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Wer nur einmal sehenden Auges durch dieses Wandelpanorama der Naturwunder vom Tal bis zu den Bergesspitzen gewandert ist, bringt eine Unsumme naturwissenschaftlicher Bildung mit nach Hause. Er muß nur die Stimmen der Natur zu hören verstehen, die da reden, nicht nur mit Donner und urweltlicher Kraft als brausende Wasser, Steinschlag und Lawinen, als Sturm und Unwetter, sondern auch im neckischen Spiel der Tiere, im stummen Duften der Alpenblumen, im Rauschen der Wälder, im Glühen der Farben und im Geheimnis neuer und eigener Gestaltung. Und ich darf mein Bild der Alpennatur nicht abschließen, bevor ich nicht den Sinn dieses Bildes gedeutet, Augen und Herz geöffnet habe, für das was diese Schönheit uns zu sagen hat. Denn sie ist wahrlich nicht unfruchtbar, weder für das Gemüt, noch das Denken, sie ist nicht bloße Ästhetik.
Das Ringen der Alpenpflanzen um ihr Leben läßt tief hineinblicken in die Gesetze und das Wesen des Lebens überhaupt. In diesem Sinn sind sie der würdigste Gegenstand für eine »gemeinverständliche Wissenschaft«, deren Ziel und Aufgabe es ja sein muß, Beziehungen und Brücken zu finden zwischen den Tatsachen der Natur und der Sehnsucht, mehr über sein eigenes Wesen zu erfahren. Dieser Sehnsucht haben bisher ausschließlich die Religionen, die Philosophien, das Theater und die Romane genügt, eine seltsame und scheinbar respektlose Zusammenstellung, die aber dennoch bei mehr Nachdenklichkeit gerechtfertigt ist. Denn ist nicht der eigentliche Zweck aller religiösen Lehren, aller Philosophen, aller Theaterstücke und schöngeistigen Erzählungen, soweit sie überhaupt nach Idealen blicken, dem Menschen einen Spiegel vorzuhalten: So bist du, so kannst du sein, ermesse daraus wie du sein sollst? Sind sie nicht sämtlich letzten Endes Versuche, uns das Unbegreifliche, das jeden Augenblick über uns Herr wird, auf irgend eine Weise zu erklären, übernatürlich die einen, natürlich die anderen? Ihnen gesellt sich nun seit Einigem die Wissenschaft zu. Höchste Wissenschaft forscht freilich ohne Rücksicht auf des Menschen Sehnsüchte, aber sie hätte doch den Sinn verloren, wenn nicht auch sie die große Frage vor Augen hätte, was denn der Welten Bau am Ende zusammenhält?
Der gemeinverständlich redende Gelehrte, oder sagen wir richtiger der Wissenschaftskünstler ist jener Beneidenswerte, der sich mit den Antworten der Forschung die Herzen der Menschen eröffnen und so die Erbschaft der Priester und Dichter antreten kann. Hier liegt eine neue Definition der »populären Naturwissenschaft«. Sie ist nicht eine aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzte Gelehrsamkeit wie so viele Stümper in dieser Kunst glauben, nicht verwässertes, seichteres, leichteres »Wissen« wie der Dünkel es aussprengt, sondern sie ist dort, wo sie wirklich den Wettbewerb mit der Religion und Dichtkunst um der Menschen Seele siegreich besteht, selbst eine feine Kunst: aus dem Wissen des Gelehrten mit dem Geschmack und der Menschenkenntnis des Dichters und der Einsicht des Philosophen das auszuwählen, was in der Natur dem »Menschen in uns« Antwort gibt, auf seine Fragen und Zweifel, auf das Bangen und die Sehnsüchte, die in stillen Stunden jeden überfallen angesichts der Unfaßbarkeit seines Seins im unbegreiflichen Getriebe dieser unermeßlichen Natur …
Darum eignet sich nicht alles zum »Popularisieren«, aber gerade darum eignet sich nichts so gut dazu, wie die Welt der Pflanzen und unter ihnen die Alpenpflanzen. Denn ihnen ist der Schlüssel zum Lebensgeheimnis leichter zu entreißen, als allen anderen Lebendigen.
Wenn man einmal die Natur der Alpen so in ihre Bedingungen aufgelöst hat wie dies hier geschah, so ist es leicht, aus den Ursachen die Wirkung zu erschließen. Die aber lebt als Alpenpflanze uns vor Augen. Sie ist ein durchsichtiges Produkt ihrer Umgebung.
Boden und Klima, die Eigenarten ihrer Lage in der Berghöhe bestimmen ihren Gliederbau, ihre Lebensdauer, den Bau der Blüten, das Maß jeder ihrer Handlungen bis ins Kleinste. Eine außergewöhnlich anziehende Aufgabe tut sich da auf, wenn wir es unternehmen wollen, alles das zu erklären, was uns fremdartig verkam an den Bergpflanzen, ihren äußeren und inneren Bau, ihre Lebenserscheinungen. Ihren Zwergwuchs, ihr demütiges sich an den Boden Anschmiegen, die wunderliche Behaarung so vieler unter ihnen, ihren Polsterwuchs, ihr frühes und reichliches Blühen, die Größe, Schönheit und den starken Duft ihrer Blüten gilt es nun verständlich zu machen und kein Zweifel, wenn wir in so vieles Einblick gewinnen, dann sind wir auch dem Lebensrätsel selbst näher gekommen.
Erinnern wir uns: Als wir zu Berg stiegen, wann begann die erste alpine Eigenart an unseren Begleitern im Walde sichtbar zu werden? War es nicht dort, als der erste Klimawechsel eintrat, in der Region der Wetterbäume? An ihnen haben wir die ersten leicht erklärlichen »mechanisch bewirkten« Veränderungen wahrgenommen. Wir sahen, daß ihre gegen die herrschende Windrichtung gestellten Äste durch die Stürme abgebrochen, die Gipfel durch sie geknickt sind, der Wuchs durch die Schneelasten gedrungen. Man begreift ohne weiteres, daß der Wald angesichts solcher ununterbrochener Schädigungen dem Klima erliegt, umsomehr, da er im kurzen Sommer nur wenig Zeit zum Wachstum findet.
