Walter Flex
Wolf Eschenlohr
Walter Flex

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Wolf Eschenlohr

Erstes Kapitel

Die Erlanger Arminenfüchse entfalteten über dem leeren Festsaal des Burschenhauses die schwarzrotgoldenen Fahnen. Sie schoben die alten Kampf- und Festzeugen der Burschenschaft über das Holzgitter des Musikantenchors hinaus, schlossen die eisernen Fahnenhalter über den leise erzitternden Stangen und ließen die schwere, kostbare Seidenfülle des Fahnentuchs behutsam in die Tiefe des Saales niederrauschen.

Wie purpurne Netze sanken rechts und links des Chors die goldbestickten Seidenlasten in den aufwogenden Sonnenstaub, der den weiten Raum bis zu den hohen, in der Abendsonne brennenden Fenstern hin in breitschimmernden Bahnen durchzog. In funkelnden Wirbeln strudelte der Lichtstaub um die entrollten Fahnen. Ein stiebender Funkentanz sprang zuckend aus den goldenen Fransen und Stickereien. Ein Auf- und Niederwogen, ein Fluten und Verebben, dann stand das Licht wieder wie eine stille blendende Flut um die farbige Pracht der entrollten Fahnen.

Noch einmal quirlte und schäumte die leichte Fülle des sommerlich lauen Sonnenstaubs empor. Von der Mitte der Chorbrüstung herab sank die Seidenlast einer dritten Fahne knisternd in die helle Tiefe. Sie verdrängte den Schwall des Lichts seitab zur rechten und linken über die prunkenden Farben der Schwesterfahnen, die sich willig von ihm umstrudeln ließen. An ihr selbst aber wollte die Flut des Lichtes nicht haften. Schwarz, schwer und dunkel wie ein Sargtuch hing die Fahne herab, schwarz mit weißem Kreuze, schmucklos und grau von Alter. Wie eine Lichtscheide stand sie zwischen den Sonnenbahnen, in denen die Schwesterfahnen badeten. In den hellen, tiefen Festsaal hing sie hinab wie in ein Kirchengewölbe.

Der Jungbursch Wolf Eschenlohr hielt die linke Hand leicht auf das abgegriffene Rundholz der dritten Fahne gelegt und sah ihr schweigend nach, wie sie sich unter der eigenen Last geruhig straffte.

Die schwarze Fahne mit dem grauweißen Kreuz war ihm nicht fremd. Er kannte sie gut, die alte Kriegsfahne der Burschenschaft aus verschollenen Revolutionsjahren. Sein Großvater hatte sie den Bundesbrüdern vorausgetragen in den Zeiten, als der Traum vom deutschen Reiche Hochverrat gewesen war. Erzählungen, gierig in frühesten Kindheitstagen aufgesogen, Altmännergeschichten von Bütteldiensten und Brudertreue, Festungshaft und Kerkermauern umwitterten sie wie ein uraltes Schlachtenbanner. Im Geiste sah er den Großvater als Jüngling durch die Straßen von Erlangen schreiten, die schwarzweiße Fahne in Händen und das schwarzrotgoldene Band als ein verbotenes und verhohlenes Heiligtum auf der blanken heißen Brust unter dem kühlen Hemde.

Wolf Eschenlohrs Augen hafteten still an der alten Fahne wie in ratloser Verwunderung. Es sah sich an, als fragte er sie schweigsam und dringlich aus: Was willst du von uns? Was willst du heute von mir, du Kampf- und Leidenszeugin verklungener Zeiten?

Nur einmal von zehn zu zehn Jahren entfaltete sich die Sturmfahne der Burschenschaft bei den Jubelfeiern des Bundes über der nachwachsenden Jugend als schweigsame Mahnung aus harter Vergangenheit.

Alte Fahne, was hat deinen Schlaf mitten zwischen den Festen gestört? Was entrollst du mit einmal in festlosen Tagen Kreuz und schwarze Seide? Was willst du von uns?

Wolf Eschenlohr wußte wohl, warum die Burschenschaft ihre Fahnen wie zu einer Jubelfeier entfaltete. Die Erlanger Arminia rüstete den Brüdern das Abschiedsfest, ehe sie zum Kampfe an die Grenzen zögen nach Osten und Westen und auf die Stahlplanken der deutschen Schiffe.

Aber sein Herz glaubte nicht an den Krieg, von dem alle Menschen mit heißen oder blassen Lippen sprachen. Seine Seele wußte nichts vom Kriege und rief ihn nicht. Wurzelfest und sonnendurstig wuchs sein Knabentum in die Mannesjahre hinein. Lebenstag fügte sich ihm an Lebenstag, kräftespeichernd und herzweitend. Er rief den Krieg nicht, aber er witterte ihn dennoch ungläubig ahnend und in der biegsamen Kraft seiner Seele erschauernd. Irgend etwas sträubte sich in ihm ahnungsvoll gegen das Fremde, Ungeheure, Unentrinnbare, das seine geruhig und schön nach eingeborenen Gesetzen wachsende Seele vergewaltigen und in jäher Glut zur letzten Reife zwingen wollte. Irgend etwas in ihm wehrte sich unklar und mit leisem Schmerze gegen den Überfall der Kraft, die ihn aus sich selbst herausriß und ihm neue und unerhörte Gesetze des Werdens und Wachsens vorschrieb.

Die Sonne umwanderte das Haus. Die Fahnen der Burschenschaft sanken in Schatten und Traum.

Wolf Eschenlohr sah träumend in den dämmernden Raum mit den schlummernden Fahnen hinab wie in ein stilles, tiefes Wasser voll fremder Geheimnisse und abgründiger Wunder.

Heinz Borkenhagen, der Sprecher und Fechtwart der Arminen, trat federnden Schrittes aus dem Ehrenrichterstübchen, wo er über den Papieren der Burschenschaft gearbeitet hatte. Der Paradespeer, den er lässig in der Rechten trug, schepperte leicht mit der Klingenspitze über die Buchenholzdiele. Im Vorübergehen sah er den schlanken Jungen im Schatten, dessen helles Gesicht weiß über der leeren, grauen Tiefe leuchtete.

Er schob seine Linke mit scherzhaftem Pressen unter Eschenlohrs Arm und rüttelte ihn, als müßte er ihn wecken:

»Wölflein, alter Murrkopf, freust du dich nicht?!« In dem sommersprossigen Landsknechtsgesicht um den roten Schnurrbart wetterleuchtete es von verhaltener Rauflust und ungebärdiger Kraft.

