Egid Filek
Die wundersame Wandlung des Herrn Melander
Egid Filek

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IV.

Zur Zeit, als sich der Schlehdorn, der vor dem Kammerfensterchen der Demoiselle Doris Wachposten stand, allem Elend zum Trotz einen weißen Blütenschleier umgetan hatte, so dicht, daß man nicht einmal die zarten grünen Blattspitzen sah, geschah es an einem taufrischen Morgen, daß zwei Männer mit krummen Nasen und gelber Kokarde an den langen, schmierigen Röcken die Dorfstraße von Eggenfeld einhergewackelt kamen.

Das waren der Simon Abeles und der Levi Kurzhandl aus Passau, die erschienen waren, das Gut zu schätzen und die Höhe der Anleihe zu bestimmen, die sie darauf geben wollten.

Es war ein prächtiges Osterwetter; rund und glänzend zogen silberne Wolken über den tiefblauen Himmel, und mitten unter den geschwärzten Häuserruinen, wie ein stummer Lobgesang auf das ewige Leben des Frühlings, stand die feierliche Pracht der weißblühenden Birnbäume; ein gelber Zitronenfalter, der erste Sommervogel des Jahres, tänzelte zwischen ihnen herum.

Aber unberührt von all dem Wunderbaren redeten die beiden Fremdlinge mit Worten und Gebärden gar eifrig von ihrem Geschäft.

Der Felberbauer, bei dem sie anklopften, gab ihnen 60 Bescheid, daß der Herr Verwalter auf der Brandstätte des Meierhofes nächst der Kirche zu finden sei, wo man bereits einen bescheidenen Neubau begonnen hatte.

»Schlechtes Geschäft«, knurrte Simon Abeles und machte mit der Hand eine unbestimmte Bewegung, die das Dorf, die verwilderten Felder, die Schloßruine und die blühenden Bäume in Bausch und Bogen verurteilte.

»Man wird erst sehen – man wird erst sehen«, erwiderte Levi Kurzhandl beschwichtigend und sah sich so ängstlich um, als wittere er eine neue Judenverfolgung. »Is das doch nicht die einzige Herrschaft vom Herrn Grafen – Gott soll ihn lassen leben hundert Jahr. Und mein Schwager Sami in Wien hat mir gesagt, daß der Kaiser haltet so große Stücke auf den Herrn Grafen und daß er wird machen am Hof seine Fortüne und eine reiche Heirat. Man muß weiter denken, in die Zukunft.«

Und er griff mächtig aus mit seinen langen, wehmütig nach innen gekrümmten Beinen, denn hie und da, aus sicheren Verstecken hinter Haustüren und Fensterladen, flog ein Stein, von Bubenhänden geschleudert.

Simon Abeles, kurz und dick, konnte nur mühsam mit ihm Schritt halten. Er schüttelte unwillig den Kopf:

»Laß mich in Ruh' mit die Adeligen. Sie nehmen unser Geld, und wenn sie nicht mehr zahlen können ihre Zinsen, so werden sie wieder sagen, wir haben die Brunnen vergiftet und Christenkinder geschlachtet. 61 Weißt du noch, wie sie uns haben vor zehn Jahren die Judenstadt angezündet und dem alten Melchisedek den Bauch aufgeschnitten, weil sie gehört haben von dem großen Diamanten, den sein Urgroßvater hat bekommen vom Maurenkönig Boabdil von Granada?«

»Laß doch die alten Geschichten. Schau, da is der Herr Verwalter. Gott zum Gruß, gnädiger Herr, er soll Sie lassen leben hundert . . .«

Herr Melander schnitt mit einer ärgerlichen Gebärde die wortreiche Begrüßung mitten entzwei.

