht, wo er hinauswollte, Mama, du hast ihn mitten im Satz unterbrochen.«
»Es wird nichts Bedeutendes gewesen sein ... Du wirst wohl früh schlafen gehen, Kind? Frau Brichta hat sehr bedauert, daß du nicht mitkommen kannst.«
Sie strich dem Mädchen leicht über das Haar und ging in den Salon zurück. Dort saß Helene, in einen Lehnstuhl geschmiegt, und blickte sinnend in die Lampe.
»Was träumst du da zusammen, Kind?« fragte Frau Katharina weich und zärtlich.
»Nichts, Mama!« Das Mädchen seufzte tief auf.
»Helene«, sagte die Mutter fast feierlich. »Du wirst mir die Frage, die ich dir stellen werde, ehrlich beantworten – so ehrlich, als ob du vor Gott dem Herrn stündest! ... Du liebst den Professor?!«
Helene errötete tief, aber ihre Stimme zitterte nicht.
»Ja, Mama«, erwiderte sie, »aus ganzem Herzen liebe ich ihn. Ich wäre die Glücklichste, wenn er mich erwählen würde, und könnte niemals eines anderen Weib werden.«
Frau Katharina fühlte sich durch die Leidenschaft und Heftigkeit, die aus jeder Silbe sprach, fast erschreckt.
»So spricht in deinem Alter jede!« sagte sie lächelnd.
»Ich werde es immer so empfinden«, erwiderte Helene. »Überleben könnte ich es wohl, wenn er eine andere heiraten würde, aber ich wäre unglücklich bis an mein Ende!«
»Und glaubst du, daß er dich liebt?«
»Nein, Mama. Aber ich glaube, er ist mir gut gesinnt und keiner andern besser. In Traunkirchen fürchtete ich dies und litt deshalb viel, aber noch mehr, weil ich meinte, daß auch Anna ihn liebe. Das ist aber nicht richtig, sie könnte sonst jene Zeit unmöglich langweilig finden, und damit ist auch meine Besorgnis seinetwegen geschwunden; er ist nicht der Mann, ein Mädchen zu lieben, dem er gleichgültig ist.«
Die Mutter nickte. »Wir wollen das Beste hoffen, Kind.«
Von da ab sprachen sie kein Wort mehr über ihn, auch nicht auf dem Wege zu Brichtas.
Dort gestaltete sich der Abend recht unerquicklich. Vollmer sprach kein Wort, auch Klauser war einsilbig; daß Anna nicht erschienen, deutete er so, daß Frau von Knittl seine Wahl geflissentlich auf Helene leiten wollte, und das bekümmerte ihn tief, und zwar um so mehr, weil sein weiches Gemüt ihre Handlungsweise recht wohl verstehen und entschuldigen konnte.
Jedenfalls war diese Situation eine unhaltbare; er durfte die Mutter und Helenen nicht täuschen, aber er mußte auch sich selbst Gewißheit gewinnen, ob Anna seine Werbung annehme. Diesen Gedanken vermochte er sich erst nach Tische allmählich zu entwinden, als Frau Brichta ihn und das Mädchen in ein lebhaftes Gespräch über ein Buch verwickelte, das eben viel von sich reden machte. Helene sprach ebenso vernünftig wie bescheiden, aber Klauser hörte ihr nicht bloß deshalb gerne zu, sondern auch, weil ihre Stimme so merkwürdig jener glich, die ihm wie die schönste Musik dieser Erde ins Ohr tönte.
Darum blieb er auch gerne an ihrer Seite sitzen, nachdem sich Frau Bricht erhoben, und beantwortete die Fragen, die das Mädchen bezüglich seines eigenen Buches an ihn richtete. Dann aber tauchte sein Unbehagen wieder auf; es schien ihm unwürdig, das arme, brave, unhübsche Kind auch nur durch eine lebhafte Unterhaltung in seinem traurigen Irrtum zu bestärken. Allmählich verstummte er, Helene sprach noch eine Weile fort, dann stockte das Gespräch.
Frau von Knittl, die das Paar nicht aus den Augen gelassen, trat hinzu. ›Lieber abbrechen, als daß er sich langweilt‹, dachte sie. Laut aber sagte sie:
»Du wirst mir zürnen, Kind, daß ich dich einer so anregenden Unterhaltung entziehe, aber es muß sein! Elf Uhr! Wir wollen gehen ...«
Davon wollte aber die Hausfrau nichts hören und zwang die Gesellschaft noch einmal zum Sitzen. Nur Klauser trat in eine Fensternische, preßte die heiße Stirn an die Scheiben und blickte in die schneelichte Nacht hinaus. So ging es nicht länger, er wollte morgen Gewißheit und sich schon heute die Möglichkeit hiezu sichern.
Darum trat er, als die Gesellschaft aufbrach, zum Abschied an die Oberstin heran.
»Gnädigste Frau«, sagte er mit bewegter Stimme, »Sie haben heute eine Unterredung unterbrochen, welche von meiner Wissenschaft ausging und mein Lebensglück betraf. Gestatten Sie mir, diese Unterredung morgen in Ihrem Hause zu Ende zu führen?«
Sie hatte ihn verstanden, das bewies die Blässe, die plötzlich ihr breites Antlitz überflog. Die starke Frau zitterte und schloß die Augen, als fühlte sie sich einer Ohnmacht nahe. Endlich, nach einer Pause, die ihm eine Ewigkeit dünkte, stieß sie mühsam, mit halberstickter Stimme hervor:
»Ich werde Ihnen morgen brieflich antworten.«
Bestürzt, ja in verzweifelter Stimmung trat Klauser an Vollmers Seite den Heimweg an. Seine plötzliche Ansprache mochte die Oberstin überrascht haben; daß jedoch sie, eine Dame von allbekannter Geistesgegenwart, so fassungslos, fast entsetzt gewesen, konnte er nur als schlimmstes Zeichen für seine Werbung deuten. Diese kam ihr offenbar sehr ungelegen, weil sie bereits über Annas Hand für Hötzinger verfügt und nun von seinem Dazwischentreten eine Störung für ihre Pläne befürchtete.
