Egid Filek
Die wundersame Wandlung des Herrn Melander
Egid Filek

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

I.

». . . und so gehet denn meines gnädigen Herrn Grafen opinion dahin, der ehrsame Herr Melander zu Geislingen möge, soviel an ihm ist, allen Fleiß und Bedacht auf die Restitution des gräflichen Gutes Eggenfeld verwenden, das in währender Kriegszeit gar arg zugerichtet und von denen Schweden, Konfederierten und Franzosen gleicherweis oftmalig ausgeplündert worden. Sintemal nunmehr endlich unser gnädiger Herre Gott uns den Frieden geschenkt und Ceres dem Mars das Zepter abgenommen, so erwarten Seine gräflichen Gnaden binnen angemessener Frist die Meldung, daß aus obbemeldtem Dominium Zucht und Ordnung wiedergekehrt und günstiger Ertrag von Feldern, Wiesen und Waldungen zu gewärtigen sey. Und gilt vorliegendes documentum mit Wappen und sigill als Zeugnis und Urkund vor dem Burgvogt auf Schloß Eggenfeld, Herrn Michael Dommeyer, und zeichnet Dero wohlaffektionierter Magister Joachim Holtzapfel, des gnädigen Herrn Grafen von und zu Birckenfeld geheimer Sekretarius.«

Herr Melander hatte diesen Brief, den er unter dem Koller aus Elensleder beständig bei sich trug, seit seiner Abreise aus Salzburg schon so oft gelesen, daß er ihn fast auswendig wußte. Es war somit überflüssig, ihn jetzt, da er sich dem Ziele seiner Reise näherte, 6 nochmals hervorzuziehen, zumal die Sonne längst untergegangen war, und der Mond, der bleich und verdrossen zwischen den Wolkenfetzen hervorguckte, nur eine unsichere Beleuchtung gab.

Nach seiner Berechnung mußte er nun doch schon bald das Schloß vor sich haben. Er hielt das Pferd an, das mit gesenktem Kopf müde dahinschritt, richtete sich in den Steigbügeln auf und blickte rundum. Das große Schwert an dem breiten Bandelier und der leichte Panzer, der seine Brust umschloß, schimmerten im Mondlicht; argwöhnisch suchten die schwarzen, tiefliegenden Augen die öde Gegend ab. Sein Antlitz, rauh und verwittert, gleich der Rinde eines alten Waldbaumes, war durchleuchtet von einer düsteren Willensglut; es war das Antlitz eines Mannes, der viel gekämpft und wenig errungen hat. Gewohnheitsmäßig griff seine Hand nach dem Faustrohr. Denn obwohl die hohen Herren schon vor mehr als zwei Jahren in Münster und Osnabrück Frieden gemacht hatten, war es auf den Landstraßen noch lange nicht geheuer. Freibeuter, verwilderte Soldaten, entlaufene Bauernknechte zogen in bewaffneten Banden von einem Ort zum andern und raubten und brandschatzten nach langjähriger Gewohnheit des Krieges; fahrendes Volk trieb sich dazwischen herum, plünderte die letzten armseligen Speicher und Gänseställe und schnitt gelegentlich auch Menschengurgeln durch.

Von solch traurigem Zustand des Landes hatte sich Herr Melander in den letzten Wochen genugsam überzeugen können. Noch lag jener scharfe, brenzliche Geruch in der Luft, den er wohl kannte und der von 7 verbrannten Dörfern und Gehöften schauerliche Kunde gab. Und der blutigrote Schein dort am Rande des Horizontes rührte gewiß nicht vom Sonnenuntergang und seinen rosigen Wolken her.

Ja, der Friede war geschlossen. Aber die Seele des deutschen Volkes blutete aus tausend Wunden und war vergiftet von Roheit und trübem Aberglauben, von traumseliger Philosophie und religiösem Wahn. Und die sich seine Führer nannten, gefielen sich in würdelosem Kriechen vor allem, was links vom Rhein sich im Siegerstolz blähte und den Niedergerungenen seinen Willen aufzwang.

Als sich Herr Melander versichert hatte, daß keine Gefahr drohe, lehnte er sich im Sattel zurück und gab seine Seele den Empfindungen hin, die der Anblick der Heimat in ihm auslöste.

