Anatole France
Der fliegende Händler und mehrere andere nützliche Erzählungen
Anatole France

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Putois

I.

»Der Garten unserer Kindheit,« sagte Herr Bergert, »den man mit wenigen Schritten durcheilen konnte, war doch für uns eine unermeßliche Welt voll Lust und Schrecken.«

»Lucien, erinnerst du dich noch an Putois«, fragte Zoë und neigte mit dem ihr eigenen Lächeln, wobei sie die Lippen fest zu schließen pflegte, ihr Gesicht über ihre Nadelarbeit.

»Natürlich erinnere ich mich an Putois! . . . Von allen Gestalten, die mir in meiner Kindheit vor die Augen gekommen sind, ist Putois mir am lebhaftesten im Gedächtnis geblieben. Ich besinne mich noch auf alle Züge seines Gesichts und seines Charakters. Er hatte einen spitz zulaufenden Schädel . . .«

»Eine niedrige Stirn,« fügte Zoë hinzu.

Die Geschwister sagten nun abwechselnd mit monotoner Stimme und wunderlich ernster Miene alle Einzelheiten einer Art von Signalement her:

»Niedere Stirn.«

»Gläserne Augen.«

»Unstäter Blick.«

»Krähenfüße an der Schläfe.«

»Hervortretende, rote, glänzende Backenknochen.«

»Die Ohren hatten keine Ränder.«

»Die Gesichtszüge waren ohne allen Ausdruck.«

»Die Hände waren in steter Bewegung und verrieten seine Gedanken.«

»Er war mager, etwas gebeugt und anscheinend schwächlich.«

»Sein Daumen war riesig groß.«

»Seine Stimme schleppend.«

»Seine Redeweise süßlich.«

Plötzlich rief Herr Bergeret lebhaft:

»Eins haben wir noch vergessen, Zoë! die gelbliche Haarfarbe und das dünne Haar. Wir wollen es noch einmal wiederholen.«

Mit Erstaunen hatte Pauline dieser seltsamen Aufzählung von Putois' Eigenschaften zugehört und fragte nun ihren Vater und ihre Tante, wie sie dazu kämen, dies Prosastück auswendig zu wissen und wie eine Litanei herzusagen.

Herr Bergeret erwiderte ernst:

»Pauline, was du soeben vernommen hast, ist ein geheiligter, ich darf wohl sagen, liturgischer Text für den Privatgebrauch der Familie Bergeret. Es geziemt sich, daß er dir überliefert werde, damit er nicht dereinst mit deiner Tante und mir untergehe.

»Dein Großvater, mein liebes Kind, dein Großvater Eloi Bergeret, ein Mann, der an nichtigen Dingen keinen Gefallen fand, schätzte dieses Stück hoch, besonders in Anbetracht seines Ursprungs. Er nannte es ›die Anatomie von Putois‹. Auch pflegte er zu sagen, er ziehe in gewisser Weise die Anatomie von Putois der Anatomie von Quaresmeprenant vor. ›Wenn die Beschreibung, die Xenomanes davon machte,‹ sagte er, ›auch wissenschaftlich bedeutender ist und reicher an seltenen und vorzüglichen Ausdrücken, so wird sie doch durch Gedankenklarheit und Flüssigkeit des Stils von der Beschreibung des Putois übertroffen.‹ Er urteilte so, weil der Doktor Ledouble von Tours damals noch nicht seine Erklärung über die Kapitel 30–32 des vierten Buches von Rabelais gegeben hatte.«

»Von alledem verstehe ich kein Wort,« sagte Pauline.

»Das kommt daher, weil du Putois nicht kennst, liebe Tochter. Du mußt wissen, daß Putois für mich und Tante Zoë die bekannteste Figur aus unserer Kinderzeit war. Im Hause deines Großvaters Bergeret wurde unaufhörlich von Putois geredet. Jeder glaubte, ihn gesehen zu haben.«

»Wer war denn eigentlich Putois?« fragte Pauline.

Statt zu antworten begann Herr Bergeret zu lachen, und seine Schwester lachte gleichfalls mit fest geschlossenen Lippen.

Pauline ließ ihre Blicke von einem zum andern wandern. Sie fand es wunderbar, daß ihre Tante so von Herzen lachte, und noch wunderbarer, daß sie so in voller Übereinstimmung und Sympathie mit ihrem Bruder lachte. Es war auch in der Tat auffallend, denn Bruder und Schwester waren selten einer Meinung.

