Joseph Smith Fletcher
Der Stadtkämmerer
Joseph Smith Fletcher

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19. Kapitel.

Ein großer Mann in grauem Anzug.

Er konnte zu keinem Entschluß kommen und schwieg, bis sie auf einem Hügel in der Heide angelangt waren. Dort hielt er einen Augenblick an und sah auf die Dächer der Stadt zurück, die im Mondlicht glänzten. Sie blieb auch stehen und wunderte sich darüber, daß er so schweigsam geworden war. Plötzlich wandte er sich zu ihr, legte die Hand auf ihren Arm und drückte ihn leicht.

»Ich will Ihnen ganz vertrauen und Ihnen erzählen, was ich noch zu niemand gesagt habe, nicht einmal zu meinem Kollegen Tallington oder meinem Freunde Bent. Ich muß mich aber einem Menschen gegenüber aussprechen, dem ich vertrauen kann – und das sind Sie!«

»Ich danke Ihnen«, sagte sie leise. »Ich glaube Sie zu verstehen.«

»Dann ist es gut«, sagte er freundlich. »Wir wollen jetzt wieder weitergehen. Sie führen, und ich erzähle Ihnen auf dem Wege alles.«

Avice bog auf einen kleinen Fußweg ab, und nach einigen Minuten waren sie ganz allein; nirgends war eine menschliche Wohnung zu sehen. Brereton glaubte fast in einer anderen Welt zu sein, aber plötzlich sah er sekundenlang die Lichter des Zuges, der weit hinten in der Nähe der Küste durch das hügelige Heidegelände von Norcaster brauste. Der Wind trug den schrillen Pfiff der Lokomotive herüber, und Brereton wurde wieder an die Wirklichkeit erinnert.

Avice lauschte seinen Worten, ohne ihn zu unterbrechen. Sie gingen langsam über die Heide und kamen ab und zu durch ein kleines Tal oder einen niedrigen Hügel. Bei wichtigen Stellen seiner Erzählung blieb er stehen und sah dann, daß sie gespannt zuhörte. Als ihnen schließlich von weitem das Licht eines einsamen Hauses auf der Heide entgegenschimmerte, wußte Avice alles.

Sie ging noch einige Zeit schweigend neben ihm her, bevor sie sich an ihn wandte.

»Sie haben mir Ihr Vertrauen geschenkt, ich will nun das gleiche tun. Vielleicht hätte ich es längst tun sollen. Auch ich habe mich über Mallalieu gewundert, und mir kam der Gedanke, ob er nicht den alten Kitely ermordete und die Schuld auf meinen Vater abwälzte, um sich an ihm zu rächen.«

»Warum wollte er sich denn an Ihrem Vater rächen?«

»Er hat ihn vor kurzer Zeit beleidigt. Mr. Mallalieu besuchte uns öfters. Zuerst bat er meinen Vater, die Ratten in seinem Schuppen und in anderen Nebengebäuden zu vertreiben, und dann fand er immer neue Vorwände. Er kam immer abends und richtete es so ein, daß mein Vater nicht zu Hause war. Er saß dann im Zimmer, rauchte und unterhielt sich mit mir. Ich konnte ihn aber nicht leiden, und mir war das sehr zuwider. Häufig begegnete er mir auch im Walde, wenn ich von Northrops kam. Ich beklagte mich bei meinem Vater über seine Aufdringlichkeit, und als er ihn eines Abends wieder in der Wohnung fand, sagte er Mr. Mallalieu ganz offen, daß keiner von uns seine Gesellschaft wünsche, und bat ihn, zu gehen. Mr. Mallalieu wurde wütend und stieß schwere Drohungen aus.«

»Und Ihr Vater? War er auch aufgeregt?«

»Nein, er beherrschte sich, obgleich er auch sehr zornig werden kann. Er antwortete Mr. Mallalieu überhaupt nicht, ließ ihn ruhig reden, bis er aus der Tür gegangen war, und schloß sie ihm dann vor der Nase zu.«

»Ich bin froh, daß Sie mir das gesagt haben. Vielleicht hat das noch eine große Tragweite. Ich muß vor allem sehen, wie ich es zugunsten Ihres Vaters verwerten kann. Aber das ist doch wohl das Haus der alten Frau?«

Avice ging jetzt voraus und führte ihn durch eine kleine Talsenke in den von einer Steinmauer umgebenen Garten. Eine einzelne vom Sturm zerzauste Kiefer erhob sich wie eine einsame Schildwache bei dem einstöckigen, aus rohen Steinen zusammengefügten Hause. Dicht daneben stand ein Stall für Kühe und Schafe.

