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Ich schwimme beim Swiensand, südsüdost von Falkental im tiefen Priel und ringe mit der starken Strömung. Eisigkalt ist das Wasser. Es soll mich heilen von der Herbstmüdigkeit, von den Spinneweben, die meine Sinne umfangen wollen. Schwere, fremde Tropfen sind in meinem Blut. Und wären es die letzten, verzitternden Wellenkreise eines Winterschlafes in grauen Zeiten: ich schüttle sie ab und lache ihrer. Ich brauche den Herbst und seinen Wind, ich rufe ihn: damit meine Wimpel hoch am Mast flattern, damit meine Segel sich blähen, damit meine Mühlen mahlen. Mit weißen Geisterhänden greif ich aus: dreimal noch um das Boot, nein viermal, nein solange, bis die Sonne wieder aus den Wolken kommt. Riesengroß ist mein Fahrzeug, es überragt alle Bäume, alle Deiche, alle Türme, alle Gipfel. Eben komme ich beim Achtersteven aus seinem Schatten und steure auf das kleine, grüne Eiland zu. Die Weidenblätter haben schon helle Farben. Das Reet ist graubraun geworden. Da waten keine Störche mehr, da jagen keine Schwalben, da tanzen keine Mücken mehr umher. Die Kuhblumen, die Butterblumen haben ausgeblüht, die Binsen liegen schwer auf dem Schlick. Still und vereinsamt harrt der Sand der Stürme und Hochfluten. Schwarze Muscheln liegen am Strande wie Fußtapfen im Schnee. Eine Nebelkrähe schreitet beschaulich am Wasser entlang. Mitunter streckt sie den Kopf vor und gibt sich durch tiefes Krächzen kund. Wilde Enten streben hastig dem Neste zu.
Es wird hell und blank um mich her, es blitzt und schimmert: die Sonne ist da. Ich schwinge mich an Bord und springe von Ducht zu Ducht, derweil die Sonne und der Wind mich abtrocknen. Um Kiel und Steven plätschern die Wogen, sie schlucken und glucken, heimlich und stillvergnügt. Die Augen zu: es ist, als wenn die Glocken gehen, Hochzeitsglocken, Freudenglocken, als wenn die Kinder fern auf der Wiese lachen und spielen, als wenn die Pappeln im Sommerwinde rauschen und erzählen, als wenn die silbernen Quellen über glatte Kiesel und knorrige Tannenwurzeln springen, tief, tief im Walde ... Gluck ... gluck ... gluck ... Eine Henne lockt ihr Küchlein, – und das Küchlein legt das Ohr an die Bordwand und horcht und lacht. Das Segel reiß ich mit einer Hand empor, und der Anker kommt schnell genug ans Tageslicht. Dann ziehe ich mich an. Das Boot schwoit, der Lappen fällt voll, und leise gurgelt und zischt es am Steven. Gute Fahrt bei raumem Wind und mit der Tide. Nach Schifferart einen Blick prüfend zu dem braunen Segel hinaufgeschickt, – dann halte ich hellen Ausguck.
Der Swiensand schaut mir nach. Blanke, glatte Flächen, dunkle, krause Windstreifen auf der Elbe. Einen langen, breiten Weg hat die Sonne sich gepachtet: da blinkt und gleißt es, da spielen ihre strahlenden Kinder. Hinter Schulau dehnt sich die See, da sind der Himmel und das Wasser allein auf der Welt und halten einander still an den Händen. Rauchwolken bei Rauchwolken, als wär's die Straße zur Hölle. Segel über Segel teilen sich in den mächtigen Strom: graue und braune, hohe und breite, neue und geflickte. Schleppdampfer, Seedampfer, Fischdampfer, Fährdampfer, schwarze und bunte Schornsteine. Weiße, schimmernde Eiderschuner, unförmige holländische Kuffen, breite, protzige, ostfriesische Tjalken, schwere, wetterfeste Finkenwärder Fischerkutter, spitznasige, verwitterte Altenwärder Ewer, braune, runde Lühjollen, alles klüst nach Osten. Weiße, schlanke Leuchttürme verträumen den Tag. Graue Heidehäupter stehn am Wege wie Nordlandsrecken. Blankenese, Luginsmeer und Luginsland, Utkiek und Kiekut von Hamburg, – ein rechtes Sonntagsnest, Tag für Tag in Sonntagskleidern, immer geziert und geschmückt. Die weißen Giebel und die blauen Dächer schauen aus den Baumkronen. Die Fenster sind wie dunkle, kluge Vogelaugen. Helle Streifen leuchten aus dem Grün, das ist der Herbst. An den Brücken liegen Fährdampfer, die grünen breit und bürgerlich, die schwarzen schlank und aristokratisch. Ihre weißen Rauchwolken verfliegen an den Abhängen. Die efeuumsponnene Burg der guten Frau äugt still und weltfremd von der waldigen Höhe: sie träumt vom grünen Rhein. Überall spielen die bunten Farben: gelb und rot und braun in hundert Tönen. Der liebe Nienstedter Turm spiegelt sich in der Elbe. Sein grünes Dach und seine goldenen Zeiger glänzen im Sonnenschein. Um seinen Knauf fliegen die Dohlen. Aus allen Schornsteinen qualmt die breite, rote Brauerei. Auf der andern Seite grüßen die grauen und grünen Häuser von Finkenwärder über die Hamburger Dünen hinweg. Auch die trotzige Kirche guckt über den Deich und der Neß mit seinen Eichen. Der helle, zierliche Wasserturm lacht herüber.
