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Unsere Frühstücksstunde schlug. So lange hatte ich in fruchtlosem Wühlen in der Laube gesessen. Nun stieg ich hinunter. Die Eltern wußten bereits um die Abreise des Prinzen. Das langgehegte Geheimniß hatte sich wie ein Lauffeuer durch die Stadt verbreitet.
»Er ist auf guten Wegen; Gott geleit' ihn!« rief der Vater und drückte meine Hand. Die Mutter aber sagte: »Du siehst blaß und erkältet aus, liebe Tochter. Geh und ruhe ein Paar Stunden.«
Aber ich durfte nicht ruhen; ich mußte Dorotheen vorbereiten, die der Kraft und des Muthes mehr bedürfen würde, als ich selbst. Ich kam zu spät. Schon auf der Treppe vernahm ich ihr angstvolles Stöhnen. Aus blauem Himmel hatte sie der Schlag getroffen.
Sie lag am Boden in ihren Tageskleidern. Die Arme, quer über dem Bette ausgestreckt, zuckten convulsivisch, die Augen starrten nach der Thür, ohne daß sie die Eintretende bemerkten. »Fort, fort!« war der einzige Laut, der sich der hastig arbeitenden Brust entrang.
Ich hob sie auf das Bett und setzte mich an ihre Seite. Der Krampf währte eine Weile; endlich bemerkte sie mich und winkte leidenschaftlich, daß ich mich entferne.
»Du bist krank, Dorothee,« sagte ich. »Ich werde den Arzt rufen lassen.«
Das Wort brachte sie außer sich, »Nein, nein!« schrie sie auf.. »Keinen Arzt! Ich bin gesund. O nur allein, ganz allein!«
Ich zog die Bettvorhänge zusammen und that, als ob ich mich entferne, setzte mich aber verborgen in den Hintergrund. Allmälig wurde sie ruhiger; ein Thränenstrom machte ihr Luft; ich hörte sie schluchzen, endlich nur noch leise wimmern und seufzen.
Nach einer Stunde etwa richtete sie sich auf, strich den verschobenen Anzug zurecht, trocknete ihre Augen und blickte sich scheu im Zimmer rundum. Als sie meiner gewahr ward, überflog sie von Neuem ein Schauder. »Gehen Sie Fräulein Hardine,« flehte sie, »Um Gottes Barmherzigkeit willen, lassen Sie mich allein!«
Ich entfernte mich nun wirklich; aber von Zeit zu Zeit warf ich einen Blick in das Nachbarzimmer. Dorothee saß weinend und händeringend auf ihrem Bett. Sie sprach kein Wort, aber sie war gesund.
Wochen gingen hin in mechanischem Tageslauf. Langsam brachten die Zeitungen, rascher von Zeit zu Zeit ein durchreisender Courier Kunde über den zögernden Vormarsch der verbündeten Armeen. Am Tage des heiligen Ludwig, an welchem unser junger Held den Triumphzug nach Paris zu beschließen gehofft hatte, standen die ersehnten Retter noch diesseit der Ardennen, und der Enkel des heiligen Ludwig war ein Gefangener des Tempel.
Dennoch verzagten wir nicht. Verdun hatte sich wie Longwy übergeben, und wenn von da ab wochenlang alle Nachrichten ausblieben, hielten wir uns an die Zuversicht, daß das bis dahin immer siegreiche Heer sich an einen verächtlichen Feind in seiner Flanke nicht gekehrt, in Eilmärschen die Marne überschritten und, wenn auch später als wir gehofft, doch sicher zur Stunde bereits dem gefangenen Monarchen in seiner Hauptstadt die Freiheit wiedergegeben haben werde.
Unbegreiflich hingegen und wahrhaft beängstigend war uns das Schweigen unserer heimathlichen Freunde bei der Armee; denn wenn wir auch bei dem aufgeregten Prinzen keine mittheilsame Stimmung voraussetzten, so hatte doch ein junger Regimentskamerad, der jenem als Adjutant beigegeben und meinem Vater vertraulich zugethan war, fleißige Nachricht versprochen, und nun nahezu zwei Monate kein Wort von sich hören lassen. Auch Faber, dem durch seltsame Fügung die Freunde auf fremden Boden, unter fremder Fahne in demselben Regimentsverband begegnen mußten, auch Faber sendete keinen Trost in dieser bänglichen Zeit.
