Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Walter Flex wurde am 6. Juli 1887 in Eisenach als zweiter Sohn des Gymnasialoberlehrers Dr. Rudolf Flex und seiner Ehefrau Margarete, geb. Pollack geboren. Was er dem Elternhause verdankt, sagen seine Bücher besser, als fremde Worte es vermögen. Zusammen mit drei Brüdern wuchs er auf, zwei jüngeren, Martin und Otto, und einem älteren, Konrad. Die beiden ersteren kämpften und starben gleichfalls für Deutschland. Otto Flex fiel im September 1914 neunzehnjährig als Leutnant in Frankreich. Martin Flex starb als Oberleutnant der Reserve am 21. Februar 1919 an einer Rippenfell- und Lungenentzündung im Städtischen Krankenhaus zu Hannover. Vor Antwerpen schwer verwundet, kehrte er geheilt an die Front zurück und kämpfte weiter, bis ihn im September 1918 im Felde die Krankheit ergriff. Noch auf dem Krankenbette war er mit der Herausgabe des »Wolf Eschenlohr« beschäftigt und las die Druckbogen des Werkes, dessen Erscheinen auch er nicht erleben sollte. Der Vater starb im Juli 1918.
Walter Flex besuchte zunächst die Vorschule und dann das Karl-Friedrich-Gynmasium zu Eisenach, an dem er Ostern 1906 das Abiturientenexamen bestand. Schon in seiner Kindheit zeigte sich sein tiefes Gemüt und seine dichterische Begabung. So schrieb der Elfjährige ein Gedicht auf den Tod des Fürsten Bismarck. Während des Burenkrieges nahm der Knabe mit glühender Leidenschaft für die Buren Partei und verherrlichte sie in zahlreichen Liedern. In die spätere Gymnasialzeit fallen viele lyrische Gedichte und mehrere dramatische Versuche. Eine dramatische Skizze »Die Bauernführer« wurde von einem Gymnasiastenverein in Eisenach aufgeführt. Der Verfasser spielte dabei die Hauptrolle. Auch das Trauerspiel »Demetrius« ist im Wesentlichen in der Primanerzeit entstanden. Schon damals also war sich Flex über die ihm eigentümliche Auffassung der Tragik klar geworden. In jener Zeit wurde er auch mit Otto von Leixner bekannt, der seine literarische Begabung erkannte. Von da an wurde er dauernder Mitarbeiter der »Deutschen Romanzeitung« und veröffentlichte in ihr zahlreiche Gedichte und Novellen. Ostern 1906 bezog er die Universität Erlangen, um hier und später in Straßburg Germanistik und Geschichte zu studieren. Daneben hörte er gern philosophische Vorlesungen. In Erlangen trat er in die Burschenschaft Bubenruthia ein, der er immer herzlich zugetan blieb. Während der Studentenzeit veröffentlichte er das Drama »Demetrius« (1909), die Novelle »Der Schwarmgeist« (1910) und einen Gedichtband »Im Wechsel« (1910). Der Demetrius wurde im Eisenacher Stadttheater aufgeführt. Der »Schwarmgeist« erschien im Verlag Otto Janke, Berlin, und behandelt den Stoff der »Bauernführer« novellistisch. »Im Wechsel« kam bei Joseph Singer in Straßburg heraus, ist aber im Buchhandel nicht mehr zu haben. Das Buch war einem lieben Studienfreunde, Hans Herding, gewidmet. Die Gedichte, von denen viele in die Gymnasialzeit zurückreichen, sind zum Teil in die Sammlung »Sonne und Schild« aufgenommen worden. Während der Universitätsjahre entstand auch ein bisher nicht gedrucktes Schauspiel »Das heilige Blut«, das demnächst veröffentlicht werden wird.
Am 31. Oktober 1910 promovierte Flex in Erlangen mit einer Arbeit über »Die Entwicklung des tragischen Problems in den deutschen Demetriusdramen von Schiller bis auf die Gegenwart«. Damit schloß er seine Studien ab, um sich dem Schriftstellerberuf zu widmen.