»Wollen wir unsere Arbeit gleich beginnen, sintemal meine Zeit gemessen ist – es gibt viel zu tun.«

»Wie es beliebt, Euer Gnaden,« erwiderte Levi Kurzhandl, schon ganz im Geschäftston, »wir haben uns vom Rat von Passau mitgebracht eine genaue Karte des Dominiums. Nimm deine Schreibtafel, Simon, und paß auf.«

Und sie wanderten quer über die verwahrlosten Felder, notierten gewissenhaft jeden Ziegelofen, jede abgebrannte Scheune, die zur Gutsherrschaft gehörte; sie schätzten das zerstörte Schloß, die Ruinen des Meierhofes, die kahlen Hänge, die einst vom herrlichsten Fichtenwald bedeckt gewesen waren und jetzt nur hie und da ein paar traurige Baumstümpfe zeigten; sie krochen, zur heimlichen Belustigung Herrn Melanders, unter manchem Ach und Oi in den Schutzdorn, ein Feld von mehreren Morgen, das dicht mit Hainbuchen umwachsen war. Rund herum war das Dorngebüsch so dick wie eine Mauer; in diesem 62 Schlupfwinkel, zu dem man nur auf dem Bauche kriechend gelangen konnte, hatte sich die Gemeinde in der ärgsten Kriegsnot samt ihrem Vieh und aller sonstigen Habe mehr als einmal verborgen und bange Tage und Wochen dort zugebracht, bis die Soldaten wieder aus der Gegend fortgezogen waren.

»Schlechtes Geschäft«, sagte Simon Abeles, als er pustend und keuchend wieder aus dem Loch herauskroch.

Und dann ging das Feilschen an.

Ja, ja, das Gut war sehr schön und wertvoll, und der Herr Verwalterleben war so ein tüchtiger Mann, ein feiner Mann, ein herzensguter Mann, der Mitleid hatte mit zwei armen Juden und ihnen wollte zukommen lassen auch ein Geschäft. Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs würde es ihm lohnen an seinen Kindern und Kindeskindern. Aber es war halt schwer zu wirtschaften in so einer schlechten Zeit, und das Geld überall so teuer, in Augsburg und München oder gar in Wien mußte man noch viel höhere Prozente zahlen; und die Getreidepreise waren so niedrig und man konnte nicht wissen, ob die Zinsen auch regelmäßig bezahlt würden. Nicht daß man den geringsten Zweifel in die Tüchtigkeit des Herrn Verwalters setzte – beteuernd legte Levi Kurzhandl die Hand aufs Herz und verdrehte die listigen Äuglein mit den roten Wülsten zum Himmel – Gott der Gerechte, so ein Mann! Aber bei unsicheren Geschäften muß man eben die Zinsen ein wenig höher anschlagen, nicht wahr? Und gar das gekündigte Kapital, das konnte nicht leicht zurückgezahlt 63 werden, und vielleicht brauchte es Levi Kurzhandl doch einmal, in vier, fünf Jahren vielleicht, wenn seine Tochter, die Sara, einmal heiraten würde und der Bräutigam eine anständige Mitgift fürs Geschäft verlangte. Und als Herr Melander trockenen Tones bemerkte, daß die Gläubiger ja in diesem Fall einen Anspruch auf das verpfändete Gut hätten und es an sich bringen könnten, falls die Summe wirklich nicht flüssig gemacht werden könne, zog Simon Abeles ein pfiffiges Lächeln auf, griff in die Tasche seines Kaftans und nahm einen Stein heraus. Was der Herr Verwalter zu diesem Ding da sage, das ihm vor einer Weile nachgeschleudert worden sei – und ob er glaube, daß ein Dutzend davon genüge, einem armen Juden den Schädel einzuschlagen? Gewiß, wenn sie das Gut an sich brächten, würden sie die Freunde und Nachbarn des Schuldners mit ihrem Haß verfolgen, und wenn sie der grausamen Steinigung entgingen, so setzte man ihnen sicherlich den roten Hahn aufs Dach. Oh, man hatte Beispiele genug – das konnte Levi Kurzhandl bestätigen, nicht wahr? Und endlich, wenn eine Bande von Raubgesindel kam – Gott sollte beschützen – und das Gut plünderte und verwüstete, wie kämen dann Simon Abeles und Levi Kurzhandl zu ihrem Geld?

