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Wandelt durch Reckenburg, wenn Ihr in der Chronik meiner nächsten zwanzig Jahre blättern wollt. Jahre, in denen das, was hinter ihnen lag, unmerklich in nebelhafte Erinnerung verschwamm, und mit deren Beginn ich mich gewöhnte, die Geschichte meines eigentlichen Lebens zu datiren.
Es war eine Zeit lediglich der Arbeit, aber einer Arbeit, die alle Bedingungen des Gelingens und darum der Befriedigung in sich trug. Denn zu einem langgehegten, der natürlichen Neigung entsprungenen Plan gesellte sich ein beharrlicher Wille und das Gebot über die durchführenden Mittel.
Die Reichthümer meiner Erblasserin waren nicht unermeßlich, wie sie die Volksfabel sich ausgemalt hat; sie hatten seit Jahren nahezu als todtes Capital gelegen. Aber sie waren für einen bedeutenden Zweck mehr als ausreichend, wenn die Persönlichkeit in Betracht gezogen wird, die frei wie ein König mit ihnen schalten und walten durfte. Das Eigenthum an sich hatte wenig Reiz oder Werth für mich, denn wenn just auch Eicheltrank und Grützbrei meiner Vorgängerin mir weder genutzt noch geschmeckt haben würden, so war mir nach Anlage und Erziehung Einfachheit doch ein Bedürfnis;, mehr als ein Gebot. Meine Werkstatt war meine Flur, und der bisher innegehaltene Erkerbau, ein klein wenig wohnlicher eingerichtet und ausstaffirt mit dem altheimischen Geräth, bot hinlänglich Gelaß für die Stunden der Ruhe. Ich hegte keine ästhetischen Liebhabereien, keine geselligen Bedürfnisse, welche das Zeitwesen mir ohnehin verleidet haben würde; ich war ohne beanspruchenden Familienzusammenhang und frei von jener gemüthlichen Liberalität, die, weil sie nicht »nein« zu sagen vermag, die reichsten Mittel der Kreuz und Quer zersplittert. Summa Summarum: Natur und Schicksal hatten mir die Beschränkung leicht gemacht, welche jedes bildende Streben heischt.
Was aber solchem Streben erst die Befugniß giebt: Ort und Stunde, auch sie waren mindestens nicht ungünstig für das meine. Inmitten welterschütternder Ereignisse blieben mir volle sechs Friedensjahre für einen gründlichen Unterbau. Das Gut lag seitab der großen Heerstraßen, und fehlte es auch nicht an Durchzügen, Lieferungen und Aushebungen, trug man seine Lasten auch mit saurem Gesicht, weil sie sich Freunde nannten, die man als Feinde haßte; mein Bauplan würde unter dem so hart um den Rest seiner Selbstständigkeit ringenden Nachbarstaate nicht gediehen sein, wie unter dem ruhigen Vasallenthum des unseren. Ihr kennt diesen Plan: es galt die reiche Cultur eines herrschaftlichen Grundbesitzes über einen armen Gemeindeverband auszudehnen. Wenn nun Kanäle und schützende Deiche, bequeme Fahrstraßen, entsumpfte Brüche und wohlregulirte Forsten sich auch über die dörfliche Flur verbreiteten; wenn zu allgemeinen Zwecken Bauholz gefällt, Ziegelöfen errichtet wurden, Lasten von Bruchsteinen stromauf- und abwärts landeten; wenn Schul- und Gotteshaus aus dem Ruin erstanden, und endlich an Stelle der wüsten, ekelerregenden Hüttentrümmer reinliche Dorfschaften sich ausbreiteten, die ich unter dem Gemeinnamen »Reckenburg« zusammenfasse: so war alles das, was scheinbar als Resultat gefällig in die Augen springt, doch nur das Mittel zum Zweck und ein bequemes Mittel für eine freie volle Hand. Der Zweck meiner Aufgabe und ihre Schwierigkeit, die hießen: ein erneuertes Menschengeschlecht inmitten der erneuerten Flur; eine kräftige, arbeits- und ordnungstüchtige Bauernschaft in der Gemeinde von Reckenburg.–»Majestät Fritz in Pommerellen«, so nannte mich neckend mein guter Probst in seinen ermunternden Briefen; und in der That war es solch ein hungerndes, lungerndes pommerellsches Völkchen, über das ich das Regiment usurpirte. Ja usurpirte; denn nicht mehr die Erbunterthänigkeit, nur die Noth und der anlockende Zauber des Eigenthums machten sie zu meinen Geladen. Die fruchtbringenden Liegenschaften auch der freien Bauern waren in Zeiten der Drangsal an die Herrschaft verschleudert wurden, kaum mehr als dürftige Fetzen Haide und Bruchlandes in den Händen von Wilddieben, Schmugglern und frohnpflichtigen faulen Tagelöhnern zurückgeblieben. Just aber auf diesem Grundstock des Nebels beruhte in eine Zuversicht der Heilung, Denn in den üppigsten Landschaften entartet und auf dem kümmerlichsten Böden fördert sich die Cultur. Der Acker, der lange Zeit Oel- und Zuckerfrüchte getragen hat, sinkt, ausgesogen, zu einem Haferfelde herab; ein Forst, welchen vor einem Jahrhundert ein Windbruch verwüstete, steht, bei Fleiß und Geduld, nach wieder einem Jahrhundert in einen Nadelwald und endlich in einen Laubwald umgewandelt. Und wie die Erde, so der Erdenherr. Nicht auf dem Lotterbette, sei es des Elends, sei es der Wollust, aufrecht, im Schweiße seines Angesichtes bildet sich der Mensch.