Mehrere Stunden lang schritt er in trübsten Gedanken auf und nieder und fand spät den Schlaf.
Um so fröhlicher sollte sein nächster Morgen sein.
Schon gegen zehn Uhr kam ihm das verheißene Schreiben zu, er überflog es und jubelte auf – das war ein unzweifelhaftes »Ja!«. In ihren eckigen, großen, energischen Schriftzügen hatte die Oberstin geschrieben: »Lieber Freund! Sie werden uns heute um fünf Uhr herzlich willkommen sein!« Am liebsten wäre er sofort hingeeilt, hätte die Einladung nicht so präzis gelautet.
In demselben Augenblick, da er ihre Zeilen las, stand Frau Katharina in ihrer Schlafstube vor dem Bilde ihres Gatten, das über ihrem Bette hing. Sie war sehr bleich; ihr Antlitz wies denselben Ausdruck düsterer Starrheit wie vor Jahren bei jenem Martergang ins Ministerium.
»Verzeih mir, Mathias!« brach es endlich in leidenschaftlichem, dumpfem Flüstern aus ihrem Munde. »Verzeih mir, du Redlicher, du Guter! Ich mußte es wagen, ich mußte – sie ist ja auch dein Kind!«
Mit dem Schlag der fünften Stunde stieg der Professor die Treppe des Hauses in der Reisnerstraße empor. Das letzte Sonnengold wich eben vom Winterhimmel, und als er leise an die Tür des Salons pochte und auf ein lautes, aber zitterndes: »Herein!« der lieben, wohlbekannten Stimme eintrat, füllte bereits die Dämmerung das tiefe Gemach.
Gleichwohl konnte er die Gestalt der Geliebten deutlich unterscheiden, sie stand neben einem Fauteuil, die Hand auf der Lehne desselben aufgestützt; der letzte Rest des Lichts umwob ihr Goldhaar.
Rasch trat er auf sie zu.
»Sie wissen, weshalb ich komme?« begann er.
»Ich weiß es!« erwiderte sie leise, wie jubelnd und trat einen Schritt vor.
Im nächsten Augenblicke lagen sie einander in den Armen, Wange an Wange, dann Mund auf Mund gepreßt.
Nur wenige Sekunden lang. Die Mutter war plötzlich an ihrer Seite, er wußte nicht, ob sie im Zimmer gewesen oder nur eben so rasch eingetreten. Sie küßte ihr Kind auf die Stirne und faßte die Hand des neugewonnenen Sohnes.
»Alles Gute mit euch!« sagte sie mit zitternder, halb erstickter Stimme. »Werdet so glücklich, wie ihr es verdient. Du bist mir eine gute Tochter gewesen, Helene, und wirst ihm ein gutes Weib sein!«
»Helene?«
Er wollte es entsetze rufen und brachte keinen Laut über die Lippen. Die Oberstin fühlte nur, wie seine Hand, die in der ihrigen lag, zuckte, sich losringen wollte, dann kalt wurde und wie gelähmt in der ihren blieb.
Sie selbst fühlte sich dem Umsinken nahe, aber sie fuhr fort:
»Sie sind edel und zartfühlend, Ihnen vertraue ich mein Kind gerne an! Helene liebt Sie aufrichtig. Vor Gott dem Herrn kann ich bezeugen, daß sie mir gestern sagte: ›Wählt er eine andere, so bin ich unglücklich bis an mein Ende!‹ Sie werden diese Liebe zu lohnen wissen!«
Helene weinte still und heftig vor sich hin – er aber, wortlos, regungslos stand er da, erdrückt von der Wucht dieses entsetzlichen Augenblicks. Wild zuckten die Gedanken durch sein Hirn, die Empfindungen durch sein Gemüt.
»Sprich!« rief es in ihm. »Jede Sekunde Schweigens ist ein Verbrechen an dir und Anna!« Aber was sollte er sagen, wie das Unerhörte aufklären, ohne das arme Mädchen da tödlich zu verwunden?! Als Frau von Knittl die Lampe entzündete und er das tränenüberströmte Antlitz Helenens mit dem Ausdruck rührendster Hingebung sich zugewendet sah, wichen die Empfindungen, die ihn bisher durchstürmt, die Erregung, die Verzweiflung, die grenzenlose Befangenheit vor der einen: dem Mitleid. Er durfte es nur brieflich tun.
Jetzt freilich fand er zunächst auch kein anderes Wort. Statt seiner sprach Frau Katharina; sie erzählte von ihrem Gatten, ihrer Familie. Dabei las sie in der Seele des schweigenden Mannes wie in einem offenen Buche. ›Jetzt stilisiert er den Brief an mich!‹ dachte sie schauernd. Und als draußen ein Schritt ging und er zusammenfuhr, deutete sie auch dies richtig. ›Und nun muß ich auch noch einen neuen Betrug auf meine Seele nehmen‹, dachte sie verzweiflungsvoll ... »Wie wird sich Anna freuen, wenn sie heimkommt!« sagte sie dann laut. »Sie hat neben der Liebe zu Helenen auch noch ihren besonderen Grund dazu. Jetzt, wo Sie zur Familie gehören, darf ich's sagen: Ein trefflicher Mann liebt sie und wird von ihr geliebt. Den Namen sollen Sie später erfahren; der dumme Gustel, von dem die Leute schwatzen, ist's natürlich nicht. Und sie wußte wohl, daß ich die Verlobung der Jüngeren vor der der Älteren nicht zugeben würde!«
Helene konnte einen Ausruf freudigster Überraschung nicht unterdrücken; er überhörte es, so sehr schmetterte ihn dieser neue Schlag nieder. ›Fort‹, dachte er, ›ich ersticke‹.
