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In einem Atemzuge schnob der Nordwest von Esbjerg nach Kopenhagen: so klein war Dänemark in dieser Sturmnacht geworden. Nur als die Fackel auf der See erlosch, hart an der jütischen Küste, die zitternde, schwankende Notfackel, als die grauen Segel jäh aufs Wasser schlugen, da ward es urplötzlich stiller, und es schien, als müsse der Wind sich besinnen. Wo eben noch der gewaltige, wilde Nordlandswolf geheult hatte und umhergesprungen war, lag eine riesenhafte, graue Katze auf der Lauer.
Fünf weiße Häuschen, die in der Dünenmulde standen, waren die Mäuse, die sie nicht aus den Augen ließ. Und kaum daß einer zehn zählen konnte, richtete sie sich pfauchend und zischend auf. Der aufgewühlte Dünensand hagelte schwer gegen die Fensterläden. Lange, wehe Klagetöne hallten um Dächer und Giebel. Die See aber schrie noch zorniger gegen die Wolken, hob die weißen Häupter noch höher und rollte noch wilder über den Strand.
Es war Flut geworden.
Das kleine gelbe Nachtlicht wurde unruhig.
Ein großes, starkes Mädchen stand neben dem Tisch und band sich die Flechten auf. Eine Weile guckte sie fragend in den Spiegel und dachte: bist bald alt geworden, Karen! – dann suchte sie Rock und Jacke und zog sich dick und warm an. Sie band ein schwarzes Wolltuch um den Kopf und zog Handschuhe an.
Das Gekeuch des Windes und das Gebrüll der See hatten sie geweckt.
»Karen!«
Niels streckte sein bärtiges Gesicht aus den roten Kissen und richtete sich halb auf. Verschlafen sah er sie an.
»Flut.«
Sie hatte sich eine Tasse Kaffee eingegossen und trank langsam.
Er brummte etwas Undeutliches, dann stieß er den neben ihm schnarchenden Jens an und rüttelte ihn wach.
»Flut, Jens. Steh auf, Jens. Mach dich klar, Jens.«
Aber Jens schalt und knurrte. »Laßt mich schlafen. Morgen – nachher – gleich – ja, ja.«
»Dann haben die andern den Strand rein«, brummte Niels, aber Jens schnarchte und war nicht wieder zu ermuntern.
»Allein geh' ich auch nicht los«, sagte Niels und legte sich die Kissen zurecht. Es war unter der Decke doch wärmer als draußen.
»Leg dich auch wieder hin. Schlaf noch 'ne Stunde oder zwei ... meinetwegen ... zwei ...« Aber Karen schüttelte den Kopf und ging hinaus.
»Wenn was da ist, holst uns«, rief Niels ihr nach und hörte noch im halben Traum, wie die Tür klappte und der Wind aufheulte. Zugleich fühlte er, wie die Kälte hereinschlug, und er zog ohne Bedenken die Beine etwas höher und steckte den Kopf tiefer unter die Decke. Dann flog die Tür zu, und es wurde stiller. Das Mädchen tastete vornübergebeugt über die Dünen nach dem Strand. Der Wind war so stark und so kalt, daß er ihr fast den Atem benahm, und sie sich dann und wann umdrehen mußte. Wie scharfer Schnee schlug der Sand ihr ins Gesicht. Erst als sie den Strand erreicht hatte, wurde es besser.
Es war tiefdunkel. Kein Licht. Und die See war nicht weit zu sehen. Nur fünfzig Faden weit leuchteten die weißen Köpfe. Ein Brausen und Keuchen und Zischen und Brodeln war die Luft, war die See. Das Wasser stieg rasch: der weiße Schaumstreifen wurde von jeder See höher an den Strand gespült.
An diesem Strich entlang ging Karen und bückte sich, wenn sie etwas Dunkles gewahr wurde. Dann stieß sie es mit den Füßen an, zu erfahren, was es sei. Alles Holz las sie auf und steckte es in einen Sack, den sie unter dem Arm trug. Tang und Muscheln lagen viel da – weiter auch fast nichts.
Als es Morgen werden wollte, hatte sie immer noch keine Tracht.
Hinter den Dünen erschien ein grauer Streifen, der höher und höher gekrochen kam.
Der Sturm raste noch mit voller Kraft. Drohender und gewaltiger schüttelte die See ihre Stierhäupter.
Kein Holz, kein Schiff, kein Wrack, kein Notschuß, kein Feuer – nur schwarzes Wasser und weißer Schaum.
Sie blieb stehen ... Da trieb etwas ... etwas Dunkles, Undeutliches, Unförmiges ... es kam näher. Aus Gewohnheit hielt sie die Hand über die Augen, wie sie an hellen Tagen oft getan hatte, wenn Sonnenschein um Dach und Dünen brannte und die Luft flimmerte.
Es konnte ein Schiff sein, ein Kahn oder ein Boot.
