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Da steht es wieder greifbar lebendig vor mir, das arme, verfallene Landstädtchen mit seinen engen, krummen, düsteren Gassen, mit der verfallenen Burg oben auf dem Berge, mit dem stolzen Kloster unten am Flusse. Und namentlich des letzteren muß ich immer wieder gedenken. Ein hoher, mächtiger Bau, rings von einer Mauer eingeschlossen, an der noch heute die Spuren zu sehen sind aus der bösen, verheerenden Tatarenzeit, drin ein wirrer Knäuel von Kapellen und Wohnhäusern, durch feuchte Steinhöfe oder spärlich bewachsene Grasflächen voneinander getrennt. Ich war dort oft in meiner Knabenzeit, ich spielte gern in dem kleinen Friedhof auf den verfallenen Gräbern; ich horchte gern dem Widerhall meines Schritts in dem mächtigen, einsamen Refektorium, am liebsten aber stand ich in der »Kapelle der Äbte«, wie sie den kleinen byzantinischen Bau nannten, und schaute empor zu dem Gemälde, das man erst kürzlich dort befestigt, frisch, wie es aus den Händen der Malerin hervorgegangen, der stolzen, schönen Gräfin Jadwiga Bortynska, der Herrin des Städtchens Barnow. Es war ein schönes Bild voll Liebe und Frieden. Auf wallender Wolke stand Christus und breitete segnend die Hände über den Erdball. Auf dem bleichen Antlitz, umwallt von schwarzem Lockenhaar, lag die höchste Liebe, die erhabenste Güte, rein menschlich und darum göttlich und erhaben.
Aber an dies dachte ich nicht, als ich, ein übermütiger Knabe von zwölf Jahren, das Bild zum ersten Male sah. Es war an einem lichten, warmen Herbsttag; vormittags war das Bild befestigt worden, eine Stunde später zeigte es mir der kleine Wladik, der Sohn des Küsters. Und als es mir so im vollen Sonnenglanz aus dem dunklen Rahmen entgegentrat, wich ich fast erschreckt zurück. »Weißt du, wer das ist?« fragte ich meinen Spielkameraden.
»Und da kannst du noch fragen?!« meinte dieser in knabenhafter Entrüstung. »Das ist unser Herr Jesus Christus, den die Juden gekreuzigt haben!«
»Nein, Wladik!« erwiderte ich fest. »Dieser ist es nicht, sondern der Bocher David, der bis zum Frühling mein Lehrer war.«
Wladik war entrüstet und schalt, aber ich ließ es mir nicht ausreden: Ich wußte, was ich wußte. Und als ich aus der Nachmittagsschule nach Hause kam, da erzählte ich meinem Vater von dem Bilde.
»Närrisches Kind!« lächelte der. »Wer soll das Bild gemalt haben?!«
»Unsere Frau Gräfin«, antwortete ich eifrig.
Der Vater lächelte nicht mehr. »Also doch«, sprach er sinnend. »Es ist fast unglaublich ...«
»Was?« fragte ich rasch. Aber er wies mich schroff zur Ruhe.
Ich hätte auch das, was er meinte, damals nicht verstanden. Später aber verstand ich sie, die seltsame, traurige Geschichte, die ich erzählen will, die Geschichte des Christusbildes in der Kapelle zur Barnow, das doch zugleich das meines Lehrers war, des Bocher David.
Ich habe die Geschichte seltsam genannt, mein Leser, und seltsam wird sie dir auch ins Ohr klingen, namentlich, wenn du im Westen zu Hause bist, wo Bildung und Duldung wohnen. Und traurig, sehr traurig. Aber klage darum nicht den Erzähler an, dessen Herz sich schmerzlich zusammenzieht in der Erinnerung, sondern jene unbegreifliche Macht, die das Menschenherz zu Nacht lenkt oder zu Licht, zu Glück oder zu Elend ...
Mitten in die unendliche Ebene hingestreut liegt das kleine Städtchen. Nur eine sanfte Anhöhe ist in der Nähe, da liegen die Trümmer einer Burg, wo einst die Herren von Barnow gehaust: die Starosten Barecki. Aber nun sitzt der letzte Sproß dieses Geschlechts, ein wahnsinniger Greis, in seinem düstern Hause am Flusse, die neuen Herren aber, die Grafen Bortynski, in dem neuen, prächtigen Grafenschloß in der Ebene. Es hält sich stolz entfernt von den niedrigen Hütten, den kleinen, baufälligen Häusern, den dumpfen, engen Straßen von Barnow und von dem Elend, von der Armut seiner Bewohner.
Aber glücklich sind diese Bewohner, die Straßen hell und die Hütten stattlich im Vergleich zu jenem abgeschiedenen, wie verstoßenen Stadtteil, der sich in den ungesunden Morästen des Flusses hindehnt. Dort bleibt es düster und traurig, mag die Sonne noch so glänzend leuchten, dort verpesten verderbliche Dünste die Luft, liegt auch sonst das Tal im Blütendufte des Frühlings. Dieser Teil des Städtchens ist am dichtesten bewohnt: das Ghetto, das Judenviertel oder wie's in seiner eigenen Sprache heißt: die »Gasse«.
David war die seltsamste, geheimnisvollste Gestalt der »Gasse«, die an derlei Gestalten überreich ist; im ewigen Schatten wachsen immer sonderbar geformte Pflanzen. Er war der Sohn des verstorbenen Rabbi des Städtchens. Schon in seiner frühen Knabenzeit war er der Stolz und die Leuchte seines Vaters, der Gemeinde gewesen. Seinem frühreifen Geiste lagen alle Geheimnisse des Talmuds erschlossen, alle die Spitzfindigkeiten und Rätsel. Man bewunderte, man vergötterte den Knaben; man erblickte in dem schwachen, bleichen Kinde den größten Schriftgelehrten der Zukunft, und man verzieh deshalb die Hast, die Unbändigkeit seines Wesens.
Da starb der greise Vater und hinterließ seiner Witwe und dem einzigen Kinde nichts als seine große Bücherei und die Liebe seiner Gemeinde. Diese tat auch für den Verwaisten, was sie konnte, oder richtiger, nur, was ihr genügend und billig schien. Er durfte in dem Hinterstübchen des Hauses wohnen bleiben, während in die vorderen Gemächer ein neuer Rabbi zog. Es war so recht und hergebracht, aber es verletzte tief das Gefühl des Kindes. Und für den Verwaisten fand man auch nicht jene Worte begeisterten Lobes wie einst, obwohl er es doch täglich mehr verdiente. Der Trotz seines Wesens wuchs und damit seine Unbeliebtheit in der »Gasse«. Dazu kam noch, daß er den neuen Rabbi, den berühmten, frommen Mann, eines Tages in der Deutung einer Talmudstelle entschieden überflügelt und sich in kindischem Stolze dessen gerühmt. Nun hatte er auch einen Todfeind in der Gemeinde. Wie er einst vergöttert worden, wurde er nun angefeindet. Seine Lage wurde unleidlich, aber er blieb, solange seine Mutter lebte. Ihr allein gehorchte er, sie allein vermochte zuweilen ein Lächeln auf das düstere, verschlossene Antlitz des Sohnes zu locken. Als sie gestorben, war auch eines Morgens der fünfzehnjährige Knabe verschwunden. Und er blieb verschwunden. Man vergaß ihn allmählich und erzählte nur noch zuweilen von dem Sohne des Rabbi, der so klug und gelehrt, aber dabei so böse und verstockt gewesen.