Die Legföhren, durch die wir dann wanderten, erläutern ihr eigenes Aussehen selbst, wenn wir diese Vorkenntnisse benützen. Es gibt unter ihnen noch hochstämmige Bäume, im milderen Klima der Westalpen und auf den Höhen der Pyrenäen wachsen sie noch zu mächtigen Bäumen von 26 m Höhe heran; in den rauheren Ostalpen ist die Legföhre echtes »Krummholz«, ein niederliegender Busch, der schließlich auf den exponiertesten Hängen mit seinen Ästen schlangengleich kriecht, in die Erde schlüpft, wieder heraustritt, sich durch Geröll windet und nur mit den äußersten Zweigenden es noch wagt, himmelwärts zu sehen. Mit ihren Übergängen drückt sie den Wandel des Pflanzenschicksals auf den Bergen symbolisch aus. Ober ihrer Zone wagt kein Gewächs mehr baumförmig zu werden. Und indem man im Durchschnitt nur einen Millimeter als Jahreszuwachs an ihrem Stamme rechnen kann, verrät sie auch, daß die Hochpflanzen nicht an einer wohlbesetzten Tafel speisen, sondern sich so kümmerlich durchs Leben schlagen wie alle Älpler.
Würde sie sich nicht auf den Boden legen, sie würde unfehlbar von den Herbststürmen entwurzelt werden. Denen arbeitet sie auch durch ihre beispiellose Verankerung im Boden entgegen. Sie würde aber auch durch den Schnee so geknickt werden, wie dies manches Jahr auch noch tiefer im Walde die Fichten und Tannen ab und zu erleiden müssen. Aber indem sie so viele Monate die Zentnerlasten des Alpenwinters auf sich fühlt, hat sie Zähigkeit erworben. Der Älpler weiß wohl, daß Latschen der beste Lawinenschutz sind. Dieser Busch wird auch von der ungeheuren Kraft rollenden Pulverschnees nicht gebrochen, noch ausgerissen. Die Äste schmiegen sich in der Minute des Weltunterganges nach enger an die Mutter Erde und dann richten sie sich wieder auf. Wie schwach ist doch der Mensch gegen einen solchen unbedeutenden Strauch, der oft genug dem Verderben das furchtbarste nimmt. Oft kriecht die Latsche noch in den Hochwald hinein und dann kann man mit Staunen sehen, daß hundertjährige Baumriesen wie Zündhölzer gebrochen und weggefegt werden, wenn der weiße Tod über sie hinweggeht. Im Frühling danach ist der Hang mit zersplitterten Baumleichen besät. Der Wald ist verschwunden – geblieben aber ist die dunkelgrüne Wildnis der Legföhren, gesund, zäh und duftend wie immer.
Die Latsche schmiegt sich so zärtlich an ihre Mutter Erde. Sie vermeidet damit den Frost, denn sie bleibt dann hübsch unter der Schneedecke und ragt, was ihr noch wichtiger ist, nicht mit zarten Jungblättern und Blütenteilen in die eisige Alpennacht. Aber dieses Anschmiegen ist eine gar seltsame Sache. Alles was wir bisher von ihrem Leben erfahren haben, ist einfache Wirkung von Druck und Nahrungsmangel. Zum Aufsuchen des Bodens dagegen zwingt sie keine äußere Gewalt. Und sie tut es dennoch! Warum? Zwei neuere Naturforscher ( Vöchting und Lidforß) haben uns damit überrascht, daß dieses Anschmiegen an die Erde, nicht eine Eigenheit der Alpensträucher sei (Grünerle, Zwergweide, Alpenrose haben es ja auch), sondern auch von allerlei Pflanzen der Ebenen, von der Taubennessel, den Hühnermieren, dem Lungenkraut, dem Ehrenpreis und manch' anderen »erlernt« wird, wenn man sie der Kälte aussetzt. Man kann das Verwunderliche jederzeit nachprüfen, daß solche zarte Kräuter sich auf die Erde legen und dort weiter blühen, wenn man sie mitten in der Blütezeit mäßiger Kälte aussetzt; bringt man sie in ihre gewohnte Temperatur zurück, richten sie sich langsam wieder auf.
Das offenbart einen reizenden Zug aus dem Innenleben der Pflanzen, der uns Licht auf den Weg gibt, wie man die Eigenart der Alpenflora zu deuten habe. Was wir an der Legföhre sahen, finden wir auch an den übrigen Sträuchern wieder, die noch über die Baumgrenze steigen und verstehen nun auf einmal, warum auf den Wald eine Region der Zwergsträucher folgt, und warum von den Höhen von 1800 m an kaum mehr eine einjährige Pflanze das Bild der Natur belebt, sondern alle Gewächse Neigung haben strauchartig zu werden, wenigstens aber ausdauernd sind. Bonnier und Flahault, zwei französische Botaniker, die sich um die Erforschung des Alpenlebens viel verdient machten, haben für das soeben Gesagte Zahlenbeweise beigebracht, die überzeugen. In den französischen Westalpen sind in Talniederungen von 200-600 m 60% aller Gewächse einjährig, von da bis 1800 m aber nur mehr 33%, darüber hinaus gar nur 6%. Die höchststeigenden Alpenpflanzen sind alle ausdauernd; sie würden sonst im kurzen Alpensommer nie fertig werden mit der vielen Arbeit: erst zu keimen, einen dauerhaften Stengel zu bilden und daran Knospen, Blätter und Blüten und Samen. Viele der alpinen Zwergsträucher ersparen es sich sogar, jedes Jahr ein neues Blattkleid anzulegen. Mit immergrünen Blättern prangen nicht nur Latsche und Zwergwacholder, sondern auch die Bergnymphe ( Dryas ), die Kugelblumen ( Globularia ), die Steinbreche, Alpenrosen, sogar Pflanzen, bei denen man es nie vermutet hätte, wie Enziane, Primeln und viele Akpengräser. Ja sogar die kriechende Zwergweide ( Salix reticulata ) behält ihre Blätter am Berg jahrelang, damit sie gleich nach der Schneeschmelze und sogar an den Wintertagen von der Sonne Nutzen ziehen könne. Nur die Alpenerle ( Alnus viridis ), dieser merkwürdige Strauch, der so genau die Mitte hält zwischen Birken und Erlen, daß es Pflanzenkenner gibt, die ihn Birkenerle nennen, konnte nicht soviel Entgegenkommen gegenüber dem Bergklima aufbringen. Aber auch er beweist, daß ihm das unbegreifliche Innenleben nicht abgeht, das uns an den sich niederlegenden Pflanzen so befremdete. Die Kätzchen der Erlen im Tal überwintern nackt: die Alpenerle jedoch schließt sie schützend in Knospen ein. Wie kam sie zu solchem Tun? Niemand weiß hierauf zu antworten. Jede Naturtatsache, die sich erklären läßt, hat einen Kreis um sich, voll von Unerklärlichem. Im Weltbild des Naturforschers ist die Sonne noch lange nicht aufgegangen. Er blickt in finstere Nacht, in der ihm nur da und dort ein Lichtfünkchen leuchtet … Und das ist oft ein trügerisches Irrlicht. Man begehrt also übermenschliches von ihm, wollte man ihm zumuten, uns bei dieser Wanderung durch eine Welt voll Wunder, mehr als das Nächstliegende zu deuten. Nicht einmal von den eigenen Handlungen können wir uns so ganz Rechenschaft geben und ahnen nur, daß ein gespenstisch Nachleben der Vergangenheit in uns schaltet und Arm und Gedanken immer wieder mitlenkt; was sollen mir also sagen können, vom inneren Geschehen der Mitwelt, noch dazu wenn wir deren Sprache erst so kindlich buchstabieren wie die der Pflanzen? War es nicht wirklich vermessen von uns, zu hoffen, das Leben der Alpenpflanzen werde uns den Lebensquellen näher bringen?
