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Gott dichtete Menschen in den Tagen, als der Krieg noch jung war, und bot sie unter der Masse feil an allen Kasernentoren. Und es erging dem Gott wie den anderen Dichtern, sie schickten ihn mit seiner lebendigen Ware von einer Tür zur andern, als wäre es Ramschware.
Ein Schwarm junger Menschen, die auf gemeinsamer Abenteuerfahrt von Regiment zu Regiment durch die überfüllten Garnisonen allmählich durch gleiche Hoffnungen und gleiche Enttäuschungen vertraut geworden waren, fanden sich in der hellen Frühe eines Augustmorgens vor den Toren der nüchternen alten Müllerkaserne in Rawitsch zusammen. Die Musketiere des Niederschlesischen Regiments bluteten schon auf französischen Schlachtfeldern. Ihre Stuben, die sie kahl und leer zurückgelassen hatten, sollten sich mit Kriegsrekruten füllen. Auf acht Uhr morgens hatte das Ersatzbataillon die Musterung der Freiwilligen angesetzt. Opferdurst und Abenteuerlust brannten mit ungleicher Flamme in den vieltausend Herzen. Heiße Herzen und hitzige Köpfe hatte der Zufall zusammengefegt. Wer wollte sie scheiden? Das Herzblut war den Menschen dieser Tage tiefer als je in die Augen gestiegen und machte die Fremdesten ähnlich wie Brüder. Nur Tüchtigkeit oder Untüchtigkeit des Leibes band und schied heute die Menschenschicksale.
Wolf Eschenlohr war seiner Sache gewiß. Sein durch Turnen und Fechten, Tanzen, Reiten und Schwimmen stählern geschmeidiger Leib war ihm wie ein guter Kamerad, der ihn noch nie im Stich gelassen hatte.
Truppweise, nach den Anfangsbuchstaben ihrer Namen, wurden die jungen Leute in die Revierstube gerufen, wo sie sich entkleideten und hastig, in beflissener und ungeschulter Strammheit vor dem Bataillonsarzt antraten. Nüchtern und geschäftig wie ein seelenloser Handel wickelte sich die Musterung ab, die über Menschenschicksale mit grämlich und gleichgültig hingesprochenen Zahlen und Buchstaben entschied. Barsch, wie man Übellästige abfertigt, rief der Feldwebel auf, wer an der Reihe war. Kaltschnäuzig und rasch taxierte der Arzt die Jugend, die hüllenlos durch seine Hände ging, wie eine Herde Junghammel ab, die versteigert werden sollte. Manches magere, überschlanke Kerlchen hing mit brennenden Augen an seinen Lippen, als hätte es um einen Richterspruch über Leben und Tod oder lebenslängliche Ehrlosigkeit zu bangen. Er schien es nicht zu sehen. Und das war gut. Denn sonst hätte sich ein Schwall von Bitten und bettelnden Beteuerungen über ihn ergossen wie über einen weichherzigen Lehrer.
»Rechten Fuß hoch! Linken! Tief atmen!« Ein paar Buchstaben wurden gleichgültig gegen die getünchte Kalkwand gesprochen. Der Schreiber kritzelte in die Listen. »Fertig! Der Nächste!«
Aus dem feuchten Holz der gescheuerten Fensterbänke zog die grelle Augustsonne das letzte Wasser und löste es in bläuliche Wölkchen auf, die als zitternder Dunst an den heißen Scheiben verschwebten. Der helle graue Raum roch nach Karbol und seifengeschrubbten, nassen Holzdielen.
Und doch ging durch diese kahlen vier Wände Tag um Tag und Jahr um Jahr der Springquell der deutschen Jugend, die aus dem Schoß des Volkes immer neu und schöngeboren hervordrängt wie ein Quell aus dunkler Erde, dessen hervorrinnende Wellen irgendwo in Sonne und Wind verwehen, ohne daß der helle Quell sich erschöpfte.
Die beiden jungen Leute, die vor ihm abgefertigt wurden, kannte Wolf Eschenlohr. Sie waren Rawitscher Kind, wie er. Breslauer Student der eine, Schmiedelehrling in Rawitsch der andere. Beide groß und gut gewachsen, waren sie doch wie aus zwei fremden Welten nebeneinandergetreten. In aufgeschwemmter verwöhnter Fülle noch jugendlich schlank der eine, großgliedrig und muskelhart der andere. Der Student und der kaum siebzehnjährige junge Hüne standen, Seite an Seite gestellt, wie lebendig gewordene Bildwerke des Michelangelo, Bacchus und David. Bei dem Studenten haperte es mit dem Herzen, er wurde zurückgewiesen, der Schmiedejunge wurde fast unbesehen genommen. Als der Student langsam zurücktrat, warf er einen langen Blick auf den derbgesunden Freiwilligen neben ihm, und eine jähe Röte schlug ihm in die Stirn, die sich langsam über das ganze Gesicht bis zum Halse ausbreitete. Wolf Eschenlohr sah diesen Blick und verstand ihn mit einem plötzlichen Mitleid. Der Student erkannte sich mit fressender Scham in der von keiner Askese ausgedörrten, von keinen Lastern aufgeschwemmten gesunden Leibeskraft des andern wieder. So hatte er selbst vor drei Jahren dagestanden und dasselbe junge, gutgewachsene Menschentum hatte er oft ohne Gefühl und Vergleich neben sich beim Bad und in der Fuchstaufe gesehen und hatte auf der Kneipbank und in schlechten Häusern gedankenlos an seiner Verunstaltung mitgeholfen. Nun auf einmal verglich er und schlich sich beiseite wie nach einem empfangenen Schimpf, der sich nicht abwaschen ließ. Wie ein großer, guter Junge stand er da, der sich mit einem Dummenjungenstreich das Leben verpfuscht hat, und würgte an seiner aufquellenden Reue. Wolf Eschenlohr empfand, was in ihm vorging, so stark mit, daß er beinahe seinen Namen überhört hätte.
