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»Christ Kyrie, komm zu uns auf die See!«
Das war kein Gesang mehr: wie wehes Rufen, wie ein einziger banger Schrei drang das Gemeindelied bei diesen alten Worten durch die Kirche und schlug wie Meereswogen um die kalten, weißroten Pfeiler. Als wenn alle Sturmnächte und Sturmtage wieder aufstünden und noch einmal die Herzen aufwühlten und zerrissen, als wenn die gebliebenen Seeleute ihre Geisterstimmen klagend in den Gesang mischten, so hörte es sich an. Der so furchtbar auf die Orgeltasten drückte, war der weißbärtige Küster, der an seinen untergegangenen Sohn dachte und an die schwarzen Kleider, die den untern Kirchenraum ausfüllten. Und die so gewaltig sangen, das waren Fahrensleute, die mehr als zehnmal mit dem Sturm gerungen hatten, das waren Fischer, die dem Tod und der See entronnen waren, das waren Frauen, die ihre Männer oder Söhne bei erstem, gutem Wind wieder elbabwärts segeln sehen sollten, das waren Konfirmanden, die nach Ostern samt und sonders Fischerjungen werden wollten! Und sie alle wußten, was sie sangen!
Nur einer wußte es nicht, der junge Seefischer mit dem indianerhaft roten Gesicht, der auf dem Chor saß. Zwar hatte er sein Gesangbuch weder zugeklappt noch verkehrt aufgeschlagen, und er sang auch halblaut mit, aber er wußte nicht, was er sang. Seine Gedanken waren bei andern Dingen, und wie er vor zehn Tagen äußerlich ruhig, innerlich aufs höchste erregt auf der Doggerbank gegen Wind und Wasser gekämpft hatte, so ging er jetzt mit heftigem Ungestüm gegen Gedanken an, die ihn erdrücken und ersticken wollten, so duckte er sich jetzt vor seelischen Gewalten! Und die Augen blickten starr gegen das Mauerwerk, aber sie konnten sich dort nicht lange halten, immer wieder sanken sie ohnmächtig nieder und fielen schwer auf die zweite Konfirmandenbank, die sich unter die Predigtkanzel schmiegte. Er konnte es nicht wegwischen, das fahle Bild: immer wieder sah er Simon und sich dort sitzen. Die beiden Konfirmanden saßen beieinander und guckten aus einem Gesangbuch. Der junge Seefischer wischte mit der Hand über die Stirn, aber die beiden Konfirmanden konnte er damit nicht verscheuchen: sie blieben sitzen, und es war sogar, als sähen sie nach ihm hinauf! Nein! Nein! Er wollte sich nicht unterkriegen lassen, wollte nicht weinen! In seiner Not faßte er die beiden Jungen scharf ins Auge und griff mit schnellen, hastigen Händen nach allen lustigen Dingen der gemeinsamen Konfirmandenzeit, des Kirchenjahres, und fand doch an einem so wenig Gefallen und Frieden, wie an dem andern ... Simon und er pflegten so laut und durchdringend zu singen, daß Frau Pastor sie mitunter strafend angesehen hatte ... dann hatten sie sich bannig gefreut. Und wenn der Klingelbeutel herumging, gab es manchen Spaß für sie, wenn jemand seinen Pfennig vorbeisteckte, oder wenn einer vor dem dicken Überzieher nicht in die Büxentasche kommen konnte und zuletzt wohl gar aufstehen mußte. Und während der Predigt, von der sie wenig verstanden, schulten sie um die Kanzelecke nach den Konfirmandinnen hinüber, unter denen jeder seine Braut hatte, wie es sich gehörte, aber – wie schnell verging das alles vor dem grausen Ernst dieser Stunde. Der Seefischer mußte den Blick wenden, bis er Meta Mewes traf. Das war seine Braut gewesen ... da saß sie, schwarz und verschleiert, mit schmalem, blassem Gesicht und großen, dunkeln Augen. Sie hatte einen andern genommen und war schon seit zwei Jahren verwitwet; ein kleiner Zeugladen mußte ihre beiden kleinen Mädchen und sie ernähren. – Des Seefischers Augen mußten weiterwandern: da saß Simons Braut, zwar nach halbhell gekleidet, aber den blonden Kopf schon tief gebeugt und die Augen voll Trostlosigkeit, weil sie an Simons Rückkehr nicht mehr glauben konnte. Vier Bänke weiter nach hinten aber saß eine alte Frau in tiefer Trauerkleidung, ganz gebückt, wie ein morgenländisches Klageweib anzusehen. Das war Simons Mutter. Sie hatte ein schwarzes Wolltuch um den Kopf geknüpft. Mit zitternden Händen hielt sie ihr Psalmenbuch auf den Knien fest und bewegte die Lippen, als wenn sie mitsänge: es waren aber immer nur einige gebrochene Worte des Vaterunsers, die sie herausbrachte.