Und er blieb verschollen durch lange zwölf Jahre.
Da kam er eines Tages wieder in das Ghetto des kleinen podolischen Städtchens und mietete sich in einem der verfallenen Häuschen ein. Am nächsten Tage aber ging er zu den Vorstehern der Synagoge und zu den Krankenpflegern und sagte ihnen: er sei entschlossen, sein Leben den Kranken zu widmen und den Sterbenden. Er kenne manches Heilmittel und manche Kunst der Heilung, und er bitte, sein Opfer anzunehmen und ihn nicht zu schonen, wo Rettung und Pflege nötig sei. Sie wunderten sich über seinen Entschluß, dann lobten sie ihn. Später jedoch segneten sie seine Tätigkeit, und sein Lob ging von Mund zu Mund, wie einst. Aber ein gewisser Hauch der Unheimlichkeit und des Fremdseins blieb um ihn: Er ward nicht wieder heimisch in der »Gasse«. Von welcher Art die Studien seien, die er bei seiner einsamen Lampe nächtelang betrieb, wovon er lebe, wo in der Ferne er gewesen, das wußte niemand. Der Rabbi, der im Laufe der Jahre längst den Übermut des Knaben vergessen, und mein Vater, der vermöge seines Berufs – mein Vater war der Stadtarzt – häufig mit ihm zusammentraf, waren die einzigen Menschen, mit denen er eigentlich verkehrte. Von ihnen erfuhr man auch, daß er im heiligen Lande gewesen und die Länder des Westens gesehen, ja, daß er sogar im Lande jenseits des großen Meeres längere Zeit geweilt, in »Amerikum«, wie's in der Sprache der »Gasse« heißt. Er spreche vieler Völker Sprache, raunte man sich zu, er wisse alles und vermöge viel, im Guten und im Bösen, denn er sei ein Meister der »Kabbala« und ihm seien die großen, furchtbaren Geheimnisse des Buches »Sohar«, des Lehrbuchs der Kabbala, klar und offen. Er habe sich verpflichtet, stets einsam zu bleiben, und darum sei er noch heute »Bocher«, dies heißt: unverheiratet.
Er aber wußte nichts von diesen Gerüchten, oder er kehrte sich nicht daran. Er half, wo er helfen konnte, ohne Dank zu wollen oder gar Entgelt. Und allmählich achteten und liebten sie ihn doch, den einsamen, stillen, bleichen Mann. Sein Antlitz war nicht leidenschaftlich und düster, wie in seiner Knabenzeit; es trug einen Ausdruck milden Ernstes, der in gleicher Weise die Furcht wie den Übermut bannte. Der Bocher war der einzige Bewohner des Ghetto, den die Christenknaben nicht mit Kot und Hohn bewarfen, obwohl er sich äußerlich vielleicht nur durch die peinlich sorgsame Reinlichkeit der Kleidung von seinen Glaubensgenossen unterschied. Er trug gleichfalls die seltsame altpolnische Tracht der Juden in Polen und Rußland. Und sie paßte vortrefflich zu dieser hohen, stattlichen Gestalt, zu diesem bleichen, geistvollen Antlitz mit den herabwallenden, dunklen Locken.
Dieser Mann nun wurde mein Lehrer und blieb es durch sechs Jahre, bis in mein zwölftes Jahr. Er behandelte den übermütigen, regsamen Knaben stets gleich ernst, gleich liebevoll. Wir sprachen fast nie ein Wort, das nicht streng zum Unterricht gehört hätte. Nur ein einziges Mal. Ich war zum ersten Male aus der Klosterschule nach Hause gekommen und weinte über den Hohn, den mir meine Mitschüler angetan, meines Glaubens wegen. Da trat der Bocher ein, und ich klagte ihm mein Leid. Er hörte stillschweigend zu und schlug die Stelle des Buches auf, wo er gestern zu erklären aufgehört. Ich weinte fort. »Weine nicht!« sprach er da. »Weine nicht, mein Kind, sie wissen ja nicht, was sie tun.« Dann aber setzte er mit hartem, rauhem Tone, wie ich ihn nie wieder von ihm gehört, hinzu: »Weine nicht! Sie sind der Tränen nicht wert! Und es kommt ein Tag der Vergeltung.« Ich blickte erstaunt auf und sah in seinem Antlitz einen fremden, drohenden Zug. Er schwieg, die Züge glätteten sich, und nach einer Weile begann er mit lauter, ruhiger Stimme die Bibelstelle zu erklären ...
Ich blieb sein einziger Schüler durch die langen Jahre. Da trat plötzlich ein gewaltiges Ereignis in sein Leben. Der Unterricht ward aufgegeben. Seitdem habe ich ihn nur noch einmal gesprochen. –-
Der alte Graf Adam Bortynski war ein harter Herr, von niemand geliebt, von jedermann gefürchtet. Aus einer Nebenlinie stammend, hatte er nie auf das reiche Majorat der Familie hoffen dürfen. Er war selten im Lande gewesen; den Ertrag seiner Güter ließ er sich nach Paris oder London senden, nach Monaco oder Homburg. Man kannte ihn wenig im Städtchen. Da kehrte er plötzlich als Besitzer zurück. Der junge Majoratsherr, Graf Arthur, war gestorben – in Paris, und plötzlich: an einem Blutsturz, den ihm unmäßige Ausschweifung zugezogen. Man flüsterte unheimliche Geschichten darüber, wie niemand für den jungen Grafen ein besserer Lehrer in den Ausschweifungen der üppigen, lasterhaften Stadt gewesen als sein nunmehriger Erbe.
Dem aber mochte sein, wie es wollte: Nun war Graf Adam Herr. Bisher unverheiratet, obwohl keineswegs ein Weiberfeind, mußte er nun auch die Pflicht erfüllen, dem Majorat einen Erben zu schaffen. Er wählte die schöne Jadwiga Polanska, die Tochter eines verarmten Schlachzizen aus der Nachbarschaft. Man wußte, daß das Mädchen den Grafen fürchtete und haßte, aber man wußte auch, daß dieser sie dem Vater abgekauft. Und Eingeweihte konnten sogar den Kaufpreis nennen. Lange noch erzählte man im Städtchen vom Hochzeitszuge, wie Graf Adam stolz und triumphierend einhergeschritten und die junge Braut bleich und düster. Das Hochzeitsmahl war glänzend und sehr heiter, aber als der nächste Morgen graute, hörten die Diener in dem Flügel, den die Neuvermählten bewohnten, einen Schuß fallen, und als sie hineilten, fanden sie den Grafen in seinem Zimmer mit zerschmetterter Hirnschale, die Pistole in der Rechten noch krampfhaft umklammernd. Was ihn in den Tod getrieben, wußte man nicht; man konnte es auch nicht aus den bleichen, ruhigen Zügen der jungen Witwe lesen.
