Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Horteur, der Begründer des ›Etoile‹, der politische und literarische Leiter der »Revue Nationale« und des »Nouveau Siècle illustré«, hatte mich in seinem Arbeitskabinett empfangen und sagte mir von der Höhe seines Direktionssitzes aus:
»Mein lieber Marteau, machen Sie mir eine Erzählung für meine Extranummer des »Nouveau Siècle«. Dreihundert Zeilen für den Neujahrstag. Etwas recht Lebendiges, mit einem Hauch von Aristokratie.«
Ich erwiderte Horteur, daß ich nicht der rechte Mann dazu sei, wenigstens nicht in dem Sinne, wie er es meine, aber ich wolle ihm wohl eine Erzählung schreiben.
»Ich möchte gern, daß Sie es ›Eine Geschichte für die Reichen‹ nennen würden.«
»Mir wäre lieber: ›Eine Geschichte für die Armen‹.«
»Sehen Sie, ich meine es so. Es soll eine Erzählung sein, die den Reichen Mitleid für die Armen einflößt.«
»Aber ich will gerade nicht, daß die Reichen Mitleid mit den Armen hegen.«
»Sonderbar!«
»Nein, nicht sonderbar, sondern gerechtfertigt. Ich halte das Mitleid der Reichen für die Armen für beleidigend, es ist aller humanen Brüderlichkeit entgegen. Wenn Sie wollen, daß ich zu den Reichen sprechen soll, so werde ich ihnen sagen: ›Verschont die Armen mit eurem Mitleid! Sie haben mehr als genug davon, was sollen sie damit? Warum Mitleid und nicht Gerechtigkeit? Ihr seid in ihrer Schuld. Das ist nicht Gefühlssache, sondern eine volkswirtschaftliche Frage. Wenn das, was ihr ihnen willig gebt, dazu angetan ist, ihre Armut und euern Reichtum zu verlängern, so ist die Gabe ungerecht, und die Tränen, mit denen ihr sie benetzt, können sie nicht besser machen.‹ ›Zurückerstatten müssen wir‹, sagte der Prokurator zum Richter nach der Predigt des guten Mönches Maillard. Ihr gebt Almosen, um nicht zu geben, was ihnen von Rechts wegen zukommt. Ihr gebt wenig, um viel zu behalten und ihr preist euch glücklich.‹ Auch der Tyrann von Samos warf seinen Ring in das Meer, aber die Nemesis der Götter nahm diese Gabe nicht an. Ein Fischer brachte dem Tyrannen den Ring in dem Leibe eines Fisches zurück. Und Polykrates wurde all seiner Güter beraubt.«
»Sie scherzen.«
»Ich scherze nicht. Ich will den Reichen begreiflich machen, daß ihre Wohltaten nur eine Rabattzahlung sind und ihre Großmut wohlfeil ist, daß ihre Gläubiger nur darüber lachen, und daß sie sich auf diese Weise ihrer Schuld nicht entledigen können. Dieser Wink wird ihnen heilsam sein.«
»Und solche Ideen wollen Sie im ›Nouveau Siècle‹ entwickeln und mir damit das Blatt zugrunde richten! Nichts dergleichen, lieber Freund, nichts dergleichen.«
»Warum sollte der Reiche gegen die Armen anders handeln als den Reichen und Mächtigen gegenüber? Denen zahlt er, was er ihnen schuldet, und wenn er ihnen nichts schuldet, so zahlt er auch nicht. Das ist Rechtschaffenheit. Wenn das aber recht und billig ist, so soll er mit den Armen ebenso verfahren. Sagen Sie mir nicht, daß die Reichen den Armen nichts schuldig seien. Ich glaube nicht, daß ein einziger Reicher so denkt. Aber über die Größe der Schuld sind sie im Zweifel. Und man hat es nicht eilig, sich Gewißheit darüber zu verschaffen, man zieht es vor, sich eine unbestimmte Vorstellung davon zu machen. Man weiß, man schuldet, aber man weiß nicht wieviel, und man zahlt von Zeit zu Zeit eine kleine Abschlagssumme. Das heißt dann Wohltätigkeit und bringt obendrein Vorteil.«