Und doch, des Menschen Geist hat auch hier nicht vergeblich gerungen mit dem Riesen des Welträtsels. Der Ruf vom »Bankerott der Wissenschaft«, von der »Hoffnungslosigkeit alles Forschens« ertönt, wenn er ehrlich ist, immer nur dann, wenn man das Erreichte an noch Unerforschten mißt. Da ist es denn freilich trügerisch zu glauben, man sei in Sonnennähe, weil man einen hohen Berg erklommen habe. Der Kluge mißt den Berg eben nicht an der Sonne, sondern an dem Blick ins Tal, das er verlassen. Und da müssen wir zugestehen, daß der von uns errungene Standpunkt, uns wirklich tiefer hineinsehen läßt in Sein und Leben der Alpennatur. Das Innenleben der Alpenpflanzen ist zwar noch der Almagest mit fremden Lettern in einer unbekannten Sprache, aber manch ein Zeichen ist doch schon vertraut, so wie man den Hieroglyphen manches abgelesen hatte, bevor Champollion ihren Schlüssel fand.
Wohl verständlich ist uns so der Polsterwuchs und die Zwergenhaftigkeit der eigentlichen Alpengewächse. Nichts fällt dem Neuling im Hochgebirge so sehr auf, als daß fast alle Felsenpflanzen, das Fingerkraut, der Mannsschild, die Steinbreche, Silene, sogar die Gräser und die Riedgräser dicht aneinander geschmiegt, fest mit einander verfilzt, wie dicht geschoren oder abgebissen, beisammen wachsen. Sie bilden so abgerundete, fast harte und massive Polster, in die man so wenig einbringen kann, wie in einen trockenen Moosrasen, was bewegt diese Gewächse zum Aufgeben der Freiheit des Wuchses, die allein ihnen persönliche Entfaltung gewährleistet? Es ist der Sturm, auch die Sorge vor der Austrocknung. Leicht wird dies bewiesen, denn man findet die Polsterpflanzen ausnahmslos an allen stark windgepeitschten Gipfeln und Graten, entlang aller Wände, an denen sich die herrschende Windrichtung bricht. Und zwar nur an solchen Stellen nehmen Pflanzen Polsterwuchs an, auch wenn er ihnen sonst fremd ist. Sie erbauen mit diesem dichten Zusammenschluß ein Dach, unter dem ein Teil ihrer Blätter geschützt haust vor dem austrocknenden Wind, vor den Eisnadeln und Schuttstückchen, mit denen er an solchen ausgesetzten Stellen die Bergesflanken peitscht; sie sichern sich den wenigen Humus von dem sie leben, einfach dadurch, daß sie sich darauf setzen, wenn man einmal auf einem solchen windbestrichenen Grat gesehen hat, wie sorgfältig aber auch das letzte Krümchen Erde dort weggefegt ist, begreift man erst, wie notwendig es war, daß diese Pflanzen sich schützen. Aber auch, warum ihre Polster klein sind, warum die alpinen Gewächse überhaupt stets gedrungen sind.
Von da aus eröffnet sich dann auch Verständnis für die vielbewunderte Größe der Alpenblumen. Sie ist, so verwunderlich dies auch klingt, nichts als eine Art optische Täuschung, weil der Wuchs so gedrungen ist, die Blätter so klein sind, die ganze Pflanze so sehr bestrebt, sich mit dem kleinsten Raum zufrieden zu geben, die Blüten aber daran nicht Teil nehmen, erscheinen sie relativ viel größer als die verwandter Formen in der Ebene. Genaue Messungen von Bonnier, R. Keller und anderen Forschern haben ergeben, daß der Blütendurchmesser der gleichen Pflanzenart auf der Höhe eher noch etwas geringer ist als im Tieflande. Dagegen läßt sich nicht daran zweifeln, daß alle Alpenblumen leuchtender, schöner blühen und auch stärker duften.
