Theodor Fontane
Quitt
Theodor Fontane

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Fünfzehntes Kapitel

Vom Gerichtskretscham aus bis zum »Goldenen Frieden« war die Dorfstraße leer, und erst als Lehnert an dieser Stelle links einbiegen und auf dem mehrerwähnten Schlängelpfade nach dem tiefergelegenen Wolfshau hinunter wollte, sah er Frau Opitz auf eben diesem Schlängelpfade herankommen und trat seitab in den Schatten eines hier stehenden Schuppens, um nicht gesehen zu werden. Frau Opitz sah ihn auch wirklich nicht und schritt ihrerseits auf den Gerichtskretscham zu, wo sie, wie man ihr in Wolfshau gesagte hatte, den Toten finden würde. Jeder war erschüttert, als sie hier in den Saal trat und dem Toten das Haar aus der Stirn strich und ihn küßte, und wenn sich schon vorher ein Stimmungsumschlag zugunsten Opitz' gezeigt hatte, so vollends jetzt. Die Männer hielten wohl noch zurück, aber die verheirateten Frauen fuhren mit dem Schürzenzipfel nach dem Auge, wenn sie nicht geradezu schluchzten und weinten. Einige drängten sich an die nun Verwitwete heran und baten, sie nach Hause begleiten zu dürfen, wobei sie hoffen mochten, noch was Besonderes zu hören, die gute Frau war aber entweder zu schwach oder wollte sich nicht von dem Toten trennen. Jedenfalls nahm sie, statt der Anerbietungen ihrer Wolfshauer Nachbarsleute, lieber das Anerbieten der Kretschamwirtin an und setzte sich zu dieser in die Küche. Das geschäftige Treiben hier tat ihr wohl und zerstreute sie, denn sie hatte den Hausfrauensinn, der sich auch in diesem Augenblicke nicht verleugnete.

Drinnen im Saale war mittlerweile das Bild ein anderes geworden. Es gab nichts mehr zu hören und zu sehen, und so verliefen sich die bloß aus Neugier Herzugeströmten, und nur die, die wegen des Protokolls pflichtmäßig zu bleiben hatten, blieben noch und suchten sich über einige fragliche Punkte zu einigen. Die Tat selbst lag klar vor. Aber die Frage »wer« blieb durchaus unentschieden und wurde durch Opitz' Aufzeichnungen, der auf einen »Böhmischen« geraten hatte, mehr verwirrt als aufgeklärt.

»Es war kein Böhmischer«, wiederholte Gerichtsmann Klose, der seinen ohnehin starken Verdacht gegen Lehnert durch das plötzliche Verschwinden desselben nur noch bestätigt sah; »es war kein Böhmischer, und wenn ich Bestimmung zu treffen hätte, so brächen wir in dieser Minute noch auf, um Lehnert Menz in Verhaft zu nehmen. Alles deutet auf ihn, auf ihn und keinen andern. Er hat Sonnabend sechs Uhr Wolfshau verlassen, ist das Gehänge hinaufgestiegen, und die Schulkinder haben ihn gesehen. Um acht Uhr muß er oben gewesen sein, um neun Uhr ist es geschehen, um zehn Uhr war er auf der Hampelbaude. Niemand anders ist im Wald oben betroffen worden. All das sagt genug. Zudem wissen wir, daß er noch von 1870 her einen Span mit Opitz hatte, sie gönnten sich nicht so viel wie unterm Nagel, und als vorhin alles, was draußen war, in den Saal drängte, hat er immer im Hintergrunde gestanden, statt mit in vorderster Reihe zu stehen, wie doch sonst wohl seine Art ist, und als das Notizbuch von mir vorgezeigt und sein Inhalt verlesen wurde, da hat er's nicht ertragen können und ist davongegangen. Das alles hat mir den Beweis gegeben. Und ich wiederhole, der, der diesen Mord auf seine Seele geladen hat, ist kein anderer wie Lehnert Menz.«