Diese Fibelweisheit prägte ich in das Gemüth meiner Colonie nicht mit dem verpuffenden Wort des Missionairs, sondern als Münzmeister mit dem handlichen Stempel, den ich in dem Goldthurm der schwarzen Gräfin vorgefunden hatte. Wer seine dürftige Scholle nach meinen Erfahrungen bearbeitete, seinen Viehstand genau nach denselben verpflegte, erhielt ans herrschaftlichen Beständen Werkzeug, Saatkorn und junge Zucht, erhielt sie wiederholt in Zeiten des Mißwachses oder der Seuche. Niemals jedoch ohne die Bedingung allmäliger Rückerstattung nach Jahren des Gedeihens. Wer seines Bodens am frühesten oder fleißigsten Herr geworden war, der erhielt von dem Gutsareal, das sich während der kriegerischen Unsicherheit ohne schwere Opfer noch immer erweitern ließ, zugelegt. Niemals jedoch ohne die Bedingung einer mäßigen, aber regelmäßigen Rente, welche den Tilgungsfonds in sich schloß. Ungehemmte Arbeitskraft und unbeschränkte Arbeitszeit waren die einzigen Rechte, welche den bisher zu Frohnden und Diensten Verpflichteten sonder Clausula überlassen wurden.
Bei diesen Erweiterungen war nun von Haus aus darauf Bedacht genommen worden, daß die Grundstücke eines Besitzers beieinander und seinem Gehöfte so nah als möglich lagen. Das Dominium durfte behufs dieser Ausgleichung nicht geschont werden. Ohne Streitigkeiten oder Sporteln vollzog sich dieser wesentlichste Wohlstandsprozeß für den kleinen Grundbesitz lediglich durch meinen Schiedsspruch und allerdings durch meine Opfer. Wer aber nicht opfern will, soll nicht reformiren wollen.
Alles wurde auf Leistung und Gegenleistung gegründet; nicht das geringfügigste Erzeugniß verschenkt, nicht die unwesentlichste Verpflichtung erlassen, nicht die herkömmlichste Eigentumsverletzung geduldet. Selber für die Beeren, welche die Kinder in den Gutsforsten pflückten, für Reisholz und Stoppeln, welche die Mütterchen sammelten, mußte ein Tribut erlegt werden. Freilich brachte die Schloßfrau, als Zwischenhändlerin, ihn bei dem Ankauf zu höchsten Marktpreisen in Anschlag, und trieb auf diese Weise ein bewußtes Spiel, indem sie mit der einen Hand gab, was sie mit der andern gefordert hatte; aber sie sparte den Leuten Zeit, zerstreute sie nicht durch Handel und Wandel, stärkte den Rechtssinn, der durch kleine Übertretungen am sichersten untergraben wird, und ein Ehrgefühl, das mit dem Begriffe des Verdienstes anfängt und mit dem der Duldung endet.
In ähnlicher Weise wurde auch der Neubau der Dörfer nach einem voraus entworfenen Plane allmälig zu Stande gebracht.