In seiner starren Ruhe glich der dunkle Reiter einem gemeißelten Standbild, das irgend ein Künstler hier ausgestellt hatte zu dauernder Erinnerung an den furchtbaren Weltkrieg und zu warnendem Exempel für die Nachgeborenen.

Träumen und Sinnieren war nie seine Sache gewesen. Wer durch zwölf Jahre seines Lebens das Lagerzelt zur Behausung, die harte Erde zum Nachtlager, Abenteuer, Gefahr und Tod zu Kumpanen hat, dessen Gedanken klammern sich an das Nächststehende und ersticken jede weiche Regung. Und dennoch: wer kann völlig unberührt bleiben, wenn sein Fuß nach Jahren wieder den Boden betritt, aus dem die stillen Freuden der Kindheit sproßten?

So waren Hunderttausende einst gleich ihm 8 ausgezogen voll Abenteuerlust, Siegeshoffnung und Beutegier, und was nicht draußen in wilder Fremde den bitteren Tod gefunden, kehrte müde und matt nach Hause zurück, und sah aus anderen Augen in die Welt als damals, da es gegangen war.

Aber so mancher zog den Panzer vom Leib, dessen Seele das Kriegskleid nicht ablegen mochte, und in schweren Träumen hörte er das Krachen der Falkonetts und den Ruf der Feldwaibel, das Rollen der Würfel auf den Trommeln beim nächtlichen Lagerfeuer, das Jammergeschrei halbnackter Weiber und Kinder, das mit dem Funkenregen aus brennenden Strohdächern emporstieg zu einem erbarmungslosen Himmel.

Als der Schwedengeneral Wrangel die erste Nachricht von dem geschlossenen Frieden erhielt, überkam ihn grimmiger Zorn; er schalt den Eilboten einen Hundertsappermentshund, warf seinen Generalshut wütend auf den Boden und trat ihn mit Füßen; denn er war noch nicht reich genug . . .

Melander zu Geislingen war an die Stätte seiner Jugend gekommen, weil er hier, nach manchem vergeblichen Versuch und allerhand Bittstellereien bei hochmögenden Herren, zu finden hoffte, was ihm so not tat: eine Möglichkeit, zu wirken und zu schaffen in der Zeit seines Manneslebens, die ihm vom Schicksal noch übrig gelassen war; allein auf dem langen, einsamen Ritt durch die nächtliche Landschaft war ihm klar geworden, daß er hier eigentlich etwas ganz anderes suchte: sein eigenes Ich, das er verloren, das ihm auf der Irrfahrt seines Abenteurerlebens gleichsam entglitten war. 9

Der dunkle Schattenriß dort in der Ferne – er kennt ihn wohl. Es war die feste Stadt Passau, die er heute mittags verlassen hatte. Die lange Wolkenbank im Norden, auf welcher der verschleierte Mond liegt wie ein verdrießlicher Schlaftrunkener, deutet den Lauf der Donau. Und weiter gen Westen – dort mußte Schloß Eggenfeld liegen. Alte Erinnerungen aus seliger, wilder Knabenzeit huschten durch sein Gemüt. An den grasbewachsenen Burghof dachte er, wo er mit dem gräflichen Junker so oft im einträchtigen Spiel nach der Scheibe geschossen hatte; an goldene Sommernachmittage mit weißen, fliegenden Wolken und brütend heißer Luft über gelben Kornfeldern, an traumhafte Stunden, die sie droben auf der Zinne des Wartturmes verbracht, während hoch über ihren jungen Köpfen die Fahne rauschte und knatterte, und drunten im Tal, einer buntschillernden Riesenschlange gleich, fremdes Kriegsvolk die Straße dahinzog. Franzosen kamen und Schweden und Kroaten, Österreicher und Spaniolen, Papisten und Lutheraner – und mochte wer immer sein Zepter über ihnen schwingen, einem Herrn dienten sie alle: dem Krieg. Er schwebte vor ihnen her in grauenvoller Majestät, umwallt von seinem roten Purpurmantel aus Blut und Feuer. Seine unberechenbare Herrscherlaune gab den einen Reichtümer, Macht und Fürstenthrone, den anderen Wunden und Pestkrankheit und bitteren Tod. Und droben auf dem Turm starrten vier Knabenaugen dem Stück Weltgeschehen nach, das sich vor ihnen abrollte; sie hörten den Ruf der Knechte, Pferdegewieher und Trompetenschreie, und ihr 10 Herz wurde weit vor Sehnsucht nach der großen, lauten Welt.