Man sprach viel über die Geschichte, bis man sie vergaß oder bis eine neue an ihre Stelle trat. Das Majorat fiel an eine entfernte Nebenlinie, Schloß und Stadt Barnow behielt die Gräfin Jadwiga.
Aber dem stattlichen Schlosse, dem ganzen reichen Besitztum schien nun einmal das Schicksal bestimmt, verlassen und unbenutzt zu bleiben. Auch die junge, achtzehnjährige Witwe zog fort. Und sie blieb lange aus. Man hörte nur zuweilen von den glänzenden Triumphen, die ihre Schönheit, ihr Geist in Paris feierten oder in Helgoland oder in Baden-Baden. Sie heiratete nicht wieder, wie man allgemein erwartet. Und eines Tages im Frühling kehrte sie nach fast zehnjähriger Abwesenheit zurück. Die stattlichen Gemächer wurden nun wieder benützt; auf dem Schloßhof tummelte sich eine zahlreiche Dienerschar. Die Gräfin war nicht mehr so schlank wie einst: Das Antlitz war bleich, vielleicht zu bleich, aber sie war noch immer schön – fast unheimlich schön. –
Der Maimorgen war lieblich, die Luft erfrischend, und die Morgensonne blickte freundlich auf die beiden schönen, jungen Gestalten, die rasch querfeldein sprengten, hinaus in das Lenzparadies, das so wunderbar vor ihnen lag.
Ob sie sich wohl beide dessen freuten, wie sie so lustig dahinsprengten? Die Dame gewiß; die rasche Bewegung, die frische Morgenluft hatten den bleichen Zügen einen Rosenschimmer mitgeteilt, der ihnen sehr gut stand. Sie sah frisch und anmutig aus, die Gräfin Jadwiga. Und so heiter, so glücklich! Weniger heiter und glücklich schien ihr Begleiter. Ein blonder, junger Mann, Baron Starsky, an Gestalt ein Riese, an Herz und Gemüt ein Kind; auch an Verstand, meinten böse Zungen. Er blickte betrübt drein: Er liebte die Gräfin so heiß, so unschuldig, mit der Glut erster Liebe, sagte er selber, wenn er der »Liebe« zur kleinen, hübschen Französin vergaß, der Zofe seiner Mutter. Aber das war schon lange her, volle sechs Wochen. Er war sehr reich, seine Güter grenzten an die der Gräfin, er liebte sie überdies. Dies alles hatte er ihr heute morgens beim Spazierritt sagen wollen und ob sie nicht Baronin Starsky werden wolle? Nun war alles vereitelt. Wer konnte auch bei solch rasendem Tempo eine Liebeserklärung machen?
Endlich, endlich gab die Gräfin das »verrückte Galoppieren« auf, wie der Baron leise meinte, aber nur sehr leise. Die Rosse gingen verschnaufend und im Schritt auf der Heerstraße zum Städtchen. Aber seltsam, das Herzklopfen, das Starsky vorhin der raschen Bewegung zugeschrieben, wollte nicht weichen; es wurde nur immer stärker. Nun war ja der Augenblick da. Aber es ging nicht recht, gleich aufs Ziel loszusteuern.
Und er begann vom Wetter zu sprechen, der brave, verliebte, kindische Riese. Wie schön der heurige Frühling sei. Er kümmerte sich sonst nicht viel um Blumen, jetzt wußte er Wunderdinge davon zu erzählen. Aber in immer größeren Pausen. Und er sah mit Schrecken den Moment, wo er gänzlich werde schweigen müssen.
Wie eine Erlösung klang es daher in sein Ohr, als die Gräfin plötzlich, ihr Pferd anhaltend, fragte: »Was ist das dort für eine seltsame, dunkle Gestalt auf der Wiese?« Und sie deutete mit der Hand hin.
Baron Starsky klemmte diensteifrig sein Monokel ins Auge. »Ein Jude, Gräfin. Er hält etwas Glänzendes in den Händen – eine Blechbüchse. Was zum Teufel will er damit?«
»Fragen wir ihn selber.« Und die schöne Frau sprengte über den Graben. Hinterher natürlich Starsky. Der Jude machte eine Bewegung, als wollte er fliehen. Dann blieb er stehen und erwartete die Nahenden, aber wie furchtsam, mit abgewendetem Antlitz.
»Was tut Ihr da?« fragte die Gräfin.
»Ich sammle Kräuter für meine Kranken«, erwiderte der Mann, leise, in reinem Deutsch.
»Ihr seid ein Arzt?« fragte sie erstaunt weiter. »Das ist eine seltsame Nebenbeschäftigung für einen Handelsmann oder Talmudisten, und eins von beiden seid doch ihr alle, die ...«
Da fiel ihr Starsky ins Wort.
»Wenn du nur Kräuter sammelst«, fragte er rauh, »warum blickst du da den Leuten nicht ehrlich ins Auge?! Warum atmest du so schwer? – He, Jude?!«
Und er faßte ihn vom Pferde herab festen Griffs an der Schulter. Aber eine energische Bewegung machte den Mann frei und den Baron unwillkürlich zurückweichen. Der Hut war dabei vom Haupte des Juden gefallen und verhüllte nun nicht mehr die freien, edlen Züge. »Lassen Sie mich!« rief er drohend.
Die Gräfin hatte rasch ihr Pferd zwischen die streitenden Männer gedrängt. Sie war todbleich, ihr Atem flog, die farblosen Lippen bebten, als suchten sie vergeblich nach Worten; der starre Blick bohrte sich in das Antlitz des fremden Mannes. Dieser schien sich bezwungen zu haben: Er war noch entsetzlich bleich, aber die Züge waren ruhig.
»Wie heißt Ihr?! – Bist du's?! – Wer seid Ihr?!« So rief, nein, schrie sie wie in tödlicher Angst und doch wieder wie jubelnd ...
»Ich heiße David Blum«, erwiderte er tonlos und dumpf. »Ich bin Lehrer und Krankenpfleger in Eurer Stadt ...«
Sie wankte im Sattel und schlug die Hände wie rasend vors Antlitz. »Mein Gott!« ächzte sie leise. »Äfft mich ein böser Traum?! Das bist ja du, du Friedrich! – Deine Stimme! Dein Antlitz! – Aber hier find' ich dich, in dieser Kleidung! – Ich werde wahnsinnig ... Friedrich! Du bist es doch! – Friedrich Reimann?!«
Sie war vom Pferde herabgeglitten, sie trat auf ihn zu, sie faßte seine Hände. Starsky blickte mit wirbelnden Sinnen auf die Szene.