Der bisherige Besitzer, der sein hinfälliges Gehöft an die mir gelegene Stelle verrückte, der neue Ansiedler der es nach meinem Muster aufrichtete, ein Jeder, der sich verpflichtete, sein Anwesen nach einer strengen Polizeiordnung reinlich und zweckmäßig zu erhalten, sie empfingen den Bauplatz, das Material und eine Unterstützung der Arbeitskräfte während der Anlage unentgeltlich, später gegen Zins und ratenweise Abzahlung, und zwar ohne daß auch hier bis zur letztgültigen Regulation eine Feder oder ein Schuld- und Grundbuch in Bewegung gesetzt worden wären. Der einfache Handschlag genügte, und die Unerbittlichkeit, mit welcher ich bei jeder hinterhältigen Bauernlist die Aushülfe zurückzog, verbürgte mir die Treue meiner Contrahenten, bis Ordnung und Redlichkeit zur eingewöhnten Sitte in Reckenburg geworden waren. Daß in Bausch und Bogen der Schloßseckel kaum ein schlechteres Geschäft gemacht haben würde, hätte ich von Haus aus gesagt: »Hinz, hier schenke ich Dir eine Hufe«, oder: »Kunz, da hast Du eine von meinen Wiesen«, daß die Freude des Empfängers und Gebers gegen die Unruhe des Schuldners und die Wachsamkeit des Gläubigers vertauscht wurden, das ward nicht in Rechnung gezogen und durfte es nicht werden. Nicht die Blume der Gemächlichkeit, den Baum des Rechtes und der Ehre galt es zu pflanzen in der Reckenburger Flur. Zuletzt, doch nicht zum Letzten sei nun auch der Gehülfen gedacht, die mir bei dieser Pflanzung so wacker in die Hand gearbeitet haben. Ich muß es als einen Glücksfall preisen, daß kurz nach Antritt meines Regiments der damalige Pfarrer, ein deutscher Biedermann und Familienvater, die bequeme Stelle eines städtischen Nachmittagspredigers dem rauhen Posten auf Reckenburg vorzog. Ein Stündchen Kirchenruhe war den rührigen Stadtbürgern zu gönnen. Der Mann kam auf den rechten Platz und ich fand für den meinen den rechten Mann. Ohne die Gemeinde ihrer Verpflichtungen gänzlich zu entbinden, ward die Stelle von Seiten des Dominiums auskömmlich verbessert, und Ludwig Nordheim, der Zweite, trat auf meine Einladung in dieselbe.
Seiner Anlage und meiner späteren Entwicklung gemäß, konnte der Sohn mir nicht ein Freund werden, wie der Vater es gewesen war; aber der rüstige Mann war mir ein Amtsgenosse, mehr als jener es hätte werden können. Hatte der Vater sich abgemüht, durch mildes Reden und Thun das Himmelreich unter uns auszubreiten, so sparte der Sohn kein Donnerwort, um uns die Hölle heiß zu machen. Jener scheiterte, dieser wirkte; denn wir zählten zur Zeit mehr Höllen- als Himmelreichscandidaten in der Reckenburger Flur, – Desgleichen fand sich für die Zucht unserer noch unflüggen Brut ein Meister, der neben dem Bakel auch Axt und Pflugschar instructiv zu handhaben verstand. Ich hatte Anfangs mit Sehnsucht an meinen getreuen Christlieb Taube gedacht, sparte ihm aber schließlich die Opferung auf einem verlorenen Posten, Er lebt noch heute zwischen seinen Bergen, pflegt seinen Rosenflor und spielt die Orgel zu Gottes Ehr'! Ohne eignes Weib und Kind, ist er wie ein Vater geliebt von den Geschlechtern, die er herangebildet hat. Der Aermste und der Reichste unter denen, mit welchen ich jung gewesen bin. Der Glücklichste! Wiedergesehen habe ich ihn nicht.
Einen anderen Getreuen dahingegen, den letzten Purzel, durfte ich noch Jahre lang unter meinen Augen hegen. Seine Werbezeit war abgedient und ihm graute vor einem Heldenthum unter dem Banner des Siegers von Jena, den er, zwar nicht als Patriot, aber als Diener seines geopferten Herrn ingrimmig haßte. Mit Behagen fügte er sich daher in die Rolle, die unter dem Anstandstitel »Heiduck« auf Reckenburg fortgeführt ward, und hat seinen Zopf mit Ehren zu Grabe getragen. Viele Jahre vor ihm schied die Treueste der Treuen. Ihr Erdenziel war erreicht, als sie das Kind ihres Herzens auf dem Gipfel ihrer Träume angelangt sah und in dieser stolzen Region keinen kreuzenden Schellenunter mehr zu pariren hatte.
Der schwerste Verlust war der meines einzigen Freundes, des Probstes. Wiedergesehen habe auch ihn ich nicht. Sein Kränkeln und mein Schaffen bannten jeden auf seinem Platze. Sein letzter Brief fiel in den Sommer 1809 und enthielt die Kunde von dem Verschwinden August Müller's aus dem Försterhause. Die Sorge um den väterlich geliebten Schützling mag den lange siechen Körper aufgerieben haben.