Wolf Eschenlohr hob ohne Hast den Blick zu den Augen des Bundesbruders. Er sah den andern beim Reden immer, im Wortkampf wie bei traulicher Zwiesprache hell in die Augen, so als ob im Auge des andern die Seele seiner Worte sichtbar sein müsse. Dieser Blick war nie lauernd, nie dringlich oder spöttisch, nicht einmal fordernd, er war frisch, rein und offen. Es wärmte das Herz, in diese reinen jungen Augen hineinzusprechen. Sie hatten den hellen Blick des geschulten Fechters, der sich auch im Wortkampf nicht verleugnet. Er hörte nicht auf die Worte der andern, sondern suchte nach der Seele, die die Worte formt, so wie der Fechter nicht auf die Hand des Gegners und ihre trügenden Finten blickt, sondern gradwegs auf sein Auge. Der volle braune Schopf, der ihm weich in die Schläfen fiel, konnte die helle, klarleuchtende Knabenstirn nicht verdunkeln.

»Ich glaube es nicht«, sagte der Jungbursch ruhig, ohne seine Augen aus denen des anderen zu lassen. »Ich kann es noch nicht glauben. Es geht mir nicht ein.«

Heinz Borkenhagen spürte deutlich, wie nicht ein Funke aus der brodelnden und brandenden Glut, die sein Herz siedend füllte, in die Seele des anderen übersprang. Mit einem raschen Ruck zog er seinen Arm zurück. Eine leichte Verdrießlichkeit flackerte durch seine Stimme.

»Pah,« sagte er, »nicht einmal freuen soll's uns, wenn's endlich losgeht? Da rücken nun Russen, Franzosen und Engländer, und wie die Herrschaften sonst heißen, Jahr um Jahr enger zusammen und tuscheln und vergiften uns das Brot und gießen Kanonen! Und wir singen und schreien das ganze Jahr hindurch: ›Ehre, Freiheit, Vaterland!‹ und lassen's uns von den Mädeln auf unsre Bänder sticken! Und nun, wo das Warten zu Ende geht, soll's uns nicht in den Fingern jucken, zu beweisen, daß es uns ernst war? und daß unsere roten Mützen mehr waren als Faschingskappen?!«

Er schob sich die Karmoisinkappe mit dem goldgestickten Eichenkranz aus der Stirn und schlug mit dem Paradespeer ein paar sausende Lufthiebe. Eine schwippende Terz mit steilem Arm frei aus Hand- und Schultergelenk gestoßen und einen flutschenden Durchzieher als Nachhieb.

Ein Rudel Füchse stob die Treppe hinauf und staute sich um den Fechter. »Flach! Flach!« hohnlachte einer von ihnen. Borkenhagen pfiff durch die Zähne. Terz! Durchzieher! Er schlug seine Hiebfolge noch einmal und jetzt schnitt der Nachhieb mit scharfem, hartem Klingen durch die Luft, wie der Ton eines zerspringenden Glases.

»Bravo! Bravo!« lärmte die übermütige Horde und drängte an dem Fechtwart vorüber ins Lesezimmer, wo die Zeitungen auslagen.

»Hohe Zeit für scharfe Hiebe!« schrie einer noch mal zurück. »Die Neunzehner schleifen in den Kasernen schon ihre Seitengewehre!«

Heinz Borkenhagen stieß ein gutmütig knurrendes Lachen hervor und stieg dröhnenden Schrittes die Treppe hinab.

Unbemerkt von den Brandfüchsen, die mit polternden Füßen und heißen Köpfen treppauf gestürmt waren, unbemerkt auch von Heinz Borkenhagen, der zu den singenden Brüdern auf die Gartenterrasse eilte, war ein Alter Herr der Burschenschaft ins Haus getreten. Ein seltener Gast in den vier Pfählen des Bundes schritt die Wendelstiege des Treppenhauses empor, Professor Wachsmuth, der greise Kantforscher der Hochschule. Er gehörte der Sage nach noch zu den Alten, die unter der schwarzen Kreuzfahne durch die Leidenszeit der kämpfenden Burschenschaft geschritten waren. Er nörgelte nicht an dem jungen Nachwuchs, der angeblich den Kriegsschatz des alten Bundes an Idealen und Gedanken für kurzlebige Bierbankbegeisterung und festseligen Redeschwall in Scheidemünze umsetzte, er hielt auch den Nachgeborenen schweigend die Treue und ließ ihnen ihr Recht, aber er saß selten in ihrer Mitte.

Auch heute suchte er nicht die Bundesbrüder, er suchte einen seiner Schüler, der ihre Farben trug.

Er fand ihn bei den entfalteten Fahnen der Burschenschaft über dem verdämmernden Saale. Ein feines, wissendes Lächeln, das voll Güte und Neigung war, spielte um seine Lippen, als er ihn sah.

Er rührte den Träumenden an der Schulter. »Grüß Gott, Eschenlohr,« sagte er ruhig.

Artig und ehrerbietig trat der Jungbursch aus dem Schatten des Musikantenchors.

»Grüß Gott, Alter Herr! Suchst du jemand?«

»Dich!«

Schweigend standen sich Greis und Jüngling gegenüber, und es sah einer des andern Verstehen.

Der alte Wachsmuth empfand wieder, empfand mit Wissen und Willen die herzliche Neigung, die ihn zu seinem jungen Schüler zog. Im Kantseminar der Hochschule hatte er oft in Wolf Eschenlohrs Augen hineingesprochen. Von Stunde zu Stunde hatte es ihn beglückt, die spürende und hellhörige Aufmerksamkeit zu sehen, die in seinen wahren klaren Menschenaugen war und ihm in Frage und Antwort frisch von den warmen jungen Lippen sprang.

Wolf Eschenlohrs Herz tat ein paar rasche, harte Schläge. Neigung und Verehrung, die zwischen Lehrer und Schüler wob, blühte zum ersten Male sichtbar auf. Zu den tiefsten und stillsten Freuden des Jünglings hatte es gehört, im Hörsaal in das Greisenantlitz des alten Wachsmuth zu schauen, das von der Leidenschaft der Wahrheitssucher und Weisheitsfinder verwittert schien. Steil und drohend stand die fahle, gedankenüberlohte Gelehrtenstirn über der hohen und hageren Gestalt. Die straffe, lederfarbene Gesichtshaut stach dunkel vom weißen Barthaar ab und erschien gleichsam ausgedörrt von der Ewigkeitsglut der Augen, die wie eine Flamme unter hochgewölbten Stirnbuckeln hervorschlug und die buschigen, schlohfarbenen Brauen versengt zu haben schien.

»Ich habe meinen Abendgang zu den Burschenhäusern und Kasernen vor die Stadt hinaus gemacht,« fuhr Theobald Wachsmuth fort, »Studenten und Soldaten sangen vom Kriege. Horch! Auch die Arminen singen auf der Gartenterrasse ...«

Greis und Jüngling lauschten. Durch die brütende Stille des sommerwarmen Treppenhauses quoll es empor:

»Heraus, heraus die Klingen –!
Laßt Roß und Klepper springen –
Der Morgen graut heran –
Das Tagwerk hebet an –
Traralleralleralla tra – ralleralla ...«

In seiner Zweieinsamkeit mit dem Alten fühlte sich Wolf Eschenlohr zum ersten Male angeweht von den nieempfundenen Schauern einer großen Schicksalswende. Sein Herz begann sich gläubig der fremden Macht der Stunde zu öffnen. Was ihm die stumme Sprache der Fahnen und die lärmende Begeisterung der Bundesbrüder nicht faßbar und glaublich machen konnten, das offenbarte ihm die wortkarge Liebe des verehrten Mannes, die zum ersten Male sichtbar aus der stillen Klarheit seines Wesens heraustrat.

