Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der wilde Starost und die schöne Jütta

Es ist ein trauriges Land, das Land Podolien; auch der Frühling kommt spät in die große Ebene. Aber weil er ein rechter, fröhlicher Tröster ist, so verklärt und überglänzt er dann auch vor allem, was seines Trostes am meisten bedürftig ist: die arme, braune Heide, die nun des weißen, glitzernden Wintermantels beraubt ist und wieder vor Gott in ihrer entsetzlichen Öde ausgebreitet liegt ... Er aber löst ihr die Lappen des alten Gewandes von den Schultern und umhüllt sie mit jungem Grün und Heideblumen und erheitert ihre Armut durch bunte Falter und Lerchensang. Fast rührend liegt der Frühling auf der Heide; es ist, als schmiege sich ein Lächeln der Freude um ein verhärmtes Antlitz.

Und dann macht er sich auf und hält seinen Einzug ins Städtchen. Am Eingange des Ortes, rechts und links der Straße, neigt er seinen Zauberstab gegen die beiden großen, streng geschiedenen Stätten der Toten, daß hinter ihm her der Flieder knospt und sich in dichten Blütenzweigen wiegt, so über den kleinen Holzkreuzen wie über den Grabsteinen mit den hebräischen Zeichen. Dann geht er durch die Straßen und neigt seinen Stab gegen die Fenster und Türen, und sie öffnen sich weit. Und dann gegen die Herzen der Menschen, und sie öffnen sich auch und werden fröhlich. Der Frühling ist allgütig, er vergißt auch derer nicht, die selbst Gott vergessen zu haben scheint; selbst in die düsteren, dumpfigen Gäßchen der Judenstadt dringt sein Hauch. Und die Armseligen, welche dort wohnen, empfingen und grüßten ihn, so gut sie eben können – in ihrer Art. Freilich, Natursinn haben sie nicht; der ist herausgequält worden aus dem Gemüte dieses Volkes. Wer ruhelos über die Erde gehetzt wird, der kann nicht sehen, wie schön die Erde ist!

Doch – derlei übt ja der allgütige Frühling auch anderwärts. Was aber Barnow betrifft, so tut er hier noch ein besonderes Wunder: Er trocknet das gewaltige Kotmeer, in dem sonst, ihres Spiegels nicht unwert, die schmutzigen Häuser und Menschen von Barnow ihr Bild erschauen können; er macht die Straßen wieder gangbar und sogar den Ringplatz, der durch sechs Monate jedes Jahres das schlichte Städtchen in ein interessantes Klein-Venedig verwandelt. Nur ein Pfützlein in der Mitte bleibt ewig bestehen, und das ist gut und weise, wie alles in der Natur, denn was täten sonst die Schweine von Barnow?!

Aber dies besondere Wunder übt auch besondere Wirkung: Es rührt sogar das harte Herz der hohen Obrigkeit, und sie erwidert regelmäßig das eine Wunder durch ein anderes. Alljährlich einmal werden nämlich – meist in den ersten Junitagen, eben nachdem der Frühling mit der Pfütze leidlich fertig geworden – die Straßen von Barnow gekehrt. Aber nicht aus schnöder, weltlicher Neigung zur Reinlichkeit geschieht dies, sondern um des katholischen Glaubens willen, und darum werden auch nicht alle Straßen gekehrt, sondern nur jene, durch welche die Fronleichnamsprozession zieht. Ihr Weg aber geht regelmäßig von der Pfarrkirche quer über den Ringplatz, dann durch einige Gäßchen und über die Serethbrücke zum Altar im Schlosse des alten Starosten, von da zum Kloster der Dominikaner und dann auf kürzestem Wege wieder zur Pfarrkirche, weil da schon die Mittagsonne glühend niederbrennt. Was jedoch die Reinigung dieses Straßenzuges anbelangt, so wacht zwar über der gesamten Ausführung eine und dieselbe Amtsperson, der starke Arm der Gerechtigkeit, der k. k. Amtsdiener Herr Janko Czupka, aber selbige bringt zwei verschiedene Methoden dabei zur Anwendung. Und zwar je nachdem es sich um christliche oder jüdische Gassen handelt.

In den christlichen erscheint Herr Janko dienstags vor Fronleichnam, am frühen Morgen, in Begleitung einiger mit Besen bewaffneter Damen und Herren, die eben im k. k. Bezirksgerichte freie Kost und Wohnung genießen. Diesen Vagabunden imponiert Janko dreifach: durch seine persönliche Würde, dann durch eine verrostete Vogelflinte, die er sich vom Meßner ausgeliehen, und endlich durch jenen Säbel, mit dem er nach seiner eigenen Erzählung einst als Feldwebel an Stelle Radetzkys die k. k. Armee am Mincio zum Siege geführt. Solange fern von jeder Kneipe gekehrt wird, harrt er aus, aber in der Nähe eines solchen Ortes der Labe schmilzt sein Herz, und er hält eine Rede. »Ihr Lumpen«, sagt er, »ich habe mit dem Wirte dort zu reden. Aber durch das Fenster wende ich keinen Blick von euch, und wer davonläuft, wird niedergeschossen, so wahr ich der Herr Janko Czupka bin. Denn diese Flinte hier trifft auf dreitausend Schritte und bei klarem Wetter auf viertausend. Unser guter Kaiser Ferdinand hat sie mir geschenkt, als ich einst mit ihm bei Wien Bären gejagt habe. Also, ihr Lumpen, wer nicht totgeschossen werden will, wird weiterkehren.« Und damit geht Janko in die Schenke und trinkt dort ruhsam sein Gläschen Schnaps. Aber das ist auch nur so eine Redensart – Janko trinkt immer mehrere große Gläser.