Mindestens ein halbdutzendmal im Verlauf der Unterhandlung, die mit großem Aufwand von Worten, Beteuerungen und Händefuchteln geführt wurde, wollte Herrn Melander der Geduldsfaden reißen. Er gedachte seufzend vergangener Kriegszeiten, da man mit den Hebräern verdammt wenig 64 Federlesens gemacht, sondern mit Stockprügeln das Geld aus ihnen herausgeschlagen hatte wie Moses mit seinem Stabe das Wasser aus dem Felsen. Aber die schöne Zeit war vorbei, und er mußte froh sein, daß die geforderte Belehnungssumme nicht allzusehr herunter und die Zinsen nicht gar zu stark hinaufgehandelt wurden.

Er atmete auf, als die beiden schmierigen Kaftans zwischen den Häusern verschwanden.

Dann setzte er sich auf einen Stein am Wegrand und sah den Knechten zu, die ihm sein Wohnhaus bauten.

Sie nutzten den steinernen Unterbau des verbrannten Gebäudes, der noch gut erhalten war; was sie darauf stellten, war eigentlich nicht viel anderes als eine große Hütte aus Fachwerk mit Lehmwänden, denn es gebrach an Holz. Trotzdem betrachtete Herr Melander das Wachsen und Werden des neuen Heims mit den Empfindungen eines Seefahrers, vor dem nach langer Irrfahrt aus dem öden Ozean langsam das feste Land aus den Fluten emporsteigt.

Und wieder kam es über ihn wie eine große Sehnsucht nach Ruhe, wenngleich er sich den Höhepunkt seines Daseins anders, ganz anders gedacht hatte. Sein Leben, so voll von grellen, leuchtenden Bildern unerhörter Geschehnisse, brüllender Schlachten, flammenumlohter Häuser, heimlicher nächtlicher Raubzüge und heißer Liebesstunden: es war blaß geworden und er fand sich selbst nicht mehr darin.

War das wirklich er, der wilde Melander zu Geislingen mit dem stürmenden Ehrgeiz und der 65 Gier nach dem Leben, der sich jetzt in der Höhle des alten Thurneisser betreuen ließ von einem weißhaarigen Mann und einem jungen Kind?

Seine Gedanken kehrten wieder zu Simon Abeles und Levi Kurzhandl zurück. Was sie da geredet hatten vom schlechten Ertrag der Wirtschaft und niedrigen Getreidepreisen und teurem Geld: das waren lauter Manöver, um die Zinsen hinaufzuschrauben. Man kannte das genugsam. Aber ein anderer Umstand schuf ihm Sorge. Die Möglichkeit, daß eine von den Räuberbanden, die sich noch immer in der Gegend herumtrieben, einen Überfall auf das Dorf wagen könnte, war nicht von der Hand zu weisen – und dann war die Qual und Mühe vieler Wochen umsonst, und man konnte von neuem beginnen. Daß solche Kerle gründliche Arbeit leisteten, wußte er nur zu gut. Noch schlimmer aber war die Wirkung neuer Gewalttat auf die Gemüter der Dorfinsassen. Mühsam genug hatte er nun die Hörigen, die der gräflichen Herrschaft dienstpflichtig waren, an regelmäßige Arbeit gewöhnt. Aber so mancher unter den Dorfburschen führte heute noch lieber das rostige Feuerrohr als den Pflug. Da half kein Verbot des Waffentragens; und eine solche Bande wirkte wie Magnetstein auf die noch immer recht unruhigen Geister; sie zog alles an sich, was Eisen im Blut hatte und der Zucht und Ordnung entwöhnt war, und dann begann der Krieg von neuem und es war wieder ein Mensch des andern Teufel.

Da hatte vor einigen Tagen der Kirchturmwächter gemeldet, daß sich wiederum da und dort bewaffnete 66 Haufen gezeigt hätten und von Westen her ein Knallen zu hören war wie von schwerem Geschütz. Herr Melander lachte über die Angst des Mannes; wie oft hatte sein Fähnlein im Kriege den Feind getäuscht, indem man Handgewehre mit doppelter Ladung durch eine leere Tonne schoß, um den Knall von Haubitzen und Feldschlangen hervorzubringen! Aber am selben Nachmittag schickte er dennoch einen Boten herum: sie sollten die Kinder nicht auf die Straße lassen und sich zur Verteidigung bereit halten, und wer daheim Feuerrohre und Musketen habe, möge sie instandsetzen.