»Papa, sag' mir doch, wer war Putois? Du willst ja, daß ich es wissen soll, so sag es mir doch.«

»Putois, liebe Tochter, war ein Gärtner. Er war ein Sohn achtbarer Kunstgärtnersleute und hatte in St. Omer eine Baumschule eingerichtet. Aber seine Kundschaft war nicht zufrieden mit ihm, er machte schlimme Streiche. Sein Geschäft hatte er aufgegeben und ging auf Tagesarbeit aus, und die Leute, die ihn beschäftigten, hatten nicht immer Ursache ihn zu loben. Bei diesen Worten sagte Fräulein Bergeret noch immer lachend:

»Erinnerst du dich wohl noch, Lucien, wenn unser Vater auf seinem Schreibtisch sein Tintenfaß, seine Federn, seinen Siegellack, seine Schere oder – was es immer sei – vermißte, so pflegte er zu sagen: ›Ich vermute, daß Putois hier gewesen ist‹.«

»Ja,« erwiderte Herr Bergeret, »Putois stand in keinem guten Ruf.«

»Ist das alles?« fragte Pauline.

»Nein, liebe Tochter. Putois hatte die Eigentümlichkeit, daß er uns bekannt und vertraut war, und daß er dennoch gar nicht . . .«

»Garnicht existierte!« rief Zoë.

Herr Bergeret warf seiner Schwester einen vorwurfsvollen Blick zu:

»Welch ein Ausdruck, Zoë! Warum so den Zauber brechen! Putois hätte gar nicht existiert! Wagst du das wirklich zu sagen, Zoë? Kannst du das begründen? Hast du die Existenzbedingungen, die Art und Weise des Daseins ausreichend geprüft, um wirklich behaupten zu wollen, Putois habe nie existiert, sei gar nie dagewesen? Sicherlich existierte Putois, liebe Schwester, aber es ist wahr, er führte ein eigenartiges Dasein.«

»Ich verstehe immer weniger, was ihr sagt,« bemerkte Pauline verzagt.

»Die Wahrheit wird dir sofort einleuchten, liebe Tochter. Erfahre also, daß Putois in reifem Alter geboren ward. Ich war damals noch ein Kind, deine Tante war schon ein junges Mädchen. Wir bewohnten ein kleines Haus in einer Vorstadt von St. Omer. Unsere Eltern führten ein ruhiges, zurückgezogenes Leben, bis sie von einer Eingeborenen von St. Omer, von einer alten Dame mit Namen Frau Cornouiller entdeckt wurden, die in der Nähe der Stadt auf ihrem Landsitze Monplaisir wohnte und ausfindig gemacht hatte, daß sie die Großtante meiner Mutter sei. Sie machte nun von ihrem verwandtschaftlichen Recht Gebrauch und verlangte, daß unsere Eltern jeden Sonntag zum Mittagessen nach Monplaisir kommen sollten, wo sie sich sträflich langweilten. Sie sagte, es sei wohlanständig, am Sonntag in der Familie zu dinieren, nur Leute ohne Stand und Rang hielten nicht auf diese gute Sitte. Mein Vater weinte fast vor Ärger und Langeweile in Monplaisir. Es tat einem weh, seine Verzweiflung mitanzusehen. Aber Frau Cornouiller bemerkte das nicht. Sie sah überhaupt nichts. Meine Mutter schickte sich mit mehr Anstand in die Sache. Sie litt ebenso sehr wie unser Vater, vielleicht noch mehr, aber sie lächelte.«

»Die Frauen sind zum Leiden geboren,« sagte Zoë.

»Zoë, alles was auf der Welt lebt, ist zum Leiden bestimmt. Vergebens lehnten unsere Eltern diese entsetzlichen Einladungen ab. Der Wagen der Frau Cornouiller stand jeden Sonntag mit unerbittlicher Pünktlichkeit vor ihrer Tür, um sie abzuholen. Es half nichts, man mußte nach Monplaisir fahren, das war eine Pflicht, der man sich absolut nicht entziehen konnte. Es war einmal die festgesetzte Ordnung, die nur durch einen Gewaltstreich durchbrochen werden konnte. Endlich empörte sich mein Vater und schwur, daß er niemals wieder der Einladung der Frau Cornouiller Folge leisten werde. Er überließ es meiner Mutter, einen passenden Vorwand und allerlei Gründe für die Ablehnung ausfindig zu machen. Aber gerade dazu war sie am wenigsten imstande. Sie verstand es ganz und gar nicht, sich zu verstellen.«

»Sage lieber, sie wollte es nicht verstehen, Lucien. Sie hätte ebenso gut lügen können, wie alle anderen Menschen.«

»Sicherlich. Aber wenn sie gute Gründe hatte, so ließ sie die lieber gelten, als daß sie schlechte erfunden hätte. Du erinnerst dich vielleicht noch, es passierte ihr eines Tages bei Tische, daß sie sagte, ›zum Glück hat Zoë Keuchhusten, nun brauchen wir lange Zeit nicht nach Monplaisir zu fahren‹.«

»Ja, ganz richtig!« gab Zoë zu.

