Theodor Fontane
Quitt
Theodor Fontane

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neunzehntes Kapitel

Als Ruth noch sprach, passierte man einen Brückenbogen und bog jenseits desselben in einen breiten, mit jungen Akazien besetzten Weg ein, zu dessen einer Seite ein von den Bergen kommender Bach schäumte, während sich an der anderen Seite die Gehöfte der Mennonitenkolonie hinzogen. Man war in Nogat-Ehre. Soviel Lehnert im Passieren der langen Dorfstraße wahrnehmen konnte, schienen die Gehöfte von ziemlich gleichem Aussehen und bestanden aus einem einstöckigen Fachwerkwohnhaus, das mit breiter Front auf die Straße blickte, während die großen Stallgebäude quer standen und mit ihren Giebeln (statt mit der Front) auf die Straße sahen. Einige hatten vor ihrer Tür eine mit Geißblatt und Pfeifenkraut umsponnene Gitterlaube, von der aus vier oder fünf Steinstufen zunächst auf den Akazienweg und dann bis zum Bach hinabführten, allen Häusern gemeinsam aber war ein von einem Staketenzaun eingefaßter Vorgarten, in dem, zwischen Taxus- und Buchsbaumrabatten, einige wenige Georginen, meist aber Malven und Sonnenblumen standen, ganz als ob es Gärten aus der Nogat- und Weichselniederung waren.

Lehnert ging das Herz auf beim Anblick dieser einfachen Anlagen, die den aus Deutschland mitgebrachten Gartentypus mit soviel Vorliebe weiterpflegten, und wandte sich eben, um eine große Glaskugel und ein bemaltes Bienenhaus noch einmal flüchtig zu mustern, als er, als letztes in der Reihe, eines größeren Gehöftes ansichtig wurde. Täuschte nicht alles, so war dies das Gehöft, auf das Ruth, als sie noch durch die Felder fuhren, hingewiesen hatte. Ja, das mußt es sein; da waren ja auch die hohen Pappeln, und wirklich, einen Augenblick später lenkte das Ponygefährt auf den etwas ansteigenden und fast eine Rampe bildenden Kiesweg hinauf und hielt nun vor dem Schwellstein eines ziemlich nüchtern wirkenden, weitschichtigen Hauses, das, zum Unterschiede von den anderen bis dahin passierten, ohne Staketenzaun und ohne Vorgarten war und durch seine Stille, seine hohen Fenster und nicht zum wenigsten durch ein paar gotische Holzverzierungen an ein halb kirchliches Gebäude gemahnte.

»Hier sind wir«, sagte Toby, nahm seiner Schwester die Zügel aus der Hand und wartete, bis ein Knecht (auch hier ein junger Cherokee) vom Hof her erschien, dem er das Gespann übergeben konnte. Dann traten alle drei, von der Rampe her, in ein bis hoch hinauf mit Holz bekleidetes Treppenhaus, das durch die ganze Tiefe des Hauses lief. Ruth, als man bis an die gradlinig aufsteigende Treppe gekommen war, gab Lehnert zum Abschiede die Hand, wandte sich aber auf der dritten Stufe noch einmal und sagte: »Die Hauptsache nicht zu vergessen, Gott segne deinen Aus- und Eingang.« Und nun erst eilte sie rasch ihrer im Oberstock gelegenen Wohnung zu. Toby mußte lächeln, als er sah, wie Lehnert der Erscheinung nachblickte. Dann nahm er seinerseits Lehnerts Arm und sagte: »Nun komm, daß ich dich zu dem Vater führe!«

Das einen großen Flur bildende Treppenhaus hatte zu beiden Seiten Bänke, sonst war es ein leerer Raum, der, mit Ausnahme des Frontportals, nichts als drei Türen zeigte, von denen eine kleinere nach dem Hof hinausging, während zwei hohe Doppeltüren in die neben dem Treppenhause gelegenen Haupträumlichkeiten führten. Beide Doppeltüren standen in diesem Augenblick auf und gestatteten einen Blick nach rechts hin in einen Betsaal oder ein Tabernakel, nach links hin in eine hochgewölbte Halle. Diese Halle – von mächtiger Wirkung, trotzdem sie von kleineren Dimensionen als das Tabernakel war – mußte von jedem, der in Obadjas Wohn- und Arbeitszimmer wollte, passiert werden. Auch hier übrigens, in dieser geräumigen Halle, gab sich, ganz so wie draußen im Flur, alles aufs einfachste; nur ein schwerer Eichentisch, um den einige Stühle standen, zog sich durch den nahezu schmucklosen und nur mit einem Geweihkronleuchter ausstaffierten Fest- und Speiseraum, dem ein großer, an der einen Schmalseite befindlicher Silber- und Geschirrschrank zugleich als Anrichtetisch diente. Des weiteren aber lief, quer durch den Raum hin, eine Matte von Kokosfaser auf eine kleine Tür zu, deren gobelinartige Portiere Toby jetzt zurückschlug. Und nun ließ er Lehnert vorgehen und folgte.