Er wurde tauglich befunden und genommen.
Noch den Augenblick zuvor wäre es ihm selbstverständlich erschienen. Jetzt empfand er es wie den Überfall eines großen Glücks, von dem seine Augen noch leuchteten, als er schon durch die Torfahrt des Kasernenhofs hinausging.
»Heda Eschenlohr –! Genommen?«
Wolf Eschenlohr nickte. Erst dann sah er sich um, wer ihn gerufen hatte. Ein Schulkamerad, den er seit der Reifeprüfung fast vergessen hatte, hielt ihn am Ärmel, Moriz Hirschberg.
»Mensch, du siehst ja aus, als hätt'st du da drin Geburtstagskuchen und Ostereier gegessen! Warte, ich komme ein Stückchen mit. Bis zum H hat's noch immer gute Weile.«
Wolf Eschenlohr hätte sich am liebsten losgerissen. Aber er fand keinen Vorwand. Der junge jüdische Student mit seiner gutmütigen spöttischen Fistelstimme war vor Jahr und Tag in Sekunda und Prima sein täglicher Umgang gewesen, mit dem er auf dem Schulweg bis in Hausflur und Garten hinein schülerhaft hitzige Streitreden über Gott und Unsterblichkeit getrieben hatte. Heute lüstete es ihn nicht nach Zergliederung und Verteidigung dessen, was er empfand. Aber schon schritt Hirschberg neben ihm auf dem alten Schulweg unter den Kastanien der Wallpromenade und sprach auf ihn ein.
»Ich will dir was sagen, Eschenlohr. Ich weiß recht gut, wie's in dir aussieht. Du bist noch zu heiß für eine kalte Dusche. Aber eins sag' ich dir trotzdem: vergiß auch die andern nicht!«
»Welche andern?«
Hirschberg blieb stehen und blinzelte Eschenlohr durch die verschwitzten Gläser seines schiefsitzenden Goldzwickers an. »Nu,« sagte er behaglich, »die andern eben, die Herrschaften, die sich's jetzt schon an den Fingern ausrechnen, wieviel sie an dem Zinksarg verdienen, in dem sie uns wieder nach Hause schaffen. Selig sind, die leeren Herzens sind, denn sie werden volle Beutel haben. Selig sind die Kaltschnäuzigen, denn sie sind nicht totzukriegen. Selig sind die Idealisten, denn sie soll der Teufel holen!«
»Pfui!« sagte Wolf Eschenlohr. Es war ihm, als hätte er einen Schlag empfangen. Die Augen wurden ihm groß und die Haut spannte sich über seinen Schläfen, daß das blaue Geäder sichtbar wurde.
»Püh!« lächelte Hirschberg. »Ihr heizt das Blut jetzt mit Begeisterung. Die andern wissen, daß wir im Winter Wolle brauchen werden. Na, nichts für ungut, Eschenlohr! Ich bin noch der Alte. Du weißt, ich halte mir gern den Kopf kühl und bin auch bei Fieber für kalte Abreibungen.«
»Du meldest dich doch auch freiwillig –?« fragte Eschenlohr mit beginnender Streitlust.
»Jawohl, Verehrtester. Aber das Notwendige tun und sich dafür begeistern ist zweierlei. Übrigens stände mir das schöne Feuer auch schlecht, wenn ich jetzt da drinnen, hager und haarig, meine Affenähnlichkeit zur Schau stelle. Aber meine Sehnen und Knochen nehmen sie doch. Auf Wiedersehen, alter Junge. Du weißt, ein Schubiak bin ich nicht. Wenn sie uns beim Kommiß nicht die Seele aus dem Leibe exerzieren, werden wir, denke ich, noch öfter unter den hundert Windmühlen von Rawitsch debattieren. Es hat sich immer gut geschwätzt bei dem Geklapper der Windmüller. Addio – das H dürfte jetzt dran sein!«
Wolf Eschenlohr reichte dem Schulkameraden die Hand. Hirschberg sah ihn mit einem langen Blick an. »Du, ich glaube,« sagte er ohne Spott, »du kannst nachts noch immer mit heißen Augen unter den Decken liegen ...«
Eschenlohr riß sich ärgerlich los. »Wer das nicht mehr kann, gehört sieben Schuh tief unter die Erde!«
In den nächsten Wochen erschien es den Kriegsfreiwilligen doch manches Mal, als wollte man ihnen »die Seele aus dem Leibe exerzieren«, wie Hirschberg gesagt hatte. Vom Zapfenstreich bis zum Wecken schliefen sie, dreißig junge Leute aller Stände auf einer Stube, immer zwei übereinander auf Pritschen und Strohsäcken. Sie trugen den blauen Rock, wie sie ihn auf der Kammer empfangen hatten. Die verschwitzte und verschossene fünfte Garnitur, die schon ganze Soldatengeschlechter auf dem Leibe getragen hatten, war ihnen eben recht. Keiner von den reicheren Kriegsfreiwilligen dachte daran, sich einen »Extrarock« schneidern zu lassen. Sie wollten nichts vor den ärmeren Kameraden voraus haben, wollten ganz in die an Recht und Pflicht gleiche und unterschiedslose Masse des Volksganzen verschmelzen. Nachts erweckte sie oft ein Donnergepolter, wenn der Unteroffizier vom Dienst die Stuben abging. Fand er irgendwo auf Spind oder Schemel ein Ding, das anders lag oder stand, als es die Stubenordnung wollte, so warf er Schemel, Waschschüsseln, Kleider und Wäsche, von Berserkerzorn gepackt, auf einen wüsten Haufen, schrie mit Donnerstimme »Raus aus den Betten! Rinn in die Betten! Raus aus den Betten!«, ließ seine Leutchen zehnmal im Nachthemd vor den Spinden antreten und wieder verschwinden und ruhte nicht, bis das Chaos geordnet war und der letzte Rock, im vorgeschriebenen Winkel gebrochen, auf seinem Schemel lag. Wehe der Stube, die ihre Schuljungenlustigkeit nicht unterdrücken konnte! Ihre Kaffeeholer rannten am andern Morgen mit den schweren gefüllten Kannen sicherlich so oft die ächzenden Treppen auf und nieder, bis der letzte Tropfen verschüttet war und die ersten Korporalschaften auf dem Hofe zum Abmarsch antraten. Im heißen, trockenen Sande vor der Windmühlenstadt wurde den jungen Soldaten Stehen, Gehen und Sehen beigebracht, als hätten sie wie Kaspar Hauser nie zuvor Augen und Glieder gebraucht. Meist kehrten sie so zerschlagen vom Exerzierplatz zurück, daß sie sich in der Kaserne förmlich am Treppengeländer emporhangelten und am liebsten für den Rest des Tages aufs Stroh geworfen hätten. Die Minute darauf standen sie in ihren grauweißen Drillichanzügen, in Reihen angetreten, vor dem Küchen-Unteroffizier, der ihnen mit der Kelle Reis oder Graupen in die Steingutschüsseln füllte. Mit Bajonettfechten und Turnen ging der Nachmittag hin. War das Gewehr gereinigt und in die Stütze gestellt, so wurde der Besen in die Hand genommen, bis Treppe und Höfe, Torfahrt und Straße blitzten, daß man »drauf speisen konnte«.