»Du genasest, Zoë, und Frau Cornouiller kam eines Tages zu unserer Mutter und sagte: ›Meine Liebe, ich rechne darauf, daß Sie am Sonntag mit Ihrem Gatten zum Diner nach Monplaisir kommen‹. Vom Vater aber hatte die Mutter ganz ausdrücklichen Bescheid bekommen, die Einladung unter allen Umstanden abzulehnen, und in dieser Notlage erfand sie einen Grund, der der Wahrheit nicht entsprach.

›Ich bedauere lebhaft, gnädige Frau,‹ sagte unsere Mutter, ›aber es wird uns unmöglich sein, denn Sonntag erwarte ich den Gärtner.‹

»Frau Cornouiller sah durch die Glastür des Wohnzimmers auf den kleinen verwilderten Garten, wo Spillbaum und Flieder ganz danach aussahen, als ob sie das Messer des Gärtners nie gekannt hatten und auch nie kennenlernen würden.

›Sie erwarten den Gärtner! wozu denn?‹

›Er soll im Garten arbeiten.‹

»Unwillkürlich hatte meine Mutter bei ihren Worten ihre Augen auf das kleine Viereck voll Unkraut und halbverwilderter Pflanzen gerichtet, das sie soeben als Garten bezeichnet hatte, und sah mit Schrecken die Unwahrscheinlichkeit ihrer Erfindung ein.

›Der Mensch‹, sagte Frau Cornouiller, ›könnte wohl am Montag oder Dienstag kommen, um Ihren . . . Garten zu pflegen. Das wäre auch viel besser. Am Sonntag soll man nicht arbeiten.‹

›Er ist aber in der Woche beschäftigt.‹

»Ich habe oft bemerkt, daß die absurdesten, ungeeignetsten Gründe den wenigsten Widerstand finden. Sie verwirren im Gegenteil den Gegner. Frau Cornouiller bestand denn auch weniger hartnäckig auf ihrer Meinung, als man es bei einer so wenig nachgiebigen Person erwartet hätte. Als sie sich von ihrem Sitz erhob, fragte sie:

›Wie heißt Ihr Gärtner, meine Liebe?‹

›Putois,‹ erwiderte unsere Mutter ohne Zögern.

»So hatte denn Putois seinen Namen. Seitdem existierte er. Beim Fortgehn sagte Frau Cornouiller vor sich hin:

›Putois, Putois, das kommt mir bekannt vor. Ich kenne ihn wohl, aber ich erinnere mich nicht recht. . . . Wo wohnt er denn?‹

›Er geht auf Tagesarbeit aus; wenn man ihn braucht, so läßt man es ihm bei dem einen oder dem anderen sagen.‹

›Das dachte ich mir wohl, ein Herumtreiber, ein Vagabund, ein richtiger Nichtsnutz. Nehmen Sie sich vor ihm in acht, meine Liebe!‹

»Von nun an hatte Putois einen Charakter.«

II.

Inzwischen waren die Herren Goubin und Marteau gekommen. Herr Bergeret machte sie mit dem Gegenstand der Unterhaltung bekannt.

»Wir sprachen gerade von jemand, den meine Mutter eines schönen Tages zum Gärtner in St. Omer machte und ihm einen Namen gab.

»Seit der Zeit begann auch seine Wirksamkeit.«

»Bitte noch einmal, verehrter Meister,« sagte Herr Goubin, und wischte sein Augenglas.

»Gern,« erwiderte Herr Bergeret. »Es gab einen Gärtner in St. Omer. Der Gärtner existierte nicht, aber meine Mutter sagte: ›Ich erwarte den Gärtner‹. Alsbald gab es einen Gärtner, der auch zugleich zu einer handelnden Person wurde.«

»Teurer Meister,« fragte Herr Goubin, »wie konnte er handeln, da er ja gar nicht existierte?«

»Er besaß eben doch eine Art von Existenz,« erwiderte Herr Bergeret.

»Sie wollen sagen, eine imaginäre Existenz,« sagte Herr Goubin verächtlich.