»Ich habe ein besseres Fiducit zu diesem Mosjö Per–sé gehegt,« sagte mein Vater ärgerlich. »Daß ich auch nicht daran gedacht habe, dem Prinzen einen Denkzettel an ihn mit auf den Weg zu geben. Die arme kleine Dorl ist wie verwandelt, seitdem es nun ernstlich zum Klappen gekommen ist. Sie grämt sich und schämt sich, so vergessen zu sein in ihrer Angst und Noth.«
Ja freilich grämte und schämte sie sich, die unglückliche Dorothee, wenn auch aus anderer Bewegung, als ihr alter Freund voraussetzte. Sie mied uns in sichtbarer Seelenangst, saß mit vorgezogenem Riegel in ihrer Stube und huschte im Garten scheu und stumm an uns vorüber. Redeten wir sie an, und war es das Gleichgültigste, so antwortete sie verworren und ausweichend. Ich sah, sie zitterte vor einer Erörterung, die auch ich von Tage zu Tage verschob. Warum? da sie doch unausbleiblich und jedenfalls vor meiner Abreise nach Reckenburg stattfinden mußte. Ja, warum scheut man sich denn, einen Knoten zu durchhauen, warum rechnet man auf das Unwahrscheinlichste, das eine Lösung bewirken könnte? Ich zum Exempel rechnete ans eine Eröffnung und vielleicht Verständigung zwischen dem Prinzen und Faber, die mich der Pein einer Mittlerrolle überhob.
Endlich, endlich kam der langersehnte Brief vom Adjutanten. Der Prinz hatte seine Verzögerung befohlen, um die Freunde, eines kleinen Unfalls halber, nicht ohne Noth zu beunruhigen. Er war, indem er dem die Tête bildenden Regimente Weimar nacheilte, beim Ueberschreiten der Grenze auf ein preußisches Reiterpiket gestoßen, hatte sich ihm angeschlossen und mit ihm eine recognoscirende, weit überlegene feindliche Jägerabtheilung attakirt. Nach hartnäckigem Kampfe war sie niedergehauen und gefangen worden. Dem Prinzen aber, der auch nicht, einen Flüchtigen entkommen lassen wollte, stürzte während der Verfolgung auf dem vom Regen durchweichten Boden das Pferd. Er trug eine Verstauchung davon, die sich bei mangelnder Pflege entzündete und ihn wochenlang in einer armseligen Bauernhütte festhielt. »Wie er knirrschte,« so sagte der Correspondent, »wie er wetterte, zurückbleiben zu müssen, während die Armee die Ardennenfestungen in ihre Hand bekam – nun Ihr könnt es Euch denken, Ihr kennt ihn ja! Wie er aber schäumte während des unbegreiflichen achttägigen Halts vor den schwachbesetzten Argonnenpässen – nein, das könnt Ihr Euch nicht denken, trotzdem Ihr ihn kennt! Wäre das Commando doch in des Königs Hand! Gottlob jedoch, sein ritterlicher Sinn hat über die alte Schulweisheit gesiegt, und unser leichtes Glück bei Croix aux bois und Grandpré, wo diese Freiheitshelden Reißaus nahmen wie die Hasen, wird auch unserem Serenissimus Cunctator eine Fackel aufgesteckt haben, welche den Weg nach Paris beleuchten soll. Die Armee ist in vollem Marsche nach Châlons, Zieht Dumouriez, dieser Schwätzer par excellence, sich zurück: gut. Einen solchen Feind in der Flanke fürchten wir nicht. Gelingt ihm die Vereinigung mit Kellermann, der ihm von Metz zu Hülfe kommen soll: desto besser. Wir werden das Gesindel dann mit einem Schlage los. Das Beste aber ist, daß unser Prinz, heil und wohlgemuth, morgen aufbrechen wird, um sein Regiment einzuholen. Am Abend denken wir Menehould – fluchwürdigen Andenkens! – zu erreichen.«
Das Ungestüm unseres Prinzen sprach aus jedem Worte dieses Berichts. Ein Postscriptum enthüllte hingegen die weit nüchternere Auffassung seines Begleiters. Weg und Wetter waren abscheulich; es fehlte an jeder geregelten Verpflegung; epidemische Krankheiten decimirten die Armee; was aber am tiefsten überraschte: die Stimmung der Bevölkerung war dem königlichen Befreiungszuge keineswegs so geneigt, wie nach den Schilderungen der Emigranten alle Welt vorausgesetzt hatte. Einige diplomatische Andeutungen über den Doppelsinn der Heerführung bildeten den Schluß.
