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Mr. Christopher Pett schlich sich, von seiner Tante gewarnt, auf Zehenspitzen in das Wohnzimmer. Dort setzte er seine kleine Reisetasche auf den Tisch, zog seinen dicken Mantel aus und legte Wollhandschuhe und Pelzmütze ab. Miß Pett sah ihn fragend an.
»Welchen Weg kamst du denn diesmal?« erkundigte sie sich.
»High Gill. Ich habe am Nachmittag einen Schnellzug bekommen, der dort hielt. Auf der Heide war es aber furchtbar kalt, ich könnte einen Tropfen Whisky oder Glühwein vertragen. Ist hier eigentlich etwas los?«
»Wie kommst du denn darauf?«
Christopher rückte einen Sessel ans Feuer und wärmte seine Hände an den Flammen.
»Auf der Heide sind viele Leute mit Lichtern und Laternen. Ich bin allerdings nicht in die Nähe gekommen, aber ich habe gesehen, daß sie die Heide absuchten. Von weitem sahen sie aus wie die Glühwürmchen.«
Miß Pett setzte die Kognakflasche, Zitronen, Zucker und heißes Wasser neben ihren Neffen und nahm eine bedeckte Schüssel aus einem Eckschrank.
»Hier sind gute Brote mit Braten und Schinken, die werden dir schmecken. Ja, du hast ganz recht, es ist schon etwas im Gange. Sie suchen nach jemand – nach Mallalieu!«
Christopher sah sie verwirrt an. Er hielt die Flasche in der Hand und vergaß, einzuschenken.
»Doch nicht den Bürgermeister?« rief er.
»Ja, Anthony Mallalieu, den Bürgermeister von Highmarket. Er wird steckbrieflich von der Polizei verfolgt.
»Großer Gott! Doch nicht, weil sie ihn deswegen im Verdacht haben?« Er zeigte mit dem Kopfe nach dem Walde zu, wo man Kitely gefunden hatte.
»Nein, weil er seinen Angestellten Stoner umgebracht hat. Der muß irgend etwas über ihn erfahren haben. Stoner wurde am Sonntag ermordet, und heute haben sie Mallalieu und seinen Teilhaber verhaftet und vor das Polizeigericht gestellt. Die Sache wurde natürlich auf eine Woche vertagt, und nachher ist Mallalieu der Polizei irgendwie entkommen. Und nun ist er hier!«
Christopher hatte eben begonnen, sich Kognak einzugießen, hielt aber bestürzt wieder inne.
»Was – hier in diesem Hause?«
»Ja, in Kitelys Zimmer schläft er. Wir brauchen uns nicht so sehr in acht zu nehmen, ich habe ihm einen Schlaftrunk gebraut, bevor er zu Bett ging. Der wacht nicht auf, und wenn ihm das Dach über dem Kopf abbrennt. Vor neun Uhr morgens kommt er nicht hoch.«
»Es ist aber eine gefährliche Sache, Verbrecher in seinem Hause zu verstecken, die von der Polizei gesucht werden. Ich glaube allerdings nicht, daß sie ihn hier vermuten. Aber wie ist er denn nur hergekommen?«
»Das habe ich gemacht. Draußen im Walde habe ich ihn erwischt und hergebracht. Die Sache wird sich bezahlt machen, Chris.«
Mr. Pett lächelte verschmitzt.
»Du bist sehr geschäftstüchtig, das muß ich schon sagen«, sagte er bewundernd. »Wenn du damit ein wenig Geld verdienen kannst, warum nicht!«
»Das ist eine Sorge für morgen«, sagte Miß Pett und ließ sich auch an dem Tisch nieder. »Heute abend wollen wir zunächst unsere eigenen Geschäfte erledigen. Ist dir der Verkauf geglückt?«
Christopher war noch zu sehr mit Essen und Trinken beschäftigt, um gleich antworten zu können. Aber nach einigen Minuten nickte er befriedigt.
»Ich habe einen sehr guten Preis herausgeschlagen und alle Grundstücke mit einmal verkauft. Der Kaufpreis ist auch sofort ausbezahlt worden, und ich habe das Geld mitgebracht. Meine Kommission und meine Unkosten habe ich noch nicht abgezogen.«
»Wieviel hast du denn bekommen?«
Christopher nahm einige Schriftstücke aus seiner Handtasche.
»Da kannst du dir gratulieren. Ich kenne den Grundstücksmarkt und kann dir nur sagen, daß du sehr gut weggekommen bist. Wenn wir die Sache hätten verauktionieren lassen, wäre lange nicht der Preis erzielt worden. Ich habe alles an einen Mann verkauft, der scharf darauf war, weil ihm die angrenzenden Grundstücke schon gehören. Deshalb konnte ich im Preis etwas aufschlagen. Ich habe dreitausendvierhundert Pfund dafür bekommen.«
»Wo ist das Geld?«
»Hier.« Christopher zeigte auf seine Brusttasche. »Ich habe alles in Banknoten. Wir wollen nachher gleich abrechnen.«
»Gib mir das Geld!« Miß Pett streckte ihre Hand aus.
Christopher sah seine Tante von der Seite an.