Und viele Blicke ruhten auf ihr und auf dem blonden Mädchen.
Gewaltsam drehte der junge Seefischer sich um. Da lag das herbstliche Land in der Sonne, zwar mit kahlen Bäumen, aber doch noch mit grünen Wischen. Dahinter ging der Deich auf, der die bunten Häuser trug, deren rote Dächer im Sonnenschein blinkten. Über den Ziegeln aber schwebten Rauchwolken, die den Schornsteinen der unsichtbaren Dampfer entquollen waren. Viele Masten guckten über Deich und Haus: die Masten der auf den Schallen liegenden Fischerewer. Des Seefischers breite Brust hob sich, als er seine beiden Masten herausgefunden hatte, den Grotmast mit dem weißrotgoldnen Flögel und den Besanmast mit dem dunkeln Tümmlerschwanz. Da lag sein großer, schöner Kutter, seine »Seemöwe«. Er war schon geschwoit: es war Flut geworden und der hohe, grüne Bug spiegelte sich schon auf dem blanken Wasser.
Mit bärenhafter Kraft klammerte der Mann in der Kirche sich an sein Schiff, das er eben durch das Fenster sehen konnte, er wollte sich herzhaft darüber freuen, aber er vermochte es nicht. Es kam ihm vor, als würde er von allen Seiten böse angeguckt. Da setzte er sich wieder gerade hin und bemühte sich mit fest zusammengekniffenen Augen, der Predigt zu folgen und bei ihr zu vergessen, aber auch das brachte er nicht fertig; wie die eisernen Sturzseen auf das Deck gedonnert waren, so hämmerten die Worte in sein Ohr und lösten sich dort in ein dumpfes, starkes Brausen auf, das er nicht wieder loswerden konnte. Er versuchte, in seinem Gesangbuch zu lesen, aber die Reihen liefen durcheinander wie die Wogen auf der Doggerbank. Immer größer wurde seine innere und äußere Unruhe. Zuletzt klappte er das Buch zu und faltete seine Hände unter der Bank und beugte sich so tief, daß er von der hohen Chorbrüstung nichts mehr sehen konnte. Er starrte zu Boden ...
Ik hebb dat god meent! Ob er das dachte oder flüsterte, wußte er wohl selbst nicht, aber so oft er es wagte, schlug ihm eine unsichtbare Hand die Worte aus den Händen und eine harte Stimme sagte schneidenden Tones: Du hast gelogen, Harm! Du hast gelogen, Junge! Gelogen hast du vorgestern, als du von der See kamst und auf der Elbe, zwischen dem Ostefeuerschiff und Brunsbüttel, die zerrissene Fock in die Pflicht verstecktest und die neue anschlugst, damit es aussehen sollte, als hättest du draußen nichts zu krabbeln gehabt! Gelogen hast du, als du sagtest, es sei auf der Doggerbank während der beiden Sturmnächte gar nicht stur gewesen, und du hättest mit einem Reff im Segel noch fischen können! Denn du weißt, daß du ein so schweres Wetter auf See noch nicht erlebt hast, und daß die beiden Nächte, in denen die Eiderdeiche brachen, in denen die beiden großen Dampfer auf Scharhörn spurlos verschwanden, in denen die Nordsee voller Seemannsleichen trieb, die schwersten deines Lebens gewesen sind, daß du vor Sturmsegel und Sturmanker in höchster Not klüstest und jeden Augenblick dachtest, die Masten müßten über Bord gehen oder der Kutter müßte kopfheister schießen. Gelogen hast du, als sie nach Simon fragten, nach deinem Kameraden, deinem Macker, mit dem du stets in Kumpnei gefischt hattest! Ganz heiter hast du geantwortet, obgleich dir das Herz in der Brust brannte und du am liebsten geheult hättest wie ein Tier. Ernst hat dein Vater gefragt, der alte, graue Seemann, jammernd hat deine Mutter gefragt, bebend hat Simons Braut gefragt, weinend ist die alte Frau geschlichen gekommen. Hast du dich stumm abgewendet? Nein, du hast gelächelt und getröstet: De kummt wedder! Hast du gesagt, du hättest ihn nicht gesehen draußen? Nein, du hast ermuntert und ermutigt: Wi sünd jümmer tohoop wesen! Noch nach dem Sturm hättest du mit ihm gesprochen: erst dann sei er östlicher gekreuzt, um noch zu fischen, und erst dann sei er dir aus Sicht gekommen. Das war gelogen, Harm: du hast es mit deinen eigenen Augen gesehen, wie die große See Simons Kutter rundum geworfen hat und wie Mast und Segel zugrund gegangen sind. Riemen und Rettungsgürtel hast du noch treiben sehen, als du die Stelle erreichtest, das ist aber auch alles gewesen ...