»Was Sie sagen, mein verehrter Kollege, hat keinen Sinn. Ich bin vielleicht ein entschiedenerer Sozialist als Sie, aber ich bin praktisch. Ein Leiden mildern, eine Existenz verlängern, ein Teilchen der sozialen Ungerechtigkeit wieder gut machen, das ist ein Resultat. Das wenige Gute was man tut, ist doch getan. Es ist nicht viel, aber etwas. Wenn die kleine Erzählung, die ich von Ihnen wünsche, auch nur hundert meiner reichen Abonnenten rührt und sie zum Geben veranlaßt, so wird hundertmal Armut und Leiden gelindert. Auf diese Weise gelangen wir allmählich dahin, das Los der Armen erträglicher zu machen.«
»Ist es gut, daß das Los der Armen erträglich werde? Die Armut ist dem Reichtum unentbehrlich, der Reichtum ist der Armut notwendig. Diese beiden Übel entstehen eines aus dem andern und unterhalten sich gegenseitig. Man soll das Los der Armen nicht verbessern, das Los der Armen muß aufhören. Ich werde die Reichen nie dazu verleiten, Almosen zu geben, denn ihr Almosen ist vergiftet. Almosen tun den Gebern gut, nicht den Empfängern. Der Reichtum ist schon an und für sich grausam, er soll sich nicht noch obendrein in das trügerische Gewand der Sanftmut kleiden. Da Sie wünschen, daß ich eine Geschichte für die Reichen schreibe, so werde ich ihnen sagen:
»Eure Armen sind eure Hunde, die ihr nährt, damit sie beißen. Die Unterstützten bilden für die Besitzenden eine Meute, die die Proletarier ankläfft. Die Reichen geben nur denen, die fordern. Die Arbeitsamen fordern nichts und bekommen auch nichts.«
»Aber die Waisen, die Invaliden und Greise? . . .«
»Sie alle haben das Recht zu leben. Ich werde nicht Mitleid für sie erwecken, sondern ihr gutes Recht verlangen.«
»Das alles ist reine Theorie. Kommen wir zur eigentlichen Sache zurück. Sie werden mir eine kleine Geschichte anläßlich der Neujahrsgaben schreiben. Sie können ja gern eine kleine sozialistische Pointe darin anbringen. Der Sozialismus ist jetzt in der Mode. Er gehört mit zur Eleganz. Ich spreche, wohlverstanden, nicht von dem Sozialismus eines Guesde oder eines Jaurès, sondern von dem Sozialismus, den die Leute der großen Welt mit Geschick und Geist dem Kollektivismus entgegensetzen. Bringen Sie mir in Ihrer Erzählung junge Gestalten. Sie soll illustriert werden, und man sieht gern angenehme Bilder. Stellen Sie in den Vordergrund ein junges Mädchen, ein allerliebstes junges Mädchen. Das ist doch nicht schwierig?«
»Könnten Sie in der Erzählung nicht vielleicht auch einen kleinen Schornsteinfeger anführen? Ich habe da gerade eine fertige Illustration, einen Farbstich, der darstellt, wie ein junges Mädchen auf den Stufen der Madeleine einem kleinen Schornsteinfeger ein Almosen reicht. Es wäre eine vortreffliche Gelegenheit, das anzubringen . . . Es schneit . . . ihn friert . . . das niedliche Mädchen übt Barmherzigkeit an dem kleinen Schornsteinfeger . . . Sehen Sie die Szene vor sich?«
»Ja, ich sehe es.«
»Gut, so schmücken Sie dies Thema aus.«
»Das werde ich tun . . . Der kleine Schornsteinfeger wirft sich in begeisterter Dankbarkeit dem niedlichen Fräulein an den Hals. Die junge Schöne ist keine andere als die leibhaftige Tochter des Grafen Linotte. Er gibt ihr einen Kuß und stempelt die Wange des reizenden Kindes mit einem kleinen, rußigen O, einem allerliebsten, ganz runden, tiefschwarzen O . . . Er liebt sie, und Edmée (sie heißt Edmée) ist nicht unempfindlich gegen ein so aufrichtiges, treuherziges Gefühl . . . Mir scheint, die Sache ist außerordentlich rührend.«