So war Melander zu Geislingen in den Krieg hineingewachsen wie ein Rittersohn in den Harnisch seines Vaters. Am Tage des Prager Fenstersturzes, da in Böhmen der längst vorbereitete Aufstand losbrach, war er noch ein Kind. Seine Knabenzeit, seine Jünglingsjahre lagen im Schatten des Weltkrieges.

Der Vater, der als treuer Diener seines gräflichen Herrn das Dominium des Schlosses Eggenfeld mit seinem ausgedehnten Landbesitz verwaltete, wünschte dem Sohn eine ruhige, sichere Lebensbahn. Auf der hohen Schule zu Ingolstadt sollte er Rechtsgelehrsamkeit studieren. Aber der grelle Ton der Werbetrommel drang in die stillen Hörsäle und verscheuchte den Zauber der Wissenschaft. Damals zog der glänzende Kondottiere Bernhard von Weimar, gefürchtet und umschmeichelt von Richelieu, im prachtvollen Siegeszug durch Deutschland, wie einst der große Schwedenkönig Gustav Adolf. Und in seinem Gefolge zogen die Besten aus deutschen Landen mit. Was galt die arme, dürftige Heimat? Drüben in den fremden, fernen Ländern lockte das Glück, funkelte der Reichtum, strahlte der Ruhm. Melander zu Geislingen trat in die große Armada . . .

Das war damals . . . vor mehr denn zwölf Jahren . . .

Aber nun war eine neue Zeit heraufgerollt. Der Krieg, der unumschränkte Herr der Welt, war tot. Verhungert in der Wildnis, zu der er das blühende 11 Land gewandelt, verblutet an den Wunden, die er sich selbst ein Menschenalter lang geschlagen hatte. Und wer, wie Herr Melander, sein ganzes Sinnen und Trachten von Jugend an auf das rauhe Kriegshandwerk eingestellt, konnte es nicht fassen, daß nun Pflug und Hammer mehr galten als Musketen und Kanonen, und daß der armen, elenden, verhungernden Welt ein gesunder Bauernknecht mehr nütze war als ein glänzender Offizier.

Das ungeduldige Scharren des Pferdes weckte den Reiter aus seinem Brüten. Mann und Roß bedurften der Ruhe und Atzung. Er gab dem Tier die Sporen und ritt langsam weiter, den Blick nach links gerichtet, wo nun bald der herrschaftliche Wald auftauchen mußte. Aber er suchte vergebens. Der Wald war fort. War er ausgerodet oder von den Franzosen und Schweden niedergehauen worden?

Aber dort, wo die Rott sich in scharfer Biegung nach Osten wandte, um ihr Wasser dem Inn zuzuführen, dort mußte das gräfliche Schloß liegen. Er kannte doch die Stelle. Die Felswand, die steil zum Ufer abfiel, die großen Steine in der Strömung, die sandige, windgeschützte Stelle, wo er als Knabe immer gebadet . . .

Da packte ihn ein Grauen, so kalt und furchtbar, wie er es noch in keiner Schlacht empfunden.

Der Platz, wo das Schloß gestanden hatte, war leer.

Er rieb sich die Augen, schlug sich vor die Stirn – nein, es war kein Traum. Er dachte an Hexenspuk und Teufelsblendwerk und sprach ein Stoßgebet wider 12 bösen Zauber. Aber das Schloß blieb verschwunden. Und als er ganz nahe heranritt, sah er ein paar Mauertrümmer, gespenstisch vom Mondlicht beschienen, Haufen von Schutt und ragende verkohlte Balken dazwischen. Nur der unterste Teil des Berchfrieds mit den gewaltigen Quadermauern stand noch . . . das war alles, was von dem stolzen Schlosse Eggenfeld übriggeblieben war.

Das Pferd schnaubte ängstlich und wollte nicht weiter. Herr Melander sah, wie sich zwischen den Steinen eine dunkle Masse bewegte, aus der ihn zwei grünliche Lichter anstarrten. Er griff nach der Pistole. Aber ehe er sie lösen konnte, verschwand ein geschmeidiger Körper lautlos in der Finsternis.