Der Bote redete sich von einer Hütte zur andern, und jedesmal, wenn er seinen Spruch anhob, wuchs die Zahl der Feinde und die Größe der Gefahr, und als er glücklich am Ende des Nestes angekommen war, hörten die zu Tode erschrockenen Bewohner schon von einem ganzen Heer mit Feldschlangen, Kartaunen und Vierundzwanzigpfündern, das sich gegen das unglückliche Dorf heranwälze.

Man traf unter Herrn Melanders Leitung mit Umsicht alle nötigen Vorbereitungen zum Empfang der Feinde: eine doppelte Postenkette wurde um das Dorf gelegt, Schanzen aufgeworfen und zur Nachtzeit Wachen ausgestellt; ein paar Leute, die den Krieg mitgemacht hatten und in militärischen Dingen Bescheid wußten, erhielten Vertrauensposten und kamen sich gewaltig wichtig vor.

Es lag also eine Stimmung in der Luft wie am Vorabend einer Schlacht, und als Herr Melander in der Abenddämmerung gesenkten Hauptes, gleichsam 67 niedergedrückt von der Last seiner Verantwortung, die Straße dahinschritt, folgten ihm so viele ängstliche und zugleich bewundernde Blicke, als sei er der Kriegsgott in eigener Person.

Droben in der Ruine war Doris eben dabei, ihre Gemüsebeete zu gießen; auch dem Rosenstock auf der Südseite, schon seit Wochenfrist von seiner Umhüllung von Stroh befreit, spendete sie die köstliche Feuchtigkeit, und sah mit Freuden, daß die grünen Blättchen schon an allen Zweigen hervorsproßten. Ob er heuer wieder so schöne weiße Rosen tragen würde wie im vergangenen Jahr?

So vertieft war sie in ihre Beschäftigung, daß sie Herrn Melander längere Zeit hindurch gar nicht gewahr wurde.

Verstohlen sah er ihr zu; er freute sich stets, wenn er ihr bei der Arbeit zusehen konnte; die runden Bewegungen dieses vollen, etwas gedrungenen Mädchenkörpers, die von verhaltener Kraft und blühender Gesundheit erzählten, weckten ein Gefühl heimlicher Lebensfreude in ihm.

»So,« sagte sie halblaut und atmete so tief, daß sich die junge Brust unter dem groben Linnen straffte, »für heute wären wir fertig . . .«

Da bemerkte sie ihn. Sie stellte die leere Gießkanne beiseite und wischte die feuchten Hände an der blauen Schürze ab, während er näher trat:

»Fürchtet Ihr Euch nicht vor einem Überfall der Landstörzer, Demoiselle?«

»Ich meine, das wisset Ihr noch recht gut, Herr Melander, daß ich mich vor keinem Fremden fürchte«, 68 sagte sie ruhig und sah ihn an mit einem Blick, vor dem er die Augen in peinlicher Erinnerung zu Boden senken mußte.

»Aber diesmal könnte es leichtlich schlimmer ausgehen als – damals.«

»Meint Ihr?« lächelte sie. »Ich glaube nicht. Diesmal seid Ihr doch in der Nähe, um uns zu schützen, wie es einem Kriegsmann gegenüber einem schwachen Frauenzimmer geziemt.«

Da war wieder jener leise Spott in Wort und Miene, gegen den er wehrlos war.

Er zog sich auf das Gebiet des Sachlichen zurück: »Das Dorf ist wohl alarmieret und überall sind Wachposten aufgestellt; ich habe Schanzen anlegen lassen und will sie heute zur Nachtzeit visitieren, also daß ihr alle ruhig schlafen könnet.«

Da wurde sie ganz ernsthaft und sprach:

»Ich danke Euch, Herr Melander, für Eure Umsicht und Sorge.«

»Oh, nicht doch«, wehrte er ab. »Ist doch meine Schuldigkeit.«

Aber eine große Befriedigung war doch in ihm.