Am Mittwoch aber veranlaßt Janko nach einer ganz andern Methode der Reinigung der jüdischen Gassen. Da geht er von Haus zu Haus und hält an die kaftanbekleideten, lockengeschmückten Hausväter nur eben eine Rede. »Dummer Moschko«, sagt er, »du wirst die Gasse vor deinem Hause blank kehren und für jeden Strohhalm, der liegenbleibt, zahlst du einen Gulden Strafe, so wahr ich der Herr Janko Czupka bin. Denn warum? Weil du so ein verfluchter Jude bist. Und warum kehren? Weil morgen das heilige Fronleichnamsfest ist. Und dann, dummer Moschko, laß dir noch raten, wehe euch, wenn ihr während der Prozession auf der Gasse seid – wir schlagen euch ein bißchen tot.«

Aber diese Drohung ist überflüssig. Keinem Juden in Barnow kommt es zu Sinne, vor seine Türe zu treten, während der feierliche Zug vorüberwandelt. Denn tausend Schrecken gehen zu dieser Stunde durch die Seelen dieser armen geknechteten Menschen, nicht etwa bloß der Schreck vor dem Totgeschlagenwerden. Auch diese Menschen wissen ja, daß wir in einer lichteren Zeit leben, heute würde sie der Pöbel höchstens zu Krüppeln schlagen. Aber Schrecken aus alter Zeit gehen ihnen durchs Herz, daß es schmerzlich zusammenzuckt. Schatten aus alter Zeit drängen sich vor ihr Auge, während sie so im hellen Scheine der Frühlingssonne ihr Gäßlein blank kehren für die Prozession, daß kein Halm liegenbleibt. Und über der Arbeit werden diese Schatten wohl auch wieder im Worte lebendig, und die Leute erzählen einander in dumpfem Flüstertone die Geschichte von dem wilden Starosten und der schönen Jütta. Wenn die Großväter, die Väter dieser Leute, dieselbe Geschichte erzählt, dann haben sie wohl noch der schönen Jütta geflucht. Aber heute ist der Haß verflogen, nur die Trauer geblieben, und sie erzählen die Geschichte unbewegt, wie ein Geschick, welches kam, weil es kommen mußte. Vielleicht dämmert's dabei sogar in einem der Enkel auf, daß auch die Ahnen nicht schuldlos waren an diesem Geschick. Aber sie haben es schrecklich gebüßt. Und beim Gedanken dieser Schrecken entringt sich vielleicht auch noch den Lippen der Enkel ein Fluch über die Dränger. Denn zertreten kann man den Wurm, aber erzwingen kann man nicht, daß er dafür dankbar ist ...

Während sie so in der Judenstadt trauernd zum Feste rüsten, krabbelt in den Christengassen viel heiteres Leben bunt durcheinander. Die Männer stehen behaglich schwatzend umher; schon am Mittwoch arbeitet niemand mehr, mit Ausnahme der Hausfrauen. In allen Häusern wird geschmort und gebacken, daß es in der ganzen Gasse appetitlich riecht. Denn darin gleicht sich der niedere Bürgersmann in aller Herren Landen, daß ihm nur derjenige Festtag für voll gilt, an dem er sich gründlich den Magen verderben kann. Auch gewaschen wird viel; Nathan Silberstein, der Spezereiwarenhändler, verkauft in diesen Tagen so viel Seife wie sonst in Monaten, und viele weiße, winzige Mädchenkleider werden geplättet. Diejenigen aber, welchen diese Kleidchen gehören, laufen laut jubelnd umher, denn morgen werden sie Engel sein mit himmelblauen Schleifen und das Köpfchen voll Locken. Und in ihr helles Lachen klingt auch immer leise das Rascheln des Papiers, mit dem man ihnen die Löckchen festgedreht hat. An dem Tage sieht man erst, wie viele kleine Mädchen in Barnow sind.

Von den Buben sind wenige zu sehen; die stecken alle bei den Altären, die eben von den Burschen des Orts ausgeschmückt werden – im Kloster und in der Pfarrkirche. Sie machen es, so gut sie's eben können. Einige Teppiche werden vom Herrn Bezirkshauptmann ausgeliehen, einige Vasen vom Herrn Bezirksrichter, und eine ältliche, wohlhabende Jungfrau spendet eine Sammlung von Kruzifixen. So müssen denn Blumen den Hauptschmuck liefern, und die gibt nur die Heide, und die Blumen der Heide sind arm und duftlos. Von dem Gold und den Rosen, mit denen sie unter glücklicherem Himmel den Heiland schmücken, ist hier nichts zu sehen. Aber wenn er, der größte, gütigste, lichteste Mensch, der je über diese dunkle Erde geschritten, wirklich heute herniederschauen kann, dann freuen ihn hier sicherlich die armen Blumen der Heide ebensosehr wie anderwärts die Rosen. Oder gar noch mehr.

Ein dritter Altar wird im Schlosse des alten Starosten gebaut. Es ist eigentlich nur ein großes, wüstes, verfallenes Haus, aber die Leute von Barnow schmücken es mit diesem stolzen Namen. Wenn man über die Serethbrücke geht und dann unter den Linden hin, das träge, schleichende Flüßchen entlang – da liegt es vor einem. Zur Rechten und zur Linken dumpfige, langgestreckte, von der Wucht der Zeit und der Verwahrlosung halb in die Erde gedrückte Remisen, grau die Wände, grau das vermodernde Holzdach, und in der Mitte das Herrenhaus, ein plumper, zweistöckiger Bau, die Fensterhöhlen unheimlich leer und ausgebröckelt, nur an wenigen Stellen noch zwischen den morschen Holzstöcken erblindetes Glas oder schmutziges Papier; auf den Mauern ein alter, gelblichgrüner Anstrich und dazwischen das nackte Braunrot der Ziegel. So steht das wüste Haus einsam im Heidegrund am Flusse, rings blüht keine Blume, rings sproßt kein Baum, und das einzige lebendige Grün, das hier gedeiht, stimmt traurig: das Gras, das zwischen den Steinen des Schloßhofes emporschießt, der braungrüne Schimmel, der sich wie eine Trauerdecke über alles legt, was zu diesem toten, zu diesem verwesenden Hause gehört.

Nur einmal im Jahre kommen Glanz und Leben in die armselige Öde: am Fronleichnamstage. Sonst kümmern sich die Leute von Barnow nicht um das Haus, nicht um die Bewohner: den alten wahnsinnigen Starosten und seine greise Dienerschaft. Die Schloßleute kommen selten ins Städtchen; noch seltener führt der Weg der Städter am alten Hause vorüber. Und was vollends den Besitzer betrifft, so gibt es viele jüngere Leute in Barnow, die kaum einmal aus der Nähe sein verwittertes Antlitz gesehen haben, umflattert von grauem Haar und den stillen Wahnsinn im stumpfen Blick. Einst, als er noch ein junger Mensch war, kurz nachdem das Unglück sein Herz durchbohrt und sein Hirn versengt, hat er weit und viel umhergerast in der Landschaft, die schöne Jütta zu suchen und diejenigen grausam zu züchtigen, die sie ihm geraubt. Damals wollten ihn die Gerichte ins Narrenhaus stecken und kamen nur darum davon ab, weil er ja doch nur den Juden gefährlich war und ohnehin bald sterben mußte. Aber die verfaulende Seele wohnte in einem eisenharten Körper: Im Wahnsinn reifte der junge Starost Janko von Barecki zum Manne, im Wahnsinn ward er zum Greise, und jetzt sitzt er immer, wieder ein schwaches, hilfloses Kind, still lächelnd im Lehnstuhl am Fenster und spielt mit einem kleinen zerrissenen Frauenschuh und mit einer vergilbten blauen Busenschleife. Oder er schleicht sich ins Nebenzimmer an die Wiege, in welche die Diener auf Rat der Ärzte eine kleine Gliederpuppe gelegt, und singt da stundenlang, sachte wiegend, zärtliche Lieder über dem mottenzerfressenen Spielzeug. Aber manchmal wird er fröhlich, ein schelmisches Lächeln zuckt über das verwüstete Greisenantlitz, er versteckt den Schuh hinter dem Ofen und duckt sich kichernd in den Lehnstuhl. »Sie kommt bald; ob sie ihn finden wird ...«

Aber er harrt vergebens; von dort, wo sie jetzt ist, ist noch niemand wiedergekommen.