Es gab eine Zeit, da man dies ohne weiteres damit erklärte, daß diese Blüten das Resultat einer unbewußten Züchtung seien. Im rauhen Klima des Hochgebirges gebe es bedeutend weniger Insekten als in den Tälern; folglich seien alle unansehnlichen, unauffälligen Blumen schon längst ausgestorben, da auch die schönsten so wenig besucht werden. Dies erschien sehr einleuchtend und es gibt noch Naturforscher, noch mehr aber »populäre« Artikel und Bücher, die daran festhalten. Die Ungläubigen haben jedoch geforscht und folgendes gefunden: Es ist allerdings wahr, daß die »blumentüchtigsten« Insekten, nämlich die Bienen mit der Höhe rasch abnehmen, aber sie werden reichlich ersetzt durch die schönen Berghummeln und noch mehr durch die prächtigen Bergfalter, wer hat nicht schon in den Alpen mit Staunen gesehen, daß sich die vielgejagten Falter Besonders Apatura Iris, Ilia, Argynnis, Paphia, Vanessa Levana u. a.: der Kaisermantel, der Schillervogel, Trauermantel, Admiral und Fuchs dort noch in Scharen umhertreiben und oft von einer feuchten Stelle zu Dutzenden aufflattern? Sie überwiegen auf den Alpenwiesen alle anderen Blumenbesucher. Man darf also wohl nicht sagen, daß dort weniger Blütengäste da seien, als in der Ebene. Aber man vergesse nicht, daß das Alpenklima nur an wenigen Tagen den Blumen günstig ist. Wohl blüht manches der unentwegten Blümlein auch im Frost, aber es harrt vergeblich des Gastes, den es lockt, wir hörten ja bereits von Haller, daß auch die Herden nur 40 Tage auf den Hochalpen bleiben. Und von diesen ist mancher verdorben durch Regenschauer und Wind, der die kleinen Blumenliebhaber sich verkriechen heißt. Auch haben Hummel und Falter oft viel unfruchtbares Felsicht und Geröll zu überfliegen, bevor sie wieder Blumen antreffen. Das alles drängt die Überzeugung auf, daß in den Alpen die einzelne Blüte wirklich seltener besucht wird als im Tiefland.
Also hat die Blumentheorie wohl Recht? Nur gemach, wer könnte uns widersprechen, wenn wir behaupten wollen, daß so ein Hummelchen, nachdem es eine Stunde lang zwischen Felsen und Geröll vergeblich gesucht, die ersten Blumen, die es dann aus der Hochmatte trifft, wahllos annimmt, weil es dem hungrigen doch sehr gleichgültig ist, ob das Wirtsschild groß und prächtig ist. Aber wir bedürfen gar nicht der Spitzfindigkeiten. Einfache Beobachtung belehrte darüber, daß die Farbenpracht und der Duft der Alpenblumen nicht von den Insekten herangezüchtet sein können. Sie selbst sind nämlich auch farbenprächtiger! Die Alpenhummel bat ein schwarzgelbes Pelzchen umgetan, dessen Gelb genau so feurig orange brennt, wie das Gelb der alpinen Habichtskräuter.
In den unvergleichlich klaren Herbsttagen, die den Bergen beschieden sind, da alles so rein, so friedvoll und glanzübergossen unter ihrem Himmel seines Daseins Glück genießt, brennt die Natur ein lebendig Feuerwerk ab, das mit Worten nicht zu schildern ist. Die Wälder lodern auf in Gelb, Braun und brennendem Rot, wie Feuer springt es von Wipfel zu Wipfel, dann geht diese Illumination auf die Bodensträucher über, rostrote Blätter lösen sich von den Weiden, mit hellem Zitronengelb mischt sich das satte Grün der immergrünen Büsche, und rubinrot, so tief und rein wie in gemalten Fenstern, züngelt daraus das Laub der Alpenbärentraube ( Arctostaphylos). Von der Pracht des Alpenherbstes weiß die große Menge der Bergfreunde nichts, denn sie ziehen mit dem Ferienende heim, just in dem Augenblick, da die Berge ihr schönstes und feierlichstes Fest vorbereiten. Diesen ätherischen Glanz, diese Farbensymphonien und diesen himmlischen Frieden, mit dem der Bergwald auf das Einschneien wartet, das kennen nur wir, die Eingeweihten, die wir im Sommer und Winter jederzeit mit den Bergen leben und ihre jährliche Wandlung wie Familienereignisse empfinden.
In der Schönheit und Farbenpracht dieses Alpenherbstes zeigt sich die ganze Kunst der Alpensonne. Das Höhenlicht schafft die Farbenwunder. Der nüchterne Experimentator hat das über alle Zweifel erhaben gemacht. Bonnier versetzte Ebenenpflanzen in das Alpenklima und ohne »Zuchtwahl durch Insekten« wurden sie schöner; die weißen Schafgarben wurden rötlich, der Wundklee und die Korbblütler mischten feurige Tone in ihr Gelb, Vergißmeinnicht wurde dunkelblau und die roten Blumen strahlten jetzt in Dunkelrot.
Und was für die Farbe gilt, kann man auch für den Duft nicht bestreiten. Boulger und Mesnard haben es mit Versuchen bewiesen, daß auch hier die »Intensität des Sonnenlichtes« allein der Reiz ist, der die Pflanzen bewegt, mehr Honig abzusondern und stärker zu duften.
Daß sich Falter und Hummeln dies zunutze machen, daß die relative Größe, die Farbenglut und der schwere Geruch der Alpenflora Vorteile im Lebenskampfe bieten, dürfen wir freilich nicht bezweifeln, auch wenn wir nicht mehr an die Allmacht der Zuchtwahl glauben. Denn wenn auch von den 590 Alpenpflanzenarten, die sich der Kerftiere zur Befruchtung bedienen, nur 170 eutrop, d. h. so gebaut sind, daß ihre Blüte nur einem ganz bestimmten Blütengast zuwillen eingerichtet ist, wenn also die alpine Flora darin dem Tiefenflor nachsteht, so genügt doch schon die bloße Tatsache, daß es überhaupt eutrope Alpenblumen gibt, um einen gewissen züchtenden Einfluß der Insekten auch hier zu erweisen. Zumindesten zu Sondergestaltungen mancher Alpenblume hat er geführt, als deren berühmteste von altersher das gespornte Stiefmütterchen ( Viola calcarata) gilt.