Die Mehrzahl stimmte zu. Nur der jüngere Gerichtsmann, der in einer Art Eifersucht gegen den alten Klose war, unterhielt allerlei Zweifel (oder gab es wenigstens vor) und gab diesen Zweifeln auch Ausdruck. Alles, was eben gesagt worden sei, sei, seiner Ansicht nach, viel zu schwach, um darauf hin eine Verhaftung vornehmen zu können. Es lasse sich schlechterdings nicht sagen, niemand anders sei oben im Gebirge gewesen, im Gegenteil, man wisse nie, wer oben gewesen und wer nicht. Lehnert Menz sei gescheit und umsichtig, und gerade, daß er auf der Hampelbaude vorgesprochen und genächtigt habe, das beweise sein gutes Gewissen. Auch daß er sich hier im Saal immer an der Tür gehalten und die Vorlesung der letzten Worte kaum abgewartet habe, spräche nicht so sehr gegen ihn, als es schiene, wohl aber spräche das für ihn, daß er der erste gewesen sei, der auf Hilfe gedrungen habe. Ja, rasche Hilfe, das sei das einzig Richtige gewesen, und er für seine Person beklage jetzt aufrichtig, daß man nicht gleich gestern abend diese Hilfe geleistet. »Mondschein war. Und vielleicht hätten wir ihn um Mitternacht noch am Leben gefunden.«

Auch diese Rede (was den alten Klose sichtlich verstimmte) wurde beifällig aufgenommen, und weil man sich, wie das so leicht geschieht, infolge dieser immer persönlicher werdenden Fehde nicht recht einigen konnte, stand man eben auf dem Punkt, die Frage nach der Täterschaft vorläufig wenigstens ganz fallenzulassen, als der Grenzaufseher und gleich nach ihm der junge Forstgehilfe, die man beide zu weiterer Nachforschung an Ort und Stelle zurückgelassen hatte, voll großer Aufregung eintraten. Sie waren erschöpft, denn es war immer schwüler geworden: trotzdem ließ sich unschwer von ihrer Stirn lesen, daß sie gute Botschaft brächten und ihr Suchen nach einem Anhaltspunkte nicht vergeblich gewesen sei.

»Nun, ihr Herren«, empfing sie der alte Klose mit der ihm eigenen Bonhomie. »Was bringt ihr? Aber erst einen Cognac, und dann euren Bericht! Eine Bärenhitze! Maywald, wir wollen Tür und Fenster aufmachen. So! Nun herangerückt! Und nun, ihr Herren, was gibt es?«

Der Grenzaufseher, welcher der ältere war, nahm zunächst das Wort und erzählte mit vieler Anschaulichkeit, wie sie, nach Ausmessen der Fußspuren (denn was anderes habe sich nicht finden lassen wollen), nahe daran gewesen wären, unverrichtetersache wieder umzukehren, als sein Kamerad, und hierbei wies er auf den jungen Forstgehilfen, eines angebrannten Papierstückchens ansichtig geworden wäre, das an der abgestochenen schmalen Lehmwand des Weges geklebt hätte. Dies Papierstückchen sei, wie sie gleich vermutet, ein Schußpfropfen gewesen, was sie denn bestimmt habe, dasselbe sorglich auseinanderzufalten und zu glätten. Hier sei es und könne vielleicht zur Entdeckung des Täters führen; denn wie leicht zu sehen, sei es kein gewöhnliches Stück Zeitungspapier, sondern ein Stück von einem alten Kalender, und der Monat sei noch halb und die Jahreszahl 1816 noch ganz deutlich zu lesen. Er glaube, daß das wichtig sei; denn in demselben Hause, drin man einen alten Kalender von 1816 finden werde, werde man mutmaßlich auch den Mörder finden.