Aber da ging die Klingel, ein Besuch trat ins Zimmer; es war Lina Brichta. Befremdet gewahrte sie Helenens Tränen, Klausers erregtes Antlitz. Frau Katharina erhob sich:
»Sie dürfen uns beglückwünschen, liebes Kind! Klauser hat sich eben mit Helene verlobt. Vor Ihnen und Ihren Eltern wollen wir kein Geheimnis haben; die offizielle Nachricht wird Klausers Trauer wegen erst in einigen Wochen folgen; ich denke, bis das erste Vierteljahr um ist.«
Dann aber, nachdem Lina ihre Glückwünsche ausgesprochen, wandte sie sich an den Professor: »Verzeihen Sie, daß ich Sie nun fortschicke, lieber Sohn, aber Helene bedarf der Ruhe. Natürlich erwarten wir Sie morgen zum Speisen.« –
»Er war so seltsam, fast verstört«, klagte Helene der Mutter, nachdem auch Lina gegangen war. Aber diese tröstete:
»Nicht verstört, sondern von seinem Glück überwältigt ...! Meine Mitteilung über Minna«, fuhr sie fort, »hat auch dich überrascht. Ich durfte es dir nicht früher sagen, auch jetzt muß ich den Namen verhehlen. Du weißt, sie ist so eigen, und ich habe ihr mein Schweigen feierlich zusichern müssen. Sag auch du ihr nichts darüber!« Anna hatte mit Barteneggs eine Schlittenpartie nach deren Villa in Sankt Veit unternommen; draußen sollte soupiert, dann getanzt werden. »Sie kommt wohl erst gegen Mitternacht heim«, fuhr sie fort. »Du wirst früh zu Bette gehn, sonst findet dein Heinrich morgen ein allzu blasses Bräutchen. Ich will aufbleiben und sie erwarten.«
So tat sie.
»Eine freudige Nachricht«, sagte sie der Heimkehrenden, die erstaunt war, Mama noch wach zu finden. Sie zog sie in den Salon und erzählte. »Denke dir die Überraschung!« schloß sie.
Anna wurde totenbleich und taumelte einen Schritt zurück.
»Unmöglich!« rief sie wild. »Nachdem, was er mir gestern – Wie ist es zugegangen? Ich muß alles wissen!«
Frau Katharina hatte Mühe, ihre Fassung zu behaupten, und doch bedurfte sie ihrer. Möglichst gelassen erwiderte sie, daß Klauser gestern von ihr eine Unterredung mit Helenen erbeten, heute seine Werbung vorgebracht.
Anna hörte mit gesenktem Haupte, schwer atmend zu.
»Was hast du?« fragte die Mutter. »Anna, du liebst ihn doch nicht? Du hast ja seiner nie erwähnt und häufig geäußert, wie sehr du dich in seiner Gesellschaft gelangweilt hast?«
»Ja, ja!« rief das Mädchen leidenschaftlich. »Bisher war er mir gleichgültig, nun aber verachte ich ihn!«
Sie warf sich in einen Fauteuil und schlug die Hände vors Antlitz.
Es war eine lange Stille zwischen den beiden.
Dann trat die Mutter auf sie zu.
»Und das willst du«, fragte sie fast flehentlich, »deiner Schwester sagen, die deiner harrt, um ihre Freude mit dir zu teilen?«
»Sei unbesorgt, Mutter«, war die Antwort. »Helene ist gut; möge sie glücklich werden!« Und dasselbe sagte sie der Schwester einige Minuten später in ihrer gemeinsamen Schlafstube unter heißen Küssen und Tränen. Lange, lange hielten sich die beiden innig umfangen.
Im nächsten Gemach aber saß die Mutter, lauschte ihrem leisen Schluchzen und sehnte sich umsonst nach lindernden Tränen. »Anna liebt ihn«, murmelte sie. »Das wenigstens habe ich nicht gewußt; das darfst du mir nicht in das Schuldbuch schreiben, mein Gott und Herr!«
Dann aber richtete sie sich wieder auf. »Ich habe nicht anders gekonnt, und alles wird, nein, muß gut werden!«
Sie dachte an den Mann, der wohl eben mit sich kämpfte. Gäbe es eine Wirkung in die Ferne, er hätte ihr erliegen müssen, so ehern umklammerten ihn alle ihre Gedanken.
Aber es bedurfte solchen Wunders nicht; sein eigenes weiches, zartfühlendes Wesen zwang ihn in dieselbe Bahn. Brütend saß er am Schreibtisch, schritt dann auf und ab und setzte sich wieder. Stunde um Stunde verrann; an die hundert Briefe mochte er in Gedanken geschrieben haben, aber auf dem Bogen vor ihm stand nur die Anrede, und dabei blieb es auch.