So lebt der alte Starost im wüsten Hause am Flusse, und die Tage kommen und gehen, und Tausende junger, glücklicher, nützlicher Menschen müssen sterben. Aber dieses Haus und seine Bewohner scheint selbst der Tod vergessen zu haben, wie es die Menschen tun. Nur noch einmal im Jahre gedenken sie seiner – da erwacht aber auch das Haus und sein Besitzer. Im großen, ausgebröckelten Torweg des Schlosses, von dessen Wölbung der Schutt niederrieselt, bauen die alten, gichtbrüchigen Diener den Altar, und einige fromme Handwerker aus Barnow helfen dabei. Hier ist der Schmuck ein anderer als in der Pfarrkirche, hier sieht man keine Blumen, aber alles, was sich noch an alter, vergilbter Pracht im Hause findet. Zunächst verhüllen sie die Wölbung mit ungeheuren Wolken roter Seide, die freilich heute schon blaßgrün ist und gewaltige Löcher hat. Diese Stoffe hat Herkules von Barecki vor dreihundert Jahren samt einem kleinen Harem in jenen Buchenwäldern der Moldau, welche heute »die Bukowina« heißen, einem Pascha abgejagt und als christlicher Ehemann die ganze Beute seinem Weibe heimgebracht. Und dann bedecken sie die feuchten, schmutzigen Wände des Torwegs mit prächtigen Gobelins, auf welchen die Figuren allerdings nicht ganz deutlich mehr zu erkennen sind. Es ist kaum zu sagen, ob das erfreulich oder betrüblich ist. Denn diese gewirkten Gemälde sind sehr hübsch, aber überaus unanständig – vielleicht hat sie die Maintenon bestellt, als sie noch nicht fromm war, und dann nicht angenommen, weil sie inzwischen fromm geworden. Und so hat sie Herr Agenor von Barecki in Paris erwerben und mit in seine ungebildete podolnische Heimat bringen können als Proben französischer Zivilisation. Dafür haben sie denn auch durch manches liebe Jahrzehnt gegolten, und wenn die Landedelleute mit ihren Frauen und Töchtern auf Barnow zu Besuch weilten, so standen alle halbe Tage lang in stummer Bewunderung vor der französischen Zivilisation. Aber heute sehen bloß Fedko, der Schuster, und Wassilj, der Töpfer, die Gobelins an, während sie sie aufnageln, und diese rohen Menschen zucken höchstens, wenn sie hie und da noch etwas von den Nymphen und Satyrn gewahren, schweigend die Achseln oder sagen gar: »Pfui Teufel!« Und dann wird der Torweg durch eine Holzwand abgeschlossen, zu deren Umhüllung gleichfalls noch die türkische Seide des Herrn Herkules ausreicht, und ein Gerüste für den Altar aufgeschlagen und mit Teppichen bedeckt. Auch auf den Lehmboden legen sie Teppiche. Aber nun beginnt erst die Krone der Arbeit: die Ausschmückung des Altars. Diese Arbeit leitet aber der Hausverwalter Stephan Wolanski selbst, obwohl er ein gebrechlicher, zitteriger Greis ist. Himmel! Was läßt der Mann alles herbeischleppen, Jesum Christum zu schmücken! Kleine Rokokonippes aus Porzellan, silberne Fruchtschalen und goldene Kettchen, eine alabasterne Nachbildung der Venus von Milo, türkische Roßschweife, Damaszener Klingen und schließlich alle Bilder des Schlosses!

Diese Bilder, heilige wie unheilige, stehen das Jahr über verschlossen in einem Saale des oberen Geschosses. Aber heute geht Herr Stephan mit Fedko und Wassilj hinauf und läßt die Gemälde heruntertragen. Eine sonderbare Sammlung! Heiligenbilder, roh und plump gemalt, wie man sie in allen Dorfkirchen des Landes findet, daneben feine, graziöse, sehr frivole oder sehr sentimentale Schäferstücke, die Herr Agenor aus Paris heimgebracht; hübsche Kopien nach Raffael, die der Sohn des Agenor, der hochstrebende Alexander von Barecki, der Großvater des gegenwärtigen Starosten, selbst in Italien gemalt, und schließlich Bilder, von denen sich weiter nichts sagen läßt, als daß es eben Farben sind, auf Leinwand aufgetragen. Aber das merkwürdigste dieser Bilder ist gerade das jüngste – wer es ansieht, den läßt es nicht wieder los, und während er darauf hinblicken muß, fühlt er, wie sein Auge feucht wird, nicht vor Weh, nur vielleicht, weil sich leise, leise alles in seinem Herzen stillt und löst.

Ein merkwürdiges Bild! Ist's ein Porträt oder ein Genrebild oder die Heilige Jungfrau mit dem Kinde? Ein junges Weib in dunklem Gewande blickt auf den Säugling in ihrem Schoße. Das Weib ist unsäglich schön – wenn Raffael sich in das Hohelied vertieft hätte, er würde vielleicht, berauscht von allen Zaubern des Orients, ein ähnliches Antlitz erträumt haben –, aber nicht diese Schönheit macht das Bild herzergreifend, sondern das Lächeln, mit dem sich die junge Mutter über ihr Kind beugt, das gütige, stolze und doch süß verschämte Lächeln! Der dies Bild gemalt, war kein Gottbegnadeter; er hat nur, so gut er's konnte, wiedergegeben, was er schauen durfte, aber ihm ist gelungen, ein Gefühl voll und ganz zu verkörpern, das sonst der Dichter vergeblich in Wert, der Maler in Farben zu fassen sucht, so unendlich reich und tief ist dieses Gefühl – die Mutterliebe. Und weil dieses Licht in jedes, auch des Rohesten und Ärmsten Leben gestrahlt, darum wird vor diesem Bilde jedes Herz gut und sänftigt sich. Fedko, der Schuster, der bisher unter sehr derben Worten die Schäferstücke auf seinem breiten Rücken hinabbefördert, verstummt, als er vor dies Bild tritt, und schlägt andächtig das Kreuz und sagt zu dem alten Herrn Stephan: »Was ist das für eine schöne Mutter Gottes!«