In den Jahren 1910–1914 war er an verschiedenen Orten als Hauslehrer tätig. Zunächst war er Erzieher des jungen Grafen Nikolaus von Bismarck in Varzin, mit dem er bis zu seinem Tode in freundschaftlichem Verhältnis stand. Dann berief ihn die Fürstin Bismarck nach Friedrichsruh, um ihre beiden Söhne Gottfried und Wilhelm zu unterrichten und zugleich das Bismarcksche Archiv ordnen zu helfen. An diesen beiden Orten vertiefte er sich in die Geschichte des Hauses Bismarck und fand die Anregung zu dem Novellenband »Zwölf Bismarcks« und zu der Tragödie »Klaus von Bismarck«. Beide Bücher erschienen zuerst 1913 bei Otto Janke, Berlin. Der »Klaus von Bismarck« wurde auf einer ganzen Anzahl deutscher Bühnen mit großem Erfolge aufgeführt. Im vorigen Jahre ist er in zweiter und dritter Auflage bei C. H. Beck in München erschienen. In der von der Evangelischen Gesellschaft in Stuttgart verlegten Erzählung »Klaus von Bismarck« ist derselbe Stoff behandelt. Die »Zwölf Bismarcks« waren erstmalig einzeln in der Deutschen Romanzeitung, Westermanns Monatsheften, der Täglichen Rundschau und der München-Augsburger Abendzeitung veröffentlicht worden. Sie lehnen sich nur lose an geschichtliche Tatsachen an. Das Meiste ist frei erfunden. Das Buch will keine Chronik sein, sondern durch psychologische Problemstellung fesseln. Zwischen dem »Heiligen Blut« und dem »Klaus von Bismarck« schrieb der Dichter das Königsdrama »Lothar«, das demnächst bei C. H. Beck erscheinen wird. Zu diesem verfaßte er ein »Begleitwort«, das im März 1912 gedruckt wurde und in ästhetischer Beziehung sehr wichtig ist. Es ist ein erweiterter Sonderdruck aus der Dissertation über das Demetriusproblem. Der Dichter setzt darin die ihm eigentümliche Auffassung vom Wesen der Tragik auseinander, wie sie sich ihm an Hebbel und im Gegensatz zu ihm entwickelt hat.
Von Friedrichsruh ging Flex als Hauslehrer zu dem Freiherrn von Leesen nach Retschke in der Provinz Posen, wo er warmes, herzliches Interesse für sein literarisches Schaffen fand. Die »Zwölf Bismarcks« sind Herrn und Frau von Leesen gewidmet.
Während der Tätigkeit in Retschke brach der Krieg aus. Der Siebenundzwanzigjährige hatte bisher wegen einer Sehnenschwäche der rechten Hand nicht dienen dürfen. Nun aber meldete er sich sofort als Kriegsfreiwilliger und war fest entschlossen, alle Widerstände zu überwinden, die seiner Meldung etwa wegen seines körperlichen Zustandes entstehen könnten. Es war sein ausgesprochener Wunsch, Infanterist zu werden. Er trat bei dem Inf. Reg. 50 in Rawitsch, der Geburtsstadt seiner Mutter, ein. Sein Idealismus und sein goldener Humor siegten über die Verdrießlichkeiten, welche die militärische Ausbildung für den schon Älteren naturgemäß mit sich brachte. Mit Ersatzmannschaften des Regiments kam er nach Frankreich und nahm an dem Stellungskrieg in den Argonnen teil. Von den Strapazen des Winterfeldzugs, den er als Musketier mitmachte, blieb ihm nichts erspart. Bewußt unterzog er sich mit Eifer den niedrigsten Arbeiten, um anderen ein Beispiel zu geben. In jener ersten Zeit des Krieges erschienen unter dem Titel »Das Volk in Eisen« seine ersten Kriegsgedichte, die vorher einzeln hauptsächlich in der Täglichen Rundschau und in Westermanns Monatsheften veröffentlicht worden waren. Die bunten Heftchen kamen in fünf Auflagen bei Oskar Eulitz in Posen heraus und haben in vielen Tausenden von Stücken im Heere und in der Heimat Verbreitung gefunden. Der Erlös war für das Rote Kreuz bestimmt. Jetzt ist das »Volk in Eisen« im Buchhandel nicht mehr zu haben. Die Gedichte sind in die Sammlung »Sonne und Schild« übergegangen, die 1915 bei Georg Westermann in Braunschweig erschien. Das Buch ist dem Gedächtnis von Flex' jüngstem Bruder Otto gewidmet, der im September 1914 neunzehnjährig als Leutnant in Frankreich fiel. Es enthält zwei Teile, »Die Kriegsgesänge« und die »Gedichte aus der Stille«. Letztere stammen, wie bemerkt, zum Teil aus dem Gedichtband »Im Wechsel«. Doch sind auch viele neue Gedichte aufgenommen, unter ihnen mehrere, die Flex auch als Balladendichter zeigen. Gleichfalls im Jahre 1915 erschien bei C. H. Beck in München das Buch »Vom großen Abendmahl«, dessen Hauptteil »Das Weihnachtsmärchen des fünfzigsten Regiments« Weihnachten 1914 entstand. Näheres über die Entstehung findet sich in dem Buche selbst, das zur Zeit in neunundzwanzigster Auflage vorliegt. Auch die späteren Bücher des Dichters erschienen im Verlage von C. H. Beck, der sich um ihre Verbreitung sehr verdient gemacht hat. Die Beziehungen zwischen Flex und dem Beckschen Verlag wurden durch dessen Redakteur Walther Eggert Windegg angeknüpft. Mit diesem blieb der Dichter seitdem in Gedankenaustausch.