Ich theilte diese Sorge nicht. Der soldatische Instinkt des Knaben würde auf die Dauer doch nicht zu bändigen gewesen sein; und wessen bedurfte unsere Zeit so sehr, als dieses verwegenen Soldatentriebes? Hatte er in dem vorzeitigen Rachezug ein vorzeitiges Ende gefunden, – nun wohlan! der Boden, dem die Freiheit entsprießen soll, muß ja, so heißt es, mit Märtyrerblut gedüngt werden; und wie hätte ich nicht eine genugthuende Fügung darin erkennen sollen, daß der Sohn meines Helden von Valmy unter dem Sohne des Feldherrn von Valmy voranstürmte, um die Schmach zu tilgen, die mit dem Tage von Valmy begann!
Als August Müller mir eines Tages plötzlich wieder gegenübertrat, hatte ich ihn viele, viele Jahre lang so gut wie vergessen. Ob Dorothee von seinem Entweichen unter die schwarze Schaar gewußt, oder ob sie dasselbe blos geahnet hat, habe ich niemals ermittelt. Seit ich am Begräbnißtage meines Vaters von ihr Abschied genommen, gehörte auch sie mir zu den Begrabenen. Es that mir wohl, von ihr in Frieden geschieden zu sein; aber wie einst im Unfrieden, so fühlte ich auch jetzt; wir waren fertig mit einander. Kaum daß dann und wann der immer weiter sich verbreitende Ruf ihres Gatten mich an die einzige Jugendgespielin erinnerte. Bei wenig mehr als dreißig Jahren stand ich gemüthlich so einsam wie wohl selten ein Weib. Ein stark gewurzelter Baum inmitten einer Schonung von niederem Gehölz.
Während meines »fritzischen« Schaffens blieb ich nun aber eine theilnehmende Beobachterin des staatlichen Lebens, dessen Katastrophe mit meinem eignen neuen Leben zusammengefallen war. Niemals habe ich an seiner Wiederaufrichtung gezweifelt. Denn ich erfuhr es in meiner Flur: das Wetter, das reife Ernten knickt, befruchtet eine Frühlingssaat. In diesem Preußen aber rang ein unverbrauchtes, hart gepflanztes Menschenvolk.
Durch den Grafen, unseren Nachbar, damals auf jenseitigem Gebiet, trat ich auch in eine Art von Verbindung mit den Patrioten, welche in Preußen und Oesterreich heimlich ihre Fäden spannen, und warum soll ich es Verschweigen, daß manche von den Mitteln, die mir ja ausreichend zu Gebote standen, den höchsten Zwecken zugeflossen sind? Als aber endlich der heilige Kampf sich erhoben hatte, mit welchem Festesjubel wurden da zum ersten Male die Prunkgemächer der Reckenburg geöffnet zu einer Pflegestätte für die Verwundeten, deren Großthaten den mir erreichbaren Bezirk erfüllten. Ja, ja, meine Freunde, die Helden Bülow's und York's haben mit den altgräflichen Vorräthen in Keller und Speicher reinen Tisch gemacht. Und so rühme ich mich denn auch, als eine der Wenigen meiner heimathlichen Standesgenossen, von der ersten Stunde an mit offenem Visir auf die Seite des befreienden Vorvolks getreten zu sein, rühme mich, daß Niemand freudiger als ich sich einem Staate unterordnete, der sich beherzt zu Recht und Ehren wieder durchgekämpft hatte. Denn wer so emsig wie ich an seiner Heimath baut, der trachtet danach, sie unter der Hut eines starken Vaterlandes zu bergen.
Nun aber galt es, mancherlei Verwüstungen auszuheilen, welche der Kriegstroß in meinem Bereich zurückgelassen hatte. Es galt nicht minder, mich selbst und die Meinen in die straffe, mancherlei harte Leistungen heischende neue Ordnung einzugewöhnen. Dann folgten die Hungerjahre von 1816 und 1817, welche die Vorräthe des Speichers und Seckels reichlich in Anspruch nahmen. Endlich aber trat eine Pause ein, in welcher das Geschaffene nur eben erhalten, oder mäßig über seine Grenzen hinausgeführt zu werden brauchte. Ein ruhiger Ueberblick war gestattet.
Da sah ich das Werk denn aufgerichtet, mit welchem mein Dasein gleichsam zu einem Wesen verwachsen war; sah die fruchtbringende Flur und den Baum des Rechtes und der Ehre Wurzel schlagend in einem neuen Geschlecht. Mit Zuversicht blickte ich auf den Keimstock der Gemeinde, die sich heute rühmt, seit fast einem Menschenalter keinen Prozeß geführt und keinen Frevel gebüßt zu haben, keinen Spieler und Trunkenbold, kein Mädchen zu kennen, das ohne Kranz zum Altäre getreten wäre; eine Gemeinde, die ihre Rekruten ohne Murren stellt, ihre Waisen ohne Beihülfe innerhalb der Familie, zur Arbeit erzieht; keiner Wittwe, keinem Greise den Altentheil verkümmert.