Da waren viele, die sich den Krieg anders vorgestellt hatten. Nach Sonne und Moos, nach der Wetterseite der Wälder, nach Sternen und Winden ins Abenteuer marschieren und reiten – darnach hatte ihnen der Sinn gestanden. Wie satte Kinder, die sich aufs Essen freuen, weil sie auf den Nachtisch lüstern sind, hatten sie immer nur an Eiserne Kreuze und Siegeseinzüge gedacht und sich von Besen, Schrubbürste, Schmierseife und wunden Füßen nichts träumen lassen. Aber die meisten waren doch wie gutartige Schüler in grobschlächtigen Lehrerhänden. Und wer insgeheim ein schiefes Maul zog, hatte ein wenig Schuhriegeln zumeist am bittersten nötig. Die ausbildenden Unteroffiziere und Gefreiten behandelten sie gewiß nicht wie Helden und Vaterlandsretter, aber sie sprangen mit den jungen Menschen im Grunde nur ebenso unsanft und unerbittlich um, wie es das Leben selbst irgendwo draußen in Frankreich oder Rußland bald mit ihnen tun würde. Sie waren als rücksichtslose Schrittmacher des Schicksals nicht einmal die schlechtesten Erzieher.
»Ich glaube, wenn der Kerl ›Antreten‹ schreit, stehe ich noch als Leiche vom Schlachtfeld auf!« stöhnte Hirschberg einmal zu Eschenlohr hinüber, während er sich mehr tot als lebendig unter der Last seines feldmarschmäßigen Gepäcks aus dem glühheißen Sande des Exerzierplatzes hochriß. Er war der Einzige, der in den sechs Wochen Ausbildungszeit nicht mundtot zu kriegen war. Er brachte es fertig, selbst aus der Front heraus, mit Worten und Händen wie ein Advokat sein Recht zu verteidigen. »Nu, mer wird sich verteidigen können!« rief er einmal zornig zurück, als sein Korporalschaftsführer den letzten Trumpf ausgespielt und ihm ein »Maulhalten!« zugedonnert hatte. Nur das schallende Gelächter der Kameraden konnte die Lage noch einmal retten. Der Unteroffizier, der nicht der schlechteste Kerl war, drehte sich auf dem Absatz herum und seine Kinnbacken arbeiteten, als wollte er sich die Lachmuskeln zerbeißen.
Unter der eisernen Zucht der Rekrutenausbildung lernten die jungen Menschen, die der Zufall zusammengewürfelt hatte, was sie draußen am bittersten brauchen sollten: Humor und Kameradschaft.
Arglos hatte Wolf Eschenlohr einmal ein Glas mit Rosen, die er aus einem Paket genommen hatte, auf sein Spind gestellt. In der Nacht hatte einer der gefürchtetsten »Schleifer« unter den Unteroffizieren Dienst. Angedonnert stand er im Licht seiner eigenen Kerze um Mitternacht vor dem Rosenspind in Stube 8. »Wer hat die Sauerei hierhergesetzt?!« brüllte er schließlich los, daß die dreißig Schläfer zugleich aus den Decken schraken. So oft wie in dieser Nacht mußten die Kriegsfreiwilligen nie zuvor und nie nachdem »aus den Betten und in die Betten« turnen, bis auch das letzte unterdrückte Lachen gesühnt war. Aber als der Gewaltige endlich dröhnenden Schrittes abgezogen war, kicherte noch bis zum hellen Morgen bald hier bald dort einer der großen Jungen auf und biß krampfhaft in seine Decken.
Wolf Eschenlohr hatte in den Rawitscher Tagen oft das Gefühl des Nichtschwimmers, der im Schwimmgurt des Lehrers hängt und sich freischwimmen möchte. Aber nichts konnte ihn verdrießlich machen. Wohl fühlte er sich manchmal mit seinem übervollen Herzen unter den Zufallskameraden, die zumeist mit leichterem Gepäck als er ins Abenteuer reisten, wie ein fremder Vogel im Schwarm. Aber er lernte, daß Liebe auch gegen Unwürdige selten Kraftverschwendung ist, wohl aber Zorn und Haß, den man an das Gesindel fortwirft.