»Tölpel!« höhnt ihn Wassilj. »Das ist eine verfluchte jüdische Buhlerin!«

»Nein – schweig!« ruft der alte Stephan und streckt abwehrend die Hand aus. Dann tritt er vor das Bild und blickt lange darauf hin. Und endlich fährt er leiser fort: »Nein! – Wohl war sie eine Jüdin, die arme Jütta, aber verflucht ist sie nicht. Und wenn alle Juden in der Hölle braten müssen, so ist sie die erste aus diesem verdammten Volke, die selig geworden ist, denn Gott ist gerecht, und sie hat sich den Himmel auf Erden verdient! Denn sie war allen, welche sie gekannt haben, ein Engel und ein Schutzengel für dieses Haus, mit ihr sind Glück und Segen gekommen und mit ihr gegangen. Und du selbst bist ein Tölpel, Wassilj, wenn du sie eine Buhlerin nennst. Was weißt du, wie dieses Mädchen war! Freilich – rechtmäßig angetraut war sie unserem Herrn nicht, aber auch das hätte sich noch zu unser aller Segen gefügt, hätten sie nicht diese jüdischen Bestien geraubt und fortgeschleppt, sie und den kleiner Janko, der damals erst drei Monate alt war ...! Oh, warum hat es Gott gelitten? Warum mußte so viel Jammer über uns kommen?!«

Dem alten Manne versagt die Stimme, er schlägt die Hände vors Antlitz. Auch die beiden anderen schweigen und blicken zu Boden. Dann tritt der Greis wieder vor das Bild hin und fährt fast flüsternd fort: »Ich sollte es eigentlich nicht ansehen – mir tut dabei das Herz weh! Ich war ja selbst dabei, wie der Lemberger Maler, der Herr Kenda, den letzten Pinselstrich daran gemacht hat, und es war an demselben Tage, an dem ich sie zum letzten Male gesehen habe, sie und das liebe Bübchen! Es war an einem Freitag, im Herbste, ein regnerischer Tag. Sie weinte fast, als unser Herr darauf bestand, den Maler zu begleiten, und ich weiß noch genau, wie sie sagte: ›Janko, bleib, ich weiß nicht, mir ist das Herz so schwer!‹ Aber da lacht der Starost und schüttelt den Kopf, daß ihm die braunen Locken nur so ums Gesicht tanzen, und ruft fröhlich: ›Liebstes Herz, was sind das für kindische Sorgen! Jetzt muß es dir immer federleicht zumute sein, wie einer Lerche, die ins Blaue fliegt, denn jetzt sind wir ja endlich am Ziele! Also, es bleibt dabei: Ich bringe den Herrn Kenda bis Tarnopol, wir fahren die Nacht durch, daß wir morgen früh dort sind, und dann bringe ich am Tage die Sachen beim Kreisgericht in Ordnung, und Sonntag in aller Frühe hast du mich wieder hier. Und dann ist um zehn Uhr die Zeremonie in der Kirche – der dicke Prior, der Anastasius, kann's ja kaum mehr erwarten, deine Seele vor der Höllengefahr zu retten, und behauptet immer, du kannst den Katechismus schon besser als ich, was dich übrigens nicht stolz machen kann, liebes Herz!‹ Und dabei lacht der junge Herr so laut, so lustig – ich hör's noch heute im Ohr –, und dann sagt er: ›Also Sonntag um zehn Uhr heißest du Jadwiga Holdberg, und um elf Uhr – nur unser Stephan und mein Freund Wladimir Czaykowski werden dabeisein – wirst du Starostin Barecka und wirst nicht mehr zu erröten brauchen, armes Herz, wenn dich die Leute in den Kaufbuden von Tarnopol anglotzen.‹ Und er küßt ihr die Tränen von den Augen und sagt darauf zu mir: ›Stephan‹, sagt er, ›laß die gedeckte Kalesche einspannen, denn es regnet ja jeden Augenblick, und du begleitest uns, und sag dem Stas, daß er sich beeilt.‹ Der Stas war nämlich der Kutscher und dein Vatersbruder, Fedko, ein braver Mensch, bis auf den Schnaps – nun, Gottes Friede sei mit ihm, er ist schon vor zwanzig Jahren am Säuferwahnsinn gestorben. Also – und dann fährt der Wagen vor, und die Gnädigste steht auf der Treppe und neben ihr die Fruzia mit dem kleinen Janko auf dem Arm, und wir nehmen Abschied. Der junge Herr Kenda ist totenblaß, aber dann wird er feuerrot, wie sie ihm die Hand drückt und für das schöne Bild dankt, und der junge Mensch zittert ordentlich, wie er erwidert: ›Ich habe Ihnen zu danken, denn ein solches Bild werde ich in meinem ganzen armen Leben nicht wieder malen dürfen.‹ Und dann küßt der Herr Starost den Kleinen und die Gnädige, und das Bübchen beginnt zu weinen und die Gnädige plötzlich auch, und sie schluchzt: ›Ich werde die böse Ahnung nicht los – fahr nicht zur Stadt – ich bleibe so allein – oder laß doch wenigstens den Stephan da.‹ Aber der Herr lacht darüber: ›Es bleiben ja zwei Männer im Schlosse, der alte Josef und der Hritzko! Und dann, wer sollte es wagen, dir etwas zuleide zu tun? Etwa die Juden? Glaube mir: dazu ist das Gesindel viel zu feig. Es wundert mich nur, daß sie den Mut gehabt haben, zum Kreisamt zu gehen und eine Eingabe zu überreichen, das Gericht möge dich deiner Mutter wieder zurückgeben, weil du noch minderjährig bist und weil ich dich gewaltsam geraubt habe! Ha! Ha! Ha! Aber mein Freund, der Kreissekretär Walczewski, hat ihnen eine gute Antwort gegeben. Zerrissen hat er die Eingabe und die Fetzen ihnen vor die Füße geworfen und dazu gerufen: ›Kuscht euch, ihr jüdischen Hunde, seht ihr denn nicht ein, daß euch so etwas nur eine Ehre sein muß?‹ Und das haben sie sich gemerkt und kuschen jetzt wirklich. ›Also! Kopf auf, liebstes Herz, auf Wiedersehen!‹ Und er küßt sie und springt in den Wagen, wir jagen davon ... Und das war das letztemal, und wir haben sie nie wiedergesehen!«