Und ich sage Ja und Amen zu diesem Ruhm. In der That, es war eine ehrsame und rechtschaffene, aber es war auch eine freude- und liebelose Colonie.
Freude- und liebelos wie die, welche sie gegründet hatte. Denn – was ist da zu vertuschen? – das, was Ihr ein Herz nennt, meine Freunde, das war für nichts bei meiner That. Ich hatte einen Stoff bearbeitet, wie jeder berufene Handwerker, oder sei es Künstler, – den seinen; ich hatte meine Kräfte an einer und für eine Gesammtheit entfaltet, – ich würde sie, und das dünkt mich das Kennzeichen der Liebe, – ich würde sie um keines Einzelnen willen beschränkt haben. Mein Puls schlug nicht höher noch matter bei dem Schicksale eines Einzigen von denen, die ich die Meinen nannte; ich trug die Neugeborenen zum Taufstein, geleitete die Bräute zum Altar, die Todten zur Gruft; aber ich empfand wenig mehr dabei, als wenn ich meine Bäume pflanzen und fällen, oder meine Aecker befruchten sah für einen neuen Trieb. Indem ich eine Bauernschaft zu bilden strebte, hatte sich in mir der ächte, rechte Bauernsinn ausgebildet, der den Menschen als ein Product der Scholle nimmt, der Scholle, die ihn nährt und die er wieder nährt.
Das Werkzeug klapperte und auch die Kirchenglocken läuteten, wie sich gebührt: Sang und Klang aber schwiegen in der Reckenburger Flur. Wir tanzten nicht unter dem Maienbaum, wir jubelten nicht bei Hochzeit und Kindelbier. Kein Weihnachtslicht mahnte uns an die frohe Botschaft der Gotteserscheinung in einem hülflosen Kinde. Bursche und Dirne, freiten nicht nach Neigung und Lust, sondern nach Vernunft und elterlichem Willen; der Bettler schlug einen Bogen um die Reckenburg, denn er sah keinen Brosamen von des Reichen Tische fallen, und »arbeite wie wir, so wirst Du Dich wohl befinden wie wir, ein Jeder sorge für das Seine«, schallte es ihm von der ungastlichen Schwelle entgegen. In der That: wir waren eine sehr ehrsame, aber eine sehr lieblose Colonie!
Die unbestimmte Empfindung von etwas Fehlendem in meinem Werk und Leben dämmerte mir zum ersten Male in jener Pause, wo ich mich des Gelingens hätte freuen sollen. Ich spürte keine Abspannung, aber eine Art unruhiger Langeweile, und es kamen Stunden, wo ich nur sagte, daß, wenn ich noch einmal zu leben anfangen sollte, ich nicht als Arbeitsbiene wieder anfangen möchte. Ich hätte Zerstreuungen suchen können, Umgang, großstädtischen Wechsel, hätte reisen können, künstlerische Liebhabereien pflegen, und Gott weiß was sonst noch alles reiche Leute können. Aber ich kannte mich hinlänglich, um zu wissen, daß das, was mir fehlte, nicht von außen in mich getragen, daß es aus dem Innern herauswachsen müsse. Was es aber war, das in mir nach einer Vollendung rang, dafür fand ich die Lösung nicht.
Meiner Art gemäß tastete ich bei diesen Untersuchungen nicht nach dem Mond, sondern faßte die Sache, wo sie zunächst auch wesentlich lag. Ich näherte mich den Fünfzigen, und hatte ich bei Zwanzigen mich auch nicht rüstiger gefühlt, ich wußte, die stärksten Fäden sind es, die am raschesten reißen, und wenn der meine einmal jählings riß, was wurde dann aus dem Gewände meiner Reckenburg, das mit meinem Leibe schier verwachsen war, oder was wollte ich, das aus ihm werde?
Zwar sah ich manches stolze Segel gebläht und manche Nothflagge aufgehißt, um in den schützenden Hafen einzulaufen. Aber wie in den Tagen meiner Freierhetze, verdroß es mich auch heute, einer Nimmersatten Begierde, oder einem schamlosen Bedürfniß fröhnen zu sollen. Ich verlangte freie Wahl, und kein Zug der Vergangenheit, kein gegenwärtiges Interesse leitete mich auf eine Spur.