»Ist denn eine imaginäre Existenz nichts?« rief der Meister. »Sind nicht die mythischen Personen von großem Einfluß auf die Menschheit gewesen? Denken Sie doch an die Mythologie, Herr Goubin, und Sie werden erkennen, daß es zwar nicht wirkliche Wesen, sondern imaginäre Wesen waren, die aber den größten Einfluß auf die Seelen gehabt haben. Wesen, die überall und zu allen Zeiten nicht mehr Wirklichkeit besaßen als Putois, haben den Völkern Haß und Liebe, Schrecken und Hoffnung eingeflößt, haben ihnen Verbrechen angeraten, Opfer empfangen, Sitten und Gesetze geschaffen. Denken Sie über die ewig dauernde Mythologie nach, Herr Goubin. Putois ist eine mythische Persönlichkeit und, wie ich zugeben muß, eine von der obskursten und niedrigsten Art. Der plumpe Satyr, der einst am Tische unserer Bauern im Norden saß, wurde für würdig erachtet, in einem Gemälde von Jordans und in einer Fabel von Lafontaine zu figurieren. Der behaarte Sohn des Syorax ist in die erhabene Welt eines Shakespeare hineingelangt. Putois ist weniger glücklich gewesen und wird stets von den Künstlern und Dichtern mißachtet werden. Es fehlt ihm an Größe und Fremdartigkeit, an Stil und Charakter. Er kam unter zu vernünftigen Leuten zur Welt, unter Leuten, die lesen und schreiben konnten und nicht die reizende Einbildungskraft besaßen, die zur Fabelbildung führt. Ich denke, meine Herren, was ich gesagt habe, wird ausreichen, um Ihnen die wahre Natur von Putois begreiflich zu machen.«

»Ich verstehe Sie wohl,« sagte Herr Goubin.

»Putois wurde in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts geboren in St. Omer,« fuhr Herr Bergeret fort. »Besser für ihn wäre es gewesen, wenn er einige Jahrhunderte früher im Ardennerwald zur Welt gekommen wäre. Denn dann wäre er ein böser Geist von außerordentlicher Geschicklichkeit geworden.«

»Eine Tasse Tee gefällig?«, fragte Pauline.

»Putois war also ein böser Geist?« erkundigte sich Herr Marteau.

»Er war böse,« erwiderte Herr Bergeret, »aber er war es nur in gewisser Weise. Es war mit ihm wie mit den Teufeln, von denen man sagt, daß sie böse seien, an denen man aber bei näherem Umgang doch gute Seiten entdeckt. Ich bin geneigt zu glauben, daß man Putois sehr Unrecht getan hat. Frau Cornouiller hatte ein Vorurteil gegen ihn gefaßt und hegte sofort den Verdacht, er sei ein Taugenichts, ein Trunkenbold und Dieb. Dann überlegte sie: wenn meine Mutter ihn beschäftigte, so tat sie das sicher, weil er bescheiden in seinen Ansprüchen war, und sie fragte sich, ob es nicht klüger sei, ihn auch in Arbeit zu nehmen, anstelle ihres Gärtners, der zwar einen besseren Ruf besaß, aber weit anspruchsvoller war. Die Zeit zum Beschneiden der Taxusbäume nahte heran. Sie dachte, wenn Frau Eloi Bergeret, die doch nur arm sei, Putois nicht viel zahle, so würde sie, die reiche Frau Cornouiller, ihm noch weniger geben, weil es einmal so üblich ist, daß die Reichen weniger bezahlen als die Armen. Und sie sah schon im Geiste ihre Taxusbäume gefällig zugestutzt zu dichten Wänden, Kugeln und Pyramiden, ohne daß sie große Ausgaben davon gehabt hätte. Ich werde schon ein Auge auf ihn haben, sagte sie sich, und sehen, daß Putois die Zeit nicht vergeudet und mich nicht bestiehlt. Sie beschloß daher, einen Versuch mit ihm zu machen und sagte zu unserer Mutter: ›Meine Liebe, schicken Sie doch Putois einmal zu mir, er könnte auf Monplaisir arbeiten.‹

»Meine Mutter versprach es, und sie hätte gern ihr Wort gehalten, wenn es möglich gewesen wäre.«

»Frau Cornouiller erwartete Putois in Monplaisir, aber vergebens. Da sie sehr beharrlich in ihren Absichten war und auf ihren Vorsätzen zu bestehen pflegte, beklagte sie sich beim nächsten Wiedersehn bei meiner Mutter, daß sie nichts von Putois gehört habe.

›Haben Sie ihm denn nicht gesagt, daß ich ihn erwarte, meine Liebe,‹ fragte sie meine Mutter.

›Allerdings, aber er ist ein wunderlicher Mensch.‹

›O, ich kenne diese Sorte. Ihren Putois kenne ich durch und durch. Aber es gibt keinen Arbeiter, der so verrückt wäre, daß er sich weigerte, in Monplaisir zu arbeiten. Mein Haus ist zu bekannt, denke ich. Putois wird sich mir schon zur Verfügung stellen, und zwar bereitwillig, meine Beste. Sagen Sie mir nur, wo er wohnt, ich werde selbst zu ihm gehen.‹

»Meine Mutter erwiderte, sie wisse nicht, wo Putois wohne, er habe weder Haus noch Herd.

›Ich habe ihn nicht wiedergesehen, Frau Cornouiller,‹ sagte sie, ›ich glaube, er hält sich verborgen.‹

»Was hätte sie auch wohl sonst sagen können?