Das Seeräuberblut regte sich in ihr, ungeduldig lief sie am Strand auf und ab. Ihre scharfen Augen unterschieden schon, ein Boot war es, voll Wasser geschlagen, eben, daß es trieb und ausguckte. Nur wenn eine große See es auf den breiten Rücken nahm und dann zurücklief, ragte es höher auf. Langsam schoben die Seen es näher heran, und endlich saß es am Sand als Strandgut.
Erst wollte Karen zurücklaufen und den Vater Niels, den Bruder Jens rufen. Aber sie besann sich anders und tat es nicht. So ging es nicht: Die Nachbarsleute konnten unterwegs sein, fanden es und hatten es. Sie überlegte, was sie machen sollte, dann zog sie eilig ihre Schuhe aus und streifte die Strümpfe ab. Ihr schauderte vor Kälte. Aber was half das? Sie schürzte den Rock auf und watete mit zusammengebissenen Zähnen in das eiskalte Wasser.
Den Steven hatte sie erfaßt und schwang sich auf den Bordrand. Tastend suchte sie nach der Fangleine, um das Boot aufs Trockene zu ziehen, da stürzte eine riesengroße See heran und schäumte über das Fahrzeug hinweg. Sie war durchnäßt. Fast hätte sie das Gleichgewicht verloren, aber sie hielt sich im letzten Augenblick krampfhaft an der Ducht fest.
Die See hatte es gut gemeint; als sie zurücklief, saß das Boot hoch auf dem Strand.
Wegtreiben konnte es nun fürs erste nicht mehr. Wenn sie noch den Anker aufs Land brachte, war das Strandrecht gewahrt, und sie konnte Hilfe holen.
Sie wollte es.
Es war so bitterkalt. So kalte Hände hatte sie.
Sie schauderte vor sich selbst. Wie Totenhände waren sie, wie fremde Hände. Plötzlich fühlte sie eine andere Hand, ... ein Fremder war bei ihr im Boot ... ein Toter ... Als gehöre es sich so, fühlte sie die Haare, die Nase, den Mund, ... als wenn sie träume ...
Wollte es denn nicht Tag werden?
Über den Dünen wurde es doch schon hell ...
Sie drehte sich wieder um und suchte nach der fremden Hand. Dann zog sie den Toten halb aus dem Wasser und legte ihn mit dem Rücken auf die Ducht.
Der stille Mann war schwer.
Er steckte in Ölzeug. Der Südwester hatte sich in den Nacken geschoben. Die Augen waren weit geöffnet und das Gesicht schneeweiß. Die Lippen waren fest geschlossen.
»Jung«, dachte sie, als sie keinen Bart sah.
Um die Hüften war das Bootstau geknotet – so waren Boot und Mann zusammengeblieben.
»Wer bist du?« murmelte Karen und beugte sich tiefer über ihn, um seine Züge zu erkennen, aber der Tag war noch zu grau.
Wieder schlug eine große See klatschend über den Setzbord.
Da ließ sie die Hände los und löste das Tau. Auf ihren starken Armen trug sie den Toten durch das Wasser und bettete ihn auf das Dünengras. Leise und scheu strich sie ihm das Haar aus dem Gesicht und schaute verwundert in die hellblauen Augen. Verwundert ... einen kurzen Augenblick.
Dann stand sie auf und machte sich wieder mit dem Boot zu schaffen, über das die See fortwährend schäumte. Sie zog es etwas höher, dann entdeckte sie eine Pütz unter den Duchten und machte sich daran, das Wasser auszuschöpfen. Wenn auch die Seen immer wieder hereinschlugen, und sie bei dem Winde kaum auf der Ducht stehen konnte, es glückte ihr doch, und als das Boot erst Luft hatte, kam es von selbst höher aus dem Wasser. Bald hatte sie es soweit leer, daß sie auf den Lohnen stehen konnte.
Das Boot war fast neu. Sie beugte sich über den Achtersteven: »Gesine von Hamburg« stand da. Von Hamburg, von Deutschland, dachte sie und sah nach dem Toten hinüber.
Es war Tag geworden – sie gewahrte es und hielt inne. Dann sprang sie hinaus und zog das leere Boot so hoch auf den Strand, wie sie konnte, band das Tau um einen herangeschleppten Felsen und lief die Dünen hinan. Der Wind wehte sie hinauf.
Oben auf der Höhe kam es über sie, als habe sie etwas vergessen; sie mußte sich umdrehen und nach dem Toten gucken.
So sonderbar war ihr zumute. Erst hatte sie sich gefreut, Vater und Bruder den Fund zu melden; nun war sie beklommen, war es ihr nicht mehr recht, was sie tat.