»Du sollst noch einmal zu mir kommen, ehe du hinausfährst. Darum wollte ich dich bitten.«

»Morgen wollen sie Abschied feiern«, erwiderte Wolf Eschenlohr und deutete in den verdunkelten Saal unter den schwebenden Fahnen. Ein letztes, schon ungläubiges Sich-Wehren für den behüteten Frieden seiner ebenmäßig wachsenden Jugend sprach aus Stimmung und Haltung.

»Den lauten Abschied meine ich nicht«, wehrte der Greis ruhig in leiser Rührung. Keine Falte der Knabenseele blieb ihm verborgen. »Eine stille Stunde sollst du mir noch schenken.«

Seine Hand hob sich behutsam auf die schmale Jünglingsschulter. »Ich habe dich liebgewonnen, Wolf.«

Da warf sich Wolf Eschenlohr in jäher Erschütterung an die Brust des greisen Freundes. Er empfand wissend die Offenbarung der Stunde, in deren tiefer Glut die stille, kühle Sachlichkeit des Gelehrten umgeschmolzen wurde in väterlich starke Liebe.

Das unbegriffene Schicksal entschleierte sich ungeheuer und riesenhaft in seiner wesenverwandelnden Kraft, die nur Willen und Liebe gelten ließ, erschütternd und voll unerhörter Schönheit.

Die feinen Altmännerhände des Gelehrten umspannten die heißen Schläfen des Jünglings. Wille und Liebe brannten klar auf in den Greisenaugen; Freundesaugen, Vateraugen leuchteten sie stark und warm über dem zurückgebogenen Haupte und der hellen Stirn des Jungen. Der Blick des Alten war ein letztes, tiefes Prüfen, das zur Besitznahme wurde.

»Nun weiß ich: Der Krieg ist da«, sagte Wolf Eschenlohr.

»Komm' morgen zu mir!« bat der Greis und löste, sich der Weichheit erwehrend, die Hände von den pulsenden Schläfen des tieferregten Jungen, der seiner Seele nicht mehr mächtig war. Schweigend stiegen sie die Treppe hinunter. Die Hand des greisen Gelehrten lag schwer auf der jungen Schulter, die ihn unmerklich mit scheuer, knabenhafter Rücksicht stützte.

Der Alte hatte unter seiner Hand das Gefühl einer biegsam federnden Degenklinge. Die lässige Anmut des Knaben war in dieser Stunde ganz zu geschmeidiger Kraft und schmiegsamer männlicher Straffheit geworden, aber die feinfühlig scheue Ehrfurcht der Jugend war gut und liebenswert nachgeblieben. Der alte Wachsmuth empfand mit wacher Freude die scheue, knabenhafte Rücksicht, mit der ihn der Jüngling stützte, ohne es merken zu lassen. Die Herzlichkeit, mit der der Schüler unter der Tür des Burschenhauses von dem Gelehrten schied, war bescheiden und voll wortscheuen Dankes.

Wolf Eschenlohr stand allein in der dunklen Diele und plötzlich fühlte er den Druck der Stunde wie eine körperliche Last, die er sprengen mußte.

Die übermächtige Spannung seines verwandelten Wesens verlangte nach Entladung.

Das Wissen von der Unentrinnbarkeit des Schicksals war wie ein Kraftrausch über ihn gekommen, der bis in Knie und Knöchel hinab erregend nachbebte. Du möchtest tanzen oder fechten jetzt, dachte er, fechten oder tanzen bis zum Umfallen!

Von der Gartenterrasse her schlug ihm der Schwall der Burschenlieder und der aufwogende Duft aus dem Jelängerjelieber-Gehänge entgegen. Er schnellte mit einem Tänzersprunge die Treppe empor, stürmte durch die leeren, hallenden Kneipräume, die durch die schwarze Wandmosaik von Studentensilhouetten aus drei Menschenaltern noch dunkler wurden, und öffnete klirrend die Glastüre zum Garten. Hochatmend, mit einem hellen, kampflustigen Blick umfaßte er die Runde der Rotmützen.

Sein Auge suchte Heinz Borkenhagen, den Fechtwart, der unter den Altburschen saß.

»Hallo, Borkenhagen! Hast du Lust auf ein paar Gänge Säbel?« Schwirr wie ein Kampfschrei flog ihm der Ruf vom Munde.

»Immerzu, mein Junge!«

Der Hüne fuhr lachend empor, daß der zurückgestoßene Eichenstuhl auf den Steinfließen kreischte. Er schritt dem Jungburschen entgegen, dessen Augen ihm ungeduldig entgegenflackerten und faßte ihn mit derbem Griff über die Schulter.

»Spürst du endlich auch Lust, mein Söhnchen, die Zeit totzuschlagen, die wie ein faules Untier zwischen heute und morgen liegt und uns nicht durchlassen will?«

Wortlos warf Wolf Eschenlohr die schwarze Samtpekesche und das weiße Hemd ab, schnallte den Paukschurz um Brust und Hüften, fuhr in die Armstulpen und wog prüfend ein paar der schweren Fechtbodensäbel im spielenden Handgelenk. Er verwarf und wählte. Einen Blick auf den andern – auch der stand breitbeinig bereit. Mit einem Ruck stülpten beide die eisenvergitterten Filzhauben auf, griffen mit der freien Linken rückwärts in den Hosengurt und traten an den Kreidestrich, den ein Bundesbruder gezogen hatte. Das Gas flammte singend auf und durchhellte den dunklen Saal. Und nun probten sie Kraft und Können im klirrenden Waffenspiel.

»Fertig?« fragte Borkenhagen, seine Augen in den Augen des Gegners verankernd.

»Los!« rief Eschenlohr und stieß den steilen Blitz einer leichten Terz spielend über den Handschutz des andern. Die Klingen wetterleuchteten. Stahl schlug schmetternd auf Stahl. Nur selten dröhnte hüben oder drüben ein Hieb mit dumpfem Prall auf Haube oder Brustschurz. Borkenhagen kannte den Jungburschen als behenden Fechter, heute staunte er über die zähe Kraft des Gegners, die sich in pausenloser Folge der Gänge nicht erschöpfen ließ. Unbeweglich fast parierte der Riese die raschen Finten und das verblüffende Nachstoßen des andern, der seine Kraft immer wieder in gliederstraffendem Ansprung verausgabte. Als er den Jüngeren ermattet glaubte, schmiedete er ihm seine wuchtigen Quarten schwer über das dröhnende Eisen von Korb und Klinge.