Was gab ihm das Recht, das edle, gute Mädchen ins Herz zu treffen? Vielleicht war er einem listig ausgeheckten Betrug der Mutter ins Garn gegangen; ihre ungezähmte, kein Mittel scheuende Energie, die ungewöhnliche Stunde machten es denkbar; aber dieselbe Stunde hatte er selbst tags zuvor für seinen Besuch gewählt, und gegen den Verdacht sprach ja auch das Unerhörte des Wagnisses! Wahrscheinlicher als ein Betrug schien ihm ein Irrtum der Dame; sie wußte um Helenens Liebe, wünschte, daß sich seine Wahl auf diese lenke, glaubte nach Menschenart gern, was sie so heiß wünschte, und hatte ein Recht dazu; hatte sich nicht auch sein Gespräch mit Helene, das sie gleichfalls unterbrochen, auf seine Wissenschaft bezogen?! Ein Zufall, dann seine Schwachsichtigkeit hatte die unselige Werbung bewirkt – warum sollte Helene dafür büßen? Sie, die doch sicherlich an jedem Betrug unschuldig war?! Und Anna war ihm ja jedenfalls verloren, sie liebte einen andern! Das war keine Lüge der Oberstin gewesen! – Unmöglich! Auch er hatte sich bei der Unterredung mit Anna getäuscht, indem er aus der nun doppelt begreiflichen Erregtheit, mit der sie den Gedanken an den Laffen abgewiesen, ein wärmeres Gefühl für sich herausgehört.
Aber wie sollte er Helene zu seinem Weibe machen, mit der Liebe zu ihrer Schwester im Herzen? Er würde dann unglücklich – und könnte sie glücklich werden? Wieder trieb es ihn empor; schon war es heller Morgen, und noch schritt er ratlos, verzweifelt auf und nieder.
Um die achte Stunde trat sein Diener ein; bestürzt blickte er seinem Herrn ins blasse, überwachte Antlitz, dann nach dem unberührten Lager hin, wagte jedoch keine Frage; stumm legte er die Briefe, welche die Frühpost gebracht, vor ihn hin.
Klauser griff nach dem ersten; er enthielt die Karte eines befreundeten Kollegen: »Vivat Frau Helene Klauser!« stand darauf.
»Auch das noch!« murmelte er. »Daran habe ich nicht gedacht!« Ähnlichen Inhalts waren einige andere Briefe; der letzte, von Brichtas Hand, enthielt auch die Erklärung, wie die Nachricht schon am selben Abend den Herren bekannt geworden: seine Tochter habe ihm die frohe Kunde auf der Treppe erzählt, als er eben zum allwöchentlichen Professorenabend ausgegangen.
›Und heute weiß es ganz Wien!‹ dachte Klauser. ›Trete ich nun zurück, so bleibt der Makel auf dem Mädchen haften. Und sage ich den Leuten die Wahrheit, so bleibt ein Makel doch, der der Lächerlichkeit, auf ihr und – auf mir!‹ Er hatte bisher nicht daran gedacht, daß sich ein Zug, der die Lachlust reizen könne, in die Tragik dieser Verlobung mische – nun empfand er dies als neues und schärfstes Weh. Es war ein unreines Element, das seinen Schmerz auch in seinen Augen erniedrigte.
»Nein! Nein!« knirschte er. »Sie sollen mich und das arme Mädchen nicht belächeln noch bedauern dürfen!«
Was geschehen, war nicht mehr zu ändern; er wollte es tragen.
Als er sich am nächsten Tage gegen die Mittagsstunde in der Reisnerstraße einfand, gewann er es über sich, Helenen freundlich zuzulächeln, ihre Stirne mit einem Kuß zu streifen; auch die Glückwünsche zahlreicher Besucher – es war ein Sonntag – ertrug er mit guter Miene.
Aber seine Stirne umwölkte sich, als sie sich nur zu dreien zu Tisch setzten. Anna habe sich gestern erkältet, erklärte die Mutter; sie dürfe das Bett nicht verlassen – natürlich ein Unwohlsein ohne Bedeutung. Das machte ihn unruhig und argwöhnisch; auch Helene war schweigsam und gedrückt; um so liebenswürdiger gab sich die Mutter, was wahrlich keine Heuchelei war; sie wäre ihm, als er gekommen, gerne um den Hals geflogen.
Noch düsterer ward seine Stimmung am Abend; neben vielen anderen Besuchern fanden sich Hötzingers ein, und kaum, daß sie in den Salon getreten, erschien auch Anna, recht blaß, aber anscheinend in fröhlichster Laune. »Meinen Glückwunsch!« sagte sie lachend zu Klauser und schüttelte ihm kräftig die Hand. »Ich war aber gar nicht überrascht!«
Das war alles, was sie an ihn wendete; von da ab sprach sie fast ausschließlich mit Hötzingers. Als diese erzählten, sie reisten am nächsten Morgen auf ihr Gut bei Brünn, um dort die ländlichen Winterfreuden eine Woche lang auszukosten, fragte sie sofort:
»Darf ich mit?«
Sie stimmten mit Vergnügen zu, Gustel versicherte ein dutzendmal, ein so babylonisch reizender Einfall sei ihm noch nie vorgekommen, und auch Frau Katharina gab anscheinend freudig ihre Zustimmung.
Als die letzten Besucher gegangen waren, empfahl sich auch Klauser; er habe die Nacht schlaflos zugebracht, entschuldigte er sich.
Wieder mußte Frau Katharina die bekümmerte Braut trösten; sie tat es diesmal mit ungleich größerer Zuversicht.
»Er wird morgen zärtlich sein!« schloß sie mit einer Bestimmtheit, als sicherte sie ihr für den nächsten Tag einen neuen Hut zu.
Sie irrte; Klauser ward auch in der Folge nicht zärtlicher.
Er fand sich täglich mit den besten Vorsätzen ein und gab sich auch ehrliche Mühe, seiner Braut liebreich zu begegnen, aber ein kosendes Wort wollte ihm nicht über die Lippen, und ihren Mund berührte er seit der Verlobungsstunde nicht mehr.
Das arme Mädchen litt viel darunter und weinte heimlich die bittersten Tränen. Vergeblich tröstete die Mutter: »Jeder Mann muß sich an den Brautstand gewöhnen; der zärtlichste Bräutigam hat anfangs Stunden, wo er seufzend an die verlorene Freiheit denkt – und was willst du, er ist eben ein schüchterner Mensch!« – Helene fühlte doch, daß es da an etwas fehle; vielleicht an dem Besten, an der Liebe, dachte sie in tiefem Gram.