Im Juli blickt es mit seinem schönen Blau tausendfach den Wanderer in Höhen von 1500-2800 m an, oder richtiger gesagt, es blickt nach der Sonne, der es sein breites Blumengesicht stets voll zuwendet. Die Veilchen und Stiefmütterchen werden in der Ebene von Bienen befruchtet und sind dementsprechend eingerichtet. Sie erzeugen etwas Zuckersaft, den sie in einem kurzhalsigen Behälter (Sporn) so aufbewahren, daß die danach lüsterne Imme bei dem Nippen, mit den Befruchtungsorganen in Berührung kommt. Um 2000 m gibt es aber keine Bienen mehr; dafür um so mehr Sommervögel. Aber diese verschiedenen Perlmutterfalter ( Argynnis), diese Erebia- und Vanessaarten und Taubenschwänze ( Macroglossa) sind alle langrüsselig, sie würden aus einem kurzgespornten Veilchen den Honig aussaugen, ohne der Blüte irgendwelchen Dienst zu erweisen. Und was sehen wir? Viola calcarata der Alpen birgt den Honig tief unten in einem fast 2½ cm langen Behälter. Wie dieser Zusammenhang zustande kam, hat allerdings noch manche Rätsel trotz der Zuchtwahllehre. Der triftigste Einwand, den die Natur selbst gegen diese erhebt, ist wohl der, daß die Alpenblumen vielfach zur Selbsthilfe greifen, wenn ihnen ihre sinnreichen Einrichtungen nicht helfen. Es wankt also gerade der Eckpfeiler der Zuchtwahllehre, der Satz: daß alle jene ausgemerzt werden (weil sie nicht zur Fortpflanzung gelangen), die nicht von den Insekten befruchtet werden. Ich denke hierbei gar nicht einmal an so außerordentliches, wie sie der gerade im Gebirge besonders eifrig »lebendiggebärende« Alpenknöterich ( Polygonum viviparum) oder das Alpenrispengras ( Poa alpina) jedem Touristen, der zu schauen versteht, jederzeit vor Augen stellen.
Dieses Gras, bald eine Massenvegetation auf der fetten Weide, bald ein kühner Eindringling in die Welt der Felsen und des beweglichen Schuttes, verzichtet unter Umständen, die wir noch nicht ganz genau kennen, auf jede Befruchtung durch den Wind, sondern treibt wohl Ährchen, aus diesen aber gleich junge Pflänzchen. Diese ziehen durch ihr Gewicht die Mutterähre zur Erde nieder. Gleich schlagen sie dort Wurzel und wachsen zur neuen Generation heran. Nicht anders macht es der vom Schneehuhn so eifrig gesuchte Knöterich mit seinen kleinen Knöllchen, die an Stelle der Blüten auftreten und zu wohlgebildeten ganzen Pflanzen ohne weiteres auswachsen. Wir verzichten aber auf diese Beweisstücke, denn wir kennen noch zu wenig von ihrem Leben – und bedürfen ihrer auch gar nicht. Schon die Tatsache allein genügt, daß im Tiefland bei den Blumen die Fremdbestäubung, in den Alpen aber die Selbstbestäubung überwiegt, um das zu beweisen, was wir wollten. Wer nur den Zahlen Glauben schenkt, dem seien folgende Angaben geboten, die der Stuttgarter Blütenbiologe Kirchner berechnet hat. Um Stuttgart sind 40,8% aller Blüten so eingerichtet, daß sie ausschließlich auf Fremdbestäubung angewiesen sind, in den Alpen aber, je nach der Höhe nur 26,9% – 26,3%. Den 59,2% der gelegentlichen oder regelmäßigen »Selbstbestäuber« stehen in den Alpen 73,7% gegenüber. Erhöht wird die Beweiskraft dieser Zahlen noch dadurch, daß auf dem bekannt insektenarmen norwegischen Hochgebirge die Verhältniszahl der Selbstbestäuber gar auf 83,8% steigt!
Darüber läßt sich nun wieder streiten, ob es des Wetters Ungunst oder die »Insektenarmut« ist, welche die Alpenpflanzen zu solchen »Gegnern der Zuchtwahltheorie« macht, aber es läßt sich nicht mehr zweifeln daran, daß die gleichen Pflanzen, die unter günstigen Umständen sich der Blütengäste bedienen, im Falle der Not selbst ihre Befruchtung vollziehen. Und das sagt in unserem Falle alles.
Es gibt eine unansehnliche Alpenblume, die »klassisch« werden wird, wie es die Mimose geworden ist oder der Sonnentau, durch den tiefen Einblick, den sie in das Innenleben der Pflanzen überhaupt tun läßt. Dies ist Biscutella laevigata, das kleine gelbblühende Brillenschötchen, so absonderlich deshalb benannt, weil seine Fruchtschoten mit einiger Phantasie solches rechtfertigen. Die Pflanze ist schon in den Voralpen an steinigen Orten ganz gemein und erweckt in keiner Beziehung besondere Aufmerksamkeit. Wie fast alle Kreuzblütler hat auch sie die kleine gelbe Blume der großen Menge der Besucher, den Bienen, Fliegen und Käfern zugänglich gemacht. Aber bei Regenwetter ändert sie ihre Blüteneinrichtung. Die Blütenteile werden dann so gestellt, daß nun Selbstbefruchtung eintritt. Und »diese Abänderung ist eine sehr »zweckmäßige« – sagt hierüber ihr Entdecker, der Schweizer Botaniker A. Günthart – »denn bei Regenwetter fliegen ja keine Insekten.« Und er fühlt auch das grundlegend neue seiner Entdeckung, denn er spricht gelassen das große Wort aus: in der Pflanze selbst liegende innere Kräfte seien die Ursache jener zweckmäßigen Handlungen. In Schröter, Das Pflanzenleben der Alpen. 1908 S, 717.
Das ist das erlösende Wort. Zweckmäßige Handlungen vollführen die Alpenpflanzen, im Zwange der Not, um sich zu helfen. Sie tun dies viel auffälliger, vielleicht sogar viel öfter als alle anderen Gewächse.
Alles ist an ihnen Mittel, das auf einen bestimmten Zweck, nämlich auf Abwehr lebensfeindlicher Einflüsse und Förderung lebensnützlicher Vorkommnisse gerichtet ist. Solches aber nennt man Anpassung. Durch nichts kann man diesen wichtigsten Begriff der neuen Lebensforschung so gründlich und anschaulich erfassen, wie durch das Studium der Alpenpflanzen.
Ihr ganzer Körper ist eine einzige große Anpassung an ihre Umgebung mit ihren eigenartigen Lebensbedingungen.