»Eine Pause, Eschenlohr – ?«

»Weiter!« rief der Jungbursch klingend, und minutenlang prasselte eine stürmische Hiebfolge.

Das letzte heraus –! dachte Eschenlohr in der Luft der entfesselten Kraft – so habe ich's gewollt! Auch Borkenhagen wurde heiß. Aber schwerer und schwerer wuchteten seine Quarten gegen den flirrenden Stahl des Angreifers.

Die Rotmützen der Arminen schlossen sich zu einem leuchtenden Kranz um die Fechter. Die große, gelbe Gasflamme brauste. Schweigend und erregt staunten die Burschen in das Kampfspiel, das zur Kraftprobe wurde. Nie hatten sie einen der beiden so fechten sehen wie in dieser Nacht. Hier und da im Kreise loderten ein paar Altherrenaugen in jungentbrannter Lust.

Pausenlos jagten die Klingen einander nach und übersprangen sich mit hellem Klirren. Funken stoben aus Korb und Klinge, wenn Borkenhagen nachschlug. Aber immer wieder sprang Eschenlohrs Klinge auf, steil wie eine Stichflamme, die sich nicht austilgen läßt.

»Halt–!« schrie Eschenlohr schmetternd. Mitten in einer blitzschnellen Quartfinte verlor er die Gewalt über Hand und Säbel. Die Finger, die den Griff umklammerten, lösten sich von selbst, als ob Sehnen und Muskeln wie Bänder zersprängen. Der Zeigefinger verlor die Schlaufe. Der Säbel wirbelte durch die Luft wie eine abgeschlagene Klinge und schlug rasselnd zu Boden. Dem Waffenlosen, der mit geschlossenen Füßen straff und ohne zu zucken am Kreidestrich stand, prasselte die unaufhaltsame Wucht der angezogenen Quarten des Gegners über Kopf und Brust und Schulter. Er stand, ohne mit der Wimper zu zucken, vom Scheitel bis zum Zeh in stählerner Willenszucht und gebändigter Kraft übermütig erbebend.

»Verzeih', Eschenlohr!« rief Borkenhagen erschrocken und schleuderte den Säbel fort.

»Schon gut!« lachte der Jungbursch tiefatmend. »Angezogener Hieb, Borkenhagen! Da ist nichts zu entschuldigen.«

Sie warfen Haube, Stulpen und Schurz ab und standen mit wogender Brust, heißäugig und mit hämmernden Schläfen still. Der Dunst des Kampfes stieg wie ein helles Gewölk beiden von Leib und Haupt. Mitten in der Erschöpfung spürten sie die tiefe Lust ihrer frisch-versuchten jungen Kräfte.

Im Badezimmer traten sie unter die Brausen. Mit weitgeöffneten Poren empfing der erhitzte Leib das Labsal des niederrauschenden, versprühenden Wassers. Sie standen da und lachten sich an: bärenhaft und ungefüge der eine, rote, dampfende Glut und berserkerhafte Stärke, und neben ihm der andere klaren Angesichts und hellen Leibes, voll hurtiger Kraft und Schlankheit – beide Brüder und Söhne derselben Kraft, die der Feuertaufe entgegenharrte.

Sie fuhren erfrischt in die Kleider und schritten Arm in Arm zu den singenden Brüdern auf die Gartenterrasse unter den sommerlichen Sternen.

Ein Hallo brach unter den Jungburschen aus, als Eschenlohr unter sie trat. Dessen Wesen war wie verwandelt. Sonst hatte er sich lieber zu den Stillen als zu den Lauten gehalten. Nie hatte er viel Aufhebens von sich gemacht. Als ihn jetzt die ganze heiße, mützenwirbelnde, gläserschwenkende Horde stürmisch wie einen Gladiator begrüßte, da flossen Lust und Rausch der Sommernacht, Lust und Rausch der Fiebernacht zwischen Krieg und Frieden leicht auf ihn über. Die roten Lippen sprangen ihm lachend auseinander. Beide Hände streckte er den Brüdern an den blütenüberregneten Tischen unter Gottes freiem Himmel hin. Er suchte ihre Hände, ihre Augen. Er fühlte sich einig und eins mit ihnen, eins in Lust und Lachen, eins in Willen und Liebe, eins in Ergriffenheit und Hingabe. Er war ein Teil ihrer hellsprudelnden, springlebendigen Kraft, die in quellenden Liedern zu den ewigen Sternen emporjauchzte.

Das Herz schlug ihm wild. Das ganze Leben war zum Abenteuer geworden.

Durch die sommerstille Luft, über die Dächer der schlafenden Stadt hin ebbte und schwoll das Dröhnen der nach Süden, nach Norden fernhin stampfenden Eisenbahnzüge ...

Krieg! donnerten die Achsen. Krieg! jauchzten tosend die Burschenlieder. Krieg! hämmerten die ungebärdigen, ungestümen Pulse in Blut und Gliedern der Jünglinge ...

Einer der jungem Altherren, die zahlreich unter den schwarzen Samtpekeschen und den hellblauen Waffenröcken der bayrischen Einjährigen saßen, zog Eschenlohr lachend auf einen leeren Stuhl nieder. »Hingesetzt, Eschenlohr! Junge, das Kriegsfieber brennt dir ja aus der Haut, daß man Fackeln dran anstecken könnte! Besser keinen Wein? Was? Es wäre Fett ins Feuer gegossen, Junge!« Wolf Eschenlohr senkte lachend mit leichtem Druck den Flaschenhals in der Hand des andern, und der Mosel strömt ins Glas.

Städtenamen und Zahlen schwirrten durch die Gespräche an allen Tischen – Garnisonen und Regimentsnummern, Namen und Zahlen, Zufallslose heute, Menschenschicksale morgen, Lebenslose und Todeslose ...

Mitternacht kam. Mitternacht hallte von den Türmen. Die stille Luft erzitterte unter den zwölf schweren Schlägen. In den Tiefen der Gassen dröhnte es nach. Als Klingen verschwebte es über Gärten und Dächern, Burschenhäusern und Kasernen ...

Die Studenten waren aufgestanden.

Still war es in der Runde.

Die roten Mützen säumten die Tische wie Rosengewinde.

Barhäuptig sangen die Arminen ihren Wahlspruch, einer den Arm um den Nacken des andern geschlungen.

»Mit Gott für Freiheit ... Mit Gott für Freiheit, Ehre ... Mit Gott für Freiheit, Ehre, Vaterland ...«

Der 2. August war da. Der Krieg war Gegenwart. Kriegssonntag war angebrochen. Der erste Mobilmachungstag war Wirklichkeit ...