Sie sah von oben mit einemmal auf ihr Leben hinab, auf ihr graues, stumpfes Leben. Ein Tag war wie der andere gewesen. Und die Gesichter immer dieselben. Eine Arbeit, ein Schelten und ein Gespräch. Immer das Alte, keinen Tag etwas Neues. Fünf Häuser waren es, und fünf Häuser blieben es. Und auf den Dünen wuchsen ewig keine Blumen. So war es immer gewesen, und sie hatte es nicht gewußt: nun aber kam es über sie. Draußen auf der See, ganz weit hinten, daß sie eben noch zu sehen waren, gingen mitunter Schiffe vorbei: Segelschiffe und Dampfer. Die Segel erschienen so weiß und rein, und der Rauch stieg steil in die Luft. Da war die Welt, da fing sie an: da sangen und lachten die Menschen und trugen schöne Kleider. Wie oft hatte sie als Kind barfuß auf dem Sand gestanden und gewartet, daß ein Schiff, ein einziges nur, heransegele und sie abhole. Aber alle zogen vorbei und kamen ihr aus den Augen. Einer mußte kommen, einer, der anders war, als die sie kannte, der lachen und singen konnte, der sich freute und sie bei der Hand nahm, der ihr erzählte und sie fragte. Der hatte immer kommen sollen und war nicht gekommen.
Sie schauderte, ... da hinten lag einer mit hellblauen Augen, ... ob er es war, der zu ihr gewollt hatte?
Sie wollte nicht – und trat doch ins Haus.
»Vater! Jens!«
Der buschige Schopf wurde zuerst sichtbar.
»Was ist los?«
»Ein Toter, Vater.«
Niels wollte sich schon wieder umdrehen.
»Ein Boot auch.«
»Ein Boot auch.«
Das half. Niels richtete sich auf.
»Ein Boot?«
Er stieß Jens heftig an.
»Ein Boot, Jens! Aufstehn!«
Das ließ sich selbst Jens nicht zweimal sagen.
Niels stand schon in der blauen Unterhose da und suchte nach seiner seemännischen Ausrüstung. Zwischendurch fragte er in einem fort:
»Wo ist es? ... Neu? ... Treibt es noch? ... Oder sitzt es schon auf Land? ... Was steht dran? ... Und der Tote? ... Was für Zeug?« ...
Jens war auch bald reisefertig, und alle drei wateten durch den Sand. Niels war guter Laune und erzählte von Schiffen und Gütern, die in früheren Jahren angetrieben waren. Daß der Sturm ihm fast den Mund verschloß, störte ihn nicht.
Karen wies mit der Hand.
»Seht! Da!«
Karen war stehen geblieben.
»Vater!«
Niels drehte sich um.
»Was willst du?«
»Dem Toten müßt ihr seine Ruhe lassen. Den dürft ihr nicht anfassen. Versprecht mir das!«
Jens lachte höhnisch.
»Dumme Deern! Wenn das Zeug mir paßt, zieh ich's an. Der braucht nichts mehr.«
»Und wenn wir ihn melden, müssen wir ihn beerdigen lassen, und vom Boot bleibt nichts nach. Wir begraben ihn in den Dünen und damit gut.«
Jens schüttelte den Kopf.
»Seemannsgrab, Vater, Seemannsgrab. Das wünscht sich jeder Matrose.«
»Das tut ihr nicht! Das nicht! Versprecht mir das!« flehte das Mädchen. »Das dürft ihr nicht. Hört ihr?«
»Mach doch nicht so'n Lärm um den toten Mann,« knurrte Niels. »Freu dich, daß wir 'n Boot haben.«
»Dann geh ich nicht mehr mit«, drohte Karen.
»Geh meinetwegen nach Haus und koch Kaffee,« sagte Jens gleichmütig. »Wir können's allein.«
Karen begann mit großen Schritten zum Strand zu laufen.
»Willst du hierbleiben!« rief Niels, aber Jens sagte trocken:
»Laß sie laufen!«
»Was hat sie mit einemmal?«
»Mag der Deubel wissen. – Das Boot sieht gut aus.«
»Das können wir brauchen.«
»Nanu? Ist sie verrückt geworden?«
»Lauf, Jens, und halte sie auf.«
»Karen! Karen!«
Die beiden fingen an zu laufen, aber bei dem schweren Wind kamen sie in dem tiefen Sand mit den großen Seestiefeln nur langsam vorwärts.
Als sie am Strand ankamen, war das Boot schon ein gutes Stück vom Lande.
Karen stand auf der Ducht und schob mit dem Haken ab. Schwer haute der Steven in die Seen, und das Fahrzeug dümpelte gewaltig hin und her, aber das starke Mädchen zwang es.
»Karen! Karen!«
»Dumme Deern, komm her.«
Aber der Sturm verschlang jedes Wort, und Karen sah sie gar nicht; ihre Augen waren bei dem Matrosen, der still und friedlich auf den Lohnen lag.
Als sie weit genug war, kniete sie neben ihm nieder und faßte seine kalten Hände.
Und setzte sich so, daß die blauen Augen sie ansahen.
»Ich bring dich heim. Nach Esbjerg und nach Haus,« flüsterte sie und strich mit der Hand weich über seine Stirn.
Sie sah die fürchterliche Flage nicht herankommen und gewahrte die riesige See nicht, die das Boot wie einen Käfer auf den Rücken warf ...
Niels und Jens sahen es mit an.
Es war ein stürmischer Novembertag ...