In Frankreich wurde Flex Gefreiter und erhielt wegen seiner Kriegsdichtungen den Roten Adlerorden mit der Krone. Im Vorfrühling des Jahres 1915 wurde er mit mehreren Kameraden nach dem Warthelager bei Posen kommandiert, um dort zum Offizier ausgebildet zu werden. Seine Erlebnisse von da an bis zum Frühjahr 1916 sind im »Wanderer zwischen beiden Welten« geschildert. Er trat als Leutnant in das Inf. Reg. 138 ein, mit dem er Wilna erobern half und die Kämpfe bei Postawy und am Narotschsee mitmachte. Am 23. August 1915 fiel sein lieber Freund Ernst Wurche einer russischen Kugel zum Opfer. Der Dichter hat ihm im »Wanderer zwischen beiden Welten« ein unvergängliches Denkmal gesetzt. Das Buch erschien Ende 1916 im Beckschen Verlag und hat von Flex' sämtlichen Werken die größte Verbreitung gefunden. Es erlebte in zwei Jahren neununddreißig Auflagen und ist in über hundertdreißigtausend Exemplaren verbreitet. Ein freundliches Geschick ließ den Dichter noch die ersten großen Erfolge des »Wanderer« erleben. Besonders glücklich machten ihn die vielen von Herzen kommenden Zuschriften aus dem Felde und der Heimat, die ihm zeigten, wie vielen er durch seine Bücher Trost und Kraft und Freude gegeben hat. Ernst Wurche war wie Flex' jüngster Bruder Otto Wandervogel, und so ist der Dichter mit dieser Jugendbewegung aufs Engste verwachsen.
In Rußland erhielt er das Eiserne Kreuz zweiter Klasse. Der »Wanderer« schließt mit dem Frühzahr 1916 ab. Flex nahm nun bis zum Sommer 1917 weiter am Stellungskrieg teil. Im Frühjahr 1917 meldete er sich mit mehreren Kameraden freiwillig nach der Westfront, wo damals die schweren Kämpfe um Arras tobten. Über seine Beweggründe schrieb er am 28. April einen sehr bemerkenswerten Brief, der in dem Nachwort zum »Wanderer« abgedruckt ist. Doch wurde seine Meldung nicht angenommen. Statt dessen wurde er Anfang Juli 1917 auf einige Zeit nach Berlin kommandiert, um einen Band des großen Werkes zu bearbeiten, das der Generalstab unter dem Titel »Der Weltkrieg in Einzeldarstellungen« herausgibt. In Berlin fand er an Frau Fine Hüls einen treuen, verstehenden »Kriegskameraden«. Am 6. Juli, seinem dreißigsten Geburtstag, erhielt er das Eiserne Kreuz erster Klasse. Als die Offensive in Galizien einsetzte, suchte er seine Arbeit zu beschleunigen, um möglichst bald wieder an die Front zu kommen.
Ende August war er wieder bei seinem Regiment. Er machte den Übergang über die Düna und die Eroberung von Riga mit. Dann nahm er an dem Unternehmen gegen Ösel teil. Am 15. Oktober wurde er in dem Gefecht bei Lewwal schwer verwundet. Man brachte ihn in ein Lazarett in Peudehof, wo er am 18. Oktober, dem Geburtstag seines jüngsten Bruders Otto, nachmittags zwischen zwei und drei Uhr sanft und schmerzlos entschlummerte. Das Wichtigste über seine letzten Tage, seinen Tod und seine Bestattung ist in dem Nachwort zum »Wanderer« mitgeteilt. Die Herausgabe eines ausführlichen Lebensbildes und eines Briefbandes steht bevor.
Fast gleichzeitig mit dem Tode erschien im Beckschen Verlag der letzte Gedichtband von Walter Flex »Im Felde zwischen Nacht und Tag«, der in Jahresfrist einundzwanzig Auflagen erlebt hat. Der Dichter hat die Druckbogen noch gelesen, das fertige Buch aber nicht mehr zu Gesicht bekommen. Ein Teil dieser Gedichte war schon vorher in der Sammlung »Leutnantsdienst« im Verlag von Oskar Eulitz, Posen veröffentlicht worden. Seinen Gewinnanteil an dieser Sammlung hatte der Verfasser für Kriegswaisen bestimmt.