Wieder verstummt der alte Mann. Aber Wassilj sagt zu Fedko: »Die Juden haben sie nämlich in der Nacht darauf geraubt.«

»Die Hunde!« stößt der Greis hervor. »Zweiundvierzig Jahre sind es her, und ich bin ein alter Mann, aber noch heute könnte ich diese Menschen morden, wenn ich daran denke ... Wir waren den Tag über in Tarnopol gewesen, der Herr beim Kreisamt und ich hätte Einkäufe machen sollen; aber es war Sabbat, und die Juden hielten die Läden gesperrt. So mußte ich bis zum späten Abend warten, wo sie wieder verkaufen durften, und es ging schon auf Mitternacht, als wir endlich zur Stadt hinausfuhren. Eine mondhelle Nacht, aber die Wege aufgeweicht vom Herbstregen, wir kamen nur langsam vorwärts, und der Stas hörte manches harte Wort vom Herrn. Denn dieser war plötzlich vor Unruhe fast außer sich; und da sagen diese klugen Leute, daß es keine Ahnungen gibt ... Also, der Stas tut sein möglichstes und ist auch, wie durch ein Wunder, nicht besoffen: Aber kaum sind wir beim Kriower Feldwirtshaus, eine halbe Meile von Tarnopol, da hören wir wütenden Galopp und sehen im Mondlicht einen Reiter heranrasen – das ist der Hritzko auf dem Schimmel des Herrn, und er schreit: ›Haltet! Haltet!‹ Er springt ab, und das Pferd bricht zusammen, er hat es zuschanden geritten. Aber da ist auch schon der Herr mit einem Satze aus dem Wagen und beim Hritzko und faßt ihn wütend bei der Schulter und schüttelt ihn: ›Was ist geschehen?‹ – ›Geraubt‹, stammelt der Knecht, ›die Juden – fortgeschleppt – das Kind auch!‹ – Da läßt ihn der Herr los und greift sich ans Herz, als hätte ihn da ein Schuß getroffen, und schreit auf wie ein verwundetes Tier – ich höre diesen Schrei, wie ich dies erzähle, und ich werde ihn hören, bis ich sterbe. Dann taumelt er, ich fange ihn in meinen Armen auf, da kommt der Mond wieder hell hinter einer Wolke hervor, und ich kann das Gesicht meines Herrn sehen – hört, ihr Leute, auch dieses Gesicht werde ich nie vergessen! Dann rafft er sich auf, und ich glaube, nun wird sein wildes Gemüt entsetzlich zu rasen beginnen, aber er sagt ganz ruhig, nur heiser: ›Komm in den Wagen, Hritzko, und erzähle. Und du, Stas, in zwei Stunden müssen wir auf dem Schlosse sein!‹ Und während wir so durch die Nacht hinbrausen, erzählt der Knecht, wie er und der alte Josef am Freitagabend die Hunde losgelassen haben, wie gewöhnlich, und dann haben sie alle Türen verschlossen und sich in der Bedientenstube schlafen gelegt. Aber gegen Mitternacht weckt ihn der alte Josef. ›Alle Heiligen, es sind Diebe im Hause!‹ – ›Unsinn‹, sagt Hritzko, ›der Britan bellt nicht; ich höre nichts als den Sturm und den Regen!‹ Aber in diesem Augenblicke ist die Stube voll von weißgekleideten, vermummten Männern, und die beiden sind ergriffen und gebunden, und – Knebel in den Mund, und die Türe verschlossen! – Alles im Handumdrehen. Und da liegen sie nun und hören die schweren Tritte die Treppe hinaufeilen. Oben ein kurzes Aufkreischen, die alte Kasia, und wieder ein unterdrückter Schrei – das ist die Fruzia. Und dann fängt das Bübchen sehr laut zu weinen an. Davon muß die Gnädige erwacht sein, sie hören, wie sie nach Hilfe ruft und dann, furchtbar gellend, noch einige Worte. Aber diese Worte haben sie nicht verstanden, weil es die jüdische Sprache war. Gleich darauf ist wieder alles still, auch das Schreien des Säuglings. Und dann kommen die Räuber wieder die Treppe hinab, ihre Tritte tönen noch dumpfer, sie tragen eine Last. Dann schlägt das Haustor zu, und sie hören durch das Heulen des Sturmes das Rollen einiger Wagen. Und damit ist alles aus – verschollen und verloren!«

»Und nie wieder hat sich eine Spur gefunden?« fragt Fedko.

»Nie! – Als hätte sie die Erde verschlungen! Es ist alles versucht worden, mit Geld und mit Schlägen, aber nichts! – Als ob diese Juden nicht von Fleisch und Blut wären, sondern von Stein. Unser Herr hat selbst die Untersuchung geleitet, besser und besonnener als der klügste Beamte. Diese Ruhe war mir fast unheimlich, ich hatte ihn ja seit seiner Kindheit gekannt, ich wußte, wie entsetzlich wild er war und wie er die Jütta wahnsinnig geliebt hatte. Und seht, ihr Leute, sie hat eine solche Liebe auch verdient, nicht bloß wegen ihrer merkwürdigen Schönheit. Denn freilich hatte sie unser Herr, nachdem er sie beim Fronleichnamfeste zum ersten Male gesehen, gewaltsam ihrem Vater entrissen und hierhergebracht, aber sie zähmte ihn und liebte ihn allmählich auch, mehr als ihren Glauben und als ihr Leben, und machte aus einem wilden, tollen Jüngling einen gütigen, festen Mann. Nun versteht ihr vielleicht, was sie ihm war. Aber nun sie ihm verloren war, da weinte er nicht und tobte er nicht – nur nachts hörte ich ihn oft leise stöhnen, und bei Tage forschte und untersuchte er dann wieder kalt und besonnen. Aber alle Mühe blieb vergeblich, obwohl sich auch die Gerichte der Sache sehr annahmen, auch die in Ungarn, Rußland und der Moldau. Dort brachten die Herren aus den dortigen Juden so wenig etwas heraus als der Starost aus den Vorstehern der hiesigen Gemeinde. Durch ein halbes Jahr, bis in den Winter hinein, hielt er sie gefangen – er war ja damals in Barnow selbst Gerichtsherr. Gegen Neujahr aber sagte er mir: ›Packe die Koffer, ich mache mich selbst auf die Suche, du begleitest mich.‹ Vorher jedoch sprach er noch einmal mit den hiesigen Verhafteten, und ich war dabei. Hätte es mir Gott selbst erzählt, ich hätte gesagt: ›Gott, du lügst‹, aber so habe ich es selbst gehört, wie er, unser Herr, Janko von Barecki, die Juden gebeten hat, sich seiner zu erbarmen – in Worten, in einem Tone – ich sage euch, sogar der Teufel hätte Erbarmen fühlen müssen! Aber diese Hunde haben sich nur heuchlerisch gebeugt und gesagt: ›Herr, tue mit uns, was du willst, aber von der Jütta Holdberg wissen wir nichts.‹ Da läßt unser Starost die Hände sinken und sagt dumpf: ›Geht – ich halte euch nicht länger. Möget ihr es nie zu bereuen haben! Aber hört mich an! Ich habe mich bisher bezähmt und meine arme Vernunft festgehalten. Ich habe euch bisher nur zuweilen hungern lassen, und das geschieht auch dem christlichen Gefangenen, bis er gesteht. Aber ich fühle, ich fühle deutlich, wie mich der Schmerz wahnsinnig macht. Und wenn ich wahnsinnig bin, ihr Juden, dann mag euch Gott vor meiner Hand schützen, Menschenmacht vermag es nicht! Und nun – geht! Möget ihr es nie zu bereuen haben!‹ Da beugten sie sich nochmals und gingen hinaus, und einer von ihnen, der junge Simon Grün, lächelte heimlich höhnisch – ich allein hab's gesehen ...«