»Frau Cornouiller hörte das freilich nicht ohne Mißtrauen an. Sie glaubte, daß meine Mutter ihn ganz mit Beschlag belegt habe und ihn allen Nachforschungen entzöge, weil sie fürchtete, ihn sonst zu verlieren, oder daß er durch andere anspruchsvoller werden könne. Sie hielt sie wirklich für so eigennützig. Viele allgemein anerkannte Urteile, die die Geschichte sanktioniert hat, sind ebenso begründet wie dieses.«

»Das ist freilich wahr,« meinte Pauline.

»Was ist wahr?« fragte Zoë.

»Daß die Urteile der Geschichte oft falsch sind. Ich erinnere mich, Papa, daß du eines Tages sagtest: ›Frau Roland war sehr naiv, an die Unparteilichkeit der Nachwelt zu appellieren. Sie sah nicht ein, daß, wenn unsere Zeitgenossen bösartige Affen sind, ihre Nachkommenschaft auch wiederum bösartige Affen sein müssen.‹«

»Pauline,« fragte Fräulein Bergeret mit Strenge, »was hat die Geschichte von Putois mit dem zu tun, was du uns da erzählst?«

»Sehr viel, liebe Tante.«

»Daß ich nicht wüßte.«

Herr Bergeret, der eine Abschweifung nicht ungern sah, antwortete seiner Tochter:

»Wenn alle Ungerechtigkeiten schließlich schon in dieser Welt wieder gut gemacht würden, so wäre der Gedanke, daß wir in einer anderen Welt entschädigt werden sollen, gar nicht aufgekommen. Wie wollt ihr verlangen, daß die Nachwelt alle Verstorbenen gerecht beurteilt? In dem Dunkel, in das sie sich zurückgezogen haben, kann man sie ja nicht befragen. Von dem Augenblick an, da man gerecht gegen sie sein könnte, vergißt man sie. Aber kann man überhaupt gerecht sein? Was ist denn Gerechtigkeit? Frau Cornouiller sah sich wenigstens endlich genötigt, anzuerkennen, daß meine Mutter sie nicht betrogen hatte und daß Putois nicht aufzufinden sei.

»Sie gab es indessen nicht auf, ihn zu suchen. Sie fragte bei allen Verwandten, Freunden, Nachbarn, beim Gesinde und den Lieferanten herum, ob sie Putois nicht kennten. In der Tat antworteten nur zwei oder drei, sie hätten niemals von ihm reden hören. Die meisten glaubten, ihn schon einmal gesehen zu haben.

›Den Namen habe ich wohl gehört,‹ sagte die Köchin, ›aber auf das dazugehörige Gesicht kann ich mich nicht besinnen.‹

›Putois! Natürlich kenne ich den,‹ sagte der Chausseewärter und kratzte sich hinter den Ohren, ›aber ich wüßte Ihnen jetzt nicht zu sagen, was er ist.‹

»Den genauesten Bescheid gab Herr Blaise, der Steuerkassierer, er erklärte, er habe Putois im Kometenjahre vom 19.-24. Oktober in seinem Hofe Holz spalten lassen.

»Eines Morgens kam Frau Cornouiller ganz außer Atem in das Schreibzimmer meines Vaters gestürzt und rief:

›Soeben habe ich Putois gesehen!‹

›Ach!‹

›Ja, ganz bestimmt, ich habe ihn gesehen.‹

›Glauben Sie wirklich?‹

›Ich bin meiner Sache ganz sicher. Er strich an Herrn Teuchants Mauer entlang. Dann wandte er sich nach der Rue des Abesses. Er ging so schnell, daß ich ihn aus den Augen verlor.‹

›War er es denn wirklich?‹

›Ohne allen Zweifel! Ein Mann in den fünfziger Jahren, mager, gebückt. Er sah aus wie ein Vagabund und trug eine schmutzige Bluse.‹

›Die Beschreibung könnte freilich auf Putois passen,‹ meinte mein Vater.

›Sehen Sie wohl!‹ fuhr Frau Cornouiller fort. ›Übrigens habe ich ihn angerufen. Ich rief: Putois! und er drehte sich um.‹

›Dieses Mittel wenden allerdings auch die Sicherheitspolizisten an, um die Identität von Verbrechern, denen sie nachspüren, festzustellen.‹

›Wie ich Ihnen sagte, er war es! . . . Ich wußte wohl, daß ich Ihren Putois finden würde. Der Mensch hat ein böses Gesicht. Sie und Ihre Frau waren sehr unbedacht, ihn bei sich in Arbeit zu nehmen. Ich verstehe mich auf Physiognomien, und wenn ich ihn auch nur von weitem gesehen habe, so könnte ich doch darauf schwören, daß er ein Dieb, ja vielleicht ein Mörder ist. Seine Ohren haben keine Ränder, das ist ein untrügliches Zeichen.‹