Und dann saßen sie zu dritt bei dem einfachen Mahl, dessen Gast er seit Wochen geworden war. Man sprach von gleichgültigen Dingen, aber hie und da horchte eines in die Nacht hinaus nach fremden Lauten, und die Pausen des Gespräches waren länger als sonst.

Melander zog sich bald in seine Wohnung zurück. Es litt ihn nicht in dem engen Losament, dessen Dach ihm auf der Brust zu liegen schien wie ein 69 schweres Gewicht. Leise öffnete er die Türe und schlüpfte hinaus.

Mondlose Nacht. Die Sterne flimmerten in der trüben, dunstigen Luft; von Süden her kam es wie Föhnwind, aufreizend und erschlaffend zugleich.

Er kletterte über zerbröckelndes Gestein die Mauer hinan und hielt Ausguck.

Richtig, dort im Westen, die lange Reihe von rötlichen Lichtpunkten – das war ein Feldlager. Natürlich hatten sie viel mehr Feuer angezündet als nötig war, um über ihre Zahl zu täuschen. Aber einige hundert Mann mochten es immerhin sein. Ja, dort lag der Feind . . .

Waren es wirklich Feinde? Oder vielleicht gar arme, notleidende Menschen wie jene da unten im Dorf, die sich so sehr vor ihnen fürchteten?

Ärgerlich schlug er sich vor die Stirn. Was waren das für Gedanken für einen Kriegsmann!

Er beschloß, noch zur Stunde seinen Rundgang um das Dorf anzutreten, um sich zu überzeugen, ob alle auf ihrem Posten waren, denen er die Wache anvertraut.

Leise schlich er in sein Wohngelaß, nahm das Handgewehr und die Lunte und steckte zum Überfluß noch einen Hirschfänger zu sich. Die Berührung des kalten Eisens tat ihm wohl. Sie weckte dunkle Erinnerungen an das Kriegs- und Lagerleben in ihm auf, heimliches Gedenken jener Zeit, da er jung, abenteuerdurstig und hoffnungsfroh war. Aber heute empfand er anders; ihm war, als hätte er irgend etwas Wertvolles und Kostbares vor Zerstörung zu schützen, 70 ihm anvertraut durch des Schicksals Fügung. Die Worte des stillen Mädchens klangen noch in seinem Ohr. Ja, sie mochte ruhig schlummern . . . Melander zu Geislingen hielt gute Wacht.

Er schwang sich über die Mauer. Der Wind hatte nachgelassen; am Stand des Orion, der bis zu den Gürtelsternen im Boden steckte, sah er, daß es gegen Mitternacht ging.

Fünfhundert Schritt vor der Dorfgemarkung lag die erste Postenkette. Dort am Kreuzweg, wo das kleine Marterl war, sollte eine Wache stehen. Herr Melander sah, daß die Muskete schußbereit in der Gabel lag, wie das Kriegsreglement vorschrieb – aber der dazugehörige Musketier lag in tiefem Schlaf, die erloschene Lunte war ihm aus der Hand gefallen, und aus dem halbgeöffneten Mund klang ein regelmäßig abgetöntes Schnarchen in die Nacht hinaus. Herr Melander wollte empört auffahren und den Pflichtvergessenen, der sich des schwersten militärischen Vergehens schuldig gemacht, zum Profoß schleppen – als ihm noch zur rechten Zeit einfiel, daß er nimmer im Kriegslager war und daß ein armer Teufel, der tagsüber mühsam seinen Pflug durch den Acker ziehen muß, nicht recht zum Wachposten taugt. Er begnügte sich also damit, ihn wohlwollend bei den Schultern zu packen und so lange zu rütteln, bis er die Augen aufschlug und beteuerte, daß er ganz gewiß nicht geschlafen habe . . . nur ein wenig nachgedacht hätte er . . . ob . . . ob wohl in diesem Jahr der Hafer geraten würde.