David der Bocher rang einen harten Kampf. Er wendete sich zum Gehen, er wollte sprechen, er konnte es nicht. Und endlich sagte er gepreßt und leise: »Friedrich Reimann ist tot – seit langen, langen Jahren schon. Ich bin David Blum, der Krankenpfleger.«
Sie seufzte tief auf, sie rang nach Atem. »Ich verstehe dich: Friedrich ist tot. Aber David Blum lebt, und ihm muß ich sagen, was ich Friedrich nicht mehr sagen kann ... Ich habe dich gesucht, lange, lange – und überall. Hier habe ich dich gefunden. Du mußt mich hören!«
»Es wäre nun nutzlos, Frau Gräfin!« sagte er leise, aber fest. »Friedrich hat Ihnen vergeben, längst, aus voller Seele ...« Und ein schmerzliches Entsagen zuckte über das Antlitz des Mannes.
»Es ist nicht nutzlos!« flehte sie. »Und wenn auch für dich, so doch nimmer für mich! Ich bitte um die Gnade: höre mich – nur einmal, nur eine Stunde lang. Komm heute nachmittag zu mir auf's Schloß ...«
Er schüttelte mit traurigem Lächeln das Haupt.
»Sag nicht nein!« fuhr sie fort. »Du bist ein Jude. Ein Jude war's, der das Wort sprach: ›Seid barmherzig gegen die Schwachen!‹ Ich flehe um Mitleid. Du wirst kommen ... um Gottes, um der einstigen Zeiten willen ...«
»Ich werde kommen«, sagte er nach kurzer Pause. Dann schritt er nach stummem Gruße der Stadt zu.
Die Gräfin atmete tief auf, sie fuhr sich über die Augen, als erwache sie aus schwerem Traum, und wendete sich zu Starsky, der ihr mit dem tiefsten, versteinerten Erstaunen in den Zügen entgegenkam.
Sie bestiegen die Pferde und ritten schweigend nach Schloß Barnow zurück. Vor dem Tore verabschiedete sie sich mit stummem Kopfneigen.
Er aber ritt nach dem benachbarten väterlichen Edelhofe, wider seine Gewohnheit in tiefen Gedanken. Die Gräfin Jadwiga Bortynska und David der Bocher ... ihm wirbelte das Hirn ... Und dieser Frau hatte er seine Hand antragen wollen! Und sie hätte sie vielleicht angenommen – vielleicht? – unzweifelhaft, gewiß! – O entsetzlich!
Die Annalen des Hauses derer von Starsky hatten diesmal ein bisher unerhörtes Ereignis zu verzeichnen: Ein edler Sprosse dieses Hauses hatte schlecht zu Mittag gespeist und blieb den Nachmittag lang in tiefen Gedanken ...!
Der Park von Barnow. Ein grünendes, blühendes, knospendes Gewirre von Blumenbeeten und Baumgruppen, von Vogelliedern durchhallt, von Frühlingsdüften durchweht. Und über all dem der helle Glanz der Frühlingssonne.
Dort der kleine Pavillon. Vor den Fenstern, in die der Flieder seine Blüten drückt, schimmert der blaue Weiher, eine unbewegliche, schier endlose Fläche. Schlanke Weiden spiegeln sich darin. Der Platz ist wie geschaffen für süßes, stilles Träumen.
Aber die Frau, die drin in der weichen Causeuse ruht, träumt nicht süß. Ihr Auge, das düster und starr wie in weite Fernen blickt, sieht nichts von all der Schönheit, von dem stillen Frieden des Lenzes. Ihr Antlitz ist düster und schmerzvoll wie ihr Herz. Hier fällt die Maske, hier ist sie nur das unglückliche, schwergeprüfte Weib. Und hier lassen sie sich auch nicht bannen, die Bilder der Erinnerung ...
Die Bilder der Erinnerung!
Was anderen wie ein stilles Eden voll Licht und Glück in der Seele ruht, woran sie sich später erlaben in der Stunde des Kampfes: die Tage der Kindheit und der Jugend – ihr erscheinen sie düster und grauenhaft. Das wüste, traurige Leben auf dem väterlichen Gute, ein Leben voll Not und Entbehrung ... Die Mutter, die blasse, unglückliche Frau, die das Verderben ihres Gatten sieht und es nicht aufzuhalten vermag, die endlich dahinsiecht an gebrochenem Herzen ... Sie ist der gute Engel des Hauses gewesen; nach ihrem Tode bricht alles zusammen, alles! Jadwiga zieht mit dem Vater auf das kleine Gütchen, das ihm noch geblieben ... Sie gedenkt der folgenden Jahre. Wie trägt sie sich so schwer, die Bürde der verschämten Armut! Oh, viel schwerer noch als der Hunger und die Kälte. Und rings nichts als Not und Elend und Trostlosigkeit ...! Der Vater freilich hat Trost gesucht und gefunden – in der Branntweinflasche. Und wenn er sich allen Kummer und alle Erinnerung weggetrunken, dann begreift er nicht, warum die Tochter ihn ewig mit Traurigkeit und Tränen quält. Und er schlägt sie blutig, damit sie heiterer werde ...
Ein düsterer, verachtungsvoller Zug liegt auf dem Gesichte der Brütenden. Und wehe dem Menschen, der so seiner Eltern gedenken muß!
Aber sie ist schön geworden, trotz der Tränen und der Schläge, und ihr Leib üppig und herrlich. Jedoch sie flucht ihrer Schönheit und dem Tage, da sie Graf Adam gesehen, da ihn diese Schönheit entflammt. Sie gedenkt der Stunde, da er sie dem Vater um zehntausend Gulden abgekauft; wie der Vater ihr gesagt, daß sie Gräfin Bortynska werden müsse, wolle sie nicht, daß er noch mit grauem Haar zum Bettelstab greife. Wie hatte sie geweint und gefleht, sie nicht dem alten finstern Manne zu überlassen, vor dem es ihr graute, den sie haßte, von dem die Leute sagten, er sei ein Mörder. Sie hatte geschworen zu arbeiten, und sei's wie eine Magd, und ihn nie, nie darben zu lassen. Es war vergeblich gewesen! Eine Polanska durfte sich nie zur Dienerin erniedrigen. Und sie war die Braut des Grafen geworden ...
Es trieb sie vom Sitze empor, sie schritt bleich und finster mit verschränkten Armen auf und nieder. Aber sie kamen unerbittlich, sie kamen alle, die Bilder der Erinnerung.
