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Man sprach vom Schlaf und von Träumen, und Johann Marteau sagte, ein gewisser Traum habe auf ihn einen unauslöschlichen Eindruck gemacht.
»War er prophetisch?« fragte Herr Goubin.
»Dieser Traum,« antwortete Marteau »hatte an sich nichts Bemerkenswertes, nicht einmal in seiner Unzusammenhängigkeit, aber die Bilder darin sah ich mit wahrhaft schmerzlicher Deutlichkeit, die ich mit nichts vergleichen könnte. Nichts, gar nichts in der Welt war mir so gegenwärtig, hat mich so ergriffen als die Visionen dieses Traumes. Dadurch ist er erst interessant. Durch ihn lernte ich die Illusion der Mystiker begreifen. Wenn der Geist der Wissenschaft mich im Stich gelassen hätte, würde ich den Traum sicher für eine Apokalypse, für eine Enthüllung angesehen haben und ich hätte darin die Grundsätze für mein Verhalten und die Richtschnur meines Lebens gesucht.
Ich muß noch bemerken, daß ich diesen Traum unter ganz besonderen Umständen hatte. Es war im Frühling 1895. Ich war zwanzig Jahre alt, war gerade nach Paris gekommen und machte eine schwierige Zeit durch. In jener Nacht hatte ich mich in einem Gebüsch in Versailles niedergelegt, nachdem ich vierundzwanzig Stunden nichts gegessen hatte.
Ich litt nicht. Ich war in einem Zustand sanfter Betäubung, der bisweilen durch ein Gefühl von Unruhe unterbrochen war. Es schien mir, daß ich weder wachte noch schlief.
Ein kleines Mädchen, ein winziges Ding, mit blauem Kragen und weißer Schürze ging in der Ebene auf Krücken durch die Dämmerung. Bei jedem Schritt, den sie machte, wurden ihre Krücken höher und hoben sie empor, als ginge sie auf Stelzen. Bald waren sie höher als die Pappeln, die am Rande des Flusses standen. Eine Frau, die mein Erstaunen bemerkte, sagte:
»Wissen Sie nicht, daß die Krücken im Frühling wachsen? Aber zu gewissen Augenblicken ist ihr Wachstum außerordentlich beschleunigt.«
Ein junger Mensch, dessen Gesicht ich nicht sehen konnte, fügte hinzu:
»Es ist die Entwicklungsperiode.«
Da begannen, mit leisem mysteriösem Klang, der mich erschreckte, die Gräser um mich her zu wachsen. Ich erhob mich und kam auf eine Wiese, die ganz bedeckt war von bleichen, verschrumpelten, sterbenden Blumen. Hier traf ich Vernaux, den einzigen Freund, den ich in Paris habe, wo er ebenso elendig lebt wie ich. Wir gingen lange schweigend Seite an Seite. Am Himmel standen riesige glanzlose Sterne wie blaß goldene Scheiben.
Ich wußte, was davon die Ursache war und erklärte es meinem Freunde:
»Es ist ein optisches Phänomen,« sagte ich, »unser Auge ist nicht richtig eingestellt.«
Und mit peinlicher Sorgfalt und großer Mühe hielt ich ihm einen Vortrag über die völlige Identität des menschlichen Auges mit der astronomischen Brille. Während meiner Auseinandersetzung fand Vernaux auf der Erde zwischen den fahlen Gräsern einen riesigen runden schwarzen Hut, der an der Seite mit einer goldenen Schnur und einer Diamantagraffe verziert war.
»Das ist der Hut des Lord Mayor,« sagte Vernaux.
»Ja, offenbar,« erwiderte ich.
Und dann nahm ich meine Auseinandersetzungen wieder auf. Sie waren so schwer faßlich, daß mir der Schweiß von der Stirn rann. Jeden Augenblick verlor ich den Faden, und unaufhörlich fing ich wieder mit dem Satz an:
»Die großen Saurier, die in den heißen Wassern der primitiven Meere schwammen, hatten Augen, die wie eine Brille konstruiert waren.«
Ich hielt erst inne, als ich bemerkte, daß Vernaux verschwunden war. Gleich darauf fand ich ihn in einer Senkung des Terrains wieder. Er stak am Spieß über einem Reisighaufen. Indianer, deren Haare oben auf dem Kopf zu einem Büschel zusammengenommen waren, begossen ihn mit einem langen riesigen Löffel und drehten den Spieß. Vernaux sagte:
»Melanie ist gekommen?«
Erst jetzt bemerkte ich, daß er einen Hals und Kopf wie ein Huhn hatte. Aber ich dachte nur noch daran Melanie zu finden, von der ich durch eine plötzliche Eingebung wußte, daß sie die bezauberndste aller Frauen sei.
Ich lief und lief, und als ich den Saum eines Waldes erreichte, sah ich beim Strahl des Mondes eine flüchtende Gestalt. Die Haare, von einem wunderbaren Rot, fielen über ihren Nacken. Ein silbernes Licht liebkoste die Schultern, und blaue Schatten zeichneten die mittlere Linie des leuchtenden Rückens. Die Grübchen, oberhalb der sanften Rundungen, die sich bei jedem Schritt hoben und senkten, strahlten in göttlichem Lächeln. Ich sah deutlich, wie die bläulichen Schatten an den zierlichen Gelenken wuchsen und abnahmen, je nachdem das Bein sich beim Schreiten streckte oder bog. Ich bemerkte auch die rosige Sohle des Fußes. Lange verfolgte ich die Gestalt ohne jede Ermüdung mit dem leicht beschwingten Gange eines Vogels.