So war eine Woche vergangen.
Als Klauser am nächsten Sonntag gegen die elfte Vormittagsstunde zu seiner Braut kam, empfing ihn die gute Marie, die ihn seines gesetzten Wesens wegen sehr ins Herz geschlossen, mit geheimnisvollem Lächeln.
»Eine Neuigkeit, Herr Professor«, flüsterte sie ihm vertraulich zu. »Wir haben nun zwei Bräute im Haus! Fräulein Anna ist gestern abend heimgekommen, sie hat sich auf dem Gut mit dem Herrn von Hötzinger verlobt!«
Er taumelte einen Schritt zurück.
»Unmöglich!« rief er.
»Aber, wenn ich's Ihnen sage!« beteuerte Marie fast gekränkt. »Es fehlt nur noch das Jawort der Frau Oberstin, und der Herr Gustel wird um ein Uhr im schwarzen Frack kommen, es sich zu holen ... Fräulein Helene und die gnädige Frau sind ausgegangen, kommen aber bald zurück. Auch können Sie ja Fräulein Anna selbst fragen ... Aber was ist Ihnen, Herr Professor, Sie sehen ja zum Erschrecken aus ...«
»Es ist nichts ... Ist Fräulein Anna im Salon?«
»Nein, in ihrem Zimmer. Soll ich sie in den Salon bitten?«
»Ja – sofort!«
Nach wenigen Sekunden kehrte die Magd zurück.
»Das Fräulein ist unwohl«, meldete sie mit verlegener Miene.
Er stand einen Moment unschlüssig, im nächsten war er bereits im Vorzimmer, klopfte an die Türe der Stube der Schwestern und trat, ohne Antwort abzuwarten, ein.
Es war ein kleines Gemach, das außer den Betten der beiden Mädchen nur wenigen, dürftigen Hausrat enthielt. Eine Türe, die nur angelehnt war, führte in das Schlafzimmer der Oberstin. An einem Schreibtischchen neben dieser Türe war Anna gesessen, bei seinem Eintritt richtete sie sich hastig empor.
»Sie entschuldigen!« sagte er fliegenden Atems. »Aber ich muß Sie sprechen! Sie wollen sich mit Herrn von Hötzinger verloben?«
Sie trat ihm einen Schritt entgegen.
»Ja!« erwiderte sie kurz. »Ich habe es eigentlich sogar bereits getan.« Ihr Ton wurde immer schärfer. »Entschuldigen Sie, daß ich Sie nicht vorher um Ihre gütige Erlaubnis gebeten habe!«
»Es darf nicht sein!« rief er und faßte ihre Hand. »Sie machen sich für Lebenszeit unglücklich, Anna! Dieser Laffe –«
Sie riß ihre Hand aus der seinen und wich zurück; ihre Augen blitzten.
»Schweigen Sie!« rief sie. »Wer gibt Ihnen das Recht, meinen künftigen Gatten zu beschimpfen?«
»Sie selbst haben den Mann nicht höher taxiert! Noch bei unserer letzten Unterredung! – Erinnern Sie sich doch –«
Sie richtete sich hoch auf. »Und an diese Unterredung wagen Sie mich zu mahnen ...?« Aber das Wort reute sie, kaum daß es ihr entfahren war. »Ich danke für Ihre gütige Teilnahme!« fuhr sie rasch fort. »Jedoch Besuche in diesem Zimmer –«
Er hatte seine Fassung wiedergewonnen.
»Man kümmert sich um solche Lappalien nicht, wo ein Lebensglück auf dem Spiel steht. Es ist unmöglich, daß Ihnen dieser Mensch teuer sein kann. Auch lieben Sie ja einen anderen, einen Würdigeren! Jetzt, wo Helene versorgt ist, steht Ihrer Neigung kein Hindernis mehr im Wege!«
»Einen andern? Sie sprechen im Fieber! Wen?«
»Den Namen kenne ich nicht. Ihre Mutter nannte ihn nicht. Aber die Tatsache selbst wird sie ja wohl nicht erfunden haben!«
Sie horchte auf.
»Also meine Mutter erzählte Ihnen das! Wann? War –«
Sie stockte und fuhr dann mit fast erstickter Stimme fort:
»War meine Schwester bereits Ihre Braut?«
»Ja!«
»Dann verstehe ich es nicht. Denn es war eine Unwahrheit.«
»Aber ich verstehe es!« sagte er langsam, dumpf, jedes Wort betonend. »Alles verstehe ich nun! Oh, es ist furchtbar!«
»Was?«
Er blickte zu Boden.
»Es würde nichts nützen!« murmelte er. »Nur eines habe ich Ihnen noch zu sagen, von Ihnen zu erflehen, weisen Sie die Werbung dieses Menschen ab! Lassen Sie sich nicht von dem Glanz dieses Reichtums blenden, dessen schmählichen Ursprung alle Welt kennt ... Ich flehe sie um Ihretwillen an ... ich habe ja nichts mehr zu hoffen ...«
»Sie führen seltsame Reden, Herr Professor«, sagte sie mit wieder aufflammendem Hohn. »Darf ich Sie daran erinnern, daß Sie der Bräutigam meiner Schwester sind? Es war lange nicht zu entscheiden, welche von uns beiden Sie mit Ihrer Neigung beglückten, und Sie hatten dies recht geschickt zu verbergen gewußt. Aber nun sollte das erbärmliche Spiel sein Ende haben. Es ist auch nutzlos, Herr Professor. Diese letzte, sentimentale Redensart zum Beispiel war ja recht geschickt hingeseufzt und hat auf mich doch nur den Eindruck einer Infamie –«
»Halt!« rief er außer sich. »Auch meine Kraft hat ein Ende. Ich habe Sie verloren, Ihre Achtung will ich behalten! Ich habe kein erbärmliches Spiel getrieben. Ich habe Sie geliebt, Sie zu werben kam ich her und drückte Ihrer Schwester den Verlobungskuß auf die Lippen, in der Meinung, daß Sie es wären!«
Ein leiser, dumpfer Schrei, ein Aufschrei des tiefsten Wehs folgte diesen Worten; er glaubte, daß er von ihren Lippen gekommen.