Im Jahre 1918 gab der Becksche Verlag einen Novellenband »Wallensteins Antlitz« mit einer Einleitung von Walther Lagert Windegg heraus. Die darin enthaltenen Erzählungen waren vor dem Kriege einzeln in Zeitschriften erschienen.
Der letzte dichterische Entwurf, mit dem Walter Flex sich trug, war eine Kriegsnovelle »Wolf Eschenlohr«, die leider unvollendet geblieben ist. Das Fragment wird hiermit der Öffentlichkeit übergeben. Zugleich soll über den Plan der Novelle einiges mitgeteilt werden.
Kurz vor dem Kriege war der Dichter mit dem Plan eines Romans beschäftigt, in dem er unter anderem die geistige und religiöse Welt des deutschen Arbeiters zu behandeln gedachte. Diese Welt sollte aber nicht nur geschildert, sondern über sich selbst hinaus entwickelt werden. Es handelte sich, soweit bekannt, um eine Art Erziehungsroman, der vom Individualismus erlösen und den sozialen Abgrund überbrücken sollte. Die Gedichte »Das eiserne »Werde« und »Der Metalldreher« aus »Sonne und Schild« entstammen diesem Gedankenkreise.
Durch den Krieg erfuhr dieser Plan naturgemäß eine Veränderung. Der Dichter schrieb nun den ersten Teil eines Romans »Arnold Eckarts Kampf mit dem Leben«.
Aber dieses Werk wurde nicht fortgesetzt, da sich ein anderer, stärkerer Gedanke in den Vordergrund drängte, der Entwurf des »Wolf Eschenlohr«. Zwischen dem letzteren und »Arnold Eckart« liegen noch andere Entwürfe, die sämtlich Weiterbildungen des ersten Planes sind und schließlich in den »Eschenlohr« ausmündeten. Auch andere Titel, bezüglich Untertitel, waren in Erwägung gezogen, insbesondere »Um Menschenbruderschaft und Gotteskindschaft« und »Die Erziehung zur Ewigkeit«.
Welcher Art ist nun das Verhältnis des »Arnold Eckart« zum »Wolf Eschenlohr«? Ein großer Teil des Gedankeninhalts, vor allem die religiös-sittlichen Ideen und das Problem der sozialen Versöhnung wurden übernommen. Auch ein Teil der Handlung ist ohne große Änderung in den »Eschenlohr« eingefügt, so zum Beispiel der Traum im zweiten Kapitel und die Szene mit dem Arbeiter Karl Igelshieb. Andererseits aber fiel der für den Roman grundlegende Charakter des Arnold Eckart fort, und dadurch erfuhr der ursprüngliche Plan allerdings eine tiefgreifende Veränderung. Der Hergang dabei war wohl folgender. Dem Arnold Eckart ist im Roman ein jüngerer Bruder Hans zur Seite gesetzt, doch lag der Schwerpunkt zunächst durchaus bei Arnold. Je mehr sich nun der Dichter mit dem Stoff beschäftigte, desto stärker trat für ihn der Charakter des Hans in den Vordergrund und verdrängte schließlich den des Arnold. Dabei erfuhr unter Einflüssen, denen hier nicht weiter nachgegangen werden soll, Hans Eckarts Charakter weitere Veränderungen und wurde schließlich zu dem des Wolf Eschenlohr umgebildet.