Die Mühle mahlt im Winde, und auch im Alten Lande drehen sich die Mühlen. Brotes genug. Mein Segel giekt, mein Fahrzeug schwankt. Die Dünung des glänzenden, hohen Amerikadampfers hat uns erreicht: mein Boot und ich verneigen uns und danken für den Gruß aus der großen, weiten Welt.
Sei mir gegrüßt, du bunte Welt, sei mir gegrüßt, du großes Leben. Du rinnst und jagst durch meine Adern, reißest mich auf und wirfst mich nieder. Nieder? Fortan nicht mehr! Wer so lachen kann wie ich, der läßt sich nicht mehr niederwerfen. Ich lebe, und hoch will ich leben. Ich lebe mit Wissen und Willen, fühle jeden Atemzug, jeden Windhauch, jeden Wellenschlag. Ich sehe jeden Baum und jede Wolke, deute jeden Schritt und jeden Klang, forsche in allen Mienen und in allen Zügen. Umflutet, umbraust, umkost – und König meines Lebens bin ich! Mittelpunkt der Welt, aller Augen warten auf mich, und über meinem Kopfe ist der Himmel am allerhöchsten. Was ich sehe, was ich tue: darauf kommt es an, und für mich scheint die Sonne. Umreißen oder aufbauen, das ist mir gleich, nur wirken, arbeiten, die Arme aufkrempeln können. Und dabei singen mögen! Wenn zwei streiten: hei, dazwischen gesprungen und mitgestritten! Leben, lachen, siegen!
Nicht angekettet sein wie die rote Leuchtboje hier an Backbord, deren mattes Blinkfeuer mit den Sonnenstrahlen kämpft. Von den Torfewern, die auf die Ebbe lauern, liegt ein ganzes Rudel vor Anker. Sie sind nicht mehr so tief geladen und haben nur noch wenig Decklasten: die unruhige Jahreszeit ist angebrochen. Auf einem Holländer spielen die Kinder Verstecken. Hinter dem Kompaßhäuschen, auf dem Roof, vor der Winde: überall krabbelt es. Ein kleiner Kerl kriecht sogar in das Großsegel hinein. Die Mutter sitzt auf den Luken, schält Kartoffeln und guckt ihnen zu. Ein weißes Landhaus mit riesigen Eulenaugen schmiegt sich bei Flottbek dicht an die hohen Buchen, die es einrahmen. Auf der Chaussee schnauft ein Automobil: ein Augenblick, und der Komet ist verschwunden, nur sein Schweif verkündet noch seinen Weg. Helle Kleider, rote Schirme. Mühelos überhole ich ein Segelboot von Neumühlen: weiße Segel allein tun's eben nicht. Vornehm und verbindlich steht das Parkhotel da, und die Schiffe ziehen an ihm vorbei und spiegeln sich in seinen Fenstern. In glänzender Reihe krönen die Landhäuser den waldigen Höhenkamm, weltklug und weltüberlegen, gegenwartkundig und zukunftfroh. Auf dem Sande liegt junges Volk in der Sonne. Ein Mädchen winkt mit der Hand, die beste von allen hebt nur eben das Bein zum Gruße. Spielend rollen die Wellen hinan, kehren zurück und ergießen sich wieder über die Steine. Die Zweige gehen im Winde auf und ab: das ist ein immerwährendes Schmeicheln und Fächeln. Da ziehen sie schon die Boote auf den Strand, schlagen die Segel ab und scheren die Leinen aus. Die Herrlichkeit neigt sich. Heute aber wehen noch die Fahnen, laufen noch die Kellner umher, sitzen noch muntre Gäste an den weißgedeckten Tischen unter den Ulmen, perlt der Wein im Römer, paradiert die dicke Kaffeekanne zwischen Stapeln von Kuchen.