Sie aber stand stumm, regungslos da.
Endlich murmelte sie: »Erzählen Sie alles!«
Er berichtete es in kurzen Worten.
»Wir wollen nicht fragen, wie sich das Unheil gefügt hat«, fuhr er fort. »Ich bin nun der Verlobte Ihrer edlen, trefflichen Schwester. Sie liebt mich, ich weiß es. Daß mein Herz Ihnen gehörte – nein! ich mag nicht lügen! –, daß es Ihnen gehört und gehören wird, soll sie durch meine Schuld nie erfahren. Für uns alle wäre es nicht gut, wenn wir in einer Stadt blieben. Ich habe bisher jeden Ruf an eine auswärtige Hochschule ausgeschlagen, den nächsten, der mir nach meiner Verheiratung zukommt, nehme ich an. Sie aber – Ihnen ist sicherlich jenes schöne Glück vorbestimmt, dessen Sie würdig sind! Ketten Sie sich nicht an diesen Menschen, aus Erbarmen für sich und mich! Ich trage mein Leid, aber der Gedanke, daß die Ereignisse der letzten Tage an Ihrer Entschließung schuldig sind, würde mich erdrücken. Noch einmal, Anna, erbarmen Sie sich meiner – ich bin auch ohnehin unglücklich genug!«
Sie hörte ihn stumm, gesenkten Hauptes an. Dann zuckte es in ihren Zügen, jähe Tränen überquollen ihre Wangen, zitternd streckte sie ihm die Hand entgegen.
»Ich will ...«, murmelte sie. »Es wäre wohl auch ohnehin über meine Kraft gegangen ...«
»Ich danke Ihnen!«
Er wollte ihre Hand fassen. Im nächsten Augenblicke aber –
»Oh, daß es so hat kommen müssen!« schluchzte sie wild auf, und er fühlte ihre Arme um seinen Nacken geschlungen, ihren Mund auf dem seinen.
Nur eine Sekunde lang. Im nächsten Augenblicke stand er wieder im Vorzimmer und trat dann, sich mühsam sammelnd, in den Salon zurück.
Kurz darauf trat die Oberstin ein: sie war eben heimgekommen und hatte noch den Hut nicht abgelegt.
»Sie sind allein?« fragte sie erstaunt. »Ist Helene noch nicht da? Sie trennte sich vor einer Viertelstunde von mir, um rascher nach Hause zu kommen, weil sie Sie erwartete. Dann wird sie wohl noch in ihrem Zimmer sein und nicht wissen, daß Sie da sind.«
Rasch trat sie auf die Türe ihres eigenen Schlafzimmers zu, durch das man aus dem Salon in jenes der Mädchen gelangte. Die Türe war verriegelt.
»Was soll das nun wieder?« rief sie ungeduldig und klopfte heftig. »Bist du drin, Helene?«
Es kam keine Antwort, erst auf nochmaliges Klopfen ein leises »Ja!«
»Nun, so öffne doch! Heinrich ist hier ... Kleidest du dich um?«
»Ja – ich komme bald!«
»Was ist das für eine kuriose Stimme? Weinst du? – Bist du nicht wohl?«
»Ganz wohl, Mama!«
Kopfschüttelnd trat Frau Katharina zurück und wandte sich wieder zu Klauser. Er hatte das Gespräch nur wie im Traum gehört; einen Augenblick dachte er daran: ›Um Himmels willen! Wenn Helene unser Gespräch gehört hat!‹ – dann nahm ihn der Gedanke an Anna wieder in Bann. Denn Frau Katharina erzählte ihm eben des langen und breiten die Geschichte von der neuen Verlobung und schloß:
»Mir paßt's nicht recht; auch hatten ja Anna und ich, wie ich ihnen bereits einmal angedeutet habe, eigentlich ganz andere Absichten, aber was will ich nun mit dem eigensinnigen Mädel anfangen? Es bleibt mir eben nichts übrig, als heute dem Gustel in Gottes Namen ja und amen zu sagen!«
Er erwiderte nichts, es fiel der Oberstin nicht auf, und sie begann nun auch die Lichtseiten der neuen Verbindung zu schildern.
Da trat die Magd ein. »Das Fräulein Anna läßt die gnädige Frau bitten, sofort zu ihr zu kommen!« Und flüsternd, aber so, daß es der Professor deutlich hören konnte, fügte sie hinzu: »Das Fräulein ist so aufgeregt und weint sehr. Soeben ist auch Fräulein Helene zu ihr eingetreten, und nun weinen beide, daß es einen Stein erbarmen könnte!«
»Was das nun wieder ist!« murmelte die Oberstin unmutig und erhob sich. »Sie entschuldigen, lieber Sohn!«
Diesmal blieb er wohl eine halbe Stunde allein.