Immer erregter hat der Greis gesprochen, immer bleicher ist sein Antlitz geworden. Und nun reckt er sich empor, und seine Augen glühen unheimlich, und er ruft:

»Ich allein hab's gesehen, und ich allein hab's gerächt! Denn sie haben es bereut, und es hat sich alles erfüllt, wie es unser Herr gesagt hat! Nachdem wir den Winter und den Frühling hindurch rastlos umhergezogen von Ort zu Ort und nichts gefunden, da kehrten wir heim. Und es kam wieder der Fronleichnamstag, der zweite seit jenem, wo unser Starost zuerst die Jütta gesehen, da übermannte ihn die Erinnerung, und er konnte seinen armen Verstand nicht mehr halten und wurde wahnsinnig. Nach der Prozession bot er auf, was zum Schlosse gehörte: Bauern, Jäger und Knechte, und wir brachen ein in die Judenstadt und mordeten und sengten. Ja! – Wir taten's – ja! An meinen Händen klebt Blut – ich habe den Simon Grün erschlagen! Aber wenn mich Gott vor seinen Thron fordert, so werde ich ruhig vor ihn hintreten und sagen: ›Ich erschlug ihn, aber es war jener Mensch, der meinem Herrn Glück und Verstand raubte und ihn dann, als er sich in Schmerzen vor ihm wand, verhöhnte ...‹«

Der Greis verstummt und starrt nur noch mit wilden Augen vor sich hin. Dann fährt er auf und streicht sich über die Stirne, als erwache er aus einem Traume. »Die alten Geschichten sind über mich gekommen, und ich habe wieder einmal reden müssen. Kommt – nehmt diese Bilder, wir müssen den Altar fertigen.«

Sie gehen hinunter und schaffen im Torweg rüstig weiter an ihrem frommen Werke. Über ihnen aber, im ersten Stockwerk, kichert eine dünne, zitterige Greisenstimme unheimlich in den Frühlingstag hinaus. Der Wahnsinnige hat sein Fenster geöffnet und atmet freudig die warme, reine Luft ein. Dann aber beugt er sich weit hinaus und ruft hinunter: »Stephan! Stephan!«

»Ja – Herr!«

»Morgen ist ja wieder Fronleichnam, wie ich sehe. Heißa – endlich! Vergiß nicht, den Schimmel zu striegeln, ich will im Zuge reiten, so wie damals, damit sie mich gleich erkennt. Und dann nehme ich sie und den Janko vor mich auf den Schimmel, und das Kind lacht über das Pferd, und wir reiten im Galopp hierher! Du bestellst inzwischen den Prior und den Wladimir Czaykowski, und wir lassen uns trauen – heißa! Daß du nur nichts vergißt, Stephan!«

»Gewiß nicht, Herr!« ruft dieser hinauf. Aber dann sagt er leise zu Fedko: »Der Schimmel ist derselbe, den Hritzko totgeritten, und der Prior ist längst in seinem Fette erstickt, und den Czaykowski haben die Russen schon vor vierzig Jahren bei dem großen Aufruhr aufgehängt. Und wo mögen Jutta und ihr Kind modern?! Mein armer, armer Herr!«

Wenn die Sonne endlich nur noch wie ein glühender Ball am Rande der Ebene klebt, ist auch alles für das morgige Fest gerichtet: alle Kuchen gebacken und alle Löckchen eingedreht, alle Straßen gekehrt und alle Altäre aufgeputzt. Und der Großwürdenträger von Barnow, Herr Janko Czupka, durchwandelt alle Gassen, diesmal ohne den historischen Säbel und die Bärenflinte Kaiser Ferdinands des Gütigen, sondern allein mit seiner persönlichen Würde bewaffnet. Aber sein Herz wird milde, während er so dahinwandelt, denn er sieht alles an, und siehe – es ist alles gut. Dann geht er in die Schenke, und auch dort ist alles gut, und dann geht er schlafen. Und gleich ihm schlummert bald auch die übrige Bewohnerschaft des armen, schmutzigen Städtleins dem morgigen Tage entgegen. Niemand sieht dem Monde zu, wie er sachte emporsteigt und die Pfützen in Silber wandelt und das wüste Haus am Flusse in einen schimmernden Palast.