Was dem Bergwanderer so verwunderlich und anziehend dünkt an dem Wahrzeichen seiner Kühnheit und Ausdauer: der silberne Flaum an der Blüte des Edelweiß, das ist eine klassische Anpassung an das Alpenklima. Diese mit Luft erfüllten und deshalb silberschimmernden mächtigen Haare an den Blättern, welche die winzigen Blütenköpfchen umgeben, dienen dem Schutz vor zu viel Verdunstung. Ist doch unser Edelweiß eine Einwanderin aus der asiatischen Steppe, die an ihren liebsten Standorten, auf den »Wildheuplanken«, den Grasbändern und Schrofen es nicht verlernt hat, mit dem spärlichen Wasser hauszuhalten. Dazu sind die filzigen Blätter, die sich durch ihre Haarwolle über den Spaltöffnungen eine windgeschützte und kühlgehaltene Luftschichte sichern, das beste Mittel. Der Naturforscher zerstört zwar mit solcher Deutung die Legende um den heißbegehrten Silberstern nicht weniger grausam, wie der aller Natursymbolik abholde Älpler, der – wenigstens im Berchtesgadnerland – das Edelweiß höchst respektlos Bauchwehblume nennt, aber er erklärt uns damit, warum das Edelweiß nur auf der Bergeshöhe weiß und schön bleibt, im Tieflandgarten aber – wo heute das meiste gezogen wird, was auf den Hüten der Touristen imponiert – rasch entartet und ein gewöhnliches grünes Kraut wird, wenn man ihm nicht künstlich seine Alpensonne und trockene Heimat ersetzt. Er erzählt uns übrigens auch, daß es noch eine Alpenpflanze die an »Filzigkeit« das Edelweiß weit übertrifft; kein Wunder, wagt sich doch dieses tibetanische Edelweiß ( Saussurea tridactyla) mitten in die »trockene« Schneewüste der asiatischen Hochgebirge und steigt dort bis 5800 m, weit höher als die meisten Wolken ziehen.
Zahllos sind die Anpassungen, durch die sich die Hochalpenblumen vor ihrer drohendsten Gefahr: dem Vertrocknen schützen. Ich will meinen Lesern das Vergnügen nicht rauben, selbst zu »naturforschen« und heraus zu bekommen, inwiefern der gedrungene Wuchs der meisten Alpenpflanzen, die Rosettenbildung, die Lederartigkeit oder das Fleischigwerden ihrer Blätter, der Wachsüberzug der Mehlprimel ( Primula farinosta), den Pflanzen hierbei Dienste leisten. Beherrscht man die seine und unterhaltsame Kunst der mikroskopischen Pflanzenzergliederung, so wird man gewahr, daß sogar der innere Bau der Alpengewächse bis ins allerfeinste den veränderten Lebensbedingungen angepaßt ist.
Der Innsbrucker Botaniker A. Wagner fand als erster, daß diese in Trockenheit dürstenden Kinder der Hochalpen ihre Blätter völlig umbauen. Sie schützen sie nicht nur nach außen durch reichliche Haarüberzüge, sondern auch, indem sie durch mehr Spaltöffnungen, durch lockeren Bau des Schwammgewebes, stärkere Entwicklung der Palisaden, reichliche Blattgrünbildung, Verkleinerung der verdunstenden Oberflächen, das Gleichgewicht zwischen ihren Einnahmen und Ausgaben herstellen.
Oft ist jede Pflanze anders angepaßt, je nach den Sondererfordernissen ihres Lebens. Ein reizendes Idyll aus diesem mit Mühsal beladenem Dasein bietet die anspruchslose Kugelblume ( Globularia) an ihren Felswänden, wenn sie mit ihren Sprossen an den Band des Abgrundes gelangt, hängt sie nicht senkrecht herab, wie es das Gewicht ihrer Stämmchen erfordern würde, sie krümmt sich auch nicht aufwärts wie das gewöhnlich bei herabhängenden Sprossen der Fall ist, sondern sie kriecht allmählich um den Felsen herum und bleibt mit ihren sonst so steifen Ästen stets dem Fels angeschmiegt, sogar dort, wo er überhängend ist. von nun an wächst sie stets dem Felsen entlang und umkleidet ihn mit einem Spalier, was erreicht sie mit diesem so seltsamen und ungewöhnlichen Verhalten? Sie verschafft sich Erde, denn wie ein Rechen fängt sie jedes vom Fels herabrieselnde Krümchen auf. In diesen kleinen Humusvorrat treibt sie begierig die an solchem Kummerort ewig hungrigen wurzeln. Auch hat sie, an der Felswand entlang kriechend viel mehr Aussicht, wieder eine Spalte zu finden, in die sich neue Wurzeln senken lassen.
Nicht weniger wunderbar benimmt sich im Gewände der Thymian. M. Öttli, ein jüngerer Schweizer Naturforscher, der auf den Felsriesen der Churfirsten und des Säntis mit Eifer dem Leben der Felsenpflanzen nachgegangen, hat davon eine so wunderhübsche Beschreibung gegeben, daß ich sie ihm nur nachzuerzählen brauche. Er schildert uns das duftende Kräutlein als einen ewigen Wanderer, als eine Pflanze, der eine große Beweglichkeit zu eigen, so daß sie imstande ist, auch da zu leben, wo ihr der Boden beständig unter den Füßen wegrutscht. Der Thymian keimt an solchen Orten auf Moos oder an solchen Orten, deren das Moos bedarf, und verlegt sich dann, sobald er erstarkt, aufs wandern. An langen dünnen Ästchen hebt er kleine, beblätterte Triebe in die Höhe, setzt damit in hübschem Bogen über eine benachbarte Ansiedlung, oder kriecht auch durch einen Rasen hindurch die Kleinheit seiner Blättchen erlaubt ihm das – Oft macht es genau den Eindruck, als ließe er an langen, bis 40 cm langen Schnüren seine Triebe einfach senkrecht über eine Wand hinab aus den nächsten Humusfleck, um sie da ihrem eigenen Schicksal zu überlassen. Sobald aber ein Teil eines solchen Triebes auf ein feuchtes Moosräschen oder auf Humus zu liegen kommt, schlägt er wurzeln und setzt seine Wanderschaft in gleicher Weise fort, bis die ganze Wand überspannen und Humusfleck an Humusfleck vielfach miteinander verbunden ist. Oft muß er anderen Pflanzen weichen, wird zerstört und weggeschwemmt, aber was tuts? Schon längst hat er andere Kolonien gegründet und kehrt vielleicht bald wieder an denselben Ort zurück, wenn der Stein, auf den alles aufgebaut war, samt was er getragen, zur Tiefe gestürzt ist. Ich denke mir, es müßte ein anziehendes Bild geben, wenn man einen Kinematographen in wenigen Minuten das wiedergeben ließe, was er während vieler Jahre an einem solchen Standort aufgenommen, während man alle anderen Pflanzen ruhig an einem und demselben Platze sich entwickeln und sterben sähe, wäre da stets ein Wanderer zu beobachten, eben der Thymian, der mit seinen Fäden das ganze Gebiet durchzöge, überall da, wo dem Fels eine Wunde geschlagen, zur Entwicklung gelangte, um gleich wieder zu weichen, sei es wegen einem neuen Felssturz, sei es wegen der allmählich erwachsenden Konkurrenz anderer Pflanzen, aber bald wiederkehrend in fortwährendem Wechsel.