»Ja, Sie werden etwas daraus machen können.«
»Sie ermutigen mich also fortzufahren . . . Als Edmée in ihre herrliche Wohnung am Boulevard Malesherbes zurückgekehrt ist, fühlt sie zum erstenmal eine heftige Abneigung, sich zu waschen, gar zu gern möchte sie den Abdruck der Lippen, die auf ihrer Wange geruht haben, behalten. Der kleine Schornsteinfeger aber ist ihr bis zur Schwelle des Hauses gefolgt und steht in Verzückung unter den Fenstern des jungen Mädchens . . . Geht es so?«
»Ja, ausgezeichnet!«
»Ich fahre fort . . . Am andern Morgen sieht Edmée von ihrem weißen Bettchen aus, wie der Schornsteinfeger aus dem Kamin herausschlüpft. Er wirft sich unbefangen auf das entzückende Mädchen und bedeckt es über und über mit kleinen, rußigen O's. Ich vergaß noch zu sagen, daß er außerordentlich schön ist. Die Gräfin Linotte überrascht ihn bei seiner süßen Arbeit. Sie ruft und schreit um Hilfe. Aber er ist so vertieft, daß er nichts hört noch sieht.«
»Mein lieber Marteau! . . .«
»Er ist so vertieft, daß er nichts hört noch sieht. Der Graf eilt herbei. Er ist ein echter Edelmann, so ergreift er denn den kleinen Schornsteinfeger beim Hosenboden, der sich gerade seinen Augen darbietet und wirft ihn zum Fenster hinaus.«
»Mein lieber Marteau! . . .«
»Ich fasse mich kurz . . . Neun Monate später heiratete der kleine Schornsteinfeger die adlige junge Dame. Und es war hohe Zeit . . . Das sind die Folgen einer wohlangebrachten Mildtätigkeit!«
»Mein lieber Marteau, jetzt haben Sie sich aber genug über mich lustig gemacht.«
»Glauben Sie das nicht. Ich komme zum Schluß . . . Nachdem der kleine Schornsteinfeger Fräulein von Linotte geheiratet hatte, wurde er päpstlicher Graf und ruinierte sich bei den Rennen. Heute ist er Rauchfangsachverständiger in Montparnasse in der Rue de la Gaité. Seine Frau hat einen Laden und verkauft Salamander zu 18 Francs, die in acht Monaten zahlbar sind.«
»Mein lieber Marteau, das ist durchaus nicht lustig.«
»Gemach, mein lieber Horteur! Was ich Ihnen soeben erzählte, ist im Grunde ›der Fall eines Engels‹ von Lamartine oder ›L'Eloa‹ von Alfred de Vigny. Alles in allem hat das mehr Wert als Ihre kleinen larmoyanten Geschichten, die den Leuten vorspiegeln, sie seien gut, und doch sind sie es nicht, sie erwiesen Wohltaten, und doch tun sie das nicht. Sie machen es sich leicht, barmherzig zu sein, und doch ist es das schwerste Ding von der Welt. Meine Geschichte ist moralisch. Außerdem ist sie optimistisch gehalten und endet gut. Denn Edmée fand in dem Laden in der Rue de la Gaité das Glück, nach dem sie vergeblich gesucht hätte inmitten der Zerstreuungen und Feste, wenn sie einen Offizier oder einen Diplomaten geheiratet hätte . . . Nun, mein lieber Direktor, ist die Sache abgemacht, nehmen Sie ›Edmée‹ oder ›Wohlangebrachte Mildtätigkeit‹ für den ›Nouveau Siècle illustré‹?«
»Sie sehen aus, als fragten Sie mich das im Ernst?« . . .
»Ich frage Sie allerdings in allem Ernst. Wenn Sie meine Geschichte nicht wollen, so werde ich sie eben anderswo veröffentlichen.«
»Wo?«
»In einem Familienblatt.«
»Da kamen Sie schön an.«