Alles war unter diesem Bericht des Grenzaufsehers in Aufregung geraten, weil jeder fühlte, daß die nächste Stunde schon das Geheimnis aufklären müsse. Natürlich war eine Haussuchung nötig, und zur Frage stand nur noch das eine, bei wem damit begonnen werden solle.

»Bei wem anfangen?« fragte der Alte.

»Bei Lehnert Menz«, antwortete der Forstgehilfe.

»Gut. Und wann?«

»In dieser Minute noch. Denn er hat viel Freundschaft hierherum, und erfährt er, was wir vorhaben, oder wohl gar, wonach wir suchen, so wandert der Kalender in den Ofen oder er selber in die Welt. Er hat es schon lange vor.«

Alle waren einverstanden. Nur einige wenige blieben im Kretscham zurück, der Rest aber erhob sieh und ging auf Wolfshau zu.

Bei der großen Hitze, die herrschte, zog man es vor, die ganz in greller Sonne liegende Chaussee zu vermeiden und lieber, von dem hochgelegenen Kretscham aus, gleich nach links hin bergab zu steigen, um hier, im Schatten der Berglehne, den Weg an der Kühlung gebenden Lomnitz hin zurückzulegen. Unterwegs wurden einige wieder unsicher, und Zweifel ließen sich hören, die, wenn sie nicht geradezu von dem jungen Gerichtsmann ausgingen, so doch wenigstens durch eben diesen genährt wurden. Ein halb verbrannter Papierpfropfen sei gefunden worden, soviel stehe fest, aber dieser Pfropfen brauche keineswegs aus dem Gewehre des Wilddiebs zu stammen. Auch Opitz habe geschossen, wenn nicht im Kampf (worüber sich vielleicht streiten lasse), so doch jedenfalls ein paar Not- und Signalschüsse, was aus seinen eigenen Aufzeichnungen hervorgehe. Solcher Äußerungen wurden in der Arrieregarde mehrere laut, aber an der Spitze der Kolonne, wo neben Klose der aus Erdmannsdorf herbeigekommene Gendarm Brey marschierte, hielt man an der einmal gefaßten Meinung fest und war nur einigermaßen überrascht, als man, im Näherkommen an das Inselchen und seine Stellmacherei, Lehnert Menz, in der Tür stehend, gewahr wurde, damit beschäftigt, ein paar überhängende Rosenzweige mit Bast wieder zurück an den Stamm zu binden.

So wenigstens schien es. Er stand abgewandt und sah sich bei seiner Arbeit erst um, als er den Tritt der Herankommenden auf der kleinen Bohlenbrücke hörte. Daß er zusammenfuhr und sich verfärbte, sah niemand. Rasch entschlossen ging er dem Trupp bis an den Brückensteg entgegen und begrüßte den alten Gerichtsmann.

»Ich weiß, Gerichtsmann Klose, weshalb Sie kommen.« Dabei zog er den Hut und trat respektvoll beiseite. Der Angeredete lächelte.

»Nun gut, Lehnert, wenn Ihr wißt, weshalb wir kommen, so werdet Ihr auch nicht erstaunt sein, wenn wir vorsichtig sind und Eure kleine Festung absperren und die Brückenstege besetzen. Ich will Euch und uns wünschen, daß sich schließlich alles ›als nicht nötig gewesen‹ herausstellen möge. Vorläufig aber muß ich Euch bitten, voranzugehen und dafür zu sorgen, daß wir Euch im Auge behalten. Im übrigen sollt Ihr, vorderhand wenigstens, persönlich unbehelligt bleiben, denn es handelt sich in diesem Augenblicke nicht um Eure Person, sondern um eine Sache. Wir sind nämlich hier, um Euer Haus nach einem falschen Bart zu durchsuchen.«

Der alte Klose sagte das so hin, um den unter Verdacht Stehenden auf eine falsche Fährte zu führen und dadurch wie sicher zu machen, was auch glückte. Lehnert, voranschreitend, stieg die Steintreppe hinan, während der Gerichtsmann und der junge Forstgehilfe folgten. Gendarm Brey aber postierte sich vor der Fronttür und überwachte von dieser seiner Hochstellung aus die durch den anderen Trupp erfolgende Besetzung der beiden Brückenstege. Flucht war unmöglich.