›So, Sie haben bemerkt, daß seine Ohren keine Ränder haben?‹

›Mir entgeht nichts, mein lieber Herr Bergeret, lassen Sie Putois nicht wieder zu sich ins Haus kommen, wenn Sie nicht wollen, daß Sie mit Frau und Kindern ermordet werden. Noch eins rate ich Ihnen: Lassen Sie all ihre Schlösser ändern.‹

»Einige Tage darauf geschah es, daß aus Frau Cornouillers Obstgarten drei Melonen gestohlen wurden. Da man den Dieb nicht fand, so hatte sie Putois in Verdacht. Die Gendarmen wurden nach Monplaisir gerufen, und ihre Ermittelungen bestätigten Frau Cornouillers Argwohn. Herumziehende Banden suchten zu jener Zeit die Gärten der Gegend heim. Aber diesmal schien es, als sei der Diebstahl von einer einzigen Person und mit außerordentliche Geschicklichkeit verübt worden. Keine Spur von dem Einbruch war zu bemerken, noch irgendwelche Fußabdrücke auf dem feuchten Erdreich. Nur Putois konnte der Dieb sein. Das war die Meinung des Wachtmeisters, der lange Geschichten über Putois kannte und alle Anstrengungen machte, um des lockeren Vogels habhaft zu werden. Die Zeitung von St. Omer widmete den drei Melonen von Frau Cornouiller einen Artikel und veröffentlichte nach ihr zugegangenen Mitteilungen eine Personalbeschreibung von Putois.

»Er hat eine niedrige Stirn, so hieß es in der Zeitung, glasige Augen, einen unsteten Blick, Gänsefüße an der Schläfe, hervortretende rote, glänzende Backenknochen. Die Ohren haben keinen Rand. Er ist mager, gebückt, anscheinend schwächlich, aber in Wirklichkeit von ungewöhnlicher Stärke und kann mit Leichtigkeit ein Fünffrankenstück mit Daumen und Zeigefinger zusammenbiegen.

»Man habe allen Grund, behauptete die Zeitung, ihm eine ganze Reihe von Diebstählen zuzuschreiben, die mit überraschendem Geschick ausgeführt seien.

»Die ganze Stadt beschäftigte sich mit Putois. Man erfuhr eines Tages, daß er verhaftet und ins Gefängnisregister eingetragen sei. Aber man erkannte bald darauf, daß der Mann, den man für ihn gehalten hatte, ein Almanachverkäufer war und Rigobert hieß. Da man keine Anklage gegen ihn erheben konnte, so wurde er nach vierzehnmonatlicher Untersuchungshaft entlassen. Putois aber war nicht aufzufinden.

»Frau Cornouiller ward das Opfer eines weiteren Diebstahls, der noch frecher ausgeführt war, als der erste . . . Man stahl aus ihrem Büfett drei kleine, silberne Löffel.

»Sie glaubte, daß Putois seine Hand dabei im Spiel gehabt habe, ließ an ihrer Tür eine Kette anbringen und konnte nicht mehr schlafen.«

III.

Gegen zehn Uhr abends, nachdem Pauline auf ihr Zimmer gegangen war, sagte Fräulein Bergeret zu ihrem Bruder:

»Vergiß nicht den Vorfall, Lucien, daß Putois die Köchin der Frau Cornouiller verführte.«

»Ich habe schon daran gedacht, liebe Schwester, das ist ja das beste von der ganzen Geschichte. Aber alles der Reihe nach. Putois wurde eifrig von der Justiz gesucht, sie konnte ihn aber nicht ausfindig machen. Als man erfuhr, daß er nicht zu entdecken sei, setzte jedermann seine Ehre darein, ihn aufzufinden. Den Männern gelang es auch. Und da es viele Männer in St. Omer und in der Umgegend gab, so wurde Putois gleichzeitig auf der Straße, auf den Feldern und im Walde gesehen. Es wurde ihm daher eine weitere Eigentümlichkeit beigelegt. Man verlieh ihm die Gabe, überall zu sein, die so viele populäre Helden besitzen. Ein Wesen, das imstande sein soll, in einem Augenblick weite Entfernungen zu durchmessen und das plötzlich da auftaucht, wo man es am wenigsten vermutete, jagt gerechten Schrecken ein. Putois wurde der Schrecken von St. Omer. Frau Cornouiller war überzeugt, daß Putois die drei Melonen und die drei kleinen, silbernen Löffel gestohlen habe. Sie lebte in steter Angst vor ihm und verbarrikadierte sich in Monplaisir. Aber Riegel, Schlösser, Gitter und Ketten vermochten sie nicht zu beruhigen. Putois war für sie ein Wesen von Entsetzen erregender Subtilität, das durch Türen hindurchdringen konnte. Dazu kam ein häusliches Ereignis, das ihre Angst noch verdoppelte. Ihre Köchin war verführt worden, der Augenblick kam, da sie ihren Fehltritt nicht mehr verbergen konnte, aber sie weigerte sich hartnäckig, ihren Verführer zu nennen.«

»Sie hieß Gudule,« sagte Fräulein Bergeret.