Er hatte zudem einen leichten Stand gegen Vorgesetzte und Kameraden. Körperliche Zucht und Gewandtheit schafft eine rasche und freie Überlegenheit in Schulen und Kasernen. Seit die Kriegsfreiwilligen zum ersten Mal am Reck im Turnhof gehangen hatten, war Eschenlohrs Ansehen gefestigt. Nur einer tat es ihm nach, ohne ihm gleich werden zu können, Moriz Hirschberg. Keine Leibesübung konnte beim Kürturnen am Querbaum so halsbrecherisch sein, daß er sie nicht seinem zähen und sehnigen Körper abgezwungen hätte, wenn Eschenlohr sie spielend vorübte. Aber sein ehrgeiziges Nacheifern blieb immer ein saueres und häßliches Stück Arbeit, ohne zum leichten und freien Spiel der Kräfte zu werden, wie bei Eschenlohr. Er wußte sehr wohl, daß die andern verglichen und witzelten. Aber es war ihm gleich. Es war, als triebe ihn ein rastloses Streben, zu zeigen, daß seine Häßlichkeit so viel leistete wie irgendeine wesensandere Kraft, die ihm Achtung abnötigen wollte, die er nicht zu zollen bereit war. Jede unwillkürliche Achtung, die er vor irgendwem und irgendwas empfand, quälte ihn so lange, bis er sich durch die gleiche Leistung von dem fremden Gefühl losgekauft hatte.
An den dienstfreien Sonntagen lagen die ungleichen Kameraden oft auf den heißen Sandhügeln vor der Stadt in der Sonne, während die schweren schwarzen Flügel einer Windmühle über ihnen sich träge im unmerklichen Winde drehten.
»Nun, Eschenlohr, willst du nicht wieder einmal einen deiner Traumvögel stiegen lassen, daß ich sehe, ob ich ihm die Flügel rupfen kann?«
»Was kannst du für eine Freude daran haben?«
»Ich sehe, daß andere nicht klüger sind als ich. Daß sie so wenig wie ich Geister beschwören können, die sich nicht bannen lassen.«
Eschenlohr schwieg und sah den Schwalben nach, die im Sommerdunst durch die drehenden Windmühlenflügel schossen, als lüstete es sie, mit der Vernichtung zu spielen.
»Träumst du noch so viel, wie als Junge, Eschenlohr?«
Er bekam keine Antwort.
»Neulich habe ich selbst einmal geträumt. Es kommt selten genug vor. Es träumte mir, ich hätte einen Schuß durch den Kopf bekommen und es wäre aus mit mir. Dann habe ich wohl traumlos geschlafen. Aber als ich aufwachte und das Bewußtsein wiederkehren fühlte, wußte ich noch recht wohl, daß ich tot war und ich öffnete die Augen mit einer grenzenlosen Neugier nach dem, was nun sein würde, und in einer grenzenlosen Überraschung, daß noch etwas sein sollte ... Dann schrie der dicke Wiegand ›Kaffeeholer raus!‹ und ich war wieder auf Stube 8 und im Bilde. Das ist die größte Enttäuschung meines Lebens gewesen, Wolf Eschenlohr.«
Der andere lächelte. »Ach, Meister Volland,« sagte er und nannte den Kameraden mit seinem alten Schülerspitznamen, »willst du meine Traumvögel mit Lockenten fangen? Müssen wir denn durchaus wieder spintisieren und haarspalten, wie in unsern grünsten Jahren?«
»Es war diesmal keine Finte«, gab Hirschberg zurück und verzog die Lippen. »Der Traum ist leider geträumt und die Enttäuschung geschluckt.«
Eschenlohr hatte die Augen geschlossen und genoß die Sonne mit ganzem Leibe.
Hirschberg erhob sich und klopfte sich den Sand aus dem blauen Rock. »Du bist langweilig, Kamerad. Gehen wir auf Stube 8 ins ewige Leben!« Und er schritt den Hügel hinunter.
Eschenlohr sah ihm lächelnd nach. Er entsann sich, wie oft er sich in Schülertagen hier im heißen Sande mit hitzigen Worten zum Advokaten des Lebens gegen den frühreifen Ankläger aufgeworfen hatte. Wenn er die Augen schloß, so sah er Hirschberg wieder als sommersprossigen Jungen in kurzen rotbraunen Hosen mit fuchtelnden Armen und zuckenden Mundwinkeln vor sich stehen. Heute hatte die helle, klare Gewißheit des Lebens, das ihn zugleich mit der sommerlichen Erde wohlig durchrann, des Verteidigers gespottet. Es war, bei Gott, erquickender, das schöne, unsterbliche Leben selbst in Blut und Seele zu fühlen, als es in Worte einzufangen wie in zerbrechliche Gläser, aus deren Scherben es einem doch immer wieder wie ein fremder, flüchtiger Duft über die Hände rann. Nie war die Welt so weit und hell und schön gewesen als in diesen Abschiedswochen einer langbehüteten Jugend. Sättigender waren alle Farben des vertrauten Alltags geworden. Es gab nichts Besseres, als sich atmend und schauend der Schönheit der Gotteswelt hinzugeben und geruhig in ihr aufzugehen.
Allmählich ging die reine, starke Glut des Sommertags in eine fremde und dumpfe Schwüle über. Die schaumigen Wolkenballen am Horizont füllten sich mit fahlen, unreinen Farben und wuchsen drohend, ohne sich von der Stelle zu rühren. Die schweren schwarzen Radschaufeln der Windmühle standen still, als vermöchten sie den Sonnenschwall nicht mehr zu heben. Alles Lebendige fühlte sich von unsichtbaren Gewalten wie mit breiten, heißen Händen zur Erde gedrückt. Die Mücken schwärmten tiefer, und die Schwalben schossen taumelnd so dicht über dem Boden hin, daß sie den weißen Sand mit den schrägen Schwingen zu furchen schienen. Wolf Eschenlohr fühlte, wie ihm vom Sonnenschwall die Glieder schwer wurden wie einem müden Schwimmer, dem sich alle Kleider bleiern voll Wasser getrunken haben. Er fiel in Schlaf und unruhiges Träumen.
