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Die Themse hinauf, von London bis Richmond, lehnt sich Dorf an Dorf: Chiswick und Hammersmith, Fulham und Putney, Barnes und Mortlake; begleite mich der Leser in das letztere.
Mortlake ist eine jener hundert grünen Oasen, die nach allen Seiten hin die große London-Wüste umzirkeln. Dorthin eilt der City-Kaufmann, um nach der Hitze des Tages und Erwerbs in frischer Luft sich satt zu trinken; dort, fern dem lauten Strom der Menschen, freut sich sein Auge am stillen Themsestrom; und hinter sich den Weltverkehr und das Spiel der Spekulation, wirft er sich hier in den Rasen seines Parks mit seinen Kindern zu spielen. Nichts Reizenderes als solch ein Themsedorf. Versteckt hinter Buchen und Ulmen ziehen sich die Häuser am Strom entlang, und nur hier und da lacht ihr Bunt aus dem Grün des Laubes hervor, wie Mädchengesichter hinter Blumenstöcken. Die City ist ein Einerlei, aber hier lebt Mannigfaltigkeit und ihr Reiz. Prachtvoll erhebt sich die Villa des reichen Handelsherrn: Statuen schmücken die Treppe, Brunnen beplätschern das Grün, Stille liegt über dem geharkten Kiesgang, und gedämpft nur, aus der halb offenen Tür, klingen die Töne eines Flügels herüber. Daneben wohnt Einfachheit: Efeu und Rosen klettern am Spalier zu allen Fenstern hinein. Kein Springbrunnen bewässert den Rasen; statt des Wasserstrahles aber (die Familie trinkt ihren Tee im Freien) steigt der Dampf des singenden Kessels in die Höh', und der Himmel freut sich des Menschenglücks und lacht herab mit allen seinen Sternen.
Aber da sind noch andere Häuser in Mortlake. Dicht am Strom steht ein Wirtshaus, dort wohnt Richard Coombes, der erste Rudrer seiner Zeit. Sein Haus ist eine Taverne wie hundert andere: Goldbuchstaben versprechen das beste Bier; höflich hält der holzgeschnitzte Matrose über der Tür seinen gelben Hut in der Hand, und aus der Geißblattlaube, dem besten Trinkplatz des Hauses, schimmert's von braunen Gesichtern und irdenen Pfeifen; nichts Besondres, weder drinnen noch draußen. Aber alljährlich im Mai, wenn die Wettlust Alt-Englands in Blüte steht, wenn man den Hähnen die Sporen anschnallt, wenn jeder in Epsom gewinnen will was er in Chester verlor, und die Königin selbst Schloß Windsor verläßt um den Staub und die wilde Jagd der Ascot-Heide an sich vorbei wirbeln zu sehen, dann kommt auch der Tag Richard Coombes und seiner Taverne, dann ist sein Hans verdeckt von grünen Reisern und bunten Fahnen, dann steht unsrer Rudrer in weißem Hemd und weißem Beinkleid, mit Strohhut und flatterndem Halstuch neben seinem Boot, wie der Reiter neben seinem Roß, und lächelnd den Gruß junger Ladies erwidernd, die erwartungsvoll auf den Polstern ihrer Equipagen stehn, blickt er nicht um sich wie der Bierwirt vom Tage vorher, sondern wie der Sieger des nächsten Augenblicks. Seht da! das war das Zeichen: die Regatta beginnt, und schneller wohl als je die Lagunen solch Wettspiel sahen, schießen jetzt die Mortlake-Gondoliere über die sich kräuselnde Themseflut dahin. Nur einer ist zurück – Richard Coombes: er spielt. Aber jetzt, im Angesicht des Zieles schon, streift er die Ärmel seines Hemds in die Höh', und zwölfmal tief eingreifend mit seinem schlanken Ruderpaar, überfliegt er seine Nebenbuhler und springt ans Ufer – der Sieger über alle. Lords schütteln ihm die Hand, der Mob schreit »Vivat!« andern Tages aber hat Richard Coombes seine Spalte in der »Times« und bis nach Indien und zu den Siegern hin am Irawadi dringt die Nachricht von seinem Regatta-Sieg.
