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Der Inspektor und Brereton sahen auf den mit vielen Papieren bedeckten Schreibtisch nieder. Jeder war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Aber schließlich richtete sich der Beamte auf und machte eine ungeduldige Handbewegung.
»Etwas kann ich nicht verstehen«, sagte er. »Zuerst nahmen wir doch an, daß der Mörder Kitelys Papiere haben wollte. Warum nahm er sie sonst heraus und warf die Brieftasche weg? Was halten Sie davon?«
»Ja, das ist tatsächlich ein Rätsel«, gab Brereton zu. »Ich hätte eigentlich auch erwartet, daß der Mörder die Brieftasche mitgenommen hätte. Die Tatsache, daß er die Sachen herausnahm, die Tasche wegwarf und später die Papiere oder wenigstens einen Teil davon in Harboroughs Schuppen versteckte, scheint mir auf ein noch größeres Rätsel hinzuweisen. Verstehen Sie mich?«
»Nein, ich weiß nicht, was Sie meinen.«
»Hören Sie einmal zu. Es sieht so aus, als ob sich der Mörder Zeit nahm, nachdem er Kitely umgebracht hatte. Die Brieftasche wurde doch ganz in der Nähe des Ermordeten gefunden, und sie war leer. Was folgt nun daraus? Sicher ist er dort geblieben, um die Papiere durchzusehen. In dem Fall mußte er also ein Licht haben, wahrscheinlich eine elektrische Taschenlampe. Wir wollen uns einmal den Vorgang klarmachen. Nehmen wir an, der Mörder wollte ein bestimmtes Papier haben, das seiner Meinung nach in Kitelys Besitz war. Er knipste also seine Lampe an, legte die Brieftasche beiseite und sah die Papiere durch. Plötzlich hörte er einen Laut aus dem nächsten Gebüsch, drehte sofort das Licht aus und lief mit den Papieren davon, ohne erst noch die Brieftasche aufzuheben. Vielleicht hatte er sie in dem Augenblick überhaupt ganz vergessen. Was sagen Sie dazu?«
»Ausgezeichnet! Aber es ist natürlich nur eine Theorie.«
Brereton erhob sich lächelnd.
»Vielleicht verwandeln Sie die Theorie einmal in die Praxis. Es gibt doch sicher Kaufleute in der Stadt, die elektrische Taschenlampen verkaufen. Finden Sie heraus, ob einer von ihnen in der letzten Zeit solche verkauft hat und an wen. Natürlich müssen diese Nachforschungen unauffällig geschehen. Ich glaube bestimmt, daß die Brieftasche und ihr Inhalt an jener Stelle durchsucht wurden, und zwar mit Hilfe einer elektrischen Taschenlampe. Sie sehen, daß man aus einer solchen Theorie doch allerhand Anhaltspunkte entnehmen kann.«
»Ich werde die Sache weiter verfolgen. Es ist alles sehr merkwürdig. Ich persönlich bin davon überzeugt, daß wir den falschen Mann verhaftet haben. Aber was konnten wir sonst tun?«
»Ganz recht. Aber die Sache wird sich ja weiter entwickeln. Wir stehen erst am Anfang.«
Brereton verließ das Büro, aber er dachte keineswegs an elektrische Taschenlampen. Sobald er sich unbeobachtet wußte, nahm er sein Notizbuch heraus und notierte darin die merkwürdige Zeile:
M. & C. v. Z.A. cir. 91.
Wieder mußte er daran denken, daß Mallalieu und Cotherstone dieselben Anfangsbuchstaben hatten. Es mochte ja sein, daß der Bürgermeister und der Stadtkämmerer nichts damit zu tun hatten, aber unter den jetzigen Umständen war es immerhin ein merkwürdiges Zusammentreffen. Brereton hatte das Gefühl, daß er vielleicht doch noch einen Zusammenhang entdecken könnte. –
Als Bent und sein Freund nach dem Abendbrot ihre Zigarren rauchten, brachte das Dienstmädchen eine Karte herein.
»Mr. Christopher Pett!« rief Bent erstaunt. »Was will denn der von mir? Kommt er allein, oder ist Miß Pett bei ihm?« fragte er das Mädchen.
»Der Polizeiinspektor begleitet ihn. Sie fragten, ob sie die beiden Herren eine halbe Stunde sprechen könnten.«
»Führen Sie sie herein.« Er sah den Rechtsanwalt verwundert an. »Wahrscheinlich bekommen wir wieder etwas Neues zu hören. Der Neffe dieses alten Drachens wird sicher nur dich sprechen wollen. Ich werde also den Zuhörer spielen.«
Brereton antwortete nicht, er sah gespannt nach der Tür. Plötzlich erkannte er den Eintretenden; er hatte diesen kleinen Mann mit den schlauen, verschlagenen Augen schon oft vor den Londoner Gerichtshöfen gesehen und ihn für den Angestellten eines Rechtsanwalts gehalten.
Als Pett hereinkam, nahm er seinen Zylinder ab und legte eine Aktentasche auf den Tisch. Nachdem er den Hausherrn durch eine Verbeugung begrüßt hatte, grinste er Brereton wohlgefällig an und rieb seine langen, weißen Hände.