Aber plötzlich verschwand sie in einem dichten Nebel. Die beständige Flucht hatte mich schließlich in einen Weg geführt, der so eng war, daß er von einem kleinen eisernen Ofen völlig verstellt war. Es war einer jener kleinen Öfen mit langen winkligen Rohren wie man sie in den Ateliers gebraucht.
Er war weißglühend; obendrauf saß eine kurzhaarige Katze und sah mich an. Als ich nähertrat, sah ich durch die Risse ihres gerösteten Felles, daß das Innere ihres Körpers von glühender Eisenmasse angefüllt war. Sie miaute, und ich begriff, daß sie Wasser haben wollte. Um das zu finden, stieg ich an dem Abhang eines kühlen Wäldchens aus Birken und Eschen hernieder. Tief unter mir in einer Schlucht floß ein Bach, aber Steinblöcke und dichtes Gebüsch von Zwergeichen verwehrten mir den Zugang. Während ich mich auf einem der bemoosten Steine niederließ, löste sich mein linker Arm von der Schulter ganz schmerzlos und ohne jede Wunde. Ich hob ihn mit der rechten Hand auf, er war kalt und unempfindlich. Die Berührung war mir unangenehm. Ich überlegte, daß ich ihn leicht verlieren könnte und daß ich nun mein ganzes Leben hindurch in eine peinliche Gebundenheit geraten war, dadurch, daß ich auf ihn acht geben mußte. Ich nahm mir vor, eine Schachtel aus Ebenholz machen zu lassen, um ihn darin aufzubewahren, wenn ich ihn nicht benötigte.
Da mich fror in der feuchten Schlucht, kletterte ich auf einem verwilderten Pfade wieder den Abhang hinan und gelangte auf eine Ebene, wo ein so heftiger Wind herrschte, daß die Bäume knirschend sich zur Erde neigten. Auf einem gelben Sandweg kam eine Prozession vorüber, ländlich und schlicht. Der Priester, die Ordensbrüder, die Gläubigen hatten nichts Besonderes an sich, nur hatten sie alle keine Füße, sondern bewegten sich auf kleinen Rädern. Unter dem Baldachin erkannte ich den Abbé Lataigne, der Dorfpriester geworden war und darüber blutige Tränen weinte. Ich wollte ihm zurufen: »Ich bin bevollmächtigter Minister«. Aber die Stimme blieb mir im Halse stecken, und ein riesiger Schatten fiel über mich. Als ich den Kopf hob, sah ich, daß es eine der Krücken des kleinen Mädchens war, die nun wohl tausend Meter hoch in den Himmel ragten, und das kleine Mädchen erblickte ich als winziges Pünktchen vor dem Mond.
Die Sterne waren noch größer und bleicher geworden, und ich konnte unter ihnen die Planeten unterscheiden, deren sphärische Form dem Auge klar erkennbar war.
Ich vermeinte sogar einige Flecke auf der Oberfläche wahrnehmen zu können. Aber diese Flecke glichen nicht denen auf dem Mars, Jupiter und Saturn, die ich früher in astronomischen Werken gesehen hatte.
Jetzt kam mein Freund Vernaux auf mich zu. Ich fragte, ob er nicht die Kanäle auf dem Mars sähe.
»Das Ministerium ist gestürzt«, erwiderte er mir.
Ich konnte keine Spur von dem Spieß, der ihn durchbohrt hatte, entdecken, aber er hatte immer noch einen Hals und Kopf wie ein Huhn, und er tropfte von Sauce. Ich fühlte das dringende Bedürfnis, ihm meine optischen Theorien auseinanderzusetzen und meine Erklärungen da wieder aufzunehmen, wo ich stehen geblieben war.
»Die großen Saurier,« sagte ich, »die ehemals in den heißen Wassern der primitiven Meere schwammen, hatten Augen, die wie Brillengläser konstruiert waren.«
Anstatt mir zuzuhören, stellte Vernaux sich auf ein Pult, das in der Landschaft stand, öffnete ein Gesangbuch und fing an laut zu krähen, wie ein Hahn.
Ich wandte ihm ungeduldig den Rücken und sprang auf eine elektrische Bahn, die gerade vorüberfuhr. Im Innern fand ich einen geräumigen Speisesaal, ähnlich wie in den großen Hotels und den Übersee-Dampfern. Die Tafel war mit Kristall und Silber bedeckt. Frauen in dekolletierter Toilette und Herren im Frack saßen in unabsehbaren Reihen daran. Kandelaber und Kronleuchter glänzten in endloser Perspektive in strahlendem Licht. Einer der servierenden Diener bot mir ein Fleischgericht an, aber es stank, und mir wurde übel, als ich ein Stück davon zum Munde führen wollte. Ich hatte übrigens keinen Hunger. Die Gäste standen vom Tisch auf, noch ehe ich einen Bissen gegessen hatte. Während die Diener die Leuchter forttrugen, kam Vernaux auf mich zu und sagte:
»Hast du nicht die dekolletierte Dame an deiner Seite bemerkt? Es war Melanie. Sieh doch!«
Dabei zeigte er durch den Vorhang der Tür, und nun sah ich draußen in der Nacht unter den Bäumen blendend weiße Schultern. Ich sprang auf, um der bezaubernden Gestalt zu folgen. Diesmal konnte ich in ihre Nähe gelangen.
Ich spürte ihren Duft und fühlte, wie ihre Gestalt unter meiner Berührung erzitterte. Aber sie entschwand mir bei der Umarmung, und Wurzeln waren es, die ich gefaßt hielt.
So endigte mein Traum.«
»Ja wahrlich, es ist traurig,« sagte Herr Bergeret, in dem er der schlichten Stratonice die Redeweise entlieh:
»Die Vision des eigenen Ichs erfüllt uns mit Grauen!«