Wir schlugen uns den nachhinkenden Boten aus den Gedanken und hielten uns an den guten Glauben und an die gute Kunde von unserem Helden, wobei wir denn freilich die Gefahren jedes Augenblicks vergaßen, welche die Spanne, zwischen Sendung und Empfang solcher Kunde füllen.
Der Brief, welcher am neunzehnten September geschrieben, erreichte uns am achtundzwanzigsten. Auf den folgenden Tag, Michaelis, fiel Dorotheens Geburtsfest, Ich suchte schon früh am Morgen bei ihr einzudringen. Die beruhigende Nachricht über den Prinzen, hoffte ich, werde eine nicht länger aufzuschiebende Aussprache ermuthigend einleiten. Aber wiederum ein vergeblicher Versuch. Sie war schon vor dem Frühstück hinüber zum Vater entschlüpft und kehrte während des ganzen Morgens nicht zurück.
Am Nachmittag saßen wir im Familienzimmer um den Kaffeetisch, auf welchem ein Festkuchen, umgeben von einem bunten Asternkranze, prangte. Achtzehn Jahreslichtchen, und in der Mitte das dicke Lebenslicht, sollten rasch angezündet werden, sobald es Ehren-Purzel, der an der Treppe aufgestellt war, gelungen, das Geburtstagskind abzufangen. Ich hatte das Mißliche dieser alljährlichen kleinen Festlichkeit heuer wohl empfunden, wußte aber keinen Vorwand, den guten Willen der Eltern zu verhindern. Wir warteten vergebens. Dorothee kam nicht. Auch hatte die Frankfurter Post keinen Brief des bisher wenigstens zweimal im Jahre regelfesten Bräutigams gebracht. Papa schimpfte recht lästerlich auf seinen rücksichtslosen Mosjö Per–sé.
Es dämmerte bereits, als ein Staffetensignal sich von Westen her vernehmen ließ. Bei jedem Klange aus dieser Richtung sammelten sich Offiziere wie Bürger vor dem Posthause, um irgend eine wahre oder unwahre Nachricht zu erhaschen, welche die Couriere auf den Stationen ausstreuten. Der Vater eilte hinaus, und auch uns Frauen ließ es keine Ruhe, wir traten unter die Hausthür, seine Rückkehr erwartend.
Die Staffette sprengte auf der Leipziger Straße weiter. Der Vater kam zurück, »Ein Zusammenstoß soll stattgefunden haben,« rief er uns kopfschüttelnd entgegen; »unfern von St. Menehould ein unerhörtes Kanonenfeuer vernommen worden sein. Wer aber obtinirte? – und ob wirklich beim Abgänge der Post am anderen Tage die Armeen sich in unverrückter Stellung gegenübergestanden? Reime sich's, wer kann – ich –«
Er bemerkte bei diesen Worten Dorothee, welche sich leise von der Gartenseite herbeigeschlichen hatte und in athemloser Spannung seiner Rede lauschte. Lachend reichte er ihr einen Brief, welchen er dem Courier abgenommen hatte: »Ein Tausendsassa, liebe Dorl, wie er die Gelegenheiten wahrzunehmen weiß!« Dorothee riß den Brief an sich und floh die Treppe hinan. Der Vater hielt noch einen zweiten Brief in der Hand. »Vom Adjutanten,« sagte er, nachdem wir in das Wohnzimmer getreten waren. »Er wird uns, denk' ich, das Räthsel lösen.«
Ich zündete in der Hast das Lebenslicht auf dem Geburtstagskuchen an, meine Finger zuckten vor Ungeduld, bis der Vater methodisch den Brief entsiegelt hatte. Kaum aber, daß er die Augen hineingeworfen, sah ich ihn auf dem Stuhle zurücksinken, das Blatt seiner Hand entfallen. »Todt, todt!« stöhnte er, wie vernichtet.