Dem unsichtbar schreitenden Schicksal jauchzten die Burschenlieder entgegen. Die ganze Nacht.

Als die erste Sonne durch die Tabakswolken stach und die Gasflammen im Schankraum fahl wurden, schleppten die Burschen Tische und Stühle von der Terrasse tiefer in den blühenden Garten und sangen mit den erwachenden Vögeln um die Wette weiter.

Sie warfen Pfirsiche in den Wein und hoben die Gläser zu lachendem Morgengruß wieder und wieder, wenn straßauf, straßab an den Häuserfenstern Läden und Scheiben morgendlich erklirrten, die Vorhänge im Zugwind auseinanderrauschten und ein weißer Arm, ein Mädchenkopf zwischen den wehenden Gardinen sichtbar wurden.

Es dauerte auch nicht lang, da schob sich der »Stenz«, einer von den Stadtlumpen, der jeden, der ihm ein Bier zahlen konnte, Schindluder mit sich treiben ließ, am Eisengitter des Studentengartens entlang und lungerte dösig in der Morgensonne herum.

Er hatte den frühen Weingeruch in der Nase und lauerte gelüstig darauf, daß ihn einer der Burschen an einer Neige herumschmatzen ließ. Aber ihnen waren die Köpfe heiß in der Morgenkühle und sie waren nicht in der Laune, sich mit ihm abzugeben.

Schließlich lachte doch einer der Jüngsten über die gierige Genäschigkeit des Hals- und Augenverdrehers und schnalzte ihn heran wie einen Hund. Er kam auch sofort und zwängte seine schwammige Hand durch die Gitterstäbe, als ihm ein weindurchsogener Pfirsich zugeworfen wurde.

Kaum einer achtete darauf.

Die Studenten sangen und hatten die Augen am blaßblauen Morgenhimmel.

Jenseits des gründurchrankten Gitters, durch das die ersten Finken und Sonnenstrahlen schlüpften, trotteten die Arbeitertrupps schweigend zu ihren Fabriken. Ihre Augen hingen am grauen Asphalt. Studenten und Arbeiter sahen sich nicht. Nur einer von ihnen, ein blasser, hagerer Mann warf im Vorbeigehen einen verächtlichen Blick auf den Lumpen, der an seinem Pfirsich schleckte, und machte einen Bogen um ihn herum, als könnte er sich beschmutzen.

Zwei von den Studenten hatten den kleinen Vorfall bemerkt, Eschenlohr und Borkenhagen.

Wolf Eschenlohrs warmblütiges Herz schlug in einer raschen Erregung. Ein unklares Schuldgefühl rührte ihn an.

Zufällig kannte er den Mann auf der Straße von den Arbeiterkursen her, die die Studenten an ein paar Wochentagen nach Feierabend hielten.

Der Name schoß ihm durch den Kopf: Karl Igelshieb, Arbeiter in Kränzleins Bürstenfabrik. Ein verschlossener, stiller Lerner, der einem auffallen mußte. Arbeiterkamerad! dachte Eschenlohr in einer raschen herzlichen Wallung. Kriegskamerad von heut ab!

Es wurde ihm ganz warm dabei. Rasch füllte er ein großes Glas, schwang sich auf den Trittstein des Gitters und hielt dem Arbeiter über den blühenden Ranken das volle Glas hin.

Mit einem raschen Erstaunen sah der blasse Mensch auf. Dann schob er mit einer verächtlichen Bewegung das Glas beiseite.

Ganz ruhig tat er das. Er berührte dem Studenten nicht einmal den Arm und vergoß keinen Tropfen. Er schob es nur eben weg, als wenn es schal und ekel wäre, und ging weiter. Dabei sah er den schlanken Jungen im schwarzen Samtflaus an, als wollte er sagen: Wir haben noch lange nichts miteinander zu schaffen, und euer Wein ist mir zu schlecht.

Wolf Eschenlohr schoß das Blut tief in die Stirn. Er tat eine rasche Bewegung, als wollte er dem Arbeiter nachlaufen. Dann ließ er das Glas sinken und trat still an den Tisch zurück. Er setzte das Glas nieder ohne ein Wort.

Heinz Borkenhagen war nichts entgangen. Er sah alles, was vor ihm geschah: Die Studenten sangen, und die Arbeiter trotteten zu ihren Maschinen. Der warmherzige Junge bog sich über das blühende Gitter, um den Kameraden zu grüßen, und sah in die Augen eines Feindes. Der eine beschimpfte, indem er das Glas darbot, und der andere, indem er's zurückschob. Und den Tag über würden die Lieder im Garten und die Maschinen im Fabriksaal weiterlärmen ...

Er trat zu Eschenlohr, der nachdenklich abseits stand, und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Nein, Wolf Eschenlohr,« sagte er leise, »die Kluft dieser zwei Welten ist nicht mit einem Tänzersprung zu überwinden. Es hat mancher gute Junge aus gutem Hause, der auf deutschen Hochschulen die Gassen mit seinen papageienfarbenen Lustigkeiten füllt, keine Ahnung, wie das Echo seiner leichten Schritte in den Dachkammern hallt, wo die ärmeren Brüder sitzen und mit verschlossenen Lippen lauschen. Wenn du klare Sinne gehabt hättest, mein Junge, so hättest du das vorhin nicht getan.«

»Nein«, sagte Eschenlohr und sah ihn voll an. »Siehst du, in unsern Arbeiterkursen habe ich oft das Mißtrauen der Enterbten gegen uns Buntbemützte durchgefühlt, und es hat mich gekränkt. Und nun gebe ich einem von ihnen und nicht dem Schlechtesten, selbst das Recht zum Mißtrauen, behandle ihn wie einen Bettler und schreie ihm förmlich zu: Wir verstehen uns nicht, du und ich, merkst du's?!«

Borkenhagen nickte.

Wolf Eschenlohr sprach weiter. Er war ganz blaß vor innerer Erregung. »Ich merkte es auch sofort. Aber es war zu spät. Als ich hinter ihm hersah, fuhr mir's durch den Kopf: Du mußt hinter ihm dreinlaufen und ihn um Entschuldigung bitten! Aber ich wußte nicht, wie er's aufnahm, und ihr andern saßt alle dabei, und da ließ ich ihn einfach laufen.«

Borkenhagen nickte schwer, als hörte er eine Beichte.

Da sagte Eschenlohr so laut, daß die andern erstaunt die Köpfe hoben: »Ich hätte ihm einfach nachlaufen sollen und sagen: Ich habe mich da eben wie ein dummer Junge benommen, seien Sie mir nicht böse, ich merke es jetzt schon selber! Aber das habe ich nicht fertiggebracht. Aus Schlappheit. Punktum.«

Er schrie fast, als er das sagte. Borkenhagen klopfte dem Tieferregten ruhig die Schulter. »Treppenwitz, Eschenlohr,« sagte er ohne Spott. »Wenn wir noch länger hinterdreindenken, wird uns noch manches einfallen.«

Eschenlohr gab dem Bundesbruder die Hand und ging ohne Abschied durch den Garten. Mit fast väterlichem Gefallen schaute ihm Borkenhagen nach, während er davonschritt.