Kopfschüttelnd setzte Herr Melander seinen 71 Rundgang fort. Der Kerl dort hinten war doch ein gedienter Musketier und hatte bei Nördlingen mitgetan. Wenn das am grünen Holz geschah . . .

Am Ufer der Rott zwischen den Weidenbüschen lag der Felberbauer auf der Wacht; der war niemals im Feld gewesen, aber er schlief nicht, sondern rief halblaut sein »Wer da?« und machte eine drohende Gebärde. Sie wechselten ein paar gute Worte, dann ging Herr Melander weiter und der Alte saß wieder regungslos, hielt seinen rostigen Schießprügel mit den braunen, klobigen Fingern wie in einem Schraubstock umklammert und blickte mit scharfen grauen Augen in das Dunkel.

Auf einem nachdenksamen Umweg kehrte Melander zum Schlosse zurück.

Ach was – mochte nun kommen, was da wollte – er hatte seine Pflicht getan als Mann und Soldat.

Da stutzte er.

Am Abhang des Burgberges kroch etwas empor, hielt einen Augenblick an, um zu verschnaufen, kroch dann höher und höher hinauf und stieg endlich geschmeidig, gleich einer schwarzen Katze, über die zerfallene Umfassungsmauer.

Na also – da gab's doch noch ein Abenteuer in dieser verdrießlichen Nacht.

Rasch und leise dem Kerl nachgeklettert – an wohlbekannter Stelle über die Mauer – hei, da schleicht er schon dem Turm zu . . . na warte, dir wollen wir den Weg abschneiden, du Sappermenter . . .

Der Schlehenbaum vor dem Kammerfenster der Demoiselle Doris hätte sich's nicht träumen lassen, 72 daß er als Gabel für das Feuerrohr dienen würde, das Herr Melander anlegte, um recht lange und bedächtig zielen zu können.

Und nun krachte der Schuß.

Ein dumpfer, stöhnender Laut, halb Fluch, halb Wehschrei, verkündete, daß die Kugel getroffen hatte.

Melander riß den Hirschfänger aus der Scheide und stürzte sich auf den Verwundeten, der zu Boden gesunken war und die Hände erhob, als wolle er um Schonung bitten.

Das Blei mußte in die Kniekehlen gedrungen sein; er konnte die Beine nicht bewegen und wimmerte leise, während das Blut über seine zerrissenen Kanonenstiefel rann. Die Mütze war mit Marderpelzwerk geschmückt und der Rock von feinem Tuch, aber arg beschmutzt und voll Löcher, Haupt und Barthaar gar struppig und verwildert.

Das alles sah Herr Melander mit einem einzigen Blick, und erkannte, daß von dem armseligen Häuflein menschlichen Elends weder für ihn noch für seine Schutzbefohlenen Böses zu gewärtigen war; trotzdem mußte er den Mann in strenges Verhör nehmen.

Er ließ den spitzen Stahl sinken und fragte:

»Wieviel Mann seid ihr, so da draußen lagern?«

Der Verwundete zögerte mit der Antwort.

»Sag' die Wahrheit, Hundsfott, sonst . . .«

»Nicht viel über hundert«, kam es hastig aus seinem Mund.

»Und dich haben sie hergeschickt, um zu spionieren, he?«

Er nickte. 73

»Hast dich gleichwohl erbärmlich dumm dazu angestellt.«

»Bin auch noch nit lang bei der Bande. Und war mir an der Wiegen nit gesungen worden, daß ich einst müßte mit Strauchrittern nmherziehen, zumal ich ehrlicher Leute Kind bin.«

Herr Melander betrachtete den armen Teufel mit steigendem Interesse. Wahrhaftig, er sah nicht aus wie einer, der hinterm Zaun geboren war. Was ihm am meisten auffiel, waren seine Hände – feine, schmale Hände, die vielleicht eine Feder oder einen Pinsel, aber sicher nicht den Schießprügel zu führen gewohnt waren.

Doch das würde sich später noch weisen, woher er stammte; einstweilen galt er ihm nicht mehr als jeder andere gefangene Spion.