Wenn das Treppenhaus schattig und die Halle beinah dunkel gewesen war, so war hier alles hell, denn ein breiter Lichtstreifen fiel durch ein Giebelfenster von beträchtlicher Höhe; neben diesem Fenster aber, und von seinem Licht noch halb umschienen, saß Obadja bei seiner Korrespondenz, die, sorglich von ihm unterhalten, nach den verschiedensten Teilen der Union, ganz besonders aber nach Kansas und Dakota ging. Als er hörte, daß wer eingetreten war, wandt er sich, indem er einfach den Stuhl drehte, der Tür zu, blieb aber sitzen.

»Lieber Vater«, sagte Toby, »hier bring ich dir Mister Lehnert Menz.«

»Lehnert Menz«, wiederholte ruhig und freundlich der Alte. »Hab ich recht verstanden?«

»Zu Befehl«, sagte Lehnert.

Obadja lächelte, weil er sich, aus lang zurückliegenden Zeiten her, dieser preußisch-militärischen Form der Bejahung erinnerte. »Nun, Mister Lehnert«, fuhr er fort, »Ihr wollt es also mit uns versuchen? Toby hat mir davon erzählt. Und hat mir auch erzählt, daß Ihr ein Zeichen darin sähet, daß sich unsere Wege vor Jahren schon einmal gekreuzt haben. Und darin habt Ihr recht, denn es gibt solche Zeichen, so gewiß es eine Vorbestimmung und eine Gnadenwahl gibt. Und das ist unser aller Hoffnung, ein solch Erwählter zu sein. Aber, Toby, nun sorge vor allem für einen Imbiß, und wenn du Maruschka nicht findest, die wohl schon ihre Vormittagsruhe halten wird – es ist unsere älteste Dienerin und Freundin, und wir müssen ihr etwas zugute halten –, so sag es der Mistress Kaulbars.

Es wird ohnehin Zeit, daß wir ihr das Küchenwesen anvertrauen, auf das sie sich jedenfalls besser versteht, schon weil sie noch jung und noch bei Kräften ist. Aber nun, Mister Lehnert, nehmt einen Stuhl und rückt hier heran und setzt Euch ins Licht, daß ich Euch besser sehen kann. Es geht noch mit allem sonst, des Barmherzigen Gnade sei dafür gepriesen, aber mit dem Sehen will es nicht mehr recht. Und ich sehe doch jedem gern ins Auge. Das Auge sagt noch mehr als die Stimme.«

Lehnert tat, wie ihm geheißen, und erwartete nun, daß ein Fragen und Katechisieren beginnen werde, ja mehr, es lag ihm daran, es war geradezu sein Wunsch. All die Zeit über hatte seine Tat auf seiner Seele gelastet, und er sehnte sich danach, alles herunterzubeichten und in dieser Beichte Trost und Erleichterung finden zu können. Aber von dieser Erwartung erfüllte sich nichts, und wenn ihm auch nicht entging, daß Obadja, wie zufällig, seine Hand nahm und ihn dann von der Seite her ansah, so könnt ihm doch noch weniger entgehen, daß jede direkte Frage nach Leben und Vergangenheit mit Absicht vermieden wurde.

»Ich höre von meinem Sohne Toby«, nahm er nach einer Weile wieder das Wort, »daß Ihr ein Preuße seid, also, meiner Geburt nach, ein Landsmann von mir und jedenfalls ein Landsmann meiner zwei ältesten Söhne, die diesem neuen Lande wieder den Rücken gekehrt haben und lieber drüben sind als hier. Und vielleicht haben sie recht getan. Denn die Freiheit, deren wir uns hier rühmen und freuen, ist ein zweischneidig Schwert, und die Despotie der Massen und das ewige Schwanken in dem, was gilt, erfüllen uns, sosehr ich die Freiheit liebe, mit einer Unruhe, die man da nicht kennt, wo stabile Gewalten zu Hause sind.«