Dies war Wolf Eschenlohrs Traum:
Ein Jüngling jagte fluchtartig, nackten Leibes, über karge, baumlose Heide. Braunes, abgeblühtes Land dehnte sich endlos schillernd in unbestimmtem Lichte, in dem sich die bläuliche Kühle des Mondes und das Zittern des Sternenlichts seltsam mengten und das in dämmernder Ferne in die düstern, hart miteinander kämpfenden Farben mittäglichen Hochsommergewitters überging. Es war weder Nacht noch Tag. Weder Sonne, Mond, noch Sterne standen am Himmel. Nichts Lebendes war in dem endlosen Raum als der gehetzte Mensch, der zurückgeworfenen Hauptes, mit entsetzensweit offenen Augen dahinjagte; nichts war hörbar als das Keuchen seiner Brust und der leichte Hall seiner flüchtigen Sohlen. Aber in unregelmäßigen, qualvollen Pausen brach lautlos aus dem schütternden Heideboden unter ihm eine riesige braune Faust, ein mächtiger, erdiger Arm und haschten wild zupackend nach den Knöcheln des schlanken Menschenfußes. Oft fehlte die haschende Faust ihr flüchtiges Ziel, oft strauchelte der Gehetzte unter ihrem Griff und riß mit entsetzensvoller Anstrengung den Fuß doch noch aus der umklammernden Riesenhand, die dann lautlos, wie ein Schwimmer taucht, verschwand, um ein paar Atemzüge später wieder durch den Heidegrund zu stoßen wie durch ein morsches Gewebe. Es war, als ob ein Unhold unter der Erddecke mitliefe, zäh, unerbittlich, erbarmungslos, voll leidenschaftlichen Hasses. Wie eine lautlose, grimmige Verfolgung des lebendigen Menschengeschöpfs durch den Erdgeist selbst sah es sich an. Braun und formlos wie Maulwurfshaufen brachen die Fäuste aus der Erdkrume unter den Füßen des Keuchenden. Wieder und wieder. Tauchten auf, verschwanden, und tauchten wieder empor in dumpfem, unstillbarem Haß, der nach Zerstörung verlangte.
Der Traum wiederholte sich, ohne daß der Träumer erwachte.
Dieses Wiederholen verstärkte die Qual der Erscheinung. Es war, als ob eine wilde Laune immer wieder dieselbe Folge von Lichtbildern auf eine riesige Leinwand würfe. Die Erscheinung tauchte am Horizont auf und tauchte jenseits vom Horizont in brausendem Gewitterdunkel nieder. Dann verschlang grellweißes Licht für Augenblicke alles Sichtbare, und dann wiederholte sich das Schauspiel Zug für Zug mit beklemmender Gleichförmigkeit ohne Entscheidung ...
Der Traum zerbrach, und Wolf Eschenlohr fand sich an Freiheit, Tageshelle und Wirklichkeit zurückgegeben wie ein Gefangener, dessen Kerker ein Erdbeben jäh auseinandergeworfen hat. Seine junge Seele aber, statt erlöst ins Weite und Helle zu schweifen, strebte, kaum entronnen, in das Gefängnis des Traumes zurück, als habe sie dort einen ungehobenen Schatz zurückgelassen, der eilig gleitend in unsichtbare Tiefen versank.
Der Traum, der dem Schlummernden eben noch Dasein und Erlebnis gewesen war, wurde dem Grübelnden zum Symbol. Gesicht und Gestalt des Traumknaben gruben sich ihm tief und tiefer ein, ohne daß er wachend einen neuen Zug einfügte, und wurden ihm zum Bilde des Menschen schlechthin, des erdentstammten, doch auch erdentwachsenen Geschöpfs, das von den Mächten der Erde als fahnenflüchtig und als Wechselbalg verstoßen und umgetrieben wird.
Doch besann er sich wohl, was er beim Schauen der Bilder empfunden hatte. Er selbst war der Gehetzte gewesen. Keinen Augenblick hatte er während des Traumes das, was jetzt als Bild vor ihm stand, so wie nun von außen erblickt. Es war ihm kein Bild gewesen, während er träumte, sondern ein Erleben, nur daß er sich gleichsam selbst von außen betrachtet hatte, wie es nur in Träumen möglich ist. Erst als er erwachte, waren Bild und Betrachter erlösend auseinandergetreten. War das nicht seltsam? Keine Spur einer Ähnlichkeit bestand zwischen dem Traumbilde, jenem adlig schönen Jungen, dessen Alter er kaum zu bestimmen vermochte und der Tänzerschlankheit seiner eigenen achtzehn Jahre. Zeitlos war die Erscheinung gewesen, deren Nacktheit uranfänglich schön und kraftvoll wie ein ewiger Mythos gewesen war, ein Abgrund von Jahrtausenden stand zwischen ihm und dem Bilde. Und doch war jenes Wesen er selbst gewesen ...
Ist die Beharrlichkeit des Ichgefühls im Menschen an keine Form und keine Erinnerung gebunden? Ist es so formlos, so farblos, so inhaltlos? und dennoch so selbstverständlich klar als etwas Festumzirkeltes, in jeder Verwandlung noch sich Gleichbleibendes in sich beschlossen?