Der Jungbursch suchte in der Einsamkeit der sonnentrunkenen Morgenstille sich selbst.

Langsam stieg er den birkengesäumten Sandweg durch die Föhrenwildnis des Ratsbergerwaldes empor. An dem Studentengrab auf der Höhe, wo die lichte Schau auf Wasser und Wiesen des Regnitztales sich öffnet, zu Füßen des verwitterten Steinkreuzes streckte er sich ins Moos, unter dessen Decke die Wurzeln wie das Geflecht einer groben Matte liefen. Aus der Tiefe des Tals dünstete das Wasser. Von den roten Föhren im Dickicht troff das zähflüssige Harz langsam nieder und beizte die sonnige Luft mit herbem und strengem Duft. Schwarze und rote Ameisen wuselten um Staub- und Nadelhügel und schleppten sich mit Kiefernnadeln ab wie kribbelnde Haufen von speertragendem Volk. Ein Tauber gurrte trunken im Holze, und über der Lichtung antwortete in spröden und erregenden Pausen die Taube. Die Wasser in der hellen, warmen Tiefe wechselten, wie die weißen Wolkenballen sich über die Sonne türmten und wieder ins freie Blaue hinausschwammen, ihren Glanz. Bald lagen sie schillernd und schimmernd und augenblendend, bald überzogen sie sich mit stumpfem, wässrigem Grau wie mit einer schlüpfrigen Haut. Ein weißhaariger Herr im schwarzen Pastorenrock schritt talab in eins der Dörfer im Grunde, ohne Wolf Eschenlohr zu bemerken. Ab und zu stand er, wie von Gedanken überfallen, stille und warf den Kopf in den Nacken, als müßte er lauschen. Seine bartlosen Lippen bewegten sich, ohne sich zu teilen. Seine Brauen schoben sich unter der hohen Stirn ineinander und auseinander, wie die Gedanken sich drängten oder klärten. Lange stand er unter einer Gruppe breiträumig wachsender Eichen, die ihn schweigend wie eine urzeitliche Gemeinde umscharten.

Wolf Eschenlohr kannte den Alten nicht. Aber er sah wohl, daß er sich in Gottes morgenhellem Walde Gedanken zu seiner ersten Kriegspredigt holte. Durch die Kirche im Tale mußte es wohl, wenn er sprechen würde, aus seinen Worten strömen wie Erdgeruch und Harz und herber Laubduft von Eichen.

Lange sah Wolf Eschenlohr auf den Alten. Und die wortlose Predigt der leise bewegten Lippen erregte ihm eine herzklopfende Unruhe.

Der Greis schritt zu Tal.

Der Tag wuchs rasch in einschläfernder Stille. Im Halbschlummer träumte Wolf Eschenlohr in den struppigen Wipfel einer Riesenföhre empor, aus deren schwarzgrünem Dunkel die rotbuschige Rute eines Eichkaters bald hier, bald da wie ein spielendes Harzflämmchen hervorschoß. Dann verlor er sich selbst.

In irrlichterndem Traume begegnete er dem Arbeiter wieder, dessen verächtlicher Haßblick ihn in den Wald hinausgetrieben hatte.

Karl Igelshieb marschierte ihm zur Seite durch den mahlenden Sand öder, baumloser, sonnenverbrannter Heide ... Mühsam arbeiteten sie sich vorwärts unter der Last grauer staubiger Röcke und glühender Helme ...Querüber wie ein Sklavenjoch trugen sie ihre Gewehre über den schweren Tornistern ...Karl Igelshieb ging mit wankenden Knien und hängendem Kopfe. Immer wieder fuhr er mit dem Rockärmel über die schweißüberschwemmte, staubige Stirn ...Wolf Eschenlohr griff nach dem Gewehr des Kameraden, um ihm die Last zu erleichtern, aber der Arbeiter verzog das Gesicht zu einer höhnischen Grimasse, die ihn zurückscheuchte ...

Dann plötzlich war er mit dem Arbeiter im dichtesten Getümmel. Ein fratzenhafter Turko sprang mit gefälltem Bajonett gegen Karl Igelshieb an und zückte ihm das Eisen gegen die nackte Kehle. Er selbst fuhr mit beiden Händen in die tödliche Waffe und riß sie beiseite. Aber der Arbeiter schlug eine Lache auf, hart, höhnisch und unversöhnlich, und glitt an ihm vorüber wie ein Dämon ...

Wolf Eschenlohr erwachte. Kindisch war sein Träumen gewesen und dennoch marternd. Das Schlafen im Walde hatte ihn eher ermattet als erfrischt. Er schritt langsam zu Tal, aß in Frankenreuth bei den Bauern und wanderte nach Erlangen zurück.

Am Spätnachmittage entsann er sich der Einladung Theobald Wachsmuths. Beinahe hastig machte er sich auf den Weg zu dem greisen Gelehrten.

Die Arbeitsstube des Philosophen mit ihrer dunklen Eichentäfelung und dem warmen Grün der Vorhänge vor den großen Bücherschränken strömte Frieden und Ruhe aus. Das klare Altmännergesicht mit den gütigen Augen mahnte herzlich zur Selbstbesinnung.

Er redete sich das Erlebnis des Vormittags und die Knabenträume im Walde vom Herzen. »Der Arbeiter im Traum war in seinem Recht, als er mich verlachte,« sagte er ruhig. »Wenn ich ihm da draußen ein Bajonett beiseite schlage, tue ich nur das Selbstverständliche, das nichts gutmachen kann. Wir sind dann nur zwei Räder in einer Maschine, die aufs Zusammenwirken eingestellt sind. Mache ich zuviel Wesens um ein Nichts, alter Herr? Sieh', ich glaube, du verstehst mich recht gut. Es sind gar nicht Wolf Eschenlohr und Karl Igelshieb, die sich heute zum erstenmal in die Augen gesehen haben. Wir sind nur zwei unter Tausenden, hüben und drüben. Wir haben sie schon früher gesehen, die tausend anderen: die Schüler, die zur Schule ziehen, die Arbeiter, die zur Fabrik trotten, die Kompagnien, die in den Sonnenbrand hinausmarschieren, die Tagelöhner, die vom Felde kommen, – wir haben sie gesehen und allzuwenig gefühlt beim Begegnen. Es waren Schüler, Arbeiter, Soldaten, Tagelöhner, die wir sahen. Und nun mit einmal merken wir, es waren schon immer unsere Brüder, nach denen wir zu wenig fragten. Jetzt möchten wir einem jeden unter Helm und Mütze sehen, wenn er vorüber geht, und ihn fragen: Wie ist's dir ums Herz, Bruder? Und wir fühlen, wir haben bisher auf unserm Weg immer zuviel auf die eigenen Füße und zu wenig in die Gesichter der anderen gesehen. Ist's nicht so?«

Theobald Wachsmuth ließ ihn ausreden. Er ließ ihn nicht einmal spüren, mit welch' herzlichem Gefallen er zuhörte. Er sah durch den Jungen hindurch wie durch Glas, und er sah den neuen Menschen in ihm, der sich anschickte, einen neuen Weg zu gehen und der keinen unversöhnten Groll auf diesem Wege hinter sich haben konnte. Er wollte ihm den Weg zur Versöhnung zeigen, so gut er's vermochte. Mit einem feinen, unmerklich leisen Lächeln des Einverständnisses streifte der Greis, als er antwortete, die Büste Friedrich Hebbels, des Proletariersohnes, die ihm zur Linken über den Büchern stand.