Im März 1917 schrieb der Dichter an Walther Eggert Windegg: »Ein paar ruhige Wochen und der »Wolf Eschenlohr« wäre geschrieben.« Im Sommer war er, wie erwähnt, zu einer kriegsgeschichtlichen Arbeit nach Berlin kommandiert. Von dort schrieb er weiter am 3. August: »Das verursacht mir täglich eine mindestens zehnstündige Akten- und Schreibarbeit. Gleichwohl vergeht keine Nacht, in der ich nicht mit einigen Zeilen wenigstens den im Kopfe völlig fertigen Plan meiner Kriegsnovelle fortsetze.« Am 23. August sandte er das erste Kapitel an den Beckschen Verlag. »Da ich morgen wieder zu meinem Regiment fahre, möchte ich vorher die Handschrift in Ihre Hände geben. Ich bin inzwischen ein gut Stück weiter gekommen, habe aber von der Fortsetzung noch keine Abschrift.«
Als Walter Flex am 15. Oktober verwundet wurde, hatte er eine Kartentasche umhängen, in der sich außer einigen Karten die Handschrift des zweiten Kapitels vom »Eschenlohr« befand. Außerdem waren darin ein Notizbuch, das hauptsächlich Entwürfe zu den Gedichten der Sammlung »Im Felde zwischen Nacht und Tag« enthielt, und ein schwarzes Quartheft, in dem noch zahlreiche lose Blätter lagen. Nach seiner Verwundung legte er seinem Burschen ans Herz, diese Mappe besonders gut aufzuheben, da sie sehr wichtige Dinge enthalte. So gingen die Gedanken des sterbenden Dichters um dieses sein letztes Werk, das er nicht mehr vollenden sollte. Mit anderen Gegenständen wurde dann diese Mappe den Angehörigen sorgfältig verpackt aus dem Felde zugesandt. Die tödliche Kugel war mitten hindurchgegangen und hatte die Handschrift des »Eschenlohr« sowie das schwarze Quartheft samt den darin befindlichen Papieren durchbohrt. Die Mappe muß einige Zeit, vielleicht halb geöffnet, auf der Erde gelegen haben, denn die Papiere waren beschmutzt, die Blätter zum Teil miteinander verklebt (zum Teil allerdings auch durch die Gewalt des Schusses aneinander geheftet) und die Zeilen teilweise vom Regen verwaschen. Daß etwas von dem Inhalt verloren gegangen sein sollte, ist nicht wahrscheinlich, da der Bursche mit großer Sorgfalt und Liebe verfahren ist. Der Dichter hat also nur die ersten beiden Kapitel vollendet, im übrigen aber den Plan, der fertig vor ihm stand, mit ins Grab genommen.
In dem schwarzen Hefte und auf den darin befindlichen losen Blättern findet sich eine Unzahl einzelner Bemerkungen. Poetische Bilder, Augenblickseindrücke, psychologische Beobachtungen, Gedanken, Stichworts und kurze literarische Bruchstücke wechseln in bunter Folge. Diese Notizen beziehen sich teils auf andere dichterische Pläne, hauptsächlich aber auf den »Eschenlohr«. Ein Teil der letzteren gehört zu den beiden ersten Kapiteln und ist in diesen also bereits verarbeitet, ein anderer Teil aber bezieht sich auf die Fortführung der Novelle. Wenn jemand, der selbst Gestaltungskraft besitzt, diese Blätter durchläse, so möchte er wohl ein Gefühl haben, als ob er mit der Wünschelrute über verborgenen Schätzen wandelte, oder wie der Schiffer, der ahnend über versunkenen Städten dahinfährt. Eine poetische Welt ist hier im Augenblick des Entstehens vom Tode überrascht worden. Nur ganz kurze Zeit noch, und jene Bruchstücke, die ja nur Andeutungen sind, wären zum schönen Kristall zusammengeschossen. Nun stechen sie starr und doch von geheimer Bewegung durchpulst, in einem seltsamen Zwischenzustand zwischen Sein und Nichtsein und scheinen die verwandte Kraft um Leben anzuflehen. Aber niemand wird diesen Zauber lösen, denn wenn je ein Kunstwerk, so beruht der »Wolf Eschenlohr« auf höchstpersönlichen Erlebnissen und ist darum einer Fortsetzung durch Dritte schlechterdings unzugänglich.
Aus den hinterlassenen Notizen ergibt sich, daß im weiteren Fortgang der Novelle ein buntes Mosaik von Kriegsereignissen gegeben werden sollte. Flex wollte, wenn auch die Handlung als Ganzes frei erfunden war, doch großenteils die Erlebnisse schildern, die er selbst als Kriegsfreiwilliger gehabt hat.