Welche Brücke führt von dir, Wolf Eschenlohr, zu jener Erscheinung, in die dein Ich wanderte, wie ein Mensch aus einem Zimmer ins andere, ohne auch nur zu empfinden, daß es gewandert ist? Kannst du alles verlieren, was du dein nennst, und doch du bleiben, du bleiben selbst ohne ein Gefühl des Verlustes? Tauchen vielleicht auch so die Toten von einer Existenz in die andere, nichts mit sich nehmend und doch alles behaltend, alles zurücklassend und doch nichts verlierend? Ist das Ich vom Du ununterscheidbar und doch ewig unterschieden? Kann ich alles, was in Menschenaugen meine Seele von Deiner abhebt, alle Beziehungen, alle Erinnerungen, alle Form und allen Inhalt auslöschen, ohne daß wir gleich und eigenartslos werden wie der eine Ton, der in zwei Stimmgabeln zittert? Ist das, was wir gemeinhin unsere Seele nennen, nur der bunte Mantel unseres wahren Ich? Und wer streift uns dieses farbige Kleid, das wir für unser Wesen halten, über und streift es uns wieder ab, wie man müden Kindern tut, ohne daß sie's merken? und wachen auf und finden frisches Gewand auf dem Stuhl vor ihrer Bettstatt?
Wer ist der Mächtige, der uns zwingt, gerade dies oder jenes zu erleben? gerade dies oder jenes für unser Wesen zu halten? Wer verbirgt uns unter tausend Hüllen vor uns selbst? Wer treibt uns um und jagt das Leben, das uns zu Tode hetzt, hinter uns her wie einen unsichtbaren, erbarmungslosen Unhold, dessen Griff doch unser flüchtiger Fuß, bis ins Mark erschauernd, täglich und stündlich fühlt?
Warum wandelte sich der Genius des Lebens, der den wachen Menschen sicher mit hellen Händen geleitet hatte, im Traum zum Dämon, der ihn verfolgte? Hatte der Genius Macht über den Dämon? Oder waren Dämon und Genius, beide, nur Masken des einen, unbegriffenen Schicksals, das aus fremder und ferner Zukunft weitausholend nach ihm griff? ...
Dämon oder Genius, wem von euch soll ich glauben?
Ein tiefes, schwellendes Grollen, das jäh wieder abriß und in tückischem Schweigen erstarb, ließ Wolf Eschenlohr witternd emporblicken. Zwischen Erde und Himmel stand eine schwarze Wolkenwand, die in drohender Stille emporgewachsen war. Aus ihr lohte ein jähes Wetterleuchten, als risse ein Schadenfeuer klaffende Risse quer durch dunkle Mauern. Ein fegender Windstoß trieb eine Wolke von Sand die Hügel hinunter wie eine kopflos flüchtende Herde. Ein schmetternder Donnerschlag schien plötzlich den Himmel in Stücke zu schlagen und über die nachzitternde Erde ergoß sich im Wolkenbruch ein unbändiger Wasserschwall.
Wolf Eschenlohr stand mit emporgehobenen Händen, als wollte er die Regenfluten tiefer auf sich herabbeschwören. Die stürmenden Wasser rissen den Sand unter seinen Füßen auf und brachen in dunklen Bächen durch die breiten und tiefen Rinnen.
Wolf Eschenlohr ließ sich den Gewittertraum von denselben dunklen Gewalten, die ihn geängstigt hatten, von Leib und Seele herunterwaschen. Die Wasser stürzten so mächtig auf ihn herab, daß es ihm fast den Atem verschlug. Wie ein Schwimmer, der zum Meere hinabeilt, lief er endlich den Hügel hinunter tiefer und tiefer in die Gewittergüsse hinein. Erst nach Stunden kehrte er zur Kaserne zurück. Die Stube war noch leer. Die Kameraden saßen rauchend und kartenspielend in den Wirtshäusern der Stadt. Er hing seine Sachen zum Trocknen auf und wechselte die Wäsche. Truppweise polterten die andern kurz vor Zapfenstreich die Treppe herauf und stürmten mit Lachen und Späßen herein. Eschenlohr fühlte sich ihnen fast fremd, so sehr schied ihn sein noch unverstandenes Erlebnis aus dem gewohnten Kreis. Er wickelte sich in seine Decken und wartete fast ungeduldig auf die Stille nach dem Lichterlöschen. Als es dunkel geworden war, horchte er noch lange wach und schweigend in sich hinein.
Erst der neue Morgen stellte ihn wieder mit frischen Füßen in die lebendige Welt.
Den Dienstunterricht der Kriegsfreiwilligen, den sonst die Unteroffiziere abhielten, hatte heute der Kompagnieführer selbst übernommen, um die jungen Soldaten auf ihre Vereidigung vorzubereiten. Oberleutnant Fahrenkrug, mit einem halbverheilten Schenkelstreifschuß von den belgischen Schlachtfeldern in die Garnison zurückgekehrt, führte seine Kriegsfreiwilligenkompagnie erst seit einer knappen Woche. Er war ein straffer, aufrechter Mann von früh gereiftem Lebensernst, der still und ohne viel Wesen von sich zu machen, seinen Dienst tat. Aber zuweilen, wenn er vom Pferde herab auf dem Exerzierplatz den Heeresbericht vorlas, füllten sich seine Augen und seine Stimme mit einer überraschenden und strahlenden Jugend, die ihn ohne Worte mit den hundert Herzen seiner jungen Kompagnie verband.
Der Unterricht fand auf Stube 8 statt, wo die Schemel aus dem ganzen Kasernenflügel zusammengetragen worden waren. Als Oberleutnant Fahrenkrug eintrat, sprangen die Kriegsfreiwilligen straff auf und standen still. Der Feldwebel meldete dem Offizier die Kompagnie und trat ab. Fahrenkrug ließ die jungen Leute rühren, aber das gewohnte Zeichen zum Hinsetzen gab er nicht. Was er heute zu sagen hatte, sollten, die es anging, stehend anhören. Seine Blicke gingen die Reihen hinunter bis in den letzten Winkel, als wollte er alle Augen auf sich sammeln. In seinem hartgemeißelten Gesicht trat ein arbeitender Wille hell zutage, je länger er sprach. Durch die geöffneten Fenster strömte die frische Morgenluft. Fahrenkrug formte knappe, schmucklose Sätze. Hinter jeden Gedanken setzte er ein kurzes Schweigen, als wollte er den Worten Zeit lassen, sich einzuprägen.