Nur in einem Hause der Judenstadt wachen zwei Menschen – eine alte Frau und ein junges Mädchen. Dieses Haus gehört dem Jakob Grün, die Greisin ist seine Mutter Sarah, das »Urbabele«, und das Mädchen seine Enkelin. Die schöne Jütta Grün ist plötzlich aufgewacht; sie weiß selbst nicht, warum – weil ihr der Mond zu hell auf die Augen geschienen oder weil sie im Schlafe die klagende Stimme der Urgroßmutter zu hören geglaubt. Sie lauscht auf, und nun hört sie deutlich, wie sich die alte Frau ruhelos auf ihrem Lager wälzt und leise schluchzt und klagt. »Urbabele!« ruft das Mädchen erschreckt und richtet sich empor. »Seid Ihr, behüte, krank? Oder scheint Euch der Mond zu hell, soll ich das Fenster verhängen?«

»Nein, Kind«, sagt die Greisin, »laß den Mond hereinschauen. Ich seh' ihn gern. Ich kann nicht schlafen – ach, mir blutet mein Herz so sehr! Morgen ist ja die Jahrzeit nach deinem Großvater! O Kind, morgen jährt sich wieder einmal der schwarze Tag, da die Christen wie die Wölfe eingebrochen sind in unser Haus, und sie haben sein liebes Haupt zerschmettert, und ich habe sein Leben nicht zurückhalten können, und er ist gestorben – hier auf dieser Diele! Oh, Kind – wie könnt' ich schlafen?«

»Urbabele!« sagt das Mädchen gedrückt. »Tröstet Euch! Was nützen unsere Tränen?! Und wäre es nicht Gottes Wille gewesen, es wäre nicht geschehen!«

»Gottes Wille!« seufzt die alte Frau. »Ich glaube an Gott und will nicht mit ihm rechten, daß er es geschehen ließ. Sein Ratschluß ist unerforschlich. Aber vergessen kann ich nicht, daß die Untaten nur deshalb geschehen sind, weil wir gerecht waren, weil wir Gottes heiligen Namen nicht haben kränken lassen wollen! Denn nur deshalb haben wir die Jütta dem polnischen Herrn genommen, damit Gott nicht beleidigt werde. Und dennoch hat er es geduldet, daß deshalb der Jammer über uns komme und Mord und Brand! ... Warum, Gott, warum?«

Die alte Frau richtet sich empor; unheimlich leuchtet ihr todblasses Antlitz durch die mondbeschienene Stube zu dem Mädchen herüber. »Nein!« ruft sie. »Vergiß, Jütta, was ich jetzt gesagt habe, und du, Gott, vergib mir das törichte Wort! Ich frage nicht, warum – aber daß du die Frevel rächst, Gott! Hundertmal mehr, als du es bisher getan, das fordere ich von dir! Und solange es nicht geschieht, rufe ich zu dir: ›Gott, lebst du? In deinem Namen steht ja geschrieben: Aug um Auge, Zahn um Zahn!‹ – Höre, Jütta, mein Kind, mein Simon selig hat gesagt: ›Die Christen sind gegen uns wie die Wölfe; Fluch und Schmach über unser Haupt, wenn wir gegen sie wären wie die Lämmer!‹ – Merke dir dies Wort, Kind, merke dir's. Du bist jung und schön, weh dir, wenn du einem Christen gefällst, doppelt weh, wenn er dir gefällt! Es geht gegen Gott, und darum kann kein Segen daraus werden, nur Fluch und wieder Fluch! Denk an jene andere Jütta, mein Kind!«

Die alte Frau streicht sich wie besinnend über die Stirne und fährt dann leiser fort:

»Sie hieß Jütta, wie du, und war auch jung und schön, noch viel schöner – so hold ist nie ein Mädchen unter uns gewesen. Aber auch gut war sie und fromm, das einzige Kind der edelsten, reichsten Leute unter uns. Ihr Vater Manasse war unser Vorsteher, ein sehr reicher und wohltätiger Mann; er half den Armen, pflegte die Kranken, und als einmal eine große Seuche unter uns wütete, da rettete er Tag und Nacht, bis er selbst siech wurde und erblindete. Damals war die Jütta achtzehnjährig. Und es begab sich im nächsten Frühjahr, daß die Christen dasselbe Fest feierten wie morgen, und sie kamen durch unsere Gassen gezogen mit Musik und Fahnen und mit den Bildern ihrer Götzen. Wir jedoch blickten nicht hinaus, noch minder traten wir vor unsere Tür, weil uns dies bei Todesstrafe verboten war. Nur der blinde Manasse geriet in den Zug, als er von der Betschul' heimkehrte – es war nur wenige Schritte von seinem Hause. Da stürzten sich die Christen auf den Greis, schlugen ihn und wollten ihn töten. Aber Jütta ersah die Gefahr, stürzte hinaus und deckte den Vater mit ihrem Leibe. Freilich, was vermochte sie gegen die Wütenden! Rasch waren die beiden getrennt, den Greis schleppten die Christen zum Flusse und das Mädchen lachend gegen den Klostergarten. Da, in der höchsten Not kam ein Herr auf einem weißen Rosse angesprengt, der junge Starost. Er sah das Mädchen und befahl, es loszulassen, und als Jütta um Rettung für den Vater flehte, willfahrte er lachend: ›Meinetwegen, du bist schön! – Ein alter Jude mehr auf der Welt!‹ Und Manasse und Jütta durften in ihr Haus zurückkehren; der Zug ging weiter. Sie aber und wir mit ihnen dankten dem Ewigen für die Rettung, und es ward beschlossen, daß am nächsten Tage die Vorsteher zum Starosten gehen und sich für die Barmherzigkeit bedanken sollten. Aber dies geschah nicht, denn er war ein Christ und ein Pole und holte sich selbst den Lohn. Am Abend überfiel er mit seinen Jägern und Knechten das Haus des Manasse und riß die Jütta fort. Vergeblich war ihr und ihres Vaters Flehen. ›Blinder Judenhund!‹ schrie ihn der Starost an, ›ich habe sie ja nur deshalb vor meinen Knechten bewahrt, weil ich sie für mich selbst haben will. Übrigens leihe ich mir sie nur aus, in vierzehn Tagen hast du sie wieder.‹ Und er raubte das Mädchen, das vor Schreck und Scham ohnmächtig geworden war, wie der Wolf das Lamm ...«

»Entsetzlich!« ruft das Mädchen erbebend.