Ein Gegenstück zu diesen, an Dürre fast verschmachtenden Pflänzchen, bildet wieder das gemeine Gipskraut ( Gypsophila repens) an den gleichen Wänden, die da am üppigsten wächst, wo ein Wässerchen zu mattem Staub zersprühend zu Tale hüpft. Dort nicken die schlanken Stengel unaufhörlich im funkelnden Sprühregen. Keine andere Pflanze (außer manche Moose) setzt sich unter eine solche Traufe, wie hält es diese aus, die doch sonst an warmen trockenen Steinen zuhause ist? Sie wird einfach nicht naß, ihre Blätter sind stets trocken, denn sie haben ein Wachsmäntelchen angezogen, das kein Tröpflein durchläßt.
Bis ins Mysteriöse reicht diese Kunst der Blume, dem Schicksal zu widerstehen und es durch Anpassungen und Geduld erträglich zu gestalten. Der schweigende Kampfplatz des Hochkares, wo Berg und Leben miteinander ringen und die Horste der grünen Blättlein immer wieder jede Verschüttung überwachsen, birgt noch viel unausgeschöpftes an solchen kleinen dramatischen Naturszenen.
Man kann nur menschliche Eigenschaften heranziehen, um ihr merkwürdiges Leben zu erfassen, man kann ihr Verhalten mit nichts vergleichen als mit Tapferkeit und schlauem Wahrnehmen der besten Gelegenheit, viele Ausläufer treibende Schuttpflanzen senden von ihrer Wurzel lange Triebe durch das Geröll die am Lichte Blatt und Blüte entwickeln, die Spaltenpflanzen weben in den flachen Nissen wahre Wurzeltücher, um das bißchen Humus zu verwerten, das sich in den Felsspalten ansammelt, wenn im Kar nach einem Wolkenbruch schwere Gerölle und feiner Sand den Flor verschütten, durchbricht er den steinernen Sargdeckel. Die Triebe verlängern sich, wachsen unerhört schnell, und wissen, ohne von einem Lichtstrahl geleitet zu werden, dennoch wieder das Licht zu finden. (Ein paar Wochen später treten sie wieder aus dem Boden, wachsbleich und mager, wie vom Tode Auferstandene. Aber rasch ergrünen sie nun; wo eine Hand voll Erde im Gestein lagert, senken sie wurzeln hinein und das Leben hat wieder über die Tücken des Berges triumphiert, wie machen sie das, was leitet sie, was zeigt ihnen den Weg, wieso wissen sie, was im gegebenen Augenblick zu tun sei? Das ist das Geheimnis der Pflanze …
Herbstblumen blühen auf der Hochalpe im Sommer: die Parnassie, das Heidekraut, das unten erst im August-September in Blüten schießt, hat um die Seit oben schon abgeblüht, so wie auch die Tiere in den Bergen ihre Entwicklung beschleunigen. Das Getreide im Schweizer Münstertal braucht in 1900 m Höhe nur 90-100 Tage zur Reife, im milden Zürcher Tal aber 102 Tage. Ist es die Alpensonne? Aber warum verspäten sich dann die Anemonen, Veilchen, die Lichtnelken und Trollblumen mit dem Blühen auf dem Berg um viele, manchmal um 13 Wochen? woher rührt diese unendliche Plastik des Lebens? Um es in Eines zusammenzufassen, wie kamen die Alpengewächse dazu, stets die Mittel zu finden, durch die sie dem Wüten der Elemente, der Kargheit des Bodens trotzen, den Besonderheiten ihrer Lage stets das geeignete Gegenmittel gegenüber fetzen konnten? Sie haben alles geändert, was eine Pflanze überhaupt wirken kann, sie haben ihr Wurzelwerk angepaßt, ihren Wuchs verkleinert, ihre Blätter umgestaltet, ihr Inneres umgebaut, ihre Blüten verschönert, sie haben ihre Lebensdauer verlängert, die Blätter immergrün, die Blüten vorzeitig, die Früchte überschnell ausgebildet. sie haben besondere Widerstandskraft gegen Frost und Hitze erworben, sie haben hundert Hilfsmittel geschaffen, Bewegungen erlernt, unbegreifliche Kräfte entwickelt, sie sind uns dadurch mehr ans Herz gewachsen als alle anderen unserer Mitgeschöpfe, denn sie sind die schönsten, lieblichsten, duftigsten und am meisten des Mitleidens würdigen aller Blumen.