Die Kriegsfreiwilligen merkten kaum, daß er sie die ganze Stunde stehen ließ. Willig, ohne es zu wissen, gaben sie ihre Jugend ganz in die Hand des Mannes. Jedes Wort, das er sprach, war eine Forderung an sie. Wille und Forderung des Mannes, Willfährigkeit und Hingabe der Jugend wuchsen aneinander wie Zwillingsbäume.
Auch Wolf Eschenlohr spürte den fremden Willen über sich. Was will er von dir? dachte er, als er das erste Mal in die klaren, fordernden Augen des Mannes sah. Dann erkannte er die Kraft und Schönheit des Manneswillens, die den ganzen Menschen forderte.
»Haltet euer Blut in Zucht! Ihr wollt auf die Fahne schwören. Euer Leben gehört dem König. Euer Leib und Blut gehört nicht mehr euch. Wer von euch seinen Leib krank macht, der zerbricht einen Degen in der Hand seines Königs.«
Das waren Worte, vor denen es kein Ausweichen gab. Eschenlohr spürte es mit einer starken, aufwallenden Freude. Wille und Gehorsam wurden zu einem Stück zusammengeschmiedet.
»Stillgestanden! Weggetreten!«
Der Offizier wandte sich zum Gehen.
Eschenlohr war mit einem Sprung an der Tür und riß sie auf. Fahrenkrug sah ihm im Vorübergehen in die Augen und lächelte nicht über die heiße Hingabe des jungen Herzens, das ihm fühlbar entgegenschlug. Er erkannte, seine Kriegsfreiwilligen hatten ihn verstanden. Eine starke und rasche Freude durchströmte ihn, als er auf den straffen Jungen sah, der sich, Blick und Brust frei gradaus, Kinn an der Binde, vor ihm zu soldatischem Gruß an der Türschwelle aufbaute und den gesunden Kraftwuchs seiner schlanken Jugend zur Schau bot, als wollte er ihn sichtbar unter seinen Willen stellen.
Er wollte ihm die Hand mit einem herzlichen Wort auf die Schulter legen, doch unterließ er es. Mit einem kurzen Nicken ging er vorüber.
In der Frühe des andern Tages leisteten die Kriegsfreiwilligen den Fahneneid. Die Kompagnien waren auf dem Exerzierplatz in einem nach der Stadtseite offen gelassenen Viereck angetreten. Hier stand die Geistlichkeit unter den Offizieren der Garnison. Nacheinander traten der evangelische und der katholische Priester und der Rabbiner vor und sprachen zu der Jugend des Landes. Hinter den weißhaarigen Predigern hob sich die sonnenhelle Stadt mit ihren Kirchen, als wollte sie den Kreis der grauen Schwurzeugen vor der blühenden Jugend schließen.
Über vierhundert junge Menschen erhoben die Schwurfinger und sprachen Satz für Satz die laut vorgesprochene Formel des Fahneneides nach. Drei von den Kriegsfreiwilligen traten aus dem Glied in die Mitte des Vierecks und legten die Schwurhand auf die gelbe Seide des Fahnentuchs. Einer von ihnen war Wolf Eschenlohr. Sein Gesicht war blaß vor innerer Erregung. Die seidene Fahne rührte sich fremd und kühl an wie der Goldkelch beim ersten Abendmahl ...
Der Nachmittag war dienstfrei.
Hirschberg hatte sich zu Eschenlohr gesellt und schlenderte neben ihm her. Sie umwandelten die Stadt auf der Wallpromenade.
Es war, als ob der glühende August in dem Jungbad der Gewittergüsse noch einmal Frühlingsfrische gewonnen hätte. Tändelnd ging der Wind durch die grünen Wipfel und das leichte Sonnenlicht schien in der Fülle des Sommerlaubes zu rieseln und zu plätschern. Sonne und Duft schäumten über Gärten und Blütentreiben auf wie ein feines Gewölk. Über das Blondhaar junger Mädchen, die Hand in Hand um die Stadt wanderten, über Sonnenschirme und helle Kleider ging ein nimmermüdes Flimmern und Glänzen, das die Dinge froh machte.
»Was hältst du von Fahrenkrug?« fragte Hirschberg unvermittelt. Eschenlohr hatte den andern neben sich fast vergessen.
»Er ist ein ganzer Kerl. Ein Mann, wie wir sie nötig haben. Es wäre besser, dafür zu sorgen, daß er von uns gut denkt.« Er sagte es kurz, als wollte er das Fragen und Reden abschütteln, das ihm die Lust des frischen Ausschreitens beengte.
Hirschberg wiegte den Kopf und geriet ins Schwatzen. Er spürte wohl, daß der andre halb unwillig von ihm weghörte, aber gerade darum warf er ihm seine stachlichen Worte nach wie Kletten, die er sich einzeln aus den Kleidern lesen mußte.