Auch Pläne anderer Art stiegen in mir auf. Wie wär's mit der Gründung eines Asyls für invalide Krieger oder deren Waisen, für das es, leider Gottes! zur Zeit nicht an Anwärtern gebrach? Oder mit einem Fräuleinstift, für das es, leider Gottes! keiner Zeit an Anwärterinnen gebrechen wird? Aber kennt Ihr einen alten Bauer, – und ich war solch ein Stück alten Bauers, – der seine Hufe nicht lieber dem Unbedürftigsten seines Gleichen, als dem bedürftigsten Gemeinwesen verschreiben würde? Mir widerstand eine fiskalische oder communale Schablonenverwaltung meiner Flur; ich mochte sie mir nur denken unter dem Gepräge einer Individualität, wie zuerst die Gräfin und später ich selber es ihr aufgedrückt hatten, ich forderte für den Wandel der Zeiten einen persönlichen Erben, und begann, als, Matrone zu beklagen, daß ich in der Jugend nicht den ersten besten Krautjunker geheirathet und mir auf dem natürlichsten Wege die Qual der Wahl abgeschnitten hatte. Was meine äußerliche Stellung anbelangt, so war ich seit dem Frieden nicht durchaus mehr die Einsiedlerin des neuen Thurms. Man wußte in dem materiell erschöpften Staate eine besitzende Hand, in der neuerworbenen Provinz eine aufrichtige Anhängerin zu schätzen; man suchte meinen Rath bei ländlichen Einrichtungen, kurz und gut: von oben herab, wie von unten herauf erwies man mir allerlei Ehren, und so bildete sich unwillkürlich ein Verkehr, nicht wie er zwischen Mann und Weib, oder gar Weib und Weib, sondern wie er zwischen Mann und Mann gang und gebe ist; mich aber würde es gewundert haben, wenn dem anders gewesen wäre.
Von Zeit zu Zeit fühlte ich mich nun auch veranlaßt, durch ein Gastgebot dem Ansehen meiner Reckenburg gerecht zu werden; da gaben denn die gezopften Einrichtungen, – Heiducken, goldene Kutsche sammt Schimmelgespann und tutti quanti, – gab ihre Harmonie mit der ererbten Ausstattung dem Rufe der Besitzerin ein starkes Relief. Man citirte die Reckenburgerin als Aristokratin reinsten Wassers, und man that es mit Recht.
Je mehr und mehr empfand ich indessen diese obligatorischen Schaustellungen als einen Vorschub der heimlich eingenisteten Langeweile. Das Herz war hier am wenigsten bei der Sache, und das Verlangen, dem Gebäude, das ich aufgeführt hatte, gleichsam einen Thurm aufzusetzen, quälte mich niemals beunruhigender, als nach solcher Unterbrechung des einfachen Tageslaufs. Hätte ich nur einig werden können über das Wo und Wie!
Wie beim Abschied von der Jugend in den Zeiten der Abhängigkeit, so schlich in denen der schrankenlosen Freiheit Jahr um Jahr vorüber, in welchem nur der Mechanismus eingelebter Ordnungen mich aufrecht hielt, und ich war fünfzig geworden, als sich mir überraschend ein Ausblick öffnete, dem ich in jungen Tagen gewiß nicht den Rücken gekehrt haben würde.
Ich habe weiter oben flüchtig des Grafen, unseres Nachbars, erwähnt. Ihr kennt und verehrt ihn, meine Freunde; ich brauche daher nicht mehr über ihn zu sagen, als daß ein bedeutender geschäftlicher Verkehr sich zwischen uns erhalten hatte, und daß er schon damals das Vertrauen des Staates und der Stände genoß, wie kein Zweiter unserer provinziellen Ritterschaft, deren Ehrenämter und einflußreichste Stellungen denn auch auf seine Person übertragen wurden. Und auf Keinen mit größerem Recht, Er war und ist ein Beamter von dem Schlage, der sich in den Preußischen Annalen einen classischen Namen erworben hat, ein Mann von so unermüdlicher und uneigennütziger Thätigkeit für das Allgemeine, daß seine privaten Angelegenheiten, vor allen die Verwaltung seines bedeutenden Majorats, merklich den Kürzeren dabei zogen.
Ich schätzte den Mann nach seinem Verdienst, seine Gemahlin aber gehörte zu den wenigen Weibern, deren Umgang mir, nicht beschwerlich fiel. Denn ich hatte auch darin einen männlichen Geschmack, daß nur die frauenhaftesten Eigenschaften der Frauen mir zu Herzen gingen. Einer Amtsverwalterin, wie Jungfer Ehrenhardine, würde ich auf einer wüsten Insel, glaub' ich, zehn Schritte fern geblieben sein; das Kind Dorothee hatte selber als Sünderin den Reiz für mich nicht eingebüßt. Die Gräfin aber war eine schmiegsame, zärtliche Seele, das Weib »in Gottes Namen«, wie es im Buche steht, und sicherlich würde ich die Sprößlinge dieses anziehenden Paares, drei noch unbärtige Junkerchen, für das Erbe der Reckenburg in nächsten Betracht gezogen haben, hätte ich sie etwas weniger flott und übermüthig heranwachsen sehen. Wohl sagte ich mir entschuldigend, daß bei der zerstreuenden Thätigkeit des Vaters und der gelassenen Umfriedung der Mutter dem jungschäumenden Blute der Zügel gefehlt habe; unter allen Umständen aber mußte die Zeit einer reiferen Entwickelung abgewartet werden.