Wie konnte nur das alles so werden? Aus welchem Urgrund ist so viel Eigenart und Fähigkeit hervorgekommen? Die schimmernde, würzige keusche Bergblume ist uns, die wir nun so viel wissen um ihr Leben ein Mysterium, ein geheimnisvolles Heiligtum, wer ist da Mystagog, wer deutet uns dies tausendfach Anziehende und Fragwürdige ihres seltsamen Wesens? Viele Naturforscher haben das Ungeheure, das in diesen scheinbar so einfachen und unansehnlichen Dingen liegt, tief empfunden und mit Inbrunst danach getrachtet und gesonnen. Sie haben ein Wort dafür geprägt: direkte Anpassung sei es, was uns den Alpenflor so staunenswert mache. Sie sind der Geschichte der Bergnatur nachgegangen, sie haben sich darein vertieft, daß die Alpenpflanzen dem kümmerlichen Flor der Polarländer so ähnlich seien. Eine Zeitlang waren sie in dem Irrtum befangen, daß es die Pflanzen Spitzbergens und Grönlands seien, die auf den Hochgipfeln eine neue Heimat gefunden hätten; aber schon Christ war von diesem Irrglauben zurückgekommen. Seine peinlich genauen, überaus sorgfältigen Vergleiche lehrten ihn, daß von den 693 Pflanzenarten, die zu seiner Zeit vom Wiener Schneeberg bis zum Mont Ventour in Frankreich aus den Alpen bekannt waren, sich 422 im Norden überhaupt nicht finden. Und auch von dem Rest fehlt über ein Drittel schon in Skandinavien, um die Pole sind überhaupt nur mehr 92 unserer Alpenpflanzen vorhanden, woraus zu ersehen ist, daß sie nicht von dort stammen. Seinem Blick blieb es nicht verborgen, daß das Pflanzenbild des Nordens ganz andere Farben aufweist als die Alpentrift. Dort fehlt aller Reiz und die Kühnheit, dort herrschen die »blütenlosen« Pflanzen, der Flechtenrasen, die Moose, die Tundravegetation als Kinder eines Klimas, das von dem alpinen grundverschieden ist. Der arktische Sommer ist wärmer, der Winter ist kälter, die Vegetationszeit dauert nicht so lange wie in den Alpen, die außerdem viel wärmeren Boden, unendlich mehr Sonne und anderes Licht haben.
Seit Christ haben sich die Anschauungen noch mehr geklärt, wir wissen nun, daß die Alpenflora eine nicht weniger ereignisreiche und wechselvolle Geschichte hat, als die Menschen, daß in ihr nicht weniger bunt zusammengewürfelt als in den Tiefländern die Menschen, auch oben die Völker aller Zonen Zusammenleben. Eine Dame, die sich der Erforschung dieser Pflanzengeschichte besonders widmet, Frl. Dr. Marie Brockmann-Jerosch, hat eine Zusammenstellung veröffentlicht über die Elemente der Alpenflora, nach der 15,4% aller Alpenpflanzen dort selbst entstanden sind, 7,4% solche Arten sind, die sich auch in den Ebenen finden, 37,6% aus mitteleuropäischen Hochgebirgen von den Pyrenäen bis zum Kaukasus bekannt sind. 30,7% aber sind auch in der Arktis verbreitet, 4,8% in den asiatischen Hochbergen. So malt sich dem Auge des modernen Forschers die alpine Region wie eine ozeanische Insel, die viele Schicksale mitgemacht hat. Sie erzählt von einem ungeheueren Weltverkehr, der oft über sie hinwegflutete. Asiaten sind eingewandert, Nordländer haben mit ihr getauscht, aus den Ebenen haben Flüchtlinge in ihrer Freiheit eine neue Heimat gesucht. Dies war nur möglich, wenn große Klimaschwankungen die Gewächse wiederholt zu Völkerwanderungen zwangen. Die vier Eiszeiten, deren erste Spur gerade ein einfacher Schweizer Gemsjäger vor nahe hundert Jahren entdeckte, waren dabei wohl der mächtigste Anstoß, sie waren wie Drücken, auf denen die Gebirge, Asien und Europa, der Norden und die Alpen ihre »Endemismen« austauschen konnten.
Wir haben dadurch weit hineingeleuchtet in die Nacht der Weltgezeiten, als wir die Geschichte der alpinen Pflanzenwelt wenigstens in ihren Umrissen erkannten. Aber wir haben dadurch das große Unbekannte nur etwas weniger unbekannt gemacht. Denn vor dem Begriff des Endemismus, richtiger gesagt: vor der »direkten Anpassung«, die ihm zugrunde liegt, verstummt das sichere wissen. Letzten Endes war es doch so, daß die Gewächse der Ebene, wenn auch begünstigt durch manchen äußeren Umstand, in die Berge stiegen und dort selbsttätig, aus eigener Fähigkeit, mit inneren Kräften sich so wandelten, daß sie bestehen konnten.
Das ist keine Erklärung der »direkten Anpassung«, sondern nur eine Umschreibung, eine Auseinanderfaltung des Begriffes in viele Worte. Mit Versuchen hat man es sich noch anschaulich machen können, daß eine solche unmittelbare zweckmäßige, oder vielleicht besser gesagt: erhaltungsgemäße Umbildung wirklich vorhanden sei.
Der französische Botaniter Gaston Bonnier und die Österreicher A. v. Kerner und T. v. Weinzierl haben vergleichende Kulturversuche angestellt in her Ebene und auf den Bergen und sie haben durchwegs gesunden, daß die Gewächse sofort in der ersten Generation so handelten, wie es die Sachlage erforderte. Die gleiche Pflanze« Es wurden geteilte Individuen kultiviert. wurde auf der Alpe 10 mal niedriger als auf der Ebene, die Blätter standen dichter und waren kleiner und grüner, die Stengel waren kürzer, sofort stellte sich reichliche Behaarung ein, die Rinde wurde dicker, die Oberhaut derber, die Blüten wurden lebhafter gefärbt, rötlich überlaufen, die wurzeln kräftiger, kurz: der echte Alpenhabitus stellte sich nach Bedarf ein. Weinzierl entdeckte auch in den Anpassungen eine neue Anpassung. Die nach den Voralpen (1400 m) versetzten Ebenenpflanzen lernten nämlich mehr Regen ertragen als die Genossen im Tiefland, sie wurden winterhart und entwickelten sich rascher, und als er ihre Kinder nach 15 Jahren wieder in die alte Heimat zurückbrachte, paßten sie sich aufs neue an und verloren die Alpeneigenschaften!
Der Ring der Beweise war geschlossen, wir können keinen Zweifel mehr daran haben, daß die Alpenpflanze eine innere Fähigkeit besitzt, die sie zweckmäßig zu handeln treibt, um sich zu erhalten. Aber hier ist das Wissen der Zeit zu Ende. Ungeheure neue Forschungs- und Denkmöglichkeiten liegen vor uns und locken mit dem höchsten Glück, das dem Menschengeist beschieden ist: mit neuen Triumphen im ewigen Ringen um den Besitz der letzten Wahrheit …