In der Stube begann inzwischen ein Wehklagen und Geschrei. Die alte Menz warf sich dem Gerichtsmann zu Füßen, küßte dem jungen Forstgehilfen die Hand und schwor und jammerte, daß sie unschuldig sei und von nichts wisse und daß Lehnert auch unschuldig sei und ein frommes Gemüt habe, was ja der liebe Pastor Siebenhaar bestätigen könne, der ihn auf die Freischule geschickt, weil er immer die Sprüche so gut gelernt und immer neben der Orgel gestanden und am besten gesungen habe. Ja, so sei das Lehnertchen immer gewesen, ein frommes Gemüt und kränke keinen und keine Fliege nich an der Wand. Und was die Leute gesagt hätten und was auch Opitz gesagt habe (Gott hab ihn selig, denn er war ein engelsguter Mann, und nun gar erst die Frau, die gab all und jedem), das sei nicht wahr und alles bloß gelogen, weil es soviel schlechte Menschen gäbe, die einem nichts gönnten, und sie seien unschuldig. Und wenn sie vor Gottes Thron stünde und sie solle es anders sagen, so könne sie nicht anders sagen, als daß sie unschuldig seien und Lehnert auch, denn er sei immer ein frommes Kind gewesen, und Siebenhaar unten in Arnsdorf ...

In diesem Augenblicke wurde der junge Forstgehilfe, während die Hände der Frau Menz die Knie des alten Klose nach wie vor umklammert hielten, einiger an einem Bindfadenreste hängender Kalenderblätter gewahr und machte Miene, darauf zuzuschreiten. Lehnert, der mit klugem Auge jeder Bewegung gefolgt war, wußte, daß man ihn jetzt in Händen habe.

»Laß doch, Mutter!« rief er dieser in erkünsteltem Zorne zu, während er die Kniende vom Boden aufriss, »was erniedrigst du dich? Ich will das nicht. Ich kann das nicht mit ansehn.«

Und die kleine Frau heftig schüttelnd, schob er sie, nur um dem Geplärr und Gewimmer ein Ende zu machen (so wenigstens schien es), auf die Tür und den Flur zu.

Der mittlerweile ganz an seine Fährte gebannte Forstgehilfe war, ohne für das, was sonst in der Stube vorging, einen Blick zu haben, an die vergilbten Blätter herangetreten und hob sie samt dem Faden, daran sie hingen, vom Nagel. Und schon das erste, worauf sein Auge fiel, war das, wonach er suchte.

»Wir haben ihn!« Und triumphierenden Auges an den alten Gerichtsmann herantretend, wies er auf die Jahreszahl oben rechts in der Ecke. »Wir haben ihn!«

Und unter diesen Worten eilte man nach dem Flur hinaus, um Lehnert, dessen Schuld nun klar war, in Verhaft zu nehmen. Aber wo war er? Die Alte lag draußen, in wirklicher oder erheuchelter Ohnmacht, jedenfalls unfähig oder unwillig, auf die stürmisch an sie sich richtenden Fragen Antwort zu geben. Wo war er?

Die Brückenstege waren nach wie vor dicht besetzt, so mußt er denn, wenn nicht ein Wunder geschehen, im Hause selbst irgendwo verborgen sein. Und bis unter das Dach hin wurde nun jeder Winkel und Verschlag untersucht und die Suche bis in Schuppen und Milchkeller fortgesetzt. Man durchwühlte das Heu, die Hobelspäne, selbst in den Rauchfang stieg man hinauf und wurde nicht müde, das Oberste zuunterst zu kehren. Alles umsonst. Die Alte wußte nichts. Er war fort.


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