Aber dies Mosaik sollte nur der Stoff sein, in dem und durch den eine Idee dargestellt und entwickelt werden sollte: die »Erziehung zur Ewigkeit, zu Gotteskindschaft und Menschenbruderschaft«. Diese Erziehung zur Ewigkeit besteht in der Erlösung vom Individualismus, in der Ablenkung vom Ich und der Hinwendung aufs Du, das dem Menschen in höchster Form im Vaterland entgegentritt. Damit stehen wir im Mittelpunkt der Flexschen Welt- und Kunstauffassung. »Mit der Menschwerdung zugleich«, heißt es im »Eschenlohr«, »ist der mit sich einige und schuldlose Gott in Ich und Du auseinandergespalten und der Schuld überantwortet worden. Der Gott im Menschen wird immer den Weg zur Entsühnung aus der Vielheit zur verlorenen Einheit suchen gehen.« Das Ich in seiner Isolierung ist etwas Armseliges und zur Verkümmerung verurteilt. Nur im Dienste für die Gesamtheit kann der Einzelne sein höchstes individuelles Leben entfalten. Das wahre, ewige, göttliche Sein des Ich, all sein Glück und all seine Größe beruhen auf der Hingabe an das große Du des Volkes. Die Überwindung des Egoismus, seine Steigerung zu Volks- und Vaterlandsliebe ist nicht nur sittliches Gebot, sondern Lebensbedingung des Einzelnen selbst. Hier ist auch der Angelpunkt für die tragische Grundidee des Dichters, wie er sie über Hebbel hinaus entwickelt und in den drei Tragödien »Demetrius«, »Lothar« und »Klaus von Bismarck« gestaltet hat. Während die Hebbelsche Tragik dem feindlichen Gegensatz zwischen dem übergroßen Individuum und der nivellierenden Gesamtheit entspringt, ist für Flex die Gesellschaft gerade die Lebensbedingung des Individuums. Darum besteht für ihn die Tragik darin, daß auf irgendeine Weise die Fäden, die den Einzelnen mit der Gesamtheit verbinden, zerschnitten werden, so daß er zur Zwecklosigkeit verdammt ist und wie eine vom Gesamtkörper losgetrennte Zelle verkümmern muß. Das Du ist die Lebensbedingung des Ich, darum muß das Ich zu Grunde gehen, wenn ihm das Du genommen wird. Dies ist der kurze Ausdruck der Flexschen Tragik. Auch in den Novellen kehrt die gleiche Grundanschauung bei aller Vielheit der psychologischen Gestaltung mehrfach wieder. So kann Thomas Seegebart in der vierten Bismarcknovelle keinen »Weg ins Leben« finden und vermag in der lebengebärenden Schönheit des siebenjährigen Krieges nur schale Einzelheiten zu sehen, weil er von seinem armen, kleinen Ich nicht los kann und der seelenweitenden Hingabe ans Du nicht fähig ist. Hans Leerkamp aber (siebente Bismarcknovelle) wird durch die »Brüder« gerettet, die sein Major ihm im Sterben schenkt.
In dem »Begleitwort zu Lothar«, das im Jahre 1912 in theoretischer Absicht geschrieben war, heißt es: »Der Egoismus überwindet sich selbst, wenn er im Bedürfnis nach ›tiefer, tiefer Ewigkeit‹ sich höher und höher steigert; so wird die Gesellschaft zum Ziel des Subjekts ...« Was damals für den Dichter Ästhetik war, wurde bei Kriegsausbruch Leben. Das Gedicht »Einst und jetzt« aus »Sonne und Schild« gibt davon Zeugnis. Wohl selten sind Kunst und Leben so ganz Einheit wie bei Walter Flex. Nun wird es verständlich sein, was er meinte, wenn er seinem letzten Werke den Titel »Die Erziehung zur Ewigkeit« geben wollte.
Aber keinen weltfremden, geschminkten Idealismus, keine Augenblicksstimmung wollte der Dichter gestalten, sondern einen Glauben, der sich im Kampfe mit den Wirklichkeiten der Dinge durchsetzt. Alles Grauen des Krieges, die Schrecken des Trommelfeuers, tausend Mühen, Entbehrungen und Erbärmlichkeiten, herzzerreißender Jammer und, was das Schlimmste ist, die Dämonen der eigenen Brust, sollten auf Wolf Eschenlohr einstürmen, um ihm die Kraft der Hingabe zu nehmen und seinen Glauben in Fetzen zu reißen. »Wolf Eschenlohr,« heißt eine jener Notizen, »will dir nichts den Glauben zerbrechen? Wolf Eschenlohr, glaubst du noch an Gotteskindschaft und Menschenbruderschaft?