»Wer ist todt?« kreischte die Mutter. Sie hob das Blatt vom Boden auf. Ein Blick auf das erste Wort; ein zweiter der tiefsten Angst zu mir hinüber. Ich lag nicht in Ohnmacht oder Krämpfen; ich stand steif wie eine Kerze. Sie legte es beruhigt in meine Hand. Es war flüchtig mit Bleistift geschrieben und datirte vom einundzwanzigsten September.
»Unser herrlicher Prinz ist todt! Das Opfer eines Kampfes, für den ich keine Bezeichnung habe. Mitten in der Nacht waren wir aufgebrochen. Der Weg war heillos, aber die Kundschaft, daß der König gestern den Vormarsch und den Angriff der feindlichen Armee befohlen habe, gab dem Prinzen Flügel. Wir hetzten unsere wechselnden Pferde fast zu Tode. Um sieben Uhr hörten wir den ersten Kanonenschlag. Die Gegend lag im dicksten Nebel. Das Feuer wuchs von Minute zu Minute. Wer Boden dröhnte. Der Prinz glühte buchstäblich im Fieber: die Schlacht, die heißersehnte Schlacht! Alle rückstehenden Truppentheile, die wir Passirten, zeigten, die zuversichtlichste Stimmung, ja ausgelassene Heiterkeit. Unser Regiment stand bei der Avantgarde, mit welcher Hohenlohe den Angriff erhoben hatte. Wir jagten vorwärts. Mittag war vorüber; der Nebel hatte sich gesenkt. Jetzt erkannten wir die feindliche Aufstellung auf den Höhen von Valmy. Eine günstige Position; der Feind uns um ein Dritttheil überlegen. Aber welch ein Feind! Bodenlos soll die Verwirrung gewesen sein, als Hohenlohe den linken Flügel, d. h. Kellermann, angriff, und Dumouriez auf dem rechten zu fern war, um ihm beizuspringen. Der Sieg schien mit Händen zu greifen, und – wir setzten die Attaque aus! Wir schossen hinüber, der Feind herüber, ohne begreifbaren Zweck und Erfolg. Vierzigtausend Kanonenschläge sollen in diesem Feuerwerk verpufft worden sein.
»Der Prinz schäumte vor Wuth, als er jenseit der Straße von Menehould seinem Regiment auf dem Rückzug begegnete. Fluch und Verwünschung jagten sich auf seinen Lippen, Purpurröthe und Todtenblässe auf seinem Gesicht. Laut und öffentlich sprach er aus, daß Hohenlohe dem unseligen Rückzugsbefehle trotzen müsse, sprengte tollkühn die Anhöhe hinab und jenseit wieder hinauf bis zu der Stellung, welche die Vortruppen am Morgen inne gehabt hatten. Er glaubte einen Angriff von dieser Seite noch jetzt mit Sicherheit ausführbar. Er kann nichts Anderes gedacht haben, als eine Recognoscirung bei dem verwegenen Ritt. Die Kugeln sausten um seinen Kopf. Ich sprengte ihm nach, dem tödtlichen Beginnen Einhalt zu thun. Mehrere Officiere des Regiments folgten mir. Dicht ihm an den Hacken, sahen wir ihn taumeln, vom Pferde sinken. Noch fing ich ihn in meinen Armen auf. Unter einem Kugelhagel trugen wir ihn nach dem Vorwerk la Lune, dem Standquartier unseres hohen Chefs. Er war an's Herz getroffen und in wenigen Minuten – eine Leiche. »Und dieses herrliche Opfer sühnt kein Sieg, sühnt nicht einmal das Bewußtsein der genügten Ehre. Der Feind steht uns heute wie gestern hoch gegenüber. Wir greifen auch heute nicht an, und selber die Geschütze schweigen. Man munkelt von Unterhandlungen, von Rückzug. Mir ist nichts unglaublich nach dem gestrigen Puff. Kann aber, wird ein König von Preußen sich dieser Schmach unterwerfen? Die Officiere schreien Zeter über den Braunschweiger. Mit abgewandten Gesichtern schleichen sie an einander vorüber, sie, die gestern so stolz und sicher wie zur Parade ausgezogen waren! Weinen habe ich ihrer sehen vor Zorn und Scham, »Wären Sie ein Preuße wie ich,« sagte mir ein alter Major, »hätten Sie noch unter Friedrich's Fahne gedient, Sie beneideten Ihren gefallenen Prinzen.«
Was soll ich weiter sagen? Aeußerlich hielt ich Stand, Lautlos legte ich den Brief in des Vaters Hand zurück. Er schluchzte wie ein Kind und die Thränen rieselten über seine Wangen in den ergrauenden Bart. Die Mutter saß lange Zeit still mit gefalteten Händen. Endlich erhob sie sich. »Wir Alle bedürfen der Sammlung. Geh zur Ruhe, liebe Tochter,« sagte sie, indem sie mich auf die Stirn küßte.