Als sie an die Tür klopften, trat ihnen eine Frau entgegen, die schon vom Alter gebeugt war. Sie hielt eine kleine Lampe, bei deren Schein sie die beiden betrachtete.

»Kommen Sie nur herein«, sagte sie dann freundlich, »ich erwartete ja, daß Sie heute abend kommen würden. Setzen Sie sich an den Kamin, es ist eine kalte Nacht, und Frost und Schnee liegen in der Luft.«

»Darf dieser Herr auch hereinkommen, Mrs. Hamthwaite?« fragte Avice, als sie und Brereton nähertraten. »Er ist der Rechtsanwalt, der meinen Vater verteidigt. Ist es Ihnen unangenehm, in seiner Gegenwart zu sprechen?«

»Das ist mir ganz gleich, ich habe schon oft vor Rechtsanwälten gesprochen. Kommen Sie nur herein.«

Sie schloß die Tür sorgfältig, und als alle an dem warmen Torffeuer Platz genommen hatten, faltete sie die Hände über ihrer Schürze und sah ihre beiden Besucher durch eine ungewöhnlich große Brille an. Brereton betrachtete sie interessiert. Trotz ihres hohen Alters hatte sie noch einen scharfen, klaren Blick, der von Intelligenz und Lebhaftigkeit zeugte. Schließlich lächelte sie freundlich.

»Sie sind jedenfalls gespannt, was ich Ihnen erzählen könnte, mein Liebling«, sagte sie zu Avice. »Und sicherlich wollen Sie auch wissen, warum ich nicht längst zu Ihnen geschickt habe. Aber ich war die ganze Zeit fort und nicht hier, als der Mord passierte. Ich habe meine Tochter besucht, die unten an der Küste lebt, und bin erst heute wiedergekommen. Das Briefschreiben fällt mir schwer, aber nun sind Sie hier, und ich will Ihnen alles sagen. Hoffentlich ist auch der Rechtsanwalt mit dem zufrieden, was ich berichten kann.« Sie nahm eine zusammengefaltete Zeitung aus einem Kasten. »Meine Tochter las mir den Artikel vor. Ich meine die Verhandlung gegen Ihren Vater. Wenn ich recht verstehe, will man doch wissen, wo er in der Nacht war, als der alte Kitely ermordet wurde.«

»Ja, darum handelt es sich«, entgegnete Brereton.

»Ich weiß, wo Harborough zwischen neun und zehn Uhr an jenem Abend war.«

»Wo war er denn?« fragte der Rechtsanwalt eifrig.

Die alte Frau lehnte sich etwas vor.

»Hier auf der Heide«, sagte sie leise, »nicht fünf Minuten von hier entfernt. Dort ist eine Stelle, die wir Good Folks Lift nennen. Es ist eine kleine Erhebung, und dort sollen im Mondlicht die Feen tanzen.«

»Haben Sie ihn denn selbst gesehen?« fragte Brereton.

»Ja, und ich kenne ihn genau. Seine eigene Tochter kann ihn nicht besser kennen als ich!«

»Bitte erzählen Sie uns doch alles«, bat Brereton.

Mrs. Hamthwaite sah ihn scharf an.

»Wollen Sie wissen, was ich auch vor einem Richter aussagen könnte?«

»Natürlich.«

»Seitdem mein Mann tot ist, wohne ich allein hier. Ich habe gerade nicht sehr viel zu leben, aber es genügt vollkommen. Ab und zu fange ich hier auf der Heide einen Hasen oder ein Kaninchen, das tun hier alle. Manche Leute sagen, daß es Wilddieberei sei, aber ich sage, daß wir nur das nehmen, was uns zusteht. In jener Nacht also ging ich nach Good Folks Lift, um nach einigen Schlingen zu sehen, die ich dort ausgelegt hatte. Es gibt dort viele Büsche und Sträucher, und als ich gerade angekommen war, hörte ich Schritte. Ich schaute mich verstohlen um und sah einen großen Mann in grauem Anzug. Ich konnte ihn genau beobachten, als er sich dicht in meiner Nähe eine Pfeife ansteckte. Sein Gesicht habe ich allerdings nur von der Seite gesehen. Er hatte einen dünnen, grauen Bart. Er ging dann vorbei, und gleich darauf hörte ich andere Schritte und die Stimme Ihres Vaters. Dann begrüßten sich die beiden. Sie standen eine Weile dort und sprachen leise miteinander. Es dauerte aber nicht lange, bis sie wieder zurückkamen und den Weg nach Hexendale einschlugen. Bald darauf waren sie außer Sicht, und als ich meine Schlingen nachgesehen hatte, ging ich heim. Das ist alles. Aber mit dem Morde, der in der Nähe von Highmarket zwischen neun und zehn geschah, hat Jack Harborough nichts zu tun, denn er war kurz nach neun Uhr hier oben. Und der große, graue Herr und er gingen in der entgegengesetzten Richtung davon!«