Noch einmal lebte sie die Qualen jener Zeit durch. Sie gedachte des Tages, da man sie in die Kirche geschleppt, ein geschmücktes Opfer, da man sie gezwungen, Lüge und Meineid zu schwören vor dem Bild ihres Gottes, der ihr bisher das einzige Wahre, das Licht und der Trost gewesen in ihrem armen, elenden, zertretenen Dasein, und wie man ihr so auch Gott zur Lüge gemacht. Sie gedachte ihres Hochzeitsfestes, bei dem sie zuerst der entsetzliche Gedanke erfaßt, daß sie den nächsten Morgen nicht erleben dürfe, sie – oder ihr Gatte.
Die Minuten voll Höllenqual flossen so langsam. Endlich, endlich durfte sie sich erheben. Sie ging in ihre Gemächer und schickte die Frauen, die sie entkleiden wollten, zur Ruhe. Sie sah sich um in dem prachtvollen, lauschigen Boudoir, sie wandte sich voll Entsetzen von dem schwellenden Lager. Und sie sann auf Rettung und Rache, indes er unten zechte und sich des schönen Weibes freute, das seiner harrte.
Und sie fühlte es noch heute mit Schauern, wie sie plötzlich ruhig geworden, wie ihr ein wüster, teuflischer Gedanke gekommen. Sie erhob sich, ergriff einen der schweren Leuchter und schritt mit der flackernden Wachskerze hinaus und durch die hallenden Gänge und Gemächer des abgelegenen Flügels. Sie vermied es, in die Spiegel zu schauen, an denen sie vorüberschritt. Denn ihr graute vor ihr selbst.
Endlich blieb sie vor einer hohen Flügeltüre stehen. Die Türe war nur eingeklinkt. Sie trat in den hohen, finstern Saal – den Ahnensaal der Grafen Bortynski. Dort, wo die Reihe schloß, lehnten noch zwei Gemälde an der Wand, das des jungen Grafen Arthur und ihres Gatten. Sie waren gestern erst aus Paris angekommen; man hatte sie im Gewirre des Hochzeitsfestes, wie sie des Morgens zufällig erfahren, zu befestigen vergessen.
Sie ergriff das Gemälde des Verstorbenen; es war schwer, aber sie fühlte es nicht. So beladen, kam sie zurück. Sie lehnte das Bild an ein Tischchen in der Mitte des Gemaches, sie gruppierte die Wachskerzen so, daß ihr helles Licht darauffiel.
Sie bezwang ihr Grauen, saß am Fenster nieder und harrte. Es waren furchtbare Gedanken, die sie beschlichen, indes sie horchte, ob ihr Gatte nicht nahe. Schon graute der Morgen, da hörte sie endlich seine schweren Tritte ...
Sie erhob sich, bleich, gefaßt. Er trat ein, von Wein und Erwartung erregt. Da fiel sein Blick auf das Bild seines Opfers. In dem fahlen Lichte des Morgens und der zuckenden Kerzen erschien es, als trete der Tote aus dem Rahmen hervor. Er wich entsetzt zurück, seine schon umnebelten Sinne verwirrten sich ... Wie eine rächende Stimme des Himmels tönten ihm die Worte seines Weibes: »Fort ... fort mit dir – Mörder ...! Dein Opfer steht zwischen dir und mir ...« Er stürzte fort – in sein Gemach.
Sie sank halb ohnmächtig und doch mit quälend wachen Sinnen auf ihren Sitz zurück. Und nach einer Minute hörte sie einen Schuß dröhnen ...
Die junge Frau schloß die Augen, wie um nicht noch einmal das Entsetzliche zu sehen. Sie barg ihr Antlitz in die Hände. Aber sie entfloh sich nicht, sie entfloh ihnen nicht, den Bildern der Erinnerung ...!
Die schweren Tage nach dem Tode ihres Gatten! Die Tage, wo sie weinen, wo sie Schmerz zeigen mußte, indes sie nur ein dumpfes Grauen fühlte. Sie mußte fort, es trieb sie aus dem Schlosse. Und sie ging fort. In langer glänzender Reihe zogen an ihr die Tage vorüber, wo sie als Königin in den elegantem Cercles von Paris geglänzt. Sie schien so glücklich, sie lächelte so süß, sie schleuderte den Spielball der Konversation so gewandt hin und her, sie suchte zu vergessen. Aber sie vergaß nicht; sie war nicht glücklich. Sie fühlte oft eine entsetzliche Leere in ihrem Herzen. Und die ließ sich nicht bannen in jener glänzenden Scheinwelt.
Da trat die Versuchung an sie heran ... Ein blonder, blasser, einfältiger Regent. Der Fluch seines Landes; der würdige Sprößling eines halbblöden Vaters und einer lasterhaften Mutter. Bah! Sie stieß ihn von sich wie ein unreines Gewürme. Aber hundert andere lagen ihr zu Füßen, nicht nur schöne und reiche, auch gute und wahre Männer. Aber sie liebte niemand. Da schlug auch ihre Stunde. In Baden-Baden war's ...
Er hatte dies stolze, heiße, ungestüme Herz unterjocht, der bescheidene deutsche Arzt, der Leibarzt des Fürsten Sugatscheff, Dr. Friedrich Reimann. Sie liebte ihn, wie er sie liebte. Aber auch ihn hatte sie verloren – durch eigene Schuld, flüsterte anklagend ihr Herz. Die Schuld ließ sich nicht gutmachen. Er war nach einer unseligen Katastrophe plötzlich verschwunden und blieb verschwunden. Sie suchte ihn, sie fand ihn nimmer. Und sie lächelte, spöttelte und herrschte weiter in ihrem Kreise. Aber ihr Herz, das bisher nur leer gewesen und unbefriedigt, trug nun auch tief verborgen den Stachel der Reue.
Sie ertrug es lange, dann ward es ihr der Qual zuviel. Sie kehrte in ihre Heimat zurück, um da zu vergessen oder doch wenigstens um weinen zu können und nicht ewig, ewig das Lächeln des Glücks zur Schau tragen zu müssen. Da hatte sie auch den Mann gefunden, den sie gesucht. Freilich in einer Gestalt, die sie nicht begriff. Aber was kümmerte es sie, wer durfte ihr befehlen, wen sie lieben solle, wen sie zu ihrem Herrn und Gemahl machen dürfe ...?! Oh! Sie wollte es gutmachen, was sie gefehlt; sie wollte glücklich sein, mit dem Geliebten und durch den Geliebten ...
Und zum ersten Male in den langen Stunden, die sie heute einsam verbracht, lächelte sie, und es war kein trauriges Lächeln, es war ein Lächeln der Hoffnung und der Liebe ...
Selbst in das schmutzige, düstere Labyrinth der Judenstadt drang heute ein Hauch des Frühlings. Die Gesunden vergaßen ihre Sorgen, die Kranken schöpften neue Hoffnung in dem warmen, hellen Sonnenlichte. David der Bocher fand sie heute fast alle besser und heiterer. Und er sprach auch heute mit jedem von ihnen viel länger, gütiger und ausführlicher, als sonst selbst seine Art war, und jedem einzeln versprach er fast feierlich, daß er morgen wiederkommen wolle.