Der Vater führte mich bis zur Thür, preßte meine beiden Hände und sprach: »Gott muß es am besten wissen, mein gutes Kind.«
»Gott muß es am besten wissen!« Wie oft habe ich in ruhigeren Stunden dieses Wortes gedacht, das so alltäglich verhallt, und doch das einzige ist, dessen wir uns in unbegreiflichen Schickungen getrösten. Diese lebensgierige Natur, ohne Halt in der Außenwelt, zügellos in der inneren, würde sie sich behauptet haben während der zwanzig Jahre des Verfalls, welche der Spiegelfechterei von Valmy folgten, bis zur tiefsten Schmach und hart an die Grenze der Vernichtung? Würde sie ihre Kraft zusammengehalten haben für die büßende Mannesthat? oder nach welcher Richtung hin sie verschleudert und sich selbst verloren? Gott hat es am besten gewußt, mein braver Vater!
In dieser Stunde freilich, da war Dein Trostspruch mir ein leerer Schall und ich hörte nur das eine hoffnungslose: todt, dahin, was meiner Augen Licht und meiner Seele Stolz gewesen. Aller Halt war gebrochen, sobald ich – endlich allein! – die Treppe erreicht hatte. Ich ließ mich auf die Stufen niedersinken, der Leuchter entglitt meiner Hand. So lag ich, ich weiß nicht wie lange; das Leben dünkte mich eine Nacht, undurchdringlich wie die, welche mich umfing.
Endlich raffte ich mich auf und tastete mich nach meiner Thür. Da sah ich einen hellen Streifen durch die Spalte der Nebenstube fallen, und – Thörin, die ich gewesen! sah mich aus der Ode des Grabes schon wieder inmitten der bewegenden Fluth. Denn ich erinnerte mich an Eine, der wahrhaftiger als mir des Lebens Leuchte erloschen war.
Es war die Todespost, die ihr der alte Freund als eine Freudenpost gereicht hatte, und tödtlich schien der Streich, der sie so jach getroffen. Sie lag kalt und steif am Boden ausgestreckt; in der krampfhaft geballten Hand den Brief Siegmund Faber's. Die tiefe Schnuppe des Lichtes zeigte, wie lange sie in dieser Erstarrung hingebracht hatte, und wohl ahnete mir das jammervolle Dasein, zu welchem ich sie erwecken sollte.
Eine dunkle Stimme warnte mich, die Eltern oder Diener um Beistand herbeizurufen. Ich trug sie auf ihr Bett, löste die Kleider, und –.
Und was empfand die keusche, achtzehnjährige Ehrenhardine vor der Enthüllung, die sie nicht vermuthet hatte und doch mit Blitzesschärfe verstand? Erbarmen, Empörung, Haß? Schrie sie Wehe über die Sünderin? Nichts von alledem ist ihr bewußt; aber heute noch fühlt sie den Schauer, der sie in jenem Augenblicke überrieselte, den Schauer neuerwachenden Lebens nach dem gellenden Todesschrei. Nein, er war nicht todt, nicht völlig todt; eine Spur von ihm lebte, und ich beneidete, ja, ich beneidete das glückselige Weib, dem seine Liebe sie eingeprägt hatte!