»Ist es euer Intent, das Dorf anzugreifen?«

»Die Hauptleute sind nicht einig. Es fehlt uns an Kraut und Lot, und wir wollen nur eine Kontribution erpressen.«

Melander lachte laut auf.

»Eine Kontribution in diesem elenden Nest?«

»Hunger tut weh, Herr. Und wir haben nichts zu verlieren.«

Das kleine Fenster erhellte sich; ein Schatten huschte über den weißen Vorhang, aber Melander war so in sein Verhör vertieft, daß er nicht darauf achtete.

»Von welchem Regiment seid Ihr?«

»Etwa die Hälfte von uns ist unter General Königsmark geritten; die anderen sind Waldfischer und Merodebrüder.« 74

Der Verwundete stöhnte von neuem. Sein Kopf sank auf die Brust und die Finger krampften sich ineinander, als quälten ihn heftige Schmerzen.

Da knarrte die Tür; Doris trat heraus, ein Tuch umgeschlagen, mit blassem Gesicht, furchtlos und ruhig wie immer.

»Was ist geschehen, Herr Melander?«

Er deutete auf den Mann: »Ist mir recht ins Garn geflogen, der saubere Vogel. Ein Spion, dem nach Kriegsrecht der Galgen gebührt. Man soll ihn führen zu einem grünen Baum und anknüpfen an seinem besten Hals, daß der Wind unter und über ihm zusammenschlägt – so gebeut es die Lagerordnung. Die wirst du wohl kennen, he?«

Aber der Wunde hörte ihn nicht. Er war nach rückwärts gesunken; Schweiß rann über sein bleiches Gesicht.

»Er ist ohnmächtig. Was hat er Euch zu leide getan, daß Ihr ihn töten wollt? Menschenrecht geht vor Kriegsrecht. Schenket ihm sein armes Leben!«

Sie beugte sich nieder und untersuchte die Wunde.

»Ach was, an den paar zerrissenen Sehnen wird er nicht sterben,« knurrte Herr Melander, »aber denkt daran, daß er Euch und dem Großvater vielleicht ans Leben gewollt . . .«

»Und wenn ich selbst für ihn bitte?« sprach sie sanft.

Sie stand da im ungewissen Licht der Sterne, und Melander sah jetzt erst, wie schön sie war. Das Tuch war ihr von den Schultern geglitten; unbefangen bot sie den Blicken des Mannes die marmorweiße Rundung des Nackens und die kaum verhüllte Brust. 75 An ein Bild mußte er denken, das er in einer pfälzischen Klosterkirche vor Jahren gesehen hatte: ein junges Weib lehnte am Bette eines Kranken und reichte ihm, der gierig den Arm ausstreckte, eine gefüllte Schale, und darunter standen die Worte der Bergpredigt: Selig sind die Barmherzigen.

»So nehmt ihn denn hin,« sagte er zögernd, »wenn es meine Sache war, ihn zu treffen, so mag es die Eure sein, seiner zu pflegen – sind Weibersachen, davon ich nichts verstehe.«

»Dank«, erwiderte sie und bot ihm eine warme, weiche Hand. Er fühlte das heimliche Leben in den klopfenden Pulsen und dachte: es mag wohl tun, von solch einer Hand gepflegt zu werden. Und seine Finger lösten sich nur langsam und zögernd aus den ihrigen.

»Wollt Ihr mir helfen, ihn hineinzutragen?«

Es war das erstemal, daß Melander zu Geislingen Samariterdienste tat, und der Versuch gelang nicht ganz nach Wunsch; aber endlich brachten sie den Bewußtlosen doch unter Dach und betteten ihn in einer Ecke auf einigen Decken, während der alte Thurneisser, der längst sein Lager verlassen hatte, das Zeug für einen Notverband zusammensuchte.

Dann zog sich Herr Melander zurück, um ein paar Stunden zu ruhen; aber er schlief in dieser denkwürdigen Nacht nimmer ein, sondern lag mit wachen Augen und kreisenden Gedanken, bis das Morgenrot sich in den Tautropfen spiegelte. 76

 


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