Da warf er das Pferd herum und ritt den Weg entlang, der in langen Serpentinen zum Dorf hinabführte. Sein Herz war voll böser Ahnung. Sollte er auch dieses als Trümmerhaufen wiederfinden?

Doch nein. Schon tauchten die ersten Hütten aus dem Dämmerlicht auf. Freilich gab es auch hier, soweit man die Dinge zu unterscheiden vermochte, schwarze Mauern, verbrannte Gartenbäume und starrende Kamine als letzte traurige Reste menschlicher Siedlung. Aber hie und da schien doch noch ein Haus leidlich erhalten. Herr Melander ritt auf die nächste kleine Hütte zu. Die Fenster waren vergittert und die Laden von innen geschlossen, aber hinter den Spalten drang ein matter Lichtschein heraus. Er sprang vom Pferd und klopfte an.

»Wer ist's?« fragte es ängstlich drinnen.

»Ein Christenmensch wie Ihr. Öffnet und schafft 13 mir und meinem Gaul Nahrung und Obdach. Es soll Euer Schade nicht sein.«

»Wir öffnen keinem Berittenen«, erwiderte die weinerliche Stimme. »Vergangene Woche hat uns ein Fahrender die letzten Hühner gestohlen, als Dank für Kost und Nachtquartier.«

»Ich bin kein Fahrender, zum Teufel,« rief Herr Melander ärgerlich, »und trage kein Verlangen nach Eurem Federvieh.«

Der Mann in der Stube schien sich zu bedenken. »Seid Ihr allein?« fragte er mißtrauisch.

»Allein mit meinem Gaul, der vor Ermattung umsteht, wenn er nicht bald in den Stall kommt.«

Es vergingen einige Minuten, dann hörte Herr Melander Kettengerassel und das Kreischen von Riegeln. Die eisenbeschlagene Tür neben dem Gitterfenster tat sich auf und gab den Blick auf einen schmalen Hofraum frei. Ein alter Mann leuchtete ihm mit einem brennenden Kienspan ins Gesicht.

»So tretet in Gottes Namen in mein Haus. Dort zur Rechten ist die Tür in die Wohnstube.«

»Will zuerst das Pferd versorgen«, brummte Herr Melander. »Habt Ihr eine Handvoll Hafer?«

»Hafer? Ich danke Gott, daß noch ein paar Heubündel da sind. Hier ist der Stall.«

Melander band das Pferd an und sah sich in dem leeren Raum um.

»Kein Vieh?«

»Dort die beiden Ziegen sind mein ganzer Viehstand. Das letzte Kalb haben mir voriges Jahr die Wrangelschen Kürassiere fortgetrieben.« 14

Sie traten in das Wohnhaus.

Ein rauchgeschwärzter Raum umgab sie, der zugleich Küche und Wohnzimmer darstellte. Noch glänzte an der Wand einiges Zinngeschirr als Zeichen einstigen Wohlstandes.

Der Wirt trat zum Feuer und warf ein paar Holzscheite hinein. Die aufzuckenden Flammen beleuchteten ein sorgenzerwühltes Gesicht mit grauen Haaren und gefurchter Stirn.

»Hauset Ihr allein hier?« fragte Herr Melander.

»In der Kammer nebenan schläft mein Weib. Einst hatten wir auch zwei Kinder. Aber der Bub ist mit den Soldaten gelaufen – ob er noch lebt, weiß Gott im Himmel allein. Und die Dirn ging vor drei Jahren nach Passau und kam nimmer heim. Ja, der Krieg, der Krieg.«

»Aber jetzt ist doch Frieden«, erwiderte Herr Melander. Gern hätte er gesagt »leider«, hätte ihn nicht das traurige Gesicht des Alten gerührt.

»Frieden?« war die bittere Gegenfrage. »Herr, ich weiß noch die Zeit, da unsere Buben und Mädeln um die Linde tanzten und unser Vieh das beste und schönste auf viele Meilen in der Runde war. Heut ist's noch ärger als mitten in der Kriegszeit. Die Steuern sind nimmer zu erschwingen, unsere Felder tragen nur Unkraut und wildes Buschholz und sind zur Weide geworden, weil der Dünger fehlt. Auf drei Häuser im Dorf kommen zwei, so zerstört und verbrannt sind. Auf dem Kirchturm hält Tag und Nacht einer von uns Ausguck, ob nicht Räubergesindel oder entlassene Troßknechte 15 kommen und brandschatzen. Das ist ein übler Friede, Herr.«

Melander wußte nichts zu erwidern. Eine Zeitlang herrschte Schweigen zwischen den Männern, das nur durch das leise Knistern des brennenden Holzes unterbrochen wurde.