»Sprichst du nicht von der allgemeinen und angeborenen Schuld der Menschheit, Wolf, an der wir alle mitschuldig sind? Du bist ihrer nicht erst heute teilhaftig geworden durch Gedankenlosigkeit, du bist ihrer nur inne geworden wie einer Krankheit. Mit der Menschwerdung zugleich ist der mit sich einige und schuldlose Gott in Ich und Du auseinandergespalten und der Schuld überantwortet worden. Der Gott im Menschen wird immer den Weg zur Entsühnung aus der Vielheit zur verlorenen Einheit suchen gehen. Zeugt nicht unser Volksgewissen selbst in seiner Sprachschöpfung unbewußt von dem großen Drang zur Versöhnung? Nicht umsonst, meine ich, klingt das Wort ›Ich‹ blechern und tonlos wie eine Ladenklingel und das Wort ›Du‹, das Wort der Hingabe, schwingt nicht umsonst wie eine schöne, tiefe Gebetsglocke! Ein täppisches Danebengreifen und Irregehen auf dem Weg zur Versöhnung ist immer noch menschenwürdiger und liebenswerter als das eiskalte Beharren in sich selbst ohne den Willen der Liebe. Die Vergangenheit darf uns nicht in den Nacken schlagen, wenn wir frei dem Schicksal auf dem großen Opferwege des Krieges entgegenschreiten, Wolf! Nur Wille und Liebe müssen wir sein von heute ab, sonst nichts.«

Wolf Eschenlohrs übervolles Herz drängte dem verehrten Manne zu, während er klar wie auf dem Katheder und doch mit der herzlichen Dringlichkeit eines Vaters Satz an Satz fügte. Er saß blaß und ergriffen vor dem Greis, seine Augen waren dunkel und schön geworden und verzehrten die Worte, wie eine Opferflamme ihre Nahrung verzehrt ...

And noch einmal sprach Theobald Wachsmuth zu Wolf Eschenlohr.

Am Abend des Sonntags auf der Abschiedsfeier der Arminen redete er unter der Fahne der Burschenschaft im großen Festsaal zu den alten und jungen Gliedern des Bundes und redete doch vor allem zu Einem.

Wolf Eschenlohr fühlte es wohl. Im tiefsten aufgewühlt, spürte er, wie die Worte des ehrwürdigen Mannes noch einmal an ihn herantraten wie liebe und vertraute abschiednehmende Freunde.

Borkenhagen und Eschenlohr präsidierten, während Theobald Wachsmuth sprach, ihm zur rechten und linken mit den blanken Paradeschlägern in den schwarzrotgoldenen Farben. Barhäuptig stand der Greis im verblichenen Weißhaar. Hochstämmig und schlank, ihm ebenbürtig an Höhe, ragten die Jünglinge im schwarzen Samt mit seidenen Schärpen ihm zu Seiten wie Ehrenwächter, ohne sich zu regen. Kaum daß die breitwallenden Straußenfedern ihrer Samtbaretts oder die blitzenden Klingen ihrer Schläger einmal leise erzitterten und im Lichte spielten.

Und Theobald Wachsmuth hob an:

»Gott, Freiheit, Ehre, Vaterland! – Vier Worte stehen als Wahlspruch über dem Leben unseres Bundes. Worte sind Glocken, meine Brüder: Die Jungen läuten sie, wie die Alten sie gegossen haben. Es kann kein volleres und reicheres Geläut in die Stille dieser Schicksalsstunde hineinklingen als die vier geheiligten Worte unserer Lebensgemeinschaft ...«

Und dann ließ er Gott reden aus dem Gewitterhimmel des Krieges über der verdunkelten Erde, daß die Jünglinge unter der Heiligung ihrer opferdurstigen Kraft erbebten. Er schwang das Sturmbanner der Freiheit unsichtbar über ihren Häuptern, daß sie tiefer eratmend sein Rauschen zu hören vermeinten. Er richtete die Gebote der Ehre wie Gesetzestafeln in ihrer Mitte auf. Und er sprach ihnen vom Vaterlande.

»Hast du's auch recht gekannt und geliebt: dein Vaterland? nicht den toten Begriff, sondern das Vaterland aus Fleisch und Blut, dein Volk? Hast du's wirklich gekannt und geliebt von ganzem Herzen und ganzem Gemüte? Tiefer soll keine Glocke je tönen über uns und unsere Erben und Nachgeborenen als das Wort Volk. Wie ein Glockenton soll ihm das Wort der Hingabe, das Wort Du vorausschwingen: Du, mein Volk! Du, mein Bruder! Du, mein Vaterland! In keiner Sprache der Erde schwingt das Wort der Hingabe, das Wort Du, so voll tiefen, inbrünstigen Wohlklangs wie in der unsern, und kein Volk der Erde kann uns das in Kraft und Wohllaut und Schönheit und Wahrheit nachschwören: Du, unser Gott! Du, mein Volk und Vaterland!... Und so laßt uns den Wahlspruch singen!«

Barhäuptig standen sie alle an den langen Tafeln. Und während sie sangen, hörten sie über ihren Häuptern die ewigen Glocken tönen, von denen der Alte gesprochen.

Einer aber unter ihnen sah mehr als sie alle.

Mit der Inbrunst der Kriegsfreiwilligen sang Wolf Eschenlohr das alte Gelübde mit. Eine brennende, ungeduldige, knabenhaft schwärmende und männlich starke Liebe war über ihn gekommen.

Und während sie ihren Wahlspruch sangen, sah er mit der Kraft einer Vision den Kreis der verschlungenen Männer und Jünglinge sich weiten. Zwischen den schwarzen Samt der Pekeschen und das graue und lichtblaue Tuch der bayerischen Waffenröcke schoben und drängten sie sich hinein: Hemdärmelige Arbeiter, Schmiedeknechte im blauen Linnenkittel, Tagelöhner im grauen Werkelkleide ... Mehr und mehr ... Zahllos drängten sie heran ... Die ungleichen Kinder Evä ... Aus den Fabriken waren sie gekommen und von den Erntefeldern ... Ihre Arme lagen auf den Schultern der singenden Burschen ... Sie sangen mit ... Auch Karl Igelshieb hatte empfangenen und getanen Schimpf vergessen ... Sein Arm lag schwer um Eschenlohrs Nacken, während sie sangen ...