« Aber wie dem Dichter selbst die »matten und schlaffen Stunden« noch immer »zum würdigen Leben umgeschaffen« wurden, so sollte auch Eschenlohrs Glaube aus jedem Kampfe nur immer stärker hervorgehen. Um diesen Glauben auch jeder Prüfung durch den Zweifel auszusetzen, ist die Gestalt Hirschbergs eingefügt, dessen Kritik zersetzend, aber auch anregend wirkt. In den Gesprächen zwischen Hirschberg und Eschenlohr soll der Idealismus des letzteren seine sieghafte Überlegenheit beweisen. In welcher Weise dieser geistige Kampf zwischen beiden geführt werden sollte, ist schon aus dem zweiten Kapitel ersichtlich. Ein weiteres Beispiel aus den Notizen soll hier Platz finden. In der Mappe befindet sich auch ein Aufsatz »Vier Wochen kriegsfreiwillig«, dessen Inhalt in den »Eschenlohr« verwebt werden sollte. Darin heißt es unter anderem: »Zwischen Metz und Conflans ging es über die Grenze. Und hier, in diesem ernsten und großen Augenblick, durften wir etwas wie eine wundersame himmlische Verheißung sehen, die dem Beginn unserer Kriegsfahrt eine tief und dankbar empfundene Weihe gab. Eine rasche Kurve der Bahn gab plötzlich unseren Augen den Blick auf den fast völligen Mond frei, der die Waldhöhen der Grenzlandschaft mit seinem weichen Licht überschüttete. Um den Mond war leichtes Gewölk, ein heller, flockiger Luftschaum gesammelt, und in diesem Gewölk stand wie ein Gottesdiadem ein in vollen und reinen Farben strahlender Mondregenbogen. Dieses nie gekostete, märchenhaft schöne Bild erregte die Herzen mit wundersamem Schauer. Erinnerungen an Schillers Tell brannten im tiefsten Blute auf, und was der Dichter die wehrhaften Volksgenossen in seiner Rütliszene erleben läßt, empfanden wir nun als Wirklichkeit. Klingende Verse aus dem Hohenlied der Vaterlandsliebe wachten im Herzen auf, und die Lippen raunten sie leise nach.« Unter dem Eindruck dieses Erlebnisses sollte Eschenlohr offenbar zu den müden Kameraden sagen: »Und Ihr könnt schlafen?« Darauf sollte Hirschberg, der übrigens hier einen andern Namen führt, erwidern: »Ich will Ihnen etwas sagen. Ich weiß genau, wie's in Ihnen aussieht. Aber Sie werden in den Schützengräben keine Rütlileute finden. Denken Sie an mich!« Hier bricht die Notiz ab. So ist Hirschbergs Geist darauf gerichtet, das Negative der Wirklichkeit zu sehen, während Eschenlohr das Positive sucht und erkennt.
Übrigens stellt Hirschberg den Typus des über sich selbst reflektierenden und darum nicht unbefangenen Menschen dar. In diesem Punkte hat er eine gewisse Ähnlichkeit mit Arnold Eckart. Dagegen ruht Eschenlohr wie Arnolds jüngerer Bruder Hans sicher und unbefangen im eigenen Wert. Diesen Gegensatz zwischen dem sich selbst bespiegelnden und dem unbefangenen Menschen hatte der Dichter schon früher in einem Märchen »Die Wunschbüblein« gestaltet. Unter den Notizen befindet sich nun die Bemerkung: »Hirschberg erzählt zu Ende der Kriegsnovelle das Märchen von den zwei Wunschbüblein. Dann geht er hinaus und weint bitterlich.« Zwar ist es nicht sicher, ob dieser Gedanke ausgeführt worden wäre. Da aber der »Eschenlohr« unvollendet geblieben ist und jene Bemerkung immerhin vorliegt, so ist das Märchen in dieses Buch mit aufgenommen worden. Es wird den Leser an sich interessieren und steht ja immerhin in Zusammenhang mit der Kriegsnovelle.
Mehrfach finden sich auch Bruchstücke einer »Predigt an die Stillen im Lande«. Diese Predigt sollte nach einigen Notizen beim Abendmahl der Kriegsfreiwilligen vor dem Auszug gehalten werden. Nach einer anderen Bemerkung aber sollte sie an den Schluß der Erzählung treten und dem Feldprediger an Eschenlohrs Grab in den Mund gelegt werden. Der letztere Plan wäre wohl ausgeführt worden. Dies Bruchstück ist an das Ende des Buches gesetzt. Dort haben auch noch einige andere Fragmente Aufnahme gefunden. Freilich ist zu beachten, daß es sich hier nicht um abgeschlossene, für den Druck bestimmte Teile handelt, sondern um flüchtige Skizzen, die aber doch dem Leser nicht vorenthalten werden sollen.
Aus dem Gesagten geht hervor, daß Wolf Eschenlohr fallen sollte. Dies wird ja schon durch die Kreuzesvision im ersten Kapitel angedeutet. Die Schilderung des Todes wäre zweifellos etwas poetisch unendlich Schönes geworden und hätte den Grundgedanken noch einmal siegreich aufleuchten lassen.
Auch mit dem Gottesbegriff und dem Gebet sollte die Novelle sich auseinandersetzen. Wie in Flex' anderen Schriften tritt auch hier die Überzeugung hervor, daß wir von Gott keine Durchbrechung der Kausalitätsgesetze erwarten und erbitten dürfen. Nicht um die Pfennige in Gottes Hand sollen wir beten, sondern um die Hand selbst und die göttliche Güte auch da noch verehren, wo das zerstörende Schicksal unser irdisches Dasein zermalmt.