Endlich fragte der Alte vorsichtig:

»Hat der Herr etwa Geschäfte in unserem Dorf?«

Herr Melander fuhr aus seinem Sinnen auf:

»Wisset, daß ich von des Herrn Grafen von Birckenfeld Gnaden zum Verwalter des Gutes bestallt bin. Es ist zwar kein schickliches Gewerbe für einen Kriegsmann. Aber das Fähnlein, das ich in Ehren kommandiert, ist längst auseinandergelaufen und ich mag nicht meine Fortune bei den Franzosen oder am Hof der Habsburger suchen, wo gegenwärtig die Welschen obenauf sind.«

Der Alte nickte beifällig.

»Da möget Ihr recht haben. Aber wie kommt es, daß unser Herr Graf just Euch die Verwaltung des Gutes . . .«

»Das kommt daher, weil mein Vater selig hier schon vor einem Menschenalter als Vogt geschaltet hat.«

Der Wirt machte eine Gebärde des Staunens.

»Ist es möglich? So wäret Ihr Herr Melander, derselbe Herr Melander, der mir einmal als junger Knabe mitsamt dem kleinen Herrn Grafen meine Kirschbäume bei der Scheuer tüchtig geplündert hat . . .«

»Und zur gerechten Strafe Gottes dafür von 16 Eurem Hunde gebissen worden«, setzte Herr Melander lachend fort. »Ja, der bin ich, obschon indessen viel Wasser die Rott hinuntergelaufen ist. Und Ihr seid also der Felberbauer – bei Gott, mir war gleich zu Mute, als säh ich ein bekanntes Gesicht, als Ihr mir mit dem brennenden Span entgegenkamt. Allerdings – damals seid Ihr noch strack und aufrecht gegangen.«

Der Alte hatte sich erhoben und aus dem dunkelsten Winkel der Küche ein Stück Rauchfleisch, einen Laib Brot und einen Krug Apfelmost zum Vorschein gebracht. Herr Melander, müde und hungrig von dem langen Ritt, ließ sich nicht viel nötigen.

»Morgen mit dem Frühesten will ich den Burgvogt Michael Dommeyer aufsuchen. Wisset Ihr, wo er weilt?«

Der Bauer wiegte den Kopf.

»Da werdet Ihr weit gehen müssen; denn der ist noch mitten im währenden Kriege mit dem Herrn Sekretär des Generalissimus Türenne nach Paris durchgegangen. Er hätte in deutschen Landen nun schon genug Hunger gelitten, so sagte er zum Abschied.«

»Wieder einer«, murmelte Herr Melander. Und laut sprach er:

»So haben die Franzosen das Schloß zerschossen?«

»Das haben sie, und gründlich, Gott sei's geklagt. War eine furchtbare Nacht damals, Herr, und wir glaubten nicht anders, als das Jüngste Gericht wäre gekommen. Die Franzosen hatten die Stadt Passau geplündert, aber nimmer viel darin gefunden, dieweil 17 kurz zuvor der Schwede dort schon alles kurz und klein gedroschen, und kamen nun gar zornmütig in unser Dorf. Und weil der Generalissimus Türenne seine Leute nimmer halten konnt', so gab er ihnen Permeß das Schloß zu plündern. Just vor meinem Fenster hielt er sein Pferd an und deutete mit der Hand nach dem Turm – ich seh ihn noch vor mir als wär's gestern gewesen, ein feiner, junger Page stand neben ihm und hielt ein Flambeau, und der rote Schein zuckte auf seinem Gesicht; er sprach just mit den Generalen, und dabei saß auf einem weißen Zelter ein gar hübsches Fräulein mit roten Wangen, die war seine Liebste und er hatte sie in Augsburg aus einem Kloster geholt. Und als im Schloß droben die Lohe aufstieg und die Fensterscheiben in der Glut zersprangen, da klatschte die Dirne in die Hände und tat einen Juchzer vor Lust. Indessen aber war der Troß gekommen, ein wüster Haufen von Weibern, Buben und Knechten, die fielen den Geiern gleich über unsere Häuser her, schlugen die Türen ein, rissen Truhen und Kisten auf – Gott sei's geklagt, damals verschwand unser ganzes Zinngeschirr und auch der schöne Kupferkessel; eine alte Soldatenvettel mit grauen Haarzotteln hatt' ihn gar unflätig verunreinigt, dann zertrat sie ihn mit den Füßen in Stücke, weil er zum Mitnehmen zu groß war. Und ein Kerl mit einem Raubvogelgesicht zog sich die Sonntagskleider von meinem Weib an, eins übers andere, und ging zum Küchenherd, richtete ihn her mit Kerzen und Bildern als einen Altar, und tat, als wollte er Messe lesen mit allerhand Unzucht in Worten und Gebärden. 18 Dieweil schlachteten sie im Hof unser ganzes Vieh und Geflügel, hingen den Türk, unseren Haushund, an die Brunnenstange und schossen nach ihm mit ihren Faustrohren, und andere griffen die Tische, Stühle und Betten und packten sie auf die Wagen mit großem Geschrei, weil jeder das beste haben wollte. Und die Troßwaibel standen dabei und hielten sich den Bauch vor Lachen über unsere Not. Aber mitten hinein in unser Jammern und Weinen und Brüllen der Dirnen und Fluchen der Knechte geschieht auf einmal ein fürchterlicher Knall – sie hatten Pulver an den Schloßturm gelegt und ihn in die Luft gesprengt. Damals dachten wir, es sei unser letztes Ende.«

Der Alte schwieg und trank seinen Becher aus. Herr Melander zuckte die Achseln. Was der Bauer da erzählte, war ihm nichts Neues. Und er hatte noch ganz andere Dinge erlebt in dem langen Krieg als die Plünderung eines Dorfes.

Ablenkend fragte er nach einer Pause:

»Da nun aber der saubere Herr Burgvogt mit den Franzosen auf und davon gelaufen: wer wird mir im Ort Bescheid geben über die gräfliche Herrschaft und all das, was mir als Verwalter zu wissen nötig ist?«

Der Felberbauer dachte nach.

»Am besten tut Ihr, so Ihr Euch an Herrn Mathias Thurneisser wendet. Der hat oftmals mit dem Herrn Dommeyer über die Wirtschaft diskuriert und alle Wiesen, Felder und Waldungen mit großem Fleiß vermessen, auch in eine genaue Flurkarte eingezeichnet, die ich selbst bei ihm gesehen habe.«

»Hm, hm. Und wer ist dieser Thurneisser?« 19

Der Alte rückte näher: »Ist ein wunderlicher alter Herr, der sich in jungen Jahren viel in der Welt umgetan und in Italia bei den Welschen die Kunst der Musika eifrig betrieben haben soll. Vor ein paar Jahren kam er in unser Dorf, begleitet von einem blonden Mägdlein, das er vor seine Enkelin ausgegeben; sagen auch manche, daß er geheimen Wissenschaften zugetan sei und in Sterndeuterei und Goldmacherkunst Bescheid wisse, hat aber gleichwohl noch niemandem Schaden zugefügt.«

»Potz Henker, also ein Mathematikus und Alchimiste. Und wo ist dieser Wundermann zu treffen?«

»In der Sakristei unseres Kirchleins, wo er täglich in den Frühstunden mit unseren Kindern ein wenig Schule hält, auf daß die Jugend nicht so gar ohne Zucht und Ordnung aufwachse; und dafür liefert ihm die Gemeinde, was er zu seines Lebens Notdurft braucht.«

Der Kienspan brannte trübe, und Herr Melander hatte schon mehrmals den Mund zu einem gewaltigen Gähnen verzogen. Jetzt stand er auf:

»Will Euch nunmehr nimmer Euren wohlverdienten Schlaf stehlen, Felberbauer. Sagt nur, wo ich meinen Leib hinstrecken kann.«

Der Alte geleitete den Gast eine enge Holztreppe empor zu einem Dachstübchen, wo sich ein Strohsack nebst einigen Decken fand.