In tiefer Erschütterung, als wäre ihm eine Offenbarung geworden, stand der Jüngling, als der Kreis der Burschen sich löste und mit ihm die Runde der unsichtbaren Gäste zerfloß.

Die Stunden trieben weiter auf den Wogen immer neuer Lieder und stürmender Worte ...

Es war schon spät, als Heinz Borkenhagen, der Sprecher, seinen Arm unter den Eschenlohrs schob und ihn fast gewalttätig zu der erhöhten Saalbühne zwischen den immergrünen Lebensbäumen empordrängte. Er hatte den jungen Bundesbruder nicht aus den Augen gelassen, und er wollte, daß er die Verse und Gedanken, die sichtbar in ihm gärten, über die nächtliche Versammlung ausströme.

Willenlos ließ der Jüngling sich schieben.

Und Wolf Eschenlohr sprach.

Die Opferfeuer des Weltbrandes brannten ihm in den Augen, während er redete. Und die gleiche Flamme brauste in ihrer aller Ohren, die in der Tiefe des Saales standen und lauschten.

Er sprach von den Feuerfesten ihres Burschenbundes.

»Vor Monaten habe ich zu Euch in diesem Hause vor festlichen Feuern gesprochen. Heute will ich Euch die Feuerrede des Krieges halten! Seht Ihr das Feuer, um das wir schauernd stehen? Hört Ihr die Flammen, die uns lauschend entgegendröhnen? Aus dem Osten hebt sich lohend der Kriegsbrand, wie sich die Sonne glutend aus Osten hebt! Geruhig, kalten Auges wie Schützen und stammenden Herzens wie Bräutigame schauen wir in das tosende Feuer des Weltbrandes, das uns glostend anhaucht! Wir wollen durch dieses Feuer hindurchdringen wie jauchzende Jünglinge durch Sonnenwendfeuer. Und wenn wir im Absprung die Sohlen von der Erde lösen, weiß keiner, wo seine Füße wieder zur Erde kommen. Wer über dieses Feuer springt, der springt aus der Kindheit ins Mannestum, aus Mutterarm in Gottesarm, aus der Zeit in die Ewigkeit ...

Wir sind geschaffen zu jeder Not,
Wir stehen zum Sturm geschlossen,
Uns ist ein brünstiges Freudenrot
Über Wangen und Hals ergossen ...«

Der helle Saal blendete die schlanke Jünglingsgestalt im schwarzen Samtrock voll an. Er gab seinem Gesicht eine fast gespensterhafte Blässe und warf seinen Schatten schwarz und riesig hinter ihm an die weiße getünchte Wand zwischen den immergrünen Lebensbäumen.

Mitten im Reden hatte Wolf Eschenlohr die Arme weit auseinander gebreitet.

Und mit einmal kam es über Theobald Wachsmuth, der kein Auge von ihm verwandte, wie ein jähes Erschrecken.

Der blasse Junge, der mit gebreiteten Armen dastand, warf gegen die fackelhelle Wand in seinem Rücken den dunklen Schatten eines riesenhaften Kreuzes, an das er gebunden schien, ohne es zu wissen.

Auch Heinz Borkenhagen hatte es bemerkt.

Er und der Greis sahen sich in die Augen. Eine jähe, ahnungsvolle Erschütterung überkam beide.

Borkenhagen tat unwillkürlich einen unbeherrschten Schritt nach vorwärts. Er hatte ein fast körperliches Schmerzgefühl. Es war ihm, als müßte er vorstürzen und Eschenlohrs Arm niederzerren, daß die Erscheinung verschwände.

Abenteuer war zur Opferfeier geworden ...

Der Jüngling aber sprach seinen Sturmruf in den Saal hinein:

»Die Zeit der blutgetränkten Tage
Ist da!
Nun schweigt von Tod und Totenklage!
Der Tag will nur ein Wort: Hurra!
Die Zähne zusammengebissen,
Die Herzen zusammengerissen
Und vorwärts und Hurra!

Die Zeit der tränenfeuchten Nächte
Ist da!
Weh dem, der nachts nicht Opfer brächte!
Der Tag will nur ein Wort: Hurra!
Die Herzen zusammengerissen,
Die Zähne zusammengebissen
Und vorwärts und Hurra!

Die Zeit der Not in allen Landen
Ist da!
Durch Glockenschwall Gebete branden,
Doch jedes Amen wird Hurra!
Die Zähne zusammengebissen,
Die Herzen zusammengerissen
Und vorwärts und Hurra!«

Unbeweglich stand, während er sprach, das dunkle Schattenkreuz drohend und riesenhaft hinter ihm.

Er ließ die Arme sinken und es war den Zweien im Saal wie eine Erlösung von spukhafter Qual. Borkenhagen atmete auf. Theobald Wachsmuth sah ihn ernst an. Und sie verstanden sich beide, ohne zu reden.

Andern Morgens fuhr Wolf Eschenlohr in die schlesische Heimat. Den Kasernen seiner Vaterstadt entgegen.

Trotz der frühen Stunde war Theobald Wachsmuth zum Abschied an der Bahn. Es verlangte ihn noch einmal nach Augen und Hand des Jungen, den er wie einen Sohn liebte.

Mitten im Gedränge und Geschiebe der Reservisten und Freiwilligen, die mit ihren Koffern und Wäscheschachteln die Geleise belagerten und lärmend durcheinander schrien und lachten, stand der greise Gelehrte und wartete.

Als Wolf Eschenlohr kam, nahm er seine beiden Hände zugleich und hielt sie lange.

Das tosende Herandröhnen des Eilzuges verschlang den Bahnhofslärm. Die Türen schlugen. Die Abteile wurden gestürmt. Ein erregendes Auf- und Abrennen. Ein gellendes Pfeifen und schweres Stampfen ... Das verdrossene Fauchen der Maschine wurde zum hastenden Schnauben .. Unter Tücherschwenken und Hurrarufen entschwand der Zug den hundert winkenden Armen, die ihn vergeblich halten zu wollen schienen ...

Aus den herabgelassenen Fenstern seines Abteils, umflattert von den verschossenen, windknatternden Vorhängen, winkte Wolf Eschenlohr zum Abschied mit der Mütze. Unter dem geöffneten blauen Rock schimmerte das schwarzrotgoldene Band seines Jungburschentums. Der Zugwind spielte mit seinem Haar.

Die rote Mütze in seiner Hand wirbelte wie ein Feuerbrand, und aus ihrem goldgestickten Eichenkranze stoben die Sonnenfunken ...


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