»Ja, Gudule hieß sie, und man glaubte, sie sei gegen die Gefahren der Liebe durch einen langen gabelförmigen Bart, den sie am Kinn trug, geschützt. Ein plötzlich entstandener Bart beschützte weiland die Jungfräulichkeit jener heiligen Königstochter, die in Prag verehrt wird. Gudules Bart, der sich keineswegs mehr im Anfangsstadium befand, hatte aber doch nicht ausgereicht, ihre Tugend zu verteidigen. Frau Cornouiller drang in Gudule, daß sie ihr den Menschen nenne, der sie mißbraucht und dann in der Not verlassen hatte. Gudule brach in Tränen aus, aber sie schwieg. Bitten und Drohungen blieben erfolglos. Frau Cornouiller stellte eine lange, eingehende Untersuchung an. Sie fragte in geschickter Weise ihre Nachbarn aus, die umwohnenden Weiber, die Lieferanten, den Gärtner, den Chausseewärter, die Gendarmen, doch nichts brachte sie auf die Spur des Schuldigen. Aufs neue versuchte sie, von Gudule ein Geständnis zu erlangen. ›Sagen Sie mir doch in Ihrem eigenen Interesse, Gudule, wer es ist?‹ Gudule blieb stumm. Plötzlich wie ein Lichtstrahl kam Frau Cornouiller der Gedanke: ›Putois ist es gewesen!‹ Die Köchin heulte und antwortete nicht. ›Es ist Putois! das hätte ich mir gleich denken können! Natürlich er ist es und kein anderer! O, du Unglückselige!‹«

»Frau Cornouiller blieb steif und fest bei ihrer Überzeugung, daß das Kind ihrer Köchin von Putois stamme. Jedermann in St. Omer, vom Gerichtspräsidenten bis herab zum Laternenanzünder, kannte Gudule und ihren Korb. Bei der Neuigkeit, daß Putois Gudule verführt habe, war die ganze Stadt voller Überraschung, Verwunderung und Heiterkeit. Putois wurde wie ein Held gefeiert. Auf sehr leichte Indizien hin schrieb man ihm die Vaterschaft von fünf oder sechs anderen Kindern zu, die in jenem Jahr zur Welt kamen und die besser getan hätten, fern zu bleiben, in Anbetracht des Vergnügens, das ihrer dort wartete, und mit Rücksicht auf die Freude, die sie ihren Müttern bereiteten.

›Welch ein Ungeheuer, dieser Putois!‹ riefen die Gevatterinnen.

»So bedrohte dieser unsichtbare Satyr mit nicht wieder gut zu machendem Unheil die weibliche Jugend unserer Stadt, in der man, wie die ältesten Leute sagten, die jungen Mädchen seit Menschengedenken stets in Ruhe gelassen hatte.

»Während er so in der Stadt und Umgegend sein Spiel trieb, war er mit unserem Hause durch tausend feine Bande verknüpft. Man hatte ihn vor unserer Tür gesehen und glaubte, daß er zuweilen über die Gartenmauer kletterte. Niemand hat ihm je ins Gesicht gesehen, aber jeden Augenblick erkannten wir seinen Schatten, seine Stimme und die Spuren seiner Schritte. Mehr als einmal glaubten wir in der Dämmerung bei einer Krümmung eines Weges seinen Rücken zu erblicken. Mir und meiner Schwester gegenüber änderte er seinen Charakter ein wenig. Schlecht und bösartig blieb er, aber er wurde knabenhaft und naiv. Er gab sich weniger realistisch, ich kann wohl sagen, mehr poetisch. Er trat in den Kreis unserer treuherzigen, kindlichen Traditionen. Er wurde zum Schreckgespenst, zum Buhmann und zum Sandmann, der abends den Kindern die Augen schließt. Er machte den Puppen meiner Schwester Schnurrbärte mit Tinte, und von unseren Betten aus hörten wir ihn vorm Einschlafen: er heulte auf den Dächern mit den Katzen, bellte mit den Hunden, stöhnte in den Rauchfängen und ahmte auf der Straße den trunkenen Gesang später Zecher nach.