Endlich erschien Frau Katharina wieder. »Da haben wir die Bescherung!« sagte sie mit hochgerötetem Antlitz. »Nun will sie plötzlich wieder den Gustel partout nicht, und Helene unterstützt sie noch dabei. ›Anna muß den Mann heiraten, der ihrer würdig ist‹, wiederholt sie immer. An wen sie dabei nur denken mag? ... Das heißt,« unterbrach sie sich hastig, »wahrscheinlich meint sie denselben, von dem ich Ihnen vorhin sprach! Nun, so muß denn ich in den sauren Apfel beißen und es übernehmen, den Gustel aufzuklären ...«
Sie warf einen Blick auf die Uhr. »Bald eins! Er muß ja gleich dasein! Verzeihen Sie, lieber Heinrich, daß ich Sie nun fortschicken muß und nicht einlade, mit uns zu frühstücken. Helene mag sich jetzt vor Ihnen nicht blicken lassen – sie ist so verweint! Natürlich treffen wir uns um fünf Uhr bei Brichtas zum Diner. Ihr werdet scharf angetoastet werden!«
Er ging.
Als er aus dem Hause trat, fuhr eben Hötzingers Wagen vor ...
Als Klauser um die angesagte Stunde zu Brichtas kam, traf er seine Braut nicht; außer einigen Freunden waren nur Anna und die Mutter zugegen.
»Da kann man wieder Helenens Gemüt erkennen!« sagte ihm Frau von Knittl. »Sie hat sich die Szenen von heute vormittag so zu Herzen genommen, daß sie nun tatsächlich zu Hause bleiben mußte. Auch ich bin recht angegriffen; der Gustel tut mir aufrichtig leid; helfen konnte ich ihm nicht. Am gefaßtesten ist eigentlich Anna, die es doch am nächsten angeht.«
Die Mutter irrte; das Mädchen war nur deshalb mitgekommen, weil Helene dies mit rätselhafter Heftigkeit von ihr erfleht. Als sie Klauser sah, überzog ein Glutstrom ihre Wangen.
Das Diner – ein Brautdiner ohne Braut – verlief recht still; die Toaste waren auf Klausers Bitte unterblieben.
Unmittelbar nachdem die Tafel aufgehoben war – es ging gegen sieben Uhr –, stahl sich Frau Katharina hinweg, ohne daß die andern es gewahrten. »Ich muß nach Helenen sehen«, flüsterte sie ihrer jüngeren Tochter zu, »mir scheint, sie hat etwas Fieber. Du mußt vorläufig hierbleiben und mich dann entschuldigen!«
Als sie die Treppe zu ihrer Wohnung emporstieg, kam ihr Marie entgegen.
»Gottlob, daß Sie da sind!« rief sie ihrer Herrin entgegen. »Soeben wollte ich Sie holen, obwohl es das Fräulein streng verboten hat. Aber ich konnte es nicht auf mein Gewissen nehmen, länger zuzusehen ...«
Die Oberstin mußte sich an das Geländer halten.
»Sie ist krank?« rief sie.
»Nein! – Oder doch vielleicht, sie ist so totenblaß! Aber denken Sie nur, kaum daß Sie fort waren, habe ich ihren Koffer vom Hausboden holen müssen. Und für acht Uhr hat sie sich einen Wagen zur Südbahn bestellen lassen!«
Frau Katharina starrte die Magd entsetzt an. »Herr im Himmel«, dachte sie, »sollte sie plötzlich wahnsinnig geworden sein?!«
Im nächsten Augenblicke war sie in ihrer Wohnung, im Zimmer des Mädchens.
Helene schloß eben ihren Koffer. »Was soll das heißen?« schrie die Mutter schrill auf.
Helene war bei ihrem Eintritt zusammengezuckt, nun richtete sie sich langsam auf.
»Ich reise nach Graz, zu Tante Antonie«, sagte sie leise, aber fest. »Der Zug geht um neun ... Es tut mir leid, Mama, daß du gekommen bist, ich hätte die Unterredung gern vermieden; das Notwendige sollte dir dieser Brief sagen.« Sie wies auf ein Schreiben, das geschlossen auf dem Tische lag. »Und ändern wirst du meinen Entschluß nicht!«
»Was sprichst du da?« murmelte die Mutter heiser und wiederholte dann dieselben Worte mit gellender Stimme. »Nach Graz ...? Wozu ...? Was soll dein Verlobter davon denken?!«
»Das ist Klauser nicht mehr!« sagte Helene. »Ein Brief, den er heute abend bei seiner Heimkunft von mir vorfindet, gibt ihn frei!«
»Aber, mein Gott! – Liebst du ihn nicht mehr?«
»Ja!« rief Helene. »Ja! Ich liebe ihn, wie nur je ein Mädchen einen Mann geliebt hat – wie ihn keine andere liebt!« Es war ein Ton unsäglicher Leidenschaftlichkeit in ihrer Stimme. »Und ich werde ihn lieben, bis ich sterbe! Und eben darum gab ich ihn frei! Er soll durch mich nicht unglücklich werden!«
»Unglücklich! Was du dir nur einbildest! Weil er dir nicht zärtlich und heiter genug scheint? Ich sagte dir schon, das wird sich geben. Wärest du ihm nicht teuer, hätte er dann um dich angehalten?«
Helene richtete sich auf.