Ree, – und mein Boot stößt hart gegen den Brückenkopf. Die Mädchen gucken mir lachend zu, wie ich das Segel herunternehme. Und ich lache mit, denn blühende Rosen und leuchtende Mädchenaugen, ... ach was, ich gehe raschen Schrittes dem Lande zu, wie ich immer tue, wenn die Sonne scheint. Bunt wie ein Narrengewand ist das Laub, hier dunkelgrün, da grau, da braun, da rot, da gelb. Rote Vogelbeeren schimmern aus den Büschen. Hinter den Fenstern der altmodischen Lotsenhäuser bunte Blumen. In den Gärten noch Astern und Rosen, etwas welk, zerzaust, aber Rosen, Sommerrosen. Die Elbschlucht hinauf geht es in Sprüngen: Stufen sind für alte Leute und dürfen nicht abgenutzt werden. Graues Laub in allen Ecken und auf allen Wegen, das rauscht und raschelt. Recht in den Sonnenschein setz ich mich und recht angesichts der Elbe. Vorposten! Da unten kreist das Leben, da kräuselt sich das Wasser und wiegt sich auf und ab. Die Schiffe kommen und gehen, und keins läuft vorbei, das ich nicht messe und nach dem Kurs frage und ein Stücklein Wegs begleite. Über mir spielt der West in den Blättern, und an der Erde fegt er das abgefallene Laub auf einen großen Haufen. Dann und wann wirbelt ein Blatt herab. Helle Wolken ziehen in der Luft. Bald scheint die Sonne, bald läuft der Wind mit dem Schatten über die Welt. Auf dem Dach sitzt eine Schar von Spatzen und piept laut durcheinander. Aus den Gärten steigt ein herbstlich feuchter Odem auf. Alle Augenblicke legt ein Dampfer an der Brücke an. Breit und schwarz steigt der Rauch auf. Deutlich ist zu hören, wie die Stege ausgelegt werden, wie das Wasser schäumt, wie die Räder schlagen. Dazwischen Rufe. Tuten und Pfeifen. Hoch und leer kommen die Kohlendampfer herab: die Schraube haut halb in der Luft und wirbelt einen Berg von Gischt auf. Einer von Woermann, einer von Sloman, ein Neptun, ein Kosmos, ein Engländer, ein Normann, so wechselt es ab. Eine schwedische Bark mit der neuen Flagge. Im Südosten das Schuppen- und Masten- und Schornsteingewirr von Kuhwärder, der riesige Laufkran. Die Schlote von Harburg, der Turm von Altenwärder, das helle Band des Köhlbrandes. Dahinter die dunkelgrauen Berge, die tiefblaue Geest, wo die Nebel brauen. Der Schopf des Falkenberges, das kahle Haupt des Opferberges bewachen den Eingang der stillen Heide.
Einzelne Boote rudern noch in der Tiefe. Es muß Hochwasser sein: die braunen Segel erscheinen: die Strohewer, Torfewer, Steinewer, Fruchtewer, Kornewer. Schwerfällig kreuzen sie vorbei und ist doch ein farbenfrohes Bild. Das singt und juchheit nicht und reckt mir doch die Arme, denn es lebt und webt und fährt mit allen Winden.
Marienfäden fliegen umher.
Die Wolken haben den ganzen Himmel überdeckt. Die Dämmerung geht über Strom und Strand. Es dunkelt rasch. Mit Siebenmeilenschritten kommt die Nacht, und riesenhaft ragen Bäume und Giebel in das letzte Abendrot hinein. Die Heide verliert sich. Nur die Elbe schimmert noch grauweiß herauf. Überall sind Lichter entglommen. Eins nach dem andern wird angesteckt. Gelb und grün und rot, matt und hell, groß und klein. Alles wirbelt auf dem bewegten Wasser hin und her. Irgendwo zirpt eine Grille von gelben Ähren, rotem Mohn und blauen Kornblumen. Die Elbchaussee entlang wanken Laternen. Zwei bei zwei halten sich die Kinder an den Händen und blicken mit großen, dunklen Augen auf ihr gelbes Licht. Und singen verträumt von ihrer lieben Laterne. Mählich verklingen die feinen Stimmen in der Ferne.
Leise summe ich die schlichte Kinderweise vor mich hin, als ich langsam den Abhang hinuntergehe. Dann ziehe ich mein Segel wieder auf und kreuze die Elbe hinab.
Hoch und steil steigt das Ufer an und wirft seinen riesigen Schatten. Groß und gespenstisch gehen die Schiffe an mir vorbei. Von allen Seiten umspielen mich die Lichter. Wie Leuchtkäfer schwirren sie durcheinander. Verhaltene Stimmen zittern durch die stille Luft. Am Strand wird es dunkler und einsamer. Auf einem Ewer klagt eine schwermütige Harmonika. Je weiter ich treibe, desto ruhiger, traumvoller wird die Welt. In tiefem Frieden zieht die Elbe dahin. Nur am Steven plätschern die kleinen Wellen. Droben haben sich die Wolken geteilt, und freundliche Sterne schauen herab zur »Guten Nacht«.