»Wollen wir nicht lieber erst über meine Kommission und meine Unkosten sprechen? Hier ist eine Aufstellung meiner Spesen. Über die Kommission müssen wir uns erst noch einig werden.«
»Das können wir machen, wenn du mir das Geld gegeben hast. Ich habe es bis jetzt ja noch nicht einmal durchzählen können.«
Christopher Pett zog unwillig seine Brieftasche hervor und nahm einen Stoß Banknoten heraus, die er seiner Tante über den Tisch zuschob.
»Ich traue dir«, sagte er etwas zweifelnd. »Vergiß aber nicht, daß ich mich sehr für dich ins Zeug gelegt habe.«
Miß Pett antwortete nicht. Sie hatte eine Brille aufgesetzt und zählte nun das Geld, während ihr Neffe den warmen Punsch trank, ab und zu sein Kinn strich und wehmütig zu den Scheinen hinüberschaute, die er seiner Tante eingehändigt hatte.
»Es stimmt«, sagte sie schließlich. »Wie hoch sind also die Kosten, Chris?«
»Einundsechzig Pfund und zwei Schilling.« Er reichte ihr die Aufstellung. »Du wirst alles in Ordnung finden. Ich habe es so billig als möglich für dich gemacht.«
Miß Pett setzte die Ellenbogen auf die Banknoten, während sie die Rechnung prüfte. Als sie fertig war, sah sie ihren Neffen wieder fragend an.
»Nun müssen wir also noch über die Kommission sprechen. Aber merke dir, daß du mir nicht soviel abnehmen darfst wie anderen Leuten. Du mußt mir einen anständigen Preis machen. Wieviel willst du haben?«
»Ich habe dir einen hohen Kaufpreis herausgehandelt«, erwiderte er nachdenklich. »Ich habe vierhundert Pfund mehr aus dem Grundstück herausgeholt, als es augenblicklich Marktwert hat. Was sagst du zu fünf Prozent?«
Miß Pett nahm erstaunt den bunten Turban ab.
»Fünf Prozent?« rief sie. »Christopher Pett! Wo denkst du denn hin? Das sind doch hundertsiebzig Pfund! Nein, mein Lieber, so haben wir nicht gewettet. Das ist ja Wucher! Was sage ich, Raub!«
»Wieviel willst du mir denn geben?« brummte er. »Verdammt noch einmal, du mußt doch deinem Neffen gegenüber nicht so knauserig sein!«
»Ich werde dir hundert Pfund geben, einschließlich der Unkosten. Keinen Schilling mehr.« Aber dann neigte sie sich ein wenig vor und warf einen Blick auf das Zimmer, wo Mallalieu ruhig schlief. »Du kannst aber davon etwas abhaben. Damit kannst du dich gesund machen –«
Christophers düstere Züge hellten sich wieder auf.
»Ist denn die Sache überhaupt soviel wert? Was kann er uns denn geben? Er ist doch auf der Flucht! Viel kann er doch nicht bei sich haben. Bedenke doch, daß er von seinen Bankkonten nichts abheben kann.«
Miß Pett lachte nur. Ihr Neffe dachte immer an klapperige Maschinen, die nicht genug Öl hatten, wenn er dieses Lachen hörte.
»Er hat haufenweise Geld bei sich! Nachdem er eingeschlafen war, habe ich einmal seine Taschen untersucht. Wir brauchen ihn nur fest in Gewahrsam zu halten, dann können wir eine schöne Summe Geld an ihm verdienen. Also stecke deine hundert Pfund jetzt ein. Über die andere Sache reden wir morgen weiter.«
»Nun ja, in diesem Falle soll die Sache so abgemacht sein.«
Er nahm die Banknote, die ihm seine Tante gab, an sich. »Wir müssen ihm ein wenig die Hölle heiß machen, dann geht alles viel besser.«
»Das wollen wir schon besorgen. Diese korpulenten Leute kann man meist sehr leicht ins Bockshorn jagen.«
Und Mallalieu erschrak tatsächlich, als er am nächsten Morgen aufwachte und Miß Pett an seinem Bett sah. Er fuhr aus den Kissen auf und starrte sie ängstlich an. Aber sie legte beruhigend ihre klauenartige Hand auf seine Schulter.
»Erschrecken Sie nur nicht, es ist alles in Ordnung. Hier habe ich Ihnen eine Tasse schwarzen Kaffee gebracht, der wird Ihnen guttun. Es ist der feinste Mokka, und ich habe noch einen Schuß Rum hineingetan. Trinken Sie das erst einmal, in einer halben Stunde bringe ich Ihnen dann das Frühstück. Es ist eben neun Uhr durch.«
»Ich muß sehr fest geschlafen haben«, meinte Mallalieu. »Ist wirklich alles sicher? Haben Sie nichts gehört oder gesehen?«
»Es ist alles in Ordnung. Sie haben Glück. Mein Neffe Christopher ist nämlich aus London gekommen, um mir bei dem Umzug zu helfen. Er ist ein tüchtiger Rechtsanwalt und kann Ihnen einen guten Rat geben.«
Mallalieu brummte etwas Unverständliches. Er kannte Christopher Pett von früher, war aber von seinen Fähigkeiten nicht besonders überzeugt.