Das lustige Wirtshaus hat einen finstren Nachbar. Die Häuser sind durch einen Zaun getrennt, ihre Bewohner – durch zwei Jahrhunderte. Die kurzen, gedrungenen Flügel dieses Nachbarhauses sehen aus, als hätten sie sich, scheu vor jeder Berührung, in sich selbst zurückgezogen. Die Fenster sind zerschlagen, der Kalk fiel ab, und der Efeu, als könne er wählerisch sein wie der Tod, weigert sich, seine Decke darüber auszubreiten. Hohe Feueressen überragen das Dach, aber keine Rauchsäule wirbelt freundlich daraus hervor; nichts Lebendes hier, als die Schwalbe am Sims. Ein altes Mütterchen hat die Schlüssel; sie führt uns. Das Eisengitter knarrt, und nun die Tür: hinter uns schließt sich das Haus des Todes. Wir durchschreiten die Zimmer und Stockwerke, überall dieselbe Verwüstung: altmodische, halbverfallene Kamine, abgerissene Tapeten, Staub, Spinnweb, schwüle Luft. Hier ist die Banketthalle: Paneele mit rohem Schnitzwerk umkleiden die Wände, und von zwei Seiten fällt mattes Licht in den schmalen, aber die ganze Tiefe des Hauses durchlaufenden Saal. Wer saß hier? sie alle, jene eisernen Stirnen, die dem Strafford das Schafott bauten; jener Oberst, der Hand an seinen König legend und um sein Recht befragt, auf die Gewehrläufe seiner Söldner wies, und jener blasse Fleischerssohn vor allen, dessen Herz fanatisch klopfte bis es die Hand des Henkers ihm aus dem Busen riß. Und hier? dies ist ein Schlafgemach! wer schlief darin? wer betete an diesem Pult, heute zum Schein und morgen aus der Tiefe eines geängsteten Herzens? wer warf in jene Ecke das breite Schwert von Marston-Moor, knirschend, daß es kein Szepter sei – wer? kein Rudrer, aber ein Steuermann! sein Name war vor der »Times« und ihren Spalten; er braucht sie nicht: tief eingegraben in die Tafeln der Geschichte steht – Oliver Cromwell.
Unter allen Plätzen Londons ist keiner mit der Geschichte des Landes inniger verwebt als Smithfield. Hier war es, wo der Fanatismus Maria Tudors in kurzer aber blutiger Regierung 277 Protestanten den Scheiterhaufen besteigen ließ und um vieles früher schon, zu den Zeiten des schwarzen Prinzen und während der Kämpfe der beiden Rosen, turnierte hier die englische Ritterschaft unter den Augen des Hofs.
Seitdem hat Smithfield viel von seinem Glanz verloren. Aus jener Zeit her hat es nur noch das Privilegium mit herübergenommen, der Markt- und Verkaufsplatz für ungetreue, des Ehebruchs überführte Frauen zu sein. Sie wurden hier – noch im vorigen Jahrhundert von ihren beleidigten Männern, mit einem Strick um den Hals, öffentlich feilgeboten, und wenn ich recht berichtet bin, ist das betreffende Gesetz so wenig aufgehoben, daß sich vor wenig Jahren noch eine derartige Szene dem Auge des Smithfield-Publikums darstellen durfte. Der Verkäufer wurde einfach bedeutet, »daß die Innehaltung solcher Gesetze nicht mehr zeitgemäß sei«.Dies erinnert lebhaft an eine Anekdote vom walachischen Kriegsschauplatz. Albanesen, die Russenköpfe mit heim ins Lager brachten, wurden bedeutet, »daß das aus der Mode sei« Relata refero.
Finstre, häßliche, allerhand Winkel und Buchten bildende Häuser schließen jetzt den Platz ein, und zu welcher Zeit auch man ihm nahe kommen mag, immer findet man denselben unerträglich tierischen Geruch vor, der von jenen 20000 Schafen herrührt, die hier allmonatlich zu Markte getrieben, montags und freitags nacht in unzählige, das Auge verwirrende Hürden eingepfercht und dann am nächsten Morgen verkauft werden. Mich brachte der Besuch dieses widerlichen Platzes zwei Tage lang um allen Appetit, und ich fand wieder einmal Gelegenheit, mich in Kraftausdrücken über jenes englische Buchstaben-Recht auszulassen, das unter andern die Bewohner von Smithfield unwandelbar mit dieser Marktplage beglücken zu wollen scheint. Zur Zeit Karl Stuarts wurde ein Gesetz erlassen, das jeden mit harter Strafe belegte, der innerhalb der Stadt Vieh schlachten würde; woran sich ein zweiter Erlaß schloß, demzufolge Smithfield, in der nordöstlichen Vorstadt von London, als Viehmarkt für die City festgesetzt wurde. Smithfield hat seitdem längst aufgehört, innerhalb einer Vorstadt von London zu liegen, aber noch immer beruft sich die City-Verwaltung auf ihr verbrieftes Recht und respektiert weder die Nasen noch die Gesundheit jener Tausende, die diesen Platz und seine Nähe bewohnen.
Unter der wüsten Steinmasse, die die Konturen dieses Platzes zieht, zeichnet sich nur ein einziges Gebäude nicht eben durch Schönheit, aber doch durch das Abweichende seiner Bauart aus. Das ist das Bartholomäus-Hospital, ein berühmtes, reich dotiertes Krankenhaus, das unter andern Sehenswürdigkeiten zweiten Ranges, in seinem Treppenhause auch einige mittelmäßige Bilder von Hogarth dem Besucher zur Schau stellt. Aber das ist es nicht, worauf ich die Aufmerksamkeit des Lesers hingelenkt haben will. Hier lebte Emma Lyon, später Lady Hamilton, als Kindermädchen des Hospitalarztes Dr. Budd, und die Lebensgeschichte dieses Mädchens ist es, die ich hier Gelegenheit nehmen möchte, in Nachstehendem dem Leser zu erzählen.