Vor Jahr und Tag nun war der Graf Wittwer geworden. Er hatte die Frau sehr geliebt, sich sehr beglückt durch sie gefühlt, und nach ihrem Tode allen geselligen Verkehr, auch den mit mir abgebrochen. Es schien, als ob er seine Trauer mit in's Grab nehmen wolle, und nichts hätte mich, abgesehen von meinem halben Jahrhundert, mehr überraschen können, als ihn eines Tages bei mir eintreten zu sehen und ohne Präliminarien einen Heirathsantrag von ihm zu vernehmen.
Der Mann war bei gesunden Sinnen und ernsthaft wie ein Cato, heute mehr denn je. Mich verdroß diese dreiste Begehrlichkeit, wie sie mich von keinem Anderen verdrossen haben würde. »Ich zähle fünfzig Jahre, Graf,« sagte ich trocken.
»Ich auch,« versetzte ebenso trocken der Graf.
»Das heißt: als Mann ein Vierteljahrhundert weniger,« entgegnete ich, und er darauf:
»Unter den herkömmlichen Voraussetzungen einer Ehe allerdings.« Seine merkwürdige Offenherzigkeit begann mich zu belustigen. Ich lachte hell auf; desto ernsthafter blieb mein Bewerber.
»Wollen Sie nur den Gatten, nicht auch den Vater in Anschlag bringen?« fragte er. »Ich habe Söhne – –«
»Die eher Frauen, als eine Mutter brauchen würden,« unterbrach ich ihn, »Warum sagen Sie nicht einfach: adoptiren Sie meine Jungen und setzen sie zu Ihren Erben ein, Fräulein Hardine?«
»Einfach, weil diese Einsetzung meinen Wünschen nicht dienen, oder nur zur Hälfte dienen würde,« antwortete der Graf gelassen. »Ich bin gewiß der Erste, das Ansehen zu würdigen, das meinen Nachkommen aus dem Namen und Erbe der Reckenburg erwachsen würde; aber näher als der Glanz der Zukunft liegt mir das Bedürfnis; der Gegenwart, Sie trauen mir den Tact zu, Gnädigste, daß ich diesem Bedürfnis; nicht eine gefühlvolle Einkleidung geben werde. Das Leben meines Herzens ist abgethan, und die Eitelkeit, das des Ihrigen zu erwecken, liegt mir fern. Aber Freunde könnten wir einander sein; Rather und Helfer Sie mir, wie ich Ihnen; ein offenbares Bedürfniß uns gegenseitig befriedigen.
»Sie, Fräulein von Reckenburg, stehen vor einem wohlgelungenen Werke, dessen mechanische Erhaltung Ihnen nicht genügt. Sie sind keine beschauliche Natur, bedürfen von Stunde zu Stunde der selbsterrungenen Erfolge. Sie sehen sich allein und suchen unter Fremden nach Einem, der einen ehrwürdigen Namen und eine bedeutende Bestimmung von Geschlecht zu Geschlecht tragen würde. Nun, eine neue organisatorische Wirksamkeit und einen Abschluß für die Zukunft, das ist es, was ich Ihnen zu bieten habe, indem ich Ihnen sage: »Ziehen Sie sich selber aus reinem kräftigem Stamm die Sprossen, die Sie, dem absterbenden Baume der Reckenburg einimpfen wollen.«
»Ich dahingegen – nun, Sie kennen mich, Sie wissen, was ich im allgemeinen Gebiete leiste, und im eigensten versäume. Das Leben auf meinen Gütern stagnirt, und das meiner Söhne treibt wilde Schößlinge. Ich sehe es mit der Unruhe des Vaters und Stammhalters, sehe es, – und vermag es nicht zu ändern, nicht die weiter tragenden Entwürfe, den Ehrgeiz, wenn Sie so wollen, zu beschränken. Ich bin nicht der erste Mann, der sein Haus gegen seinen Beruf zurücksetzt; jeder Staatsdiener größeren Styls thut es, muß es thun. Lassen Sie mich hinzufügen, daß ich mich im Augenblicke dringender denn je in diesem Zwiespalt der Pflichten befangen sehe. Das Oberpräsidium der Provinz, das mir angetragen worden ist, – als Durchgangsposten zu einem höheren, ich weiß es, – würde mich dauernd aus dieser Gegend entfernen; aufrichtiger: es wird mich entfernen, denn ich kenne zum Voraus meine schließliche Entscheidung, und die Frage ist nur, ob ich mit leichtem oder schwerem Herzen scheiden soll.«