»Ich wette, ihm selbst liegt mehr daran, wie wir über ihn denken. Es ist ihm nicht gleichgültig, wie wir hinter ihm dreinsehen. Er ist einer von denen, die immer helle Augen hinter sich haben wollen. Er ist eitel. Nicht leiblich eitel, auch nicht herzenseitel, aber willenseitel. Er will herrschen. Gehorsam genügt ihm nicht, er will Hingabe. Er will das Herz seiner Leute haben. Es genügt ihm nicht, Drillmeister zu sein. Er möchte auch die Seelen drillen. Er braucht Gefolgschaft, Jünger, Seelenhörige ... Ich fühle das ganz deutlich. Er ist im Grunde herrschsüchtiger als der ärgste Schleifer. Nur anders. Den kleinen Tyrannen tut es grimmig wohl, wenn ein ganzer Kasernenhof voll armer Teufel vor ihren Launen schlottert. Ihm genügt's nicht, wenn die Herzchen seiner Leute vor ihm zittern. Die Herzen sollen ihm entgegenschlagen wie Trommeln ...«
»Ach, Hirschberg,« unterbrach ihn Eschenlohr lachend, »ich muß dir nur endlich den Gefallen tun und dir in den Arm fallen. Sonst schleifst du dein Messer aus Tücke so lange, bis dir nur das Heft in der Hand bleibt. Was willst du von ihm? Laß ihn, wie er ist! Was wirfst du ihm eigentlich vor? Er will das Herz seiner Leute haben? Ich meine, das will jeder, der zum Führer geboren ist. Und er hat das Zeug dazu mehr als zehn andre. Wär' dir's lieber, wenn wir Luft für ihn wären?«
»Es wäre mir eins so einerlei wie das andre,« sagte Hirschberg. »Ich habe auch nichts gegen ihn. Ich habe gegen niemanden etwas. Im Grunde ist kein Mensch besser oder schlechter als der andre. Jeder tut, wozu ihn das Gelüst seines lieben Ich treibt. Der eine drillt Soldaten, weil er sein tägliches Zehnmarkstück für Wein und Pasteten braucht, der andre hat ein Gelüst nach Menschenherzen. Aus seinem Ich springt keiner heraus, und was einer tut, das tut er aus Egoismus. Ich rede auch nicht aus Bosheit. Ich sammle nur die Masken des Egoismus unter den lieben Mitmenschen, und die seine ist besonders fein, darum putze ich sie mir mit so vielen Worten blank für mein Raritätenkabinett. Wer die Masken nicht erkennt, der kommt in Gefahr, andere zu bewundern, die so wenig verehrungs- und verdammungswürdig sind wie er selbst. Der Egoismus ist für den Menschen, was die Unruhe fürs Uhrwerk ist. Nimm ihn fort, und das Getriebe bleibt stehen. Die nackte Selbstsucht, die den lieben Nächsten bis zum Weißbluten ausschindet, hat den Egoismus zur Triebfeder nicht mehr und nicht weniger als die Menschenverachtung, die sich auf sich selbst zurückzieht, oder als die Menschenliebe, die nichts als eine Herrschsucht des Herzens ist.«
»Was springt dabei heraus, wenn du die Mutterliebe Egoismus nennst – ?«
»Ist sie etwas andres?« unterbrach Hirschberg eifrig. »Sie ist Egoismus so gut wie der Kinderhaß der eitlen und oberflächlichen schönen Frau, nur mit umgekehrter Polarität.«
»Mit demselben Recht«, fertigte Eschenlohr ihn lässig ab, »kannst du an Brot und Wasser mäkeln. Laß dir nur von den Chemikern die Stoffgleichheit der Elemente in Speisen und Giften beweisen! und doch kannst du Gift und Speise nicht in einen Topf werfen. Du weißt recht wohl, daß auch der Egoismus beides ist, Gift und Speise, aber das wirfst du in einen Topf. Du spielst mit Worten, ich weiß nicht, welche Freude du daran hast. Du sagst mit herabgezogenen Lippen ›Egoismus‹ und meinst damit häßliche selbstische Regungen. Du machst das Wort zum Schmähwort und machst es so eng wie möglich, aber dann packst du höhnisch wie in einen weiten Sack alles hinein: Liebe, Tatendrang, Freundschaft und was du fassen kannst. Willst du im Egoismus die Triebfeder alles Lebens bloßlegen, so mußt du ihm auch den vollen und schönen Sinn der Freude an eigener Wesenskraft und Wirksamkeit lassen und ihn nicht zum Schmähwort verengern! Dann magst du das Wort auch auf Fahrenkrug anwenden. Sein Egoismus ist Brot, kein Gift. Wir dürfen uns dankbar daran sättigen.«
»Was hast du ihm eigentlich so Großes zu danken?« sprach Hirschberg leichthin.
Eschenlohr blieb stehen und sah den andern voll an. »Er hat mir gestern mit ein paar Worten die Augen aufgetan für das, was uns nottut. Alle Völker der Welt streiten in dieser Schicksalsstunde um Recht und Unrecht, Schuld und Unschuld. Da genügt es nicht, mit Worten und mit Bajonetten mitzustreiten. Man soll über das Recht seines Volkes im Daseinskampf nicht nachgrübeln, jeder Einzelne muß durch unablässige Arbeit an sich selbst, durch Mehrung seiner eigenen geistigen und sittlichen Habe das Recht seines Volkes ans Dasein zum stärksten Recht auf Erden machen helfen. So habe ich Fahrenkrug verstanden, und ich glaube, er will nicht anders verstanden sein.«
Hirschberg schwieg. Es war nicht ersichtlich, ob aus Widerspruch oder Zugeständnis. Aber er sah ohne Spott in Eschenlohrs beinahe zorniges Gesicht.
Die beiden Kameraden hatten die kleine Stadt fast völlig umwandelt und waren wieder unter den Fenstern der grauen Kaserne angekommen. Oberleutnant Fahrenkrug ritt auf seiner Fuchsstute eben aus der Torfahrt. Die Kriegsfreiwilligen standen still und machten ihre Ehrenbezeugung. Er hob die Hand an die Mütze im Vorüberreiten.
Hirschberg lächelte. »Wenn er wüßte, daß er für uns zwei eben in der Mitte der Welt gestanden hat, ich glaube, es würde ihm Spaß machen.«
Eschenlohr sah nach der Uhr. »Ich gehe noch vor die Stadt zum Baden«, sagte er. »Kommst du mit?«
»Danke«, lachte Hirschberg. »Aber du hast mir heute den Kopf schon genug gewaschen.«