Ich öffnete das Fenster, benetzte die Erstarrte mit kölnischem Wasser, hauchte meinen Athem auf ihre Lippen; in Todesangst fühlte ich ihren Puls und hätte aufschreien mögen vor Entzücken, als ich den ersten matten Schlag spürte. Endlich schlug sie die Augen auf und schaute wirr umher, wie beim Erwachen aus einem entsetzlichen Traum. Jetzt fiel ihr Blick auf mich, und es war ein markerschütternder Schrei, der das rückkehrende Bewußtsein verkündete. Gleich einer Wahnsinnigen sprang sie aus dem Bett, wand sich am Boden mit entblößtem Busen und zerrauftem Haar. »Tödte mich, tödte mich, Hardine!« kreischte das verzweifelnde Weib.
Aber die böse Stunde verrann. Ein erwärmendes Feuer prasselte im Ofen, die Lampe brannte ruhig auf dem Tisch. Dorothee lag eingehüllt im Bett; ihre Thränen rieselten über die bleichen Wangen, und: »Retten Sie mich, retten Sie mich, Fräulein Hardine!« wimmerte eine Kinderstimme in mein Ohr.
Und die ermatteten Lider fielen zu; die Brust hob sich in gleichmäßigen Athemzügen; sie schlummerte ein. Auch ich wollte Ruhe suchen. Da bemerkte ich den Brief, den ich vorhin ihrer Hand entwunden hatte, und den zu lesen ich ein Recht zu haben glaubte. Mein erster Blick fiel auf die folgende Nachschrift:
»Gestern hatte ich ein Erlebniß, das mich seltsam bewegte und das den Antheil Ihrer verehrten Hausgenossen erwecken wird. Seien Sie mit der Kundmachung vorsichtig, liebe Dorothee. Ich befand mich bei den Vorposten unseres Regiments, als ich im Namen meines durchlauchtigen Chefs zu schleuniger Hülfleistung entboten ward. Ein hoher Anverwandter Seines Hauses, als Volontair erst vor einer Viertelstunde bei der Truppe eingetroffen, war während eines kühnen Erkundungsrittes schwer verwundet und in ein unfernes Vorwerk gerettet worden. Ich hatte das unglückliche Begebniß mit angesehen und war bereits auf dem Wege zu helfen. »Gottlob, da ist Faber!« riefen der Herr Herzog mir entgegen. Bei dem Namen Faber schlug der Verwundete das schon brechende Auge in die Höhe. Eine Lebenshoffnung mochte in ihm erwachen. »Faber«, lallte er, »Faber!« Er tastete nach meiner Hand und drückte sie mit letzter Kraft an seine Brust: ein eisiger Schauder überrieselte ihn, der Todesschweiß tropfte von seiner Stirn. »Barmherzigkeit, Faber, Barmherzigkeit!« hauchte er noch und sank in meine Arme – entseelt.
»Wie eigen war mir zu Muthe, als ich die Uniform meines alten Regiments löste und in Erinnerung der Heimath doppelt begierig hätte helfen mögen, wo doch alle Hülfe vergeblich war. Der Prinz war nicht verwundet, wie wir angenommen hatten, nur von der Kugel gestreift, und ein Blutgefäß des Herzens durch die Erschütterung, oder den ungestümen Ritt, oder den Sturz vom Pferde lädirt. Niemals sah ich einen vollkommneren männlichen Körper. Auf seinem Herzen fand ich ein Band, gehüllt in ein Blatt, das unter wohlbekannten Zügen einen verehrten Namen trug. Ich gestatte mir keinerlei Deutung. Aber mit Allerhöchster Genehmigung lege ich diese Reliquie, vielleicht als ein trostreiches Andenken, in der Freundin Hand, das einzige Angebinde, das ich Ihnen heute zu bieten habe, theure Dorothee.«
Und nun wickelte ich wieder das blaue Haarband vom Frühlingsfeste um meine Finger, und ich betrachtete das Blatt, welches nichts als den Namen »Hardine von Reckenburg« trug, die abgerissene Unterschrift eines meiner wenigen Briefe an Dorothee, und von dem, welchem das Blatt bei irgend welchem Anlaß zugespielt worden war, vielleicht niemals bemerkt. Aber war es nicht eine seltsame Fügung, daß Siegmund Faber es sein mußte, welcher das Andenken von der Brust des Mannes nahm, der sein Lebensglück vernichtet hatte, und daß er es, als das Liebeszeichen einer Anderen, in die Hand seiner treulosen Verlobten zurücklegte?