Dann ging er aufs Schloß. Die Frau Gräfin erwarte ihn im Pavillon im Garten, sagte der dicke Portier am Eingang. Er ging dahin und trat ins Gemach, in den ruhigen Zügen den ihm eigenen milden Ernst. Sie eilte ihm erregt entgegen, sie faßte seine Hand. »Dank! Friedrich! Dank, daß du gekommen. Ich habe mich so lange darnach gesehnt und darauf gehofft. Nun kann alles, alles wieder gut werden.«
Sie hielt inne, als erwarte sie seine Anrede.
»Ich bin gekommen«, sagte er ernst und ruhig, »weil Sie es gewollt haben, Frau Gräfin. Und da uns das Leben noch einmal so sonderbar zusammengeführt, so bin ich Ihnen wohl auch eine Erklärung schuldig, was mein Gewand betrifft und mein bisheriges Leben. Sie haben ein Recht darauf ...«
Ihr Auge hatte sich mit Tränen gefüllt, als er so kalt und ernst sprach. »Nicht so, Friedrich! Du bist grausam. Du zürnst mir, zürnst mir mit Recht. Aber ich habe entsetzlich gelitten seit dem Tage, wo ich jene unseligen Zeilen schrieb ... Und um meiner Reue, um meiner Qualen willen – vergib mir! Blick nicht so ernst, so strafend.«
»Ich habe Ihnen längst vergeben«, sagte er milder. »Ich sagte es Ihnen schon. Aber Sie beginnen Unmögliches, wenn Sie die Toten wecken, wenn Sie Momente aus unserem Leben streichen wollen, die unvergeßlich sind, eben weil sie einmal dagewesen, weil man sie nicht vergessen kann. Ich kenne und verstehe die Qualen Ihres Herzens«, fuhr er fort, und seine Stimme bebte, »ich verstehe sie, weil ich sie an meinen Schmerzen messen kann. Und um Sie vor neuem Wehe zu bewahren, vor Hoffnungen, die sich nie erfüllen können, eben darum bitte ich Sie, mich anzuhören, obwohl Sie mich gebeten, obwohl ich gekommen, zu hören ...«
Sie ließ die Arme, die sie im Beginne seiner Rede wie abwehrend erhoben, schlaff niedersinken und seufzte tief auf. Er nahm den dargebotenen Sitz und begann:
»Ich bin im Städtchen unten geboren, der Sohn des verstorbenen Rabbi. Die Leute dort haben mir nach dem Tode meines Vaters in ihrer Art viel Gutes erwiesen, obwohl ich es damals undankbar verkannte. Nach dem Tode meiner Mutter zog ich fort. Ich erinnere mich noch lebhaft des düsteren, feuchten Herbstmorgens, da ich auszog. Geld hatte ich nicht, aber meine Glaubensgenossen sind milde und barmherzig gegen die Armen. Ich durchstreifte Galizien und Polen und blieb hie und da als Schüler bei einem Rabbi. Aber keiner genügte mir; ich zog weiter. So kam ich nach Wilna. Dort lehrte Rabbi Naphtali, der berühmte Kabbalist. Ich lernte die Kabbala kennen, diese seltsame, tiefsinnige, unheimliche Weisheits- und Glaubenslehre unseres Volkes. Ich warf mich mit glühendem Eifer auf ihr Studium. Das war mein Unglück, wenn Sie es so nennen wollen. Ich machte jene Zeit durch, die jedem denkenden Jüngling nicht erspart bleibt, die Zeit, wo ihm der Glaube zur Lüge wird, wo er kühn und vermessen das Unfaßbare erfassen will. Mein Wissen erschien mir beschränkt und kleinlich. Ich strebte nach Höherem. Das Volk der Dichter und Denker, das deutsche Volk, zog mich mächtig an, und Deutschland ward meine Sehnsucht. Indes ich unablässig seine Sprache studierte, erwarb ich mir durch Lehrstunden, durch Sparen und Geizen die nötigen Mittel. Endlich konnte ich reisen. Der Zufall war mir günstig. Auf der Reise, in einem kleinen litauischen Grenzstädtchen, lernte ich den greisen Fürsten Sugatscheff kennen. Der Mann war vom echtesten Adel: ein edler Mensch – der Vater des Fürsten Alexius, den Sie in Baden-Baden kennengelernt, Frau Gräfin.«
»Ich erinnere mich«, sagte sie leise.
»Der junge polnische Jude«, fuhr er fort, »der Lessing kannte und für Schiller schwärmte, erweckte seine Teilnahme. Er nahm sich meiner an, er ließ mich studieren. Die Welt der Alten erschloß sich mir – in ihrem vielheiteren, bunten Gewimmel, aber auch in ihrem Ernste und in ihrer Tiefe. Doch mein Sehnen, mein Forschen erfüllte sie nicht. Dann wurden die Naturwissenschaften mein Hauptstudium, und immer stärker regte sich in mir der Trieb nach praktischer Tätigkeit. Das Feuer des Jünglings war allmählich gedämpft; den Schleier der Isis aufzuheben, das Wesen des Bestehenden zu erforschen, hatte ich aufgegeben. Ich war Arzt und – jetzt darf ich's wohl sagen, ein viel begehrter, wohl auch geschickter Arzt. Meinen Namen hatte ich geändert. David Blum hätte manchen nutzlosen Kampf zu kämpfen, manche herbe Kränkung zu erdulden gehabt, die Friedrich Reimann erspart blieben. Meinen Glauben wechselte ich nicht; wenn Sie wollen – aus Gewohnheit, denn damals war mir die eine Form der Religion so bedeutungslos wie die andere. Meine Praxis wuchs, ich ward einer der ersten Ärzte in der norddeutschen Hafenstadt, wo ich mich angesiedelt. Da erkrankte der greise Fürst Sugatscheff und berief mich nach Paris an sein Lager. Es war sein Sterbelager. Vor seinem Tode hatte er mich angefleht, ein treuer Freund seines jungen Sohnes zu sein, ihn als sein Arzt so lange zu begleiten, bis ich glaubte, daß er dem verführerischen Treiben der großen Welt selbständig werde entgegentreten können. Ich leistete ihm das Versprechen, das meine eben gegründete Lebensstellung vernichtete, aber er war der einzige Mensch, der mir im Leben wohlgetan, den ich bis dahin nächst meiner Mutter geliebt. Nach seinem Tode ward mir erst die ganze Peinlichkeit meiner Stellung klar. Fürst Alexius war ein leichtsinniger, früh verderbter Mensch. Ich tat meine Pflicht ohne Rücksicht auf seine Liebe; seine Achtung wußte ich mir zu erzwingen. Es waren sorgenvolle Tage, und eins nur stärkte mich: das Bewußtsein erfüllter Pflicht. Da kamen wir nach Baden-Baden, da lernte ich Sie kennen, Frau Gräfin ...!«