»Guten Abend, Mr. Brereton«, sagte er mit einer schmeichlerischen Stimme. »Gewiß haben Sie mich schon früher gesehen. Ich habe Sie wenigstens des öfteren bei Gericht bemerkt. Leider hatte ich noch nicht das Vergnügen, beruflich mit Ihnen in Verbindung zu kommen.«
Mr. Pett trat so selbstbewußt und sicher auf, daß Brereton ihn am liebsten aus dem Zimmer geworfen hätte, aber er unterdrückte seine Gefühle und erwiderte nur kühl, daß Mr. Pett wahrscheinlich gekommen würde, um sich geschäftlich mit ihm zu unterhalten.
»Ich komme im Auftrag meiner Tante, Miß Pett. Ich habe gehört, Mr. Brereton, daß Sie meine Tante während der Verhandlung heute morgen ausgefragt haben. Ich will Ihnen keineswegs zu nahe treten, aber sie ist in den Augen der Leute dadurch verdächtig geworden. Sie wünscht daher, daß ich als ihr rechtlicher Vertreter Sie aufsuche und Ihnen genau klarlege, in welchen Beziehungen sie zu Kitely stand. Ich schlage vor, daß ich Ihnen das alles zu Ihrer persönlichen Information in Gegenwart des Polizeiinspektors sage, mit dem ich schon früher darüber gesprochen habe.«
»Ich bin damit einverstanden«, antwortete Brereton.
»Ich war der Rechtsberater des verstorbenen Mr. Kitely und setzte sein Testament auf, das ich hier mitgebracht habe. Niemand außer mir kennt den Inhalt.«
»Sie wollen uns also mit dem Inhalt des Testamentes vertraut machen?«
»Ja, das ist meine Absicht. Ich möchte noch einmal betonen, daß meine Tante den Beruf Mr. Kitelys und seine Vermögenslage nicht kannte und auch nichts darüber erfahren wird, bis ich ihr das Testament vorlege. Der verstorbene Mr. Kitely war früher Detektiv, und infolge seiner sparsamen Lebenshaltung hat er ein kleines Vermögen zusammengebracht, das er in London in Hausbesitz anlegte. Die Anwesen bringen etwa einhundertfünfzig Pfund jährliche Zinsen. Er hat alles Miß Pett vermacht, und ich bin sein Testamentsvollstrecker. Wenn Sie das Testament einsehen wollen, so will ich es Ihnen gerne zeigen.«
Mr. Brereton lehnte es mit einer Handbewegung ab.
»Ich nehme ohne weiteres an, daß das richtig ist, was Sie mir gesagt haben. Als Rechtsanwalt wissen Sie wohl, daß alle Fragen, die ich heute an Miß Pett richtete, im Interesse meines Klienten gestellt wurden. Wenn Miß Pett auch den genauen Wortlaut des Testamentes nicht kennt, so wird sie doch darüber nicht allzu erstaunt sein.«
»Sie kannte die Absicht Mr. Kitelys.«
»Ist Ihnen eigentlich bekannt, ob Kitely Feinde hatte?«
»Man kann wohl als sicher annehmen, daß ein Mann seines Berufes Feinde hatte. Sicher gibt es viele Leute, deren Verbrechen er aufgedeckt hat, und die sich später an ihm rächen wollten. Aber leider weiß ich nichts Näheres.«
»Hat er Ihnen gegenüber niemals etwas davon erwähnt?«
»Nein, er war sehr verschlossen und sprach nie von beruflichen Dingen. Ich weiß, daß er früher an der Aufklärung bedeutender Fälle mitgewirkt hat, aber gesagt hat er mir darüber nichts.«
»Haben Sie denn nicht irgendeine Idee, wer der Mörder sein könnte?«
»Es ist meiner Meinung nach noch zu früh, darüber zu sprechen«, entgegnete Mr. Pett und blinzelte Brereton aus halbgeschlossenen Augen an. »Aber ich möchte noch etwas anderes erledigen. Das Testament enthält einige kleinere Verfügungen, und eine davon betrifft Sie, Mr. Bent. Die Bestimmung steht nicht in dem Haupttestament, sondern in einem Nachtrag, den Kitely vor einigen Wochen aufsetzte, als ich ihn besuchte. Er hat Ihnen dies vermacht.« Pett nahm ein Buch von mittlerer Größe aus seiner Aktentasche. »Kitely hat hier allerhand Zeitungsausschnitte eingeklebt, und er glaubte, Sie interessieren sich vielleicht dafür. Ich darf Ihnen das Buch wohl der Einfachheit halber gleich aushändigen. Bitte stellen Sie mir eine Empfangsquittung aus.«
Bent ging mit Mr. Pett zu seinem Schreibtisch und händigte ihm dort die gewünschte Bestätigung aus. Der Inspektor winkte inzwischen Brereton zu sich.
»Sie besinnen sich noch, daß wir heute über elektrische Taschenlampen sprachen? Ich habe mich danach erkundigt. Es gibt nur ein Geschäft im Ort, das solche Lampen führt, und dort konnte ich allerdings allerhand feststellen – mehr als ich erwartet hatte!«
»Nun, was haben Sie denn gehört?«
»In der letzten Zeit wurden nur drei Lampen verkauft – eine an den Sohn des Pfarrers, eine an den Bürgermeister und eine an Jack Harborough!«