»Mutter« sagte sie dumpf und drohend. »Sprich davon nicht! Ich könnte vergessen, daß du aus Liebe zu mir gefrevelt hast!«
»Du faselst ...«
»Ich weiß alles!« Kurz, hart, warf sie ihr die Tatsachen ins Gesicht. »Ich weiß es aus seinem eigenen Munde.«
Sie erzählte von der Unterredung, die sie heute belauscht. »Gott ist mein Zeuge – ich war ahnungslos heimgekommen und hatte nicht horchen wollen. Und was ich in jenen Minuten litt – Mama, mehr kann noch nie ein armes Herz auf Erden gelitten haben ... Vielleicht bin ich nicht ganz schuldlos, vielleicht war es schon Sünde, wenn ich, ein unhübsches, unbedeutendes Mädchen, einen Mann wie ihn zu lieben wagte, vielleicht auch hätte ich Anna fragen müssen, wie es zwischen ihnen beiden stehe ... Aber ist eine Schuld an mir, so habe ich sie hundertfach gebüßt. Und was deine Schuld daran war, Mama, verzeihe ich dir!«
Frau Katharina saß eine Minute wie betäubt da. Dann richtete sie sich trotzig auf. »Das sind Sentimentalitäten, die nicht schwer wiegen ...«
»Mama!«
»Jedenfalls leichter als dein Lebensglück ... Übrigens hätte ich von Klauser höher gedacht! Ein braver Mann trägt die Folgen seines eigenen Irrtums und macht deshalb nicht andere unglücklich. Was sprichst du da von meiner Schuld?! Seine Kurzsichtigkeit war's. Und wie hätte ich ahnen sollen, daß er die Unterredung mit Anna wünschte und nicht mit dir?«
»Du wußtest es! Das beweist die Wahl der Stunde und die Anweisung, die du mir vorher gabst: ›Er ist so schüchtern und liebt dich so heiß! Sage ihm sofort, daß du ihn liebst ...!‹ Oh, wie ich mich schäme – schäme!« schrie sie wild auf. »Wie mir dieser Kuß, der einer andern galt, auf den Lippen brennt!«
Darauf war es lange still.
»Du armes Kind!« murmelte Frau Katharina endlich. »Und ich unglückliche Mutter ... Du hast den Brief an ihn schon abgesendet?! Da läßt sich nichts mehr tun ...! Was wird die Welt sagen?«
»Die Welt – und immer wieder die Welt!« rief Helene bitter. »Der Welt zuliebe haben wir uns heimlich die Finger wund gearbeitet und uns kaum das trockene Brot gegönnt, nur um bei anderen Braten essen zu können! Der Welt zuliebe hast du uns bettelarme Mädchen nicht Nützliches lernen lassen, außer den Künsten, die etwa einen reichen Werber anziehen konnten. Der Welt zuliebe hast du, ein redliches Weib, das den Namen des redlichsten Mannes trägt –«
Sie verstummte.
»Verzeih!« schluchzte sie dann auf und umschlang die Mutter. »Auch du büßtest ja in dieser Stunde, was du gefehlt, aus Liebe gefehlt hast!«
Frau Katharina erwiderte nichts, schweigend fuhr sie mit der Hand über Haar und Wangen ihres Lieblings.
»Ich will dir nicht widersprechen«, sagte sie endlich fest. »Es war eine Sünde, aber ich mußte sie auf meine Seele nehmen. Verdamme mich nicht, Kind! Jeder Mensch handelt wie ihm sein Wesen und die Erfahrungen seines Lebens gebieten; ich habe sehr mit mir gekämpft und doch nicht anders gekonnt! O wenn du wüßtest, wie ich jene Nacht verbracht habe, wo ich den Entschluß gefaßt! Aber ich sagte mir immer: ›Die Gelegenheit, sie glücklich zu versorgen, bietet sich vielleicht nie wieder, sie soll nicht werden, was ich durch lange, entsetzliche Jahre war: eine einsame, verhöhnte, verbitterte alte Jungfer!‹ Ich erinnerte mich, wie mir zumute war, wenn ich damals aus einer Gesellschaft heimkam, und woran ich dachte als an die einzige Erlösung aus diesem grenzenlosen, kleinlichen Jammer ... ›Ihr‹, gelobte ich mir, ›soll dieser Gedanke erspart bleiben!‹ Und nun war alles vergeblich, du wirst nicht heiraten, Kind, und unglücklich werden!«
Nun erst kamen der harten Frau die Tränen, sie weinte lange und hielt dabei ihr Lieblingskind fest an sich gedrückt.
»Sei getrost«, bat Helene. »Ob ich je heiraten werde, weiß ich nicht – doch nein, keine Lüge! –, ich weiß es, es wird nicht geschehen. Aber unglücklich und verbittert werde ich nie werden. Ich werde es versuchen, anderen nützlich zu sein, zunächst der guten Tante, die jetzt so einsam ist, dann anderen – es wird schon gehen, Mama! Du selbst wirst es mir erleichtern: Meinem Leben wird nicht das Licht fehlen, daß ich das Glück zweier anderer Menschen ermöglicht habe. Der Professor wird sicherlich um Anna werben – du wirst sie ihm nicht verweigern, Mama! Ich verlange kein Versprechen, ich weiß, du wirst es tun! Und nun leb wohl, der Wagen wartet!« –
Das hatte sich an einem Februartage von 1870 begeben. Ein Jahr später vermählte sich Klauser, der inzwischen eine Professur an einer norddeutschen Hochschule angetreten, mit Anna. Die Hochzeit weckte ebenso großes Aufsehen in der Wiener Gesellschaft wie ein Jahr vorher die Ereignisse jenes Sonntags. Das Glück des jungen Paares konnte das Gerede nicht stören. Es hat bis heute gewährt und ist ein so schönes, reiches Glück geworden, wie es wenigen Menschen hienieden gegönnt ist.
Die beiden Schwestern sahen sich erst wieder, als Frau Katharina zum Sterben kam. Das war vor drei Jahren, in Graz, in der besten Stube jenes Mädchenpensionats, dem Helene vorsteht. Die Mutter hatte die letzten Jahre bei ihr verlebt, sie war Zeugin ihrer Tätigkeit gewesen und der Art, wie sie diese übte, und darum verschönte es die letzten Stunden der alten Frau, daß sie sich kaum zu sagen wußte, welche ihrer beiden Töchter sie friedvolleren Herzens auf Erden zurücklasse.