Lehnerts Auge sagte, daß er dem eben Gehörten zustimme, während der Alte selbst in dem ihm eigenen lehrhaften Tone fortfuhr: »Aber das alles sind Fragen, die für mich zu spät kommen. Ich gehöre jetzt diesem Lande, dem ich für so vieles zu Danke verpflichtet bin, von ganzem Herzen an. und ich zahl ihm meinen Dank am besten, indem ich ihm nach meiner Kraft diene. Der aber macht sich am nützlichsten, der arbeitet und vordringt und aufschließt und den Wald und das Heidentum ausrodet und den Glauben an Jesum Christum, unsern Erlöser, an seine Stelle setzt. Ja, Lehnert Menz, der dient ihm am besten, der in der Arbeit steht und Ordnung hält. Und Ordnung und Arbeit, worauf es ankommt, die sind in dem Lande drüben, drin wir beide geboren wurden, recht eigentlich zu Haus, und um dieser Tugenden und vor allem auch um der Nüchternheit willen sind mir die Preußen die liebsten und sind mir die nutzbarsten Mitarbeiter am Werk. Das verdanken sie, von alter Zeit her, ihren Fürsten und Königen, die sich selbst immer mit Stolz die ersten Diener, das will sagen die fleißigsten Arbeiter, ihres Landes genannt haben, und verdanken es ihren Schulen und ihrer guten Zucht und Sitte.«

Hier unterbrach sich Obadja, wie sich Prediger in ihrer Predigt unterbrechen, um nach einiger Zeit einen neuen Anlauf zu nehmen, und Lehnert schwieg, weil er fühlte, daß jetzt ein Übergang kommen müsse. Und der kam denn auch wirklich.

»Ihrer guten Zucht und Sitte«, wiederholte Obadja. »Und diese gute Zucht und Sitte hat auch der gute Mister Kaulbars, der jetzt meiner gesamten Wirtschaft als ein Verwalter und Hausmeier vorsteht. Er ist ein ehrlicher Mann, ohne Lug und Trug, ein treuer Arbeiter und prompt in der Erfüllung seiner Pflichten und hat, was ihn meinem Herzen am nächsten stellt, die rechte Freud und Lust an dem Segen Gottes als solchem, und eine Ernte zugrunde gehen zu sehen, das wurmt ihn und quält ihn, auch wenn jeder Halm versichert ist. Es ist ihm nicht um den Gewinn bloß, es ist ihm um den Segen, den er nicht missen will. Ja, so ist dieser Mister Kaulbars, den ich, solang ich noch in der Arbeit steh und hienieden ein Knecht meines Gottes bin, in Ehren zu halten gedenke. Aber Euer Landsmann ist ein Eigensinn und ein Besserwisser, der sich dem neuen Lande, drin er nun lebt, nicht anbequemen und alles nach der Weise seiner alten Heimat anordnen und regeln will. Er gehorcht wohl, weil er im Gehorsam erzogen ist, aber es ist ein toter Gehorsam, und ein toter Gehorsam ist unfruchtbar, nicht bloß in Herz und Seele, sondern auch auf dem Arbeitsfelde draußen, und so schädigt er mich, ohne es zu wollen, und mindert mein Gut, das ich, dies darf ich sagen, nicht ansammle zu meiner und meines Hauses, wohl aber zu Gottes und seiner Heiligen Ehre. Dem will ich abhelfen, da will ich Wandel schaffen, und dessen verseh ich mich von Euch. Ich hab in Eurem Auge gelesen, und ich kenne Euch nun: Ihr habt einen Ehrgeiz, und es lastet was auf Eurer Seele, das hat Euch bis diese Stunde durch die Welt getrieben, und sehe das Zeichen auf Eurer Stirn. Aber ich weiß auch, daß Ihr ein tapferes Herz habt und einen Edelsinn, der sich nicht verleugnet, wo Liebe ihn pflegt. Und diese Liebe soll Euch werden. Getröstet Euch dessen. Keiner, der unter dieses Dach getreten, ist ungetröstet von dannen gegangen. Im Namen dessen, der die Liebe war, ruf ich Euch zu: Kommt her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid! Lehnert Menz, deine Last soll von dir genommen werden. Ich segne dich ...«

Und Lehnert, während er den Kopf neigte, fühlte, wie die Hand Obadjas seinen Scheitel berührte.


 << zurück weiter >>