Nein, nein! du willst es nicht sagen, Harm? Du meinst, sie erführen es in acht Tagen ja doch, daß er nicht wiederkäme? Du könntest es nicht sagen? Harm, das große Kirchengebet wandert durch die Kirche! Bete mit, wie alle es mitbeten! Hör!... krall dich nicht immer fester in die Ecke!... Hör!... »Wir bitten dich auch insonderheit für die, die auf dem Wasser ihre Nahrung suchen: segne die Fischerei auf der See und im Fluß ...« Du ständest lieber noch einmal inmitten des furchtbaren Sturmes, als daß du nun standhieltest und drückst die harten Hände gegen die Brüstung, als wäre es dein Ruder! Schreit es wieder so gräßlich, so überlaut und grell, wie du geschrien hast, als du die große See ins Segel schlagen sahst?...
Da wurde es mit einem Male totenstill um den Seefischer: eine tiefe Stille umgab ihn wie an stillen Tagen auf See, wenn er allein am Ruder gestanden hatte. Aber diese Stille hielt nicht an: Worte drängten sich darein, starre, tonlose Worte, die sich wie sickerndes Wasser anhörten: »Es ist auch Fürbitte zu tun für drei Mitglieder unserer christlichen Gemeinde, die seit dem Sturmestage mit ihrem Schiff noch nicht wieder in den Hafen gekommen sind! Herr Gott, der du das Meer gemacht hast ...« Da steigert die Seelenqual des Fischers sich aufs höchste: ihm ist, als guckten ihn alle an, als riefen sie ihm zu, unwillig und zornig: Was läßt du uns noch beten, Harm, du weißt doch, daß Simon geblieben ist? Ein wehes Schluchzen ist zu hören: viele Frauen haben die Taschentücher vor dem Gesicht, und die alte Frau hat den Kopf auf die harte Lehne gelegt – die Männer aber husten vor Bewegung, und die Stimme des Pastoren zittert.
Harm sieht und hört alles wie im Traum und atmet schwer. Wenn er nun morgen wieder seewärts segelt, ringt die alte Frau noch lange Tage mit ihrem Gott und ihren Jungen, und andern Sonntag beten sie noch mal für seine Heimkehr – Er muß dieser Qual ein Ende machen, er fühlt, daß sein Gewissen es verlangt!
*
Jäh fährt er zusammen, als eine Hand seine Schulter berührt! In tiefster Herzensnot wendet er sich um: wollen sie ihn noch mal fragen?
Da steht aber nur der alte Hein Benitt hinter ihm, der mit der Hand nach der schwarzen Tafel weist, auf der die Gesangverse stehen, und ihm zuflüstert: »Wat steiht dor förn Salm an, Harm? Ik hebb mien Klüber vergeten, un mien Ogen sünd all'n betjen dunkel!«
Der Seefischer atmet tief auf.
»Tweeunnegentig, Hein: Ein feste Burg ist unser Gott«, antwortet er.
*
Eine Weile, nachdem die Glocken verklungen sind, tritt er in sein Elternhaus am Elbdeich, legt sein Gesangbuch auf den Tisch und sagt ernst: »Vadder un Mutter: ik willt seggen: Simon is bleben'. Ik hebb em wegsacken sehn!«
Dann geht er ans Fenster und blickt nach Blankenese hinüber.
Der alte Fischer aber sagt: »Dat hebb ik dacht, Junge, dat hebb ik dacht«, und er zieht sich an, um zu der alten Frau zu gehen und ihr die Kunde zu bringen.