»Kann man ihm denn trauen?« fragte er halblaut. »Will er am Ende auch noch Schweigegeld haben?«
»Durchaus nur im Rahmen der Möglichkeit und Billigkeit. Wir sind keine unvernünftigen Leute. Besonders Christopher ist ein verständiger junger Mann, mit dem man reden kann. Kitely hatte eine sehr hohe Meinung von ihm.«
Nach einer kurzen Unterhaltung mit dem Rechtsanwalt erkannte Mallalieu, daß Christopher tatsächlich schlau, praktisch und weitsichtig war.
»Sie haben etwas sehr Gefährliches unternommen«, sagte Christopher. »Sie entschuldigen, wenn ich Ihnen das so offen sage, Mr. Mallalieu. Aber es war wirklich unklug von Ihnen, sich aus dem Staube zu machen. Dadurch geben Sie doch glatt Ihre Schuld zu. Und sehen Sie einmal, wir nehmen ein großes Risiko auf uns, wenn wir Sie im Hause behalten!«
»Sie werden kein schlechtes Geschäft dabei machen. Ich bin gerade kein armer Mann.«
»Das mag ja ganz richtig sein. Aber selbst wenn Sie ein Millionär wären und uns eine fürstliche Belohnung gäben, wäre es doch für uns mit großen Gefahren verbunden. Ich will damit nicht sagen, daß wir von Ihnen eine außergewöhnlich große Zahlung erwarten. Aber Sie müssen vor allem einsehen, daß Sie ohne unsere Hilfe unmöglich dieses Haus verlassen können.«
»Warum denn nicht?« sagte Mallalieu ärgerlich. »Ich kann doch heute abend bei Einbruch der Dunkelheit fortgehen.«
»Nein, das geht wirklich nicht. Ich habe gestern abend gesehen, wie die Heide abpatrouilliert wurde. Die Leute hatten Laternen und Sturmfackeln, und das wird nun noch manche Nacht so weitergehen. Wenn Sie den Fuß über die Schwelle setzen, sind Sie in kürzester Zeit aufgegriffen und sitzen in wenigen Stunden im Gefängnis in Norcaster!«
»Welchen Rat geben Sie mir denn dann? Ich will Ihnen aber erst einmal sagen, wie ich mir die Sache dachte. Wenn ich sicher in eine gewisse Gegend von Norcaster komme, bin ich gerettet. Von dort aus kann ich zu Schiff nach dem Festland.«
»Dann müssen wir uns also überlegen, wie wir Sie, ohne Verdacht zu erregen, nach Norcaster bringen können. Ich werde das mit meiner Tante besprechen.«
»Ihre Tante sagte doch, sie hätte schon einen Plan.«
»Der liegt aber noch nicht in allen Einzelheiten fest. Ich rate Ihnen, Mr. Mallalieu, vorläufig hier im Hause zu bleiben und sich ruhig zu verhalten. Meine Tante wird schon aufpassen, daß man Sie nicht findet. Ich gehe ab und zu in die Stadt und sehe mich dort um, wie die Dinge stehen. Wenn ich heimkomme, erzähle ich Ihnen alles, und wir drei beraten dann miteinander. –
Nachdem Christopher Mantel und Hut sauber ausgebürstet und ein Paar schwarze Lederhandschuhe angezogen hatte, ging er nach Highmarket. Er kannte dort einige Leute und erzählte ihnen, daß er hergekommen wäre, um die Angelegenheit mit seiner Tante zu ordnen und ihr bei dem Umzug zu helfen. Um diese Behauptung auch noch mehr zu unterstreichen, ging er zu einer Speditionsfirma und gab dort den Auftrag, ihm einen Kostenvoranschlag für einen Umzug nach Norcaster zu machen. Von dort aus sollten die Möbel per Schiff nach London befördert werden, wo sich Miß Pett in Zukunft niederlassen wollte. Christopher Pett erkundigte sich, wo er konnte, über die Lage und kehrte gegen Mittag nach Hause zurück. Die Polizei und die Einwohner von Highmarket waren davon überzeugt, daß Mallalieu in der vorigen Nacht entkommen und jetzt in Sicherheit sei. Soviel hatte er erfahren. Eine weitere Verfolgung habe gar keinen Zweck mehr. Die Polizei nahm an, daß er irgendwelche Helfershelfer gehabt haben müsse und wahrscheinlich in einem Auto geflohen sei.
Aber Christopher Pett erzählte Mallalieu eine ganz andere Geschichte. Er sagte, daß die Heide Tag und Nacht streng bewacht werde, da man annehme, daß der Flüchtling sich in einem der alten Steinbrüche versteckt halte. Jede Zugangsstraße nach Norcaster und nach allen benachbarten Orten und Stationen wäre durch Polizeiposten besetzt und überwacht. Mallalieu hätte überhaupt keine Aussicht, zu entkommen, wenn er sich nicht Miß Pett und ihrem Neffen anvertraute. Und Mallalieu mußte sich in das Unvermeidliche schicken.