Sie hatte ihm bisher mit gesenktem Haupte zugehört. Nun erhob sie ihre Augen und ließ sie auf seinem Antlitz haften, als erwarte sie von seinen Worten Leben oder Tod. Und er fuhr fort, warm und bewegt:
»Ich habe Sie geliebt, mit ganzem Herzen und aus voller Seele; daß auch Sie mich geliebt, weiß ich. Und wenn es Ihnen heute zum Troste ist, so kann ich Ihnen sagen, daß ich nie daran gezweifelt, nie, selbst in jenem Momente nicht, wo Sie mir die tiefste Wunde geschlagen. Aber eins bin ich verpflichtet, Ihnen zu sagen: Warum ich Ihnen nicht schon damals erzählt, was Sie heute vernommen. Ich tat es nicht, nicht etwa aus falscher Scham über meine Vergangenheit, ich tat es nicht, weil ich einfach nicht daran dachte. Sie waren meine erste Liebe, und mein Herz, das nun seine Ruhe gefunden, dieses einst ruhelose, vielgequälte Herz wird Ihnen ewig danken für jene kurze Zeit des Glücks. Die erste Liebe aber weiß nichts von der Vergangenheit und denkt nicht an die Zukunft. Der deutsche Dichter hat recht: ›Die erste Liebe weiß noch nicht, daß sie sterben muß, wie das Kind nichts weiß von dem Tode, den es oft um sich sieht.‹ Und im Bewußtsein dieser meiner Liebe ahnte ich nicht, daß es Ihre Liebe ändern könnte, wenn Sie erführen, eine Judenmutter habe mich geboren und ich sei ein armer Talmudist gewesen. Liebte ja auch ich nicht die Gräfin Jadwiga Bortynska, nur Sie, Sie allein – ein edles, starkes Herz, das dem meinen entgegenschlug. Eine andersgeartete Liebe könnte ich wohl auch nicht empfunden haben, ich, den das Leben ernst und stolz gemacht. Und daß ich mich in dieser Überzeugung getäuscht, daß Sie sich nicht zu einem gleich freien Gefühl aufzuschwingen vermocht, das stellt sich für ewig zwischen Sie und mich, das trennt uns für immer – das allein ...!
Ich habe mir diese Überzeugung«, fuhr er fort, und seine Stimme klang wieder klar und voll, »nicht erst errungen in den langen Jahren seit unserer Trennung; sie durchzuckte mich schon klar und furchtbar schmerzlich, als ich in jener dunklen Stunde Ihre wenigen flüchtigen Zeilen las, worin Sie mir schrieben: ›Wenn Sie wirklich ein Jude sind, wenn das Gerücht recht erzählt von Ihrer seltsamen Vergangenheit, so sind wir geschieden.‹ Und weil ich damals schon erkannte, daß der Bruch unheilbar sei, darum handelte ich nicht, wie vielleicht ein anderer an meiner Stelle gehandelt hätte, ich suchte nicht zu retten, was noch in Ihrem Herzen an Liebe für mich zu retten war – ich ging.
Ich ging. Nach Frankreich, nach England, von da nach Amerika. Aber ich hatte meinen Schmerz nur über das Weltmeer getragen. Er heilte langsam, und ich kämpfte viel, bis ich der Liebe zu Ihnen nur noch mit leiser Wehmut zu denken vermochte. Denn Sie waren meinem Leben das Sonnenlicht und der Frühling. Und als der Glaube an Sie in mir zusammenbrach, da schien es mir, als müßte in mir alles brechen und lügen und fallen. Aber ich überwand. Und in jenen Stunden des herbsten Seelenkampfes habe ich auch mein Leben den Kranken gewidmet und den Elenden. Denn ich war im Innern ein anderer geworden. Hatte ich früher nur um meiner selbst, um der Befriedigung meines Stolzes willen nach den Früchten der Erkenntnis getrachtet, hatte es mich früher nur um dessentwillen gedürstet nach dem Quell des Wissens, um, durch die Labe gestärkt, vor der Welt stark und unbeugsam dazustehen, so fühlte ich nun das Bedürfnis, anderen zu nützen, andere zu erheben und zu stärken. Und wieder andererseits war ich so müde, so entsetzlich müde. Ich bin aus jenem Holze, das sich dem Drucke nicht beugt sondern darunter bricht. Es wäre nutzlos, wenn ich dagegen ankämpfte, meine Natur ist so. So wies mich denn dies alles auf die Heimat. Und ich kam wieder in die Mitte jener Menschen, die mir in meiner Kindheit viel Liebe erwiesen, und zu den Grabhügeln meiner Eltern ... Ich kehrte zurück zum Glauben an einen Gott der Liebe und des Erbarmens und verehre ihn, der allen derselbe ist, in jener Form, die mir gewohnt und vertraut ist. Es war nicht Reue, die dies bewirkt, denn ich war kein Sünder gewesen. Es war nicht der Wunsch, die Gottheit möglicherweise zu versöhnen, denn ich hoffe und wünsche nichts mehr. Es war ein unaussprechlich tiefes, ein unaussprechlich banges Sehnen nach einem festen Halt in all der Nacht und Not und Wirrnis ... Ich lernte mein armes, verachtetes, zertretenes Volk wieder lieben, und um ganz einer der Seinen zu sein, legte ich auch seine Kleidung an. Ich bin kein berühmter Mann geworden, ein armer, schlichter Krankenpfleger, aber mancher Mensch unten, Jude und Christ, gedenkt wohl auch meiner, wendet er sich zu seinem Gotte. Ich hätte vielleicht berühmt und reich werden können draußen im Getriebe des Lebens, aber schmerzlos bin ich hier, in meinem dumpfen Stübchen. Und nun frage ich auch nicht mehr, was ich einst in Zorn und Schmerz habe oft fragen müssen: warum es so gekommen, warum gerade mir so unendlich viel des Schmerzes und Kampfes beschieden gewesen. Nun bin ich ruhig und darum glücklich: Ich habe entsagt ...!«
Er schwieg. Draußen warf die Abendsonne ihren Schimmer über den Weiher und die Blütenbäume, und sie ruhte auch wie verklärend auf dem stillen, bleichen Antlitz des Sprechers.