Freilich konnte sich der Dichter nicht verbergen, daß auch das große Du des Volkes, an das der Einzelne sein alles setzt, dem ehernen Gesetz des Schicksals untersteht. Der Einzelne mag zu Grunde gehen und doch in seinem Idealismus nicht irre werden, den er gerade im Tode bekräftigt. Aber wie, wenn das Volk selbst vernichtet wird? Verliert dann nicht die Hingabe ans Vaterland ihren Sinn und Wert? Auch diese Frage hat sich Flex schon vorgelegt, als er seine Ansicht vom Wesen der Tragik formulierte. In dem »Begleitwort zu Lothar« schreibt er: »Aber wird das vertrauende Individuum nicht in seinem Ewigkeitsbedürfnis betrogen? Setzt es nicht seine besten Kräfte, die gebieterisch ein dauernderes Ziel verlangen, als die eigene Lebensspanne gewahrt, abermals an ein Endliches? Zeigt nicht schon eine naturwissenschaftliche Eschatologie die Grenzen der Gesellschaft?« Die Antwort, die der Dichter damals gab, läßt sich in Verbindung mit späteren Äußerungen wie folgt zusammenfassen: Wie der Einzelne, so sind auch die Völker auf dieser Erde vergänglich. Aber so wenig man von dem Menschen sagen kann, sein irdisches Leben sei zwecklos, weil es nicht ewig ist, so wenig kann man es von dem Volke. Bei den Völkern wie bei den Einzelnen liegt der Wert des Lebens nicht in der Dauer, sondern im Inhalt. Der höchste Lebensinhalt aber besteht für den Einzelnen wie für das Volk, das ja nichts ist als die Vielen in organischer Verknüpfung, in der Hingabe an die Gesamtheit. Der Zweck der Gesamtheit liegt darin, diese Hingabe zu ermöglichen und dadurch dem Einzelnen wie dem Volke den höchsten sittlichen Lebensinhalt zu geben. Die Erreichung dieses Zweckes ist unabhängig davon, daß die irdische Erscheinungsform des Volkes vergänglich ist. Darum behält die Hingabe ans Vaterland ihren Ewigkeitswert für Ich und Volk, ob auch das Vaterland untergeht. Dem gleichen Gedanken wird in der zweiten Bismarcknovelle Ausdruck gegeben: »Umsonst? Es mag enden, wie es will – Ihr werdet Euer Brandenburg! Brandenburg! nicht umsonst gejubelt haben. Hat nicht der tote Begriff Vaterland lebendige Schönheit und Taten gezeitigt? Haben nicht tausend junge Menschen durch tausend Stunden menschlichen Lebens nicht an Leichtes und Leeres und Arges gedacht, sondern sind mit warmen und festen Herzen durch Tage und Nächte gegangen? Kann eine Zeit ›umsonst‹ sein, die aus dem sprödesten der Stoffe, aus dem menschlichen, Kunstwerke gemacht und sie auch denen offenbart hat, die sie wie Barbaren zertrümmern mußten?« Auch diese Ideen gewannen durch den Krieg vertieftes Leben. Schon im »Wanderer« klingt das Wort vom Schwerttod der Völker an. In dem Briefe vom 28. April 1917 heißt es: »Was ich von der ›Ewigkeit des deutschen Volkes‹ und von der welterlösenden Sendung des Deutschtums geschrieben habe, ... ist ein sittlicher Glaube, der sich selbst in der Niederlage oder, wie Ernst Wurche gesagt haben würde, im Heldentode eines Volkes verwirklichen kann.« Unter den Notizen zum »Wolf Eschenlohr« aber findet sich die Stelle: »Sieg oder Tod darf keine Phrase sein. Im Kampf um die gerechte Sache muß ein Volk auch den eigenen Tod erleiden können, ohne an der sittlichen Weltordnung irre zu werden. Der Endsieg des bösen Prinzips ist nur ein scheinbarer, das gute Prinzip hat sich zum Höchsten eben im Tode entwickelt und seine feinste Blüte getrieben, um derentwillen das Volk geschaffen worden war.«
Will man den Gedankeninhalt des »Wolf Eschenlohr« in einen Satz zusammenfassen, so kann man wohl sagen: Er sollte das Siegeslied jenes »unbeugsamen und zu keiner Konzession bereiten Idealismus« werden, der in allem Grauen des Krieges, im Tode und selbst im Gedanken an den Untergang des eigenen Volkes den Ewigkeitsglauben an Gotteskindschaft und Menschenbruderschaft festhält.
Eisenach, im März 1919.
Dr. Konrad Flex.