»Wollet fürlieb nehmen mit einem schlechten Lager, Herr. Wie die Zeiten, so das Nachtquartier . . . Gott segne Euren Schlummer!« 20

Herr Melander war allein. Er trat an das kleine Dachfenster und blickte in die Nacht hinaus. Es ging gegen Ende des Februarmonds. Schon lag das erste Ahnen des Vorfrühlings in der Luft, Düfte von vermoderten Blättern und toten Pflanzen, gemengt mit dem seltsam erregenden Geruch des neuen Lebens, den die Erde ausströmt, wenn sich die ersten Keime in ihrem Schoß zu rühren beginnen. Längst war der Mond untergegangen; schwarz und drohend hob sich vor dem Fenster die Brandruine des Schlosses, über der das Sternbild des Orion funkelte.

Der Gast fühlte sich gar wunderlich bewegt. Allerlei Bilder aus seinem Abenteurerleben drehten sich im bunten Wirbel um ihn. Eine lange und bedeutsame Epoche war abgelaufen, und die neue Bahn lag in Ungewißheit und Nebel. Überall im Lande sprachen sie vom Frieden; trotz des Elends, das noch immer wie eine finstere Wolke über den Gemütern lag, regte sich da und dort schon wieder mächtig die Hoffnung auf bessere Zukunft. Er aber konnte sie nicht teilen. Nun hatte er wohl schon mehr als sein halbes Leben vertan und fand sich vom Schicksal verstoßen und vergessen, arm wie damals, als er den Fahnen Bernhards von Weimar nachgezogen war – nein, noch viel, viel ärmer, denn damals war er jung und voll brausender Hoffnung, und heute färbten sich seine Schläfen grau, und hätte der Graf von Birckenfeld sich nicht just zu rechter Zeit seines einstigen Spielkameraden erinnert, so wäre Herr Melander zu Geislingen vielleicht der Hauptmann einer Horde von Buschkleppern geworden. 21

Wie er dastand und verlorenen Blickes nach dem Schloß emporstarrte, nahm ihn eine fremdartige Erscheinung gefangen. Über dem zerfallenden Mauerwerk schimmerte ein goldiges Licht. Es schien aus dem Boden zu kommen und sich in zitternden Reflexen nach oben zu verlieren. Und eine geisterhafte Musik erklang, zart wie ein Hauch und doch ganz deutlich vernehmbar – ein klagendes Getön, als seufze da droben eine arme, gebannte Seele und sehne sich nach Erlösung. Wiederum schlug Herr Melander ein Kreuz und murmelte einen Bannspruch wider die bösen Geister; denn wenn er sich auch sein Lebtag lang niemals um Kirche und Pfaffen gekümmert, so hatte er doch vor dem Teufel gewaltigen Respekt, und daß der in dem zerstörten Schloß sein Wesen trieb, war völlig klar. Da erinnerte er sich, daß er ja einen guten Zauber bei sich hatte, wirksam gegen alles Übel. Seine Hand tastete unter dem Wams nach der silbernen Kapsel, die er auf bloßem Leibe trug; darin befand sich der Talisman, der Passauer Zettel. Das war ein Stück gegerbte Menschenhaut und stammte von einem Marodeur, den Bernhard von Weimar hatte aufknüpfen lassen. Einem der Musketiere Herrn Melanders war es gelungen, den armen Sünder abzuschneiden und ein Stück von seinem Rückenfell kunstgerecht zuzubereiten. Darauf wurde mit Fledermausblut der Anfang des Johannes-Evangeliums geschrieben und das Ding heimlich unter eine Altardecke praktiziert, und sobald drei Messen darüber gelesen worden waren, war der Zauber vollendet. Wenn Herr Melander aus all den tausend Fährlichkeiten des Krieges bis jetzt 22 mit heiler Haut entkommen war: wem in aller Welt verdankte er dies als dem unschätzbaren Amulett?

Und wirklich: die Wunderkraft versagte auch diesmal nicht. Kaum hatte er das kühle Silber mit der Hand berührt und den Notsegen dazu gesprochen, so schwand der Spuk. Der goldige Schein erlosch und die heimlichen Klänge verwehten im Winde.

»Vielleicht sind mir Augen und Ohren schwach geworden und sehen und hören Dinge, die gar nicht da sind«, knurrte Herr Melander, indem er sich zur Ruhe streckte. »Wird wohl richtig sein, was der Generalissimus Königsmark gesagt hat: daß der Frieden einen Kriegsmann nur siech und krank und elend macht . . .« 23

 


 << zurück weiter >>