»Ja, entsetzlich«, wiederholte die Greisin. »Dich packt es heute, und nun bedenke, was wir alle in jener Nacht erlitten. Oh, es war eine Nacht der Schrecken! Denn wenige Stunden nach dem Raube starb der alte Manasse, sein siecher Körper konnte die beiden furchtbaren Schrecken nicht verwinden. Und seine letzten Worte waren: ›Rettet mein armes Kind! Wenn ihr es nicht meinetwillen wagen wollt, so tut es um Gottes willen. Sein heiliger Name wird geschändet, wenn ein jüdisch Kind als Buhlerin im Cnristenhause sitzt.‹ Aber wie dies beginnen? Da sagte mein Simon, den sie zum Vorsteher gewählt hatten, weil er klug und gerecht war, trotz seiner jungen Jahre: ›Der Starost hat nicht bloß Gottes, er hat auch des Kaisers Gesetz beleidigt. Wir wollen vors Gericht gehen.‹ Da machten sie eine Eingabe nach Tarnopol, aber sie wurden mit Hohn zurückgewiesen. Und dann schrieben sie nach Lemberg, aber von da kam gar keine Antwort. Und endlich nach Wien, und von da kam ein Brief zurück, daß ja die Sache nach Tarnopol gehöre. Aber inzwischen war mehr als ein Jahr vergangen, und die Jütta war noch immer auf dem Schlosse und hatte dem Starosten einen Knaben geboren, der getauft wurde; sie jedoch war noch Jüdin. Da kam gegen den Herbst die Nachricht, daß der Starost auch sie taufen lassen wolle. Und darauf versammelte Simon in der Betschul' die Männer der Gemeinde und sprach zu ihnen: ›Wir dürfen es nicht dulden. Sie ist Manasses Tochter; aber wäre sie auch die Letzte und Niedrigste, wir dürfen es um Gottes willen nicht dulden. Unser Recht haben wir nicht erkämpfen können, wohlan denn: Gewalt gegen Gewalt! Laßt uns ins Schloß einbrechen und die Jütta befreien. Das Kind geht uns nichts an, aber die Jütta gehört zu uns. Wir wollen sie weit wegbringen, zu den Juden nach Rußland, und sie soll unter uns geachtet werden, als wäre ihr Leib unberührt, denn nur dem Zwange ist sie gewichen.‹ Die anderen stimmten ihm bei, und es fragte sich nur noch um den Tag der Ausführung. Da verriet der Kutscher des Starosten, ein Trunkenbold, daß der Starost an einem Freitag verreisen und am Sonntag darauf wiederkommen und die Jütta taufen lassen wolle. Darauf versammelte Simon wieder die Männer, und als einige einwendeten, es sei ja die Nacht von Freitag auf Sabbat und da dürfe man keine Arbeit tun, da rief er: ›Was wir tun wollen ist Gotteswerk, und das dürfen wir an Gottes Tage verrichten.‹ Dem zum Zeichen zogen sie auch ihre Sterbekleider an, wie am Tage der Versöhnung. Und sie überfielen in selbiger Nacht das Schloß. Aber als sie zur Jütta kamen, da schrie sie: ›Zurück, ich gehöre zu ihm, ich bin sein Weib!‹ – ›Du lügst‹, erwiderte Simon, ›du gehörst zu uns! Und wenn du nun auch selbst Freude daran hast, eines Christen Metze zu sein, wohlan, so führen wir dich fort, damit Gottes heiliger Name nicht länger durch dich beschimpft werde.‹ Und da erkannte sie, daß kein Entrinnen war, und bat nur noch, daß sie ihr Kind mitnehmen dürfe. Die anderen meinten: ›Das Kind geht uns nichts an!‹ Aber Simon sagte: ›Es ist ja doch ihr Fleisch und Blut!‹ Und sie ließen es ihr. Noch in selbiger Nacht ward sie weit, weit fortgebracht, gegen die Grenze hin. Und der Starost hat sie nimmer gefunden, denn wir halten zusammen, und es ist kein Verräter unter uns. Vergeblich ließ der Starost meinen Simon und die anderen Vorsteher im Kerker schmachten, er brachte nichts heraus und mußte sie endlich wieder entlassen. Schon glaubten wir die Heimsuchung vorüber – dann kam wieder jenes Fest – der schwarze Tag – und hier haben sie ihn erschlagen. Weh, weh mir!«

Und wieder beginnt die alte Frau zu weinen und zu klagen. Erst nach einer langen Weile wagt das Mädchen die leise Frage: »Und was ward aus der Jütta?«

»Aus Fluch wird Fluch!« erwidert die Alte dumpf. »Sie brachten sie in ein einsames Dorfwirtshaus in Rußland, und da blieb sie den Winter über. Im Frühling aber, als der Starost selbst zu suchen begann, führten sie sie weiter ins Land hinein. Ihr Kind starb eines Morgens auf dem Wege, aber sie konnten es ihr nicht entreißen, und sie hielt es in ihren Armen. Am Abend aber kamen sie vor Mohilew an, und dort ist keine Brücke über den Dnestr, man muß im Kahn übersetzen. Und wie sie so im blassen Mondlicht hinüberruderten, da spürten sie plötzlich eine Erschütterung des Kahns. Die Jütta hatte sich erhoben und war, ihr totes Kind im Arm, in die dunkle Flut gesprungen. – Aus Fluch wird Fluch ...!«

Und die Sonne geht auf, die Sonne des Festtages. Herr Janko Czupka erscheint wieder in den Straßen und treibt seine Vagabunden vor sich her, aber diesmal tragen sie Körbe voll grünen Laubes und Blumen und bestreuen damit die Wege, welche die Prozession wandeln soll. Dann dröhnen alle Glocken, und der feierliche Zug formiert sich. Voran eine Musik, die sehr schön spielt, weder ausschließlich Bläser noch ausschließlich Streicher, sondern hier geht der Violinist neben dem Trompeter – jeder, wie er kann. Dann die Schulkinder und die weißgekleideten Engelchen, hierauf die Geistlichkeit mit dem Allerheiligsten und hinter ihnen her der Bezirkshauptmann, der Bezirksrichter und der Steuereinnehmer. Aber in der Masse des Volkes, die nun vorüberzieht, ist einer, der so mächtig und würdevoll einherschreitet wie die drei zusammen, Ihr erratet ihn schon!

Und so ziehen sie hin von einem Altar zum anderen und singen laut: »Te deum laudamus!« Aber in einer verdunkelten Stube der Judenstadt sitzt eine alte Frau und knirscht, wenn sie die Töne hört: »Fluch den Christen!« – Und im Schloßhof steht ein Greis und blickt zu seinem wahnsinnigen Herrn empor, der vor Freude tanzt, und knirscht: »Fluch den Juden!« –

Wir wollen nicht die traurige Frage entscheiden, wer von beiden dies mit größerem Rechte sagt. Aber ein anderes Wort laßt uns aussprechen am Schlusse dieser düsteren Geschichte. Durch die Jahrhunderte und bis in unsere Tage hinein hat die Lüge fortgeklungen, daß nur der Glaube selig macht, die Liebe aber blind, und es ist nicht zu zählen, wieviel Blut und Tränen um dieser Lüge willen geflossen sind. Laßt uns endlich die Wahrheit begreifen, daß nur die Liebe selig macht, der Glaube aber blind, und laßt uns dafür kämpfen, allorts, allimmer, mit ganzem Herzen und mit ganzer Kraft. Und dann werden auf Erden keine Geschichten mehr geschehen wie die vom wilden Starosten und der schönen Jütta ...!


 << zurück weiter >>