»Irren Sie sich auch nicht in der Zeit?« fragte Brereton ängstlich.

»Nein, es war zehn Minuten vor neun, als ich wegging, und ungefähr zehn Uhr, als ich zurückkam. Meine Uhr geht immer richtig. Ich stelle sie nach dem Kalender und dem Sonnenauf- und -untergang. Das ist die sicherste Methode, dabei kann man sich nicht irren.«

»Wissen Sie auch ganz genau, daß der andere Mann Mr. Harborough war?«

»Ja. Ich kenne Harboroughs Stimme und seine Gestalt und seinen Gang genau so gut, wie ich hier meinen Kamin und mein Herdfeuer kenne.«

»Und woher wissen Sie, daß es der Abend war, an dem der Mord passierte? Können Sie das auch beweisen?«

»Sehr leicht. Am nächsten Morgen fuhr ich nach der Küste, um meine Tochter zu besuchen. Ich hörte in High Gill von der Ermordung des alten Mannes, aber ich wußte noch nicht, daß der Verdacht auf Harborough gefallen war. Das habe ich erst später in der Zeitung gelesen.«

»Kannten Sie auch den anderen großen Mann im grauen Anzug?«

Mrs. Hamthwaite war in diesem Punkt nicht so gewiß.

»Ich glaube, daß ich ihn hier in der Gegend in den letzten achtzehn Monaten schon einige Male gesehen habe.«

»Sie sagten vorhin, daß die beiden in der Richtung nach Hexendale zurückgingen? Wo liegt das eigentlich?«

Die alte Frau zeigte nach Westen.

»Dort, mehr landeinwärts. Miß Harborough kennt Hexendale sehr gut.«

»Hexendale ist ein Tal mit einem Dorf gleichen Namens«, erwiderte Avice. »Es liegt ungefähr neun Kilometer von hier entfernt. Dort führt eine andere Eisenbahnstrecke entlang, und der Mann, von dem Mrs. Hamthwaite spricht, konnte ja dort von der Bahn gekommen und wieder abgefahren sein.«

»Wir sind Ihnen sehr dankbar«, sagte Brereton. »Sie würden Ihre Geschichte doch auch vor Gericht erzählen?«

»Natürlich. Aber darf ich Ihnen einmal einen Rat geben? Sie sehen ganz klug und gescheit aus. Ich möchte Ihnen einmal sagen, was ich an Ihrer Stelle täte!«

»Nun, was denn?« fragte Brereton gutgelaunt.

Mrs. Hamthwaite klopfte ihm auf die Schulter, als sie die Tür für die beiden öffnete.

»Ich würde herausbringen, wer dieser große Mann mit dem grauen Anzug ist. Der kann Ihnen sehr nützlich sein!«

Brereton ging schweigend weg und dachte über die letzten Worte der alten Frau nach.

»Aber wo könnten wir den Mann denn finden?« rief er plötzlich. »Wir wissen nicht einmal, wie er heißt!«

»Ich glaube, er ist derselbe, der die neunhundert Pfund geschickt hat«, bemerkte Avice.

»Daran habe ich noch gar nicht gedacht! Ich glaube, Sie haben recht. Auf jeden Fall klärt sich das Rätsel jetzt, und wir kommen einer Lösung immer näher.« –

Zu Hause sollte er noch mehr erfahren. Bent war zurückgekommen und erzählte ihm, daß Cotherstone die Hochzeit seiner Tochter beschleunigen wollte, und daß die Trauung in der nächsten Woche in aller Stille stattfinden sollte.

 


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