Ich aber, wie hatte es in jenen Stunden ohne Einfluß auf mich bleiben können, daß über dem brechenden Herzen Name und Schriftzüge der Freundin geruht, welche er Schwester genannt hatte, als er mit seinem Abschiedsworte das geliebte Weib ihrem Schutze anvertraute? Wie hätte ich mich in jenen Stunden anklagen mögen, weil das Vermächtniß des todten Freundes stärker in mir sprach als die Pflicht gegen den lebenden?
Ich ging in meine Kammer und warf mich unentkleidet auf's Bett. Dorothee schlief; ich fand keine Ruh'! Die Ereignisse dieser Sonnenwende verschlangen sich wie greifbare Erscheinungen vor dem halbbetäubten Sinn, von jenem Festtage an, wo ich die alte Reckenburgerin das Liebeslied der Königsmark trällern hörte, bis zu dem Schmerzensbilde, das Siegmund Faber enthüllt hatte. Ich träumte mit offnen Augen, und es währte wohl eine lange Weile, ehe ich zwischen den Phantomen der Erinnerung die leibhaftige Gestalt unterschied, welche bei dämmerndem Morgen vor meinem Lager kniete mit gesenktem Kopf die Arme über der Brust gekreuzt gleich einer Verbrecherin.
»Wollen Sie mich retten, Fräulein Hardine?« flüsterte sie nach einer langen Stille.
Eine neue lange Stille folgte, und statt der Antwort nur die Gegenfrage: »Was denkst Du zu thun, Dorothee?«
»Denken – ich?« versetzte sie, indem sie traurig den Kopf schüttelte, »Ich will thun, was Sie sagen, Fräulein Hardine.«
»Nicht was ich sage, was Siegmund Faber sagt,« entgegnete ich.
Sie aber rief mit einem Schauder: » Der – Der? Was hab' ich mit Dem noch zu schaffen?« Doch verstand sie meinen vorwurfsvollen Blick, denn sie setzte hastig hinzu: »Ich werde ihm das Seine zurückgeben und mein Brod mit meiner Hände Arbeit verdienen.« In anderer Stimmung würde ich beim Anblick dieser zartgeschonten Hände den ausgesprochenen Entschluß belächelt haben. In der gegenwärtigen sagte ich nur: »So schreibe ihm heute noch, Dorothee, bekenne ihm die Wahrheit und empfange Dein Schicksal aus seiner Hand,«
Sie fuhr in die Höhe mit einer Heftigkeit, die ich niemals an ihr gekannt hatte. »Ihm schreiben und heute noch!« rief sie, »Ihm alles sagen, ihm, ihm! Nein, das verlangen Sie nicht, nur das Eine nicht, Fräulein Hardine, das kann ich nicht,«
»Nun denn, so will ich es thun an Deiner Statt,« sagte ich.
»Würde ein Brief ihn treffen, Fräulein Hardine,« entgegnete sie, »Es sind zehn Tage, daß er schrieb, eine eben so lange Zeit müßte vergehen – – und lebt er denn noch? Und wo? Und wie?«
Sie hatte recht. Wo stand die Armee in dieser Stunde? Vorwärts, in Feindesland? rückwärts am Rhein? Ein eintreffender Brief konnte bei so unsicheren Zeitläuften ein Wunder genannt werden. Und durfte ich ein solches Geheimniß der Verschleuderung und einer fremden Entdeckung preisgeben? Nein, wir mußten weitere Nachrichten von oder über Faber erwarten.
»Wohlan, Dorothee,« sagte ich nach einer Pause und ergriff ihre Hand, »wenn denn zur Stunde nicht vor ihm, so vor der Welt zeige entschlossen, daß Euer Bund sich gelöst. Kehre in Deines Vaters Haus zurück; nimm die Demüthigung auf Dich als Sühne der Schuld; setze Pflicht gegen Pflicht.« –
Es war wie ein Todesurtheil, das sie vernommen hatte. Ein Fieberfrost durchschüttelte ihren Leib, sie sank von Neuem auf die Kniee.
»Muß es sein?« hauchte sie kaum vernehmlich.