»Daß Sie die Besitzerin meines Geburtsstädtchens seien«, so schloß er nach kurzer Pause, »erfuhr ich erst, als Sie vor wenigen Wochen hier ankamen. Ich wünschte kein Wiedersehen, um Ihretwillen. Ihnen mußte es Schmerz und Reue erneuen. Denn auch Sie haben mich geliebt, wenn auch mit anderer Liebe.«
Er schwieg abermals. Sie antwortete nichts; sie schluchzte nur leise tief auf, wie aus gebrochenem Herzen. Er erhob sich, um zu gehen. Da trat sie noch einmal an ihn heran. Sie war entsetzlich bleich; aus den weit geöffneten, fast starr blickenden Augen rollten schwere Tränen. »So wäre denn alles aus«, schluchzte sie fast unhörbar, »alles ... ich habe dich gefunden, um dich auf ewig zu verlieren. Friedrich ...! Es wird mein Tod sein ...!«
Er blickte voll tiefer Rührung auf die gebrochene Gestalt der Weinenden. »Auch Sie werden ruhiger werden«, sprach er sanft. »Und dann auch glücklicher. Dann werden Sie erkennen, daß ich nicht anders zu handeln vermocht!«
Sie seufzte tief auf. »Ich büße hart«, sagte sie mit zuckenden Lippen. »Für einen Augenblick der Schwäche mit einem langen Leben voll Elend! Aber eins will ich nicht: daß du mich verachtest. Daß ich jene Zeilen schrieb, war das Werk eines Elenden, der das Vorurteil zu nützen wußte, das in meinem Volke gegen das deine lebt, das man auch in mir seit frühester Kindheit großgezogen.«
»Ich dachte daran«, unterbrach er sie milde. »Ich habe jenes Vorurteil schwer gefühlt. Ich verzieh Ihnen darum um so leichter. Aber wer war jener Mensch?!«
»Fürst Alexius Sugatscheff«, erwiderte sie finster.
»Also doch!« rief er verachtungsvoll. Aber er bezwang sich.
»Ich danke Ihnen für diese Mitteilung«, sprach er. »Sie macht es mir leichter, daran zu denken, daß ich mein Versprechen gegen den alten Fürsten nicht ganz gehalten ...«
Es ward dunkler im Gemach, die Sonne war gesunken. »Leben Sie wohl, Jadwiga«, sagte er leise. »Leben Sie glücklich!« Er faßte warm ihre kalte Hand, an der die Pulse fieberten. »Und denken Sie daran, daß wir uns einst wiedersehen.« Sie vermochte nichts zu erwidern. Sie stand in der Mitte des Gemachs und horchte seinen verhallenden Schritten. Dann stürzte sie gebrochen zusammen ...
Der nächste Tag fand Baron Starsky, wie der vorige, schwer betrübt und in tiefen Gedanken. Gräfin Jadwiga war morgens mit dem Frühesten abgereist. Niemand wußte wohin. Und er hätte sie, trotz der gestrigen Szene mit dem »lumpigen Juden«, vielleicht – doch geheiratet.
Der Mann seines Zornes aber streichelte in demselben Momente liebevoll das Knabenhaupt des Erzählers dieser Geschichte und tröstete den Weinenden. Er hatte ihm eben gesagt, daß er nicht mehr sein Lehrer sein könne, denn seit gestern dürfe er auch nicht eine Minute seines Lebens den Kranken entziehen, und den Elenden.
Der Judenfriedhof zu Barnow ist ein stiller Ort, eine Stätte des Friedens, nicht des Schreckens. Namentlich zur schönen Zeit, wo der blaue Himmel so freundlich auf das kleine Feld herablächelt, das ganz eingehüllt ist in frisches Grün und Frühlingsduft. Über den verfallenen Denksteinen, über dem Moder der Gräber wiegt sich in hellen, duftenden Sträußen die Holunderblüte.
Auch auf des Bochers Grabe blüht ein solcher Strauch. Ich bin oft darunter gesessen und habe des Mannes gedacht, der da schlummert, und habe immer wieder die Grabschrift gelesen, die in schönen, rührend einfachen Worten sagt, wie er ein Helfer und Pfleger gewesen den Kranken und den Elenden und wie er – ein rechter Held – mitten in seinem Wirken gestorben ...
Er ist ein Jahr nach dem, was ich oben erzählt, heimgegangen. Der Winter hatte einen bösen Gast in die »Gasse« gebracht, das Nervenfieber. David half und rettete, wo er konnte, bis ihn selbst die Krankheit niederwarf. Er überwand sie, aber seine Lebenskraft war zerstört; er siechte langsam dahin. Von seinem Werke aber ließ er nicht ab, bis er zusammenbrach. Dann legte er sich still hin und duldete kaum, daß man ihn pflege.
Wenige Tage vor seinem Tode hatte er mich zu sprechen gewünscht. Ich ging zu ihm. Er sah bleich und gebrochen aus und lehnte am offenen Fenster, durch das eben der erste Hauch des Frühlings in die dumpfe Stube drang. »Es freut mich, daß du gekommen«, sagte er milde lächelnd. »Ich habe dir noch etwas zu sagen, ehe ich scheide ...«
Er hielt einen Augenblick inne, dann fuhr er fort:
»Ich habe dir einmal ein böses Wort gesagt, ein Wort von Rache und Vergeltung für erlittene Schmach. Ich bitte dich: vergiß dieses Wort und handle nie darnach und gedenke nur dessen, was ich dir damals gesagt: ›Verzeihe ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.‹ Ich weiß, ein Wort haftet tief im Kindergemüt. Aber du gibst mir die Hand darauf, mir in diesem letzten getreu zu folgen.«
Ich versprach es unter Tränen. Ich weinte, als wollte mir das Herz zerspringen. Denn dem Knaben war eine Ahnung von der Seelengröße des Mannes gekommen, der da noch im Sterben segnen und erheben wollte.
»Du weinst, mein törichtes Kind!« verwies er mir, wehmütig lächelnd. »Du tust unrecht daran. Hab' ich doch oft genug dem Tod ins Auge gesehn! Und er ist nicht schrecklich, er ist nicht grauenhaft – er ist ein milder Freund und Tröster der Menschen. Wohl hätte ich länger hier zu weilen gewünscht, um die Pflicht zu erfüllen, die ich für mein Leben auf mich genommen, aber Er, der unser Schicksal lenkt, hat es anders gewollt. Sein Wille sei gelobt.«
Er strich mir das Haar aus der Stirn, er ließ seine Hand wie segnend auf meinem Haupte ruhen. »Leb wohl, mein Kind! Leb wohl und ... werde glücklicher als dein Lehrer.«
Das letztere sagte er leise, so leise, daß ich es kaum verstand.
An einem schönen, lichten Frühlingsmorgen fanden ihn seine Pfleger tot, ein Lächeln auf den Lippen.
Die Gräfin Jadwiga aber lebt noch. Sie ist noch immer eine schöne Frau. Ob eine glückliche?! Ob ihr leise, leise durch das Herz zuckt die Erinnerung an das verfallene Landstädtchen und an den Mann, den sie ja trotz alledem in ihrer Art heiß geliebt?!
Das Christusbild, dieses seltsame Werk religiöser Schwärmerei und irdischer, nicht zu besiegender Liebe hat sie in einem stillen Tale der Schweiz im Sommer gemalt, der jenem Frühlingstage folgte. Die Kunst, die sie früher vielleicht nur der Mode wegen betrieben, mochte ihr da zur Trösterin geworden sein. Und dieses Bild zeigte auch wohl, daß sie den Edelmut und die Größe der Entsagung begriffen, die der Jude um ihret- und seinetwillen geübt.
Das ist die Geschichte des Christusbildes zu Barnow.