Er machte eine Pause. Auch ich schwieg. Dann fuhr er fort:
»Legen wir unsere Hände in einander, Verehrteste. Es ist ein Vertrauen, wie es Ihnen nicht reiner geboten werden kann. Sie fügen zu der unbeschränkten Verwaltung Ihres Besitztums die des meinigen nach freiem Ermessen. Die Aufgabe ist nicht zu groß für Sie. Sie werden, wie dem Vater die Statthalterin und Gehülfin, so den Söhnen die leitende Freundin, der sie so dringend bedürfen. Wie keine Zweite sind Sie die Frau, welche Knaben den Vater zu ergänzen und allenfalls zu ersetzen vermag. Sie sind streng und wachsam, und Sie werden gerecht sein, weil Sie die Anlagen des Mannes nach den eigenen messen dürfen. Mein ältester Sohn würde die Militairschule verlassen und sich unter Ihrem erweckenden Einfluß zum Landwirth und Majoratserben ausbilden. Sie würden für die jüngeren die Lebensstellung ausfindig machen, welche, bei beschränkteren äußeren Mitteln, ihren Anlagen entspricht, und wenn es dem Vater, mit beruhigtem Gewissen gelingt, seine Bestrebungen für das Vaterland durchzuführen, so wird das Gute, das er wirkt und genießt, in dem Buche Ihrer Segnungen verzeichnet stehen.«
Nun, da sah ich ja einen Thurmplan für mein Haus! Da hatte ich ja einen Familienzusammenhang bei ungestörter Freiheit für mich selbst, eine Thätigkeit der gemäß, an welcher sich meine Kräfte erprobt hatten, und eine zweite in den Kauf, au der sich neue Kräfte erproben konnten, erproben würden, wie ich mir zutrauen durfte. Denn wenn ich auch schwerlich die Stütze gewesen wäre, an welcher ein schwächliches Pflänzchen sich in die Höhe rankt, zu rauh für eine Töchtermutter vielleicht: Zucht und Schnitt verwilderter Schößlinge, die hatte ich an meiner Bauernschaft üben gelernt, und hätte sie wohl auch an einer feineren Race bewähren lernen. Der Mann hatte Recht: ich war eine Vormünderin, eine Stiefmutter für Knaben. Warum zögerte ich denn noch, warum fügte ich denn nicht Ja und Amen zu dem guten Wort?
War die einsame Gewöhnung denn so mächtig in der Eremitin des neuen Thurms? Achtete sie die Welt so hoch, deren drastischen Humor eine Altjungfernheirath zu erwecken pflegt? Oder gab sie der Flüsterstimme Gehör, die in ihrem Innersten warnte: »Es ist nicht, was du brauchst. Du wirst fertig damit, aber du wirst nicht fertig mit dir selbst!« Spürte sie einen heimlichen, noch unverstandenen Protest gegen eine neue männliche Aufgabe, während das Weib nach seinem verkümmerten Rechte drängte?
Ich forderte Zeit zur Ueberlegung, und es vergingen Wochen, in welchen ich den Grafen nicht wiedersah, Wochen der Unentschlossenheit, wie ich sie niemals erfahren hatte. Endlich aber konnte eine Entscheidung nicht länger verzögert werden.
Denn es nahte der Geburtstag des Königs, an welchem nach einer zehnjährigen Regel das größte Gastgebot auf die Reckenburg erlassen wurde.
Der gesammte Pomp des reichen Hauses entfaltete sich bei dieser Gelegenheit, selber die altgräflichen Juwelen der Ahnen mußten für die festlichen Stunden den Glanz ihrer Erbin erhöhen. Selbstverständlich, daß der Graf zu den Geladenen gehörte. Ich erwartete die Erneuerung seines Antrages. Die Vernunft hatte gesiegt: ich war entschlossen, Ja zu sagen. So oft der dritte August in dieser Weise auf Reckenburg schon verherrlicht worden, es war mir nicht ein einziges Mal eingefallen, daß vor ferner, ferner Zeit im Morgengrauen dieses Tages ich einen ewigen Abschied genommen und das Traumbild meiner Jugend hatte schwinden sehen. Heute, im fünfzigsten Jahre, sollte der dritte August nun mein Verlobungstag werden.