»Ja, es muß sein, Dorothee.«
»Jetzt, gleich jetzt, vor der Zeit: O, Fräulein Hardine, mir ist, als ob ich sterben werde nach der Zeit. Ach, so gerne sterben! Sparen Sie es meinem alten Vater, lassen Sie ihn nicht mit Schanden in die Grube fahren.«
Sie mochte wohl merken, daß das Mitleid mit dem alten, trunkenen Schwachkopf gar wenig auf mich wirkte, denn sie fuhr hastig, mit bebender Stimme fort: »Und Er – Er, den ich nicht nennen kann, soll sein Name verlästert werden in einem Athem mit dem der verworfenen Creatur? in der Stunde, wo die Thränen noch warm um ihn fließen, wo sein armer Leib noch nicht die Ruhe bei seinen Vätern gefunden hat?«
Es war eine Zauberin, dieses Kind Dorothee, wie es im rechten Augenblicke immer das Wirksame zu treffen wußte! Nein, das Geheimniß war zur Hälfte nicht zu wahren, und die Anklage gegen den Verführer durfte sich nicht in die Todtenklage um unseren Helden mischen. Vor meinen Eltern, die ihn geliebt hatten, vor den Kameraden, die ihn bewunderten, ja selber vor den gering geachteten Heimathsbürgern Dorothee's mußte der Letzte seines Stammes ohne Makel in der Gruft seiner Ahnen ruhen.
»So sei es denn, Dorothee, ich will Dein Geheimnis; wahren und schützen, bis Siegmund Faber über Dein zukünftiges Loos entschieden haben wird.«
Mit diesem Gelöbniß endete die erschütternde Unterredung. So schwer der Entschluß, so rasch und leicht war der Plan. Dorothee begleitete mich nach Reckenburg; alles Weitere enthüllte sich in dem stillen Waldhause Muhme Justinens. Und wie der Plan, so rasch und leicht war auch die Ausführung. Vater Kellermeister hatte keine Stimme; meine Eltern aber gönnten den beiden bekümmerten Gespielinnen ein tröstendes Beieinandersein. Kaum eine Woche später befanden sie sich, von Leipzig ab in Begleitung des Predigers, auf dem Wege nach Reckenburg.
Dorothee war dem alten Freunde keine Fremde; ich hatte ihm oft von meiner reizenden Mitschülerin erzählt. Jetzt führte ich sie ihm vor als eine Besucherin Muhme Justinens, also ohne buchstäbliche Lüge. Wie denn überhaupt, wenn lügen oder täuschen nur heißt: Unwahres sagen, nicht auch Wahres verheimlichen, ich in diesem ganzen Verhältnisse keiner Lüge oder Täuschung schuldig zu werden brauchte. Freilich mochte das stilltrauernde Weib, wie es sich scheu und leise weinend in die Wagenecke schmiegte, wenig zu dem Bilde stimmen, das ich von meiner frohen, beweglichen kleinen Dorl entworfen hatte. Sein Auge weilte mit Wehmuth auf dem bleichen, gesenkten Gesicht. Gewiß, er ahnete die Wahrheit. Der geistliche Herr aber war einer von denen, welche dem bekümmerten Sünder die Hand entgegenstrecken.
Wie oft hatte ich blutjunges Ding mich mit Entrüstung von unseres Seelsorgers milder Lehre und Praxis, gegenüber einer zuchtlosen Gemeinde, abgewendet. So erinnerte ich mich im Besonderen einer Predigt über das ehebrecherische Weib, deren Text und Auslegung ich beim Diner meiner alten Gräfin wiederholte. »Der Herr Pastor könnte derlei bedenkliche Themata vermeiden; aber was kümmert das uns?« hatte sie gesagt, und ich ihr – bis auf den Nachsatz – redlich beigepflichtet. Das war am Sonntag vor meiner Abreise, und heute führte ich selber solch ein recht und ehrvergessenes Weib als meinen Schützling in seine Gemeinde; ich, die ich mein Leben so sicher auf den Wahrspruch meines Hauses gegründet glaubte.
Baue Keiner auf seine Maximen, wenn er nicht, wie Jungfer Ehrenhardine, eines Tages mit schamrothen Wangen einem fertigen Menschen gegenübersitzen will. Das meine Freunde, ist die Moral der Geschichte von der Rose und ihrem Blatt.