»Was uns Putois stets gegenwärtig und vertraut machte, war, daß die Erinnerung an ihn sich mit allen Dingen verknüpfte, die uns umgaben. Zoës Puppen, meine Schulhefte, in denen er so oft die Seiten zerknitterte und beschmutzte, die Gartenmauer, über die er im Dunkeln mit seinen roten Augen spähte, der blaue Fayencetopf, den er im Winter zerbrach, wenn es nicht etwa der Frost getan hatte, die Bäume, Straßen, Bänke, alles erinnerte an Putois, unseren Putois, den Putois der Kinder, ein ortsangehöriges, mythisches Wesen. An Grazie und Poesie durfte er sich nicht mit dem dicken Faun von Thessalien oder Sizilien messen, aber er war doch ein Halbgott.

»Für unsern Vater hatte er einen ganz besonderen Charakter. Er war ihm ein Rätsel und Gegenstand philosophischer Betrachtungen. Unser Vater hatte viel Mitleid mit den Menschen. Er hielt sie für nicht allzu vernünftig; ihre Irrtümer, wenn sie nicht auf Grausamkeit hinausliefen, amüsierten ihn und brachten ihn zum Lachen. Der Glaube an Putois interessierte ihn wie ein Auszug aus dem Lehrbuch über den menschlichen Glauben. Da er eine Neigung zur Ironie hatte und sich gern ein bißchen lustig machte, so sprach er von Putois wie von einem wirklichen Wesen. Er legte bisweilen so viel Gewicht darauf und hob einzelne Umstände so scharf hervor, daß meine Mutter ganz überrascht darüber war und in ihrer Aufrichtigkeit wohl zu ihm sagte: ›Fast sollte man glauben, daß du im Ernst sprächest, mein Lieber, aber du weißt doch . . .‹

»Dann antwortete er gelassen:

›Ganz St. Omer glaubt an Putois. Wie wäre ich ein guter Bürger, wenn ich ihn verleugnen wollte! Man muß es sich zweimal überlegen, ehe man einen allgemeinen Glaubenssatz verwirft.‹

»Nur ein ganz ehrlicher Sinn kann solche Skrupeln hegen. Mein Vater pflegte stets seine eigene Meinung in Einklang mit der allgemeinen Meinung zu bringen, er glaubte daher wie die Bewohner von St. Omer an die Existenz von Putois, aber er gab nicht zu, daß er direkt an dem Melonendiebstahl oder an der Verführung von Köchinnen beteiligt sei. Er bekannte sich zu dem Glauben an die Existenz von Putois als ein richtiger Einwohner von St. Omer, aber er brauchte Putois nicht, um die Begebenheiten zu erklären, die sich in der Stadt zutrugen. So war er in dieser Beziehung wie in jeder anderen ein vortrefflicher, verständiger Mann.

»Was unsere Mutter betrifft, so warf sie sich ein wenig Putois' Entstehung vor und nicht ohne Grund. Denn Putois war aus einer Lüge unserer Mutter geboren, wie Caliban aus der Lüge des Dichters. Gewiß war das Unrecht nicht dasselbe und meine Mutter viel unschuldiger als Shakespeare, aber sie war doch erschrocken und verwirrt, als sie sah, daß ihre harmlose Lüge ins Ungeheure angewachsen war und welch lebhafte Wirkung ihre leichtfertige Vorspiegelung hatte, die schier kein Ende nehmen wollte, sich bereits über die ganze Stadt verbreitet hatte und drohte, sich über die ganze Welt zu erstrecken. Eines Tages erbleichte sie vor Schreck und dachte nicht anders, als daß ihre Lüge Fleisch und Blut angenommen habe. An jenem Tage kam das Dienstmädchen, das erst vor kurzem im Hause und in der Gegend war, zu meiner Mutter und sagte, es sei ein Mann da, der sie sprechen möchte.

›Was für ein Mann?‹ fragte sie.

›Ein Mann in einer Bluse, er sieht aus wie ein Arbeiter vom Lande.‹

›Hat er seinen Namen nicht genannt?‹

›Ja, Madame.‹

›Wie heißt er?‹

›Putois.‹

›Er sagte Ihnen, er hieße . . .‹

›Putois, jawohl, Madame.‹

›Ist er noch da?‹

›Ja, Madame, er wartet in der Küche.‹

›Und Sie haben ihn gesehen?‹

›Ja, Madame.‹

›Was will er denn?‹

›Das hat er nicht gesagt. Er will es nur Madame selbst sagen.‹

›Gehen Sie hin und fragen Sie ihn, was er wolle.‹

»Als das Mädchen in die Küche zurückkam, war Putois nicht mehr da. Dieses Zusammentreffen von Putois mit dem fremden Mädchen ist niemals aufgeklärt worden, und es scheint, daß meine Mutter von diesem Tage an zu glauben begann, es sei doch möglich, daß Putois wirklich existiere, und daß sie füglich nicht gelogen habe.«


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