Henry Fielding
Die Geschichte des Tom Jones / Theil II
Henry Fielding

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Dreizehntes Kapitel.

Worin das geschmeidige Benehmen der Wirthin, die große Gelehrsamkeit des Chirurgen und die gründliche Casuistik des Lieutenants vorgeführt werden.

Als der Verwundete in das Bett gebracht worden war und der Tumult, den dieser Vorfall im Hause veranlaßt hatte, sich zu legen anfing, redete die Wirthin den 217 commandirenden Officier folgendermaßen an: »Ich vermuthe, Herr, dieser junge Mensch hat sich nicht so gegen Euer Gnaden aufgeführt, wie er sollte; und wenn er um's Leben gekommen wäre, so hätte er's doch wohl verdient gehabt; es ist wahr, wenn gemeine Leute in die Gesellschaft von vornehmen Herrn zugelassen werden, so sollten sie immer den Unterschied bedenken; aber, wie mein erster Mann immer sagte, wenige wissen sich darein zu schicken. Ich für meine Person, ich hätte gewiß nicht zugegeben, daß sich ein solcher Bursche in vornehme Gesellschaft eindrängte, aber ich dachte immer, er wäre ein Officier, bis mir der Sergeant sagte, daß er nur ein Recrut ist.«

»Frau Wirthin,« erwiederte der Lieutenant, »Sie irren sich in der ganzen Sache. Der junge Mann betrug sich ausgezeichnet gut und ist, glaube ich, ein weit gebildeterer Mann als der Fähndrich, der ihn mißhandelte. Wenn der junge Mann stirbt, so wird der, welcher die Schuld davon trägt, am meisten Ursache haben, es zu bedauern; denn das Regiment wird sich eines solchen Unruhestifters, der eine Schande für die Armee ist, entledigen; und wenn er den Händen der Gerechtigkeit entgeht, so soll mich der Vorwurf treffen, darauf verlassen Sie sich, Frau Wirthin.«

»Ei! ei! ist's möglich!« sagte die Wirthin; »wer hätte das denken sollen? Ja, ja, ja, ich bin überzeugt, daß Euer Gnaden Gerechtigkeit üben werden; und das sollte mit jedem geschehen. Die Großen sollten nicht arme Leute todtschlagen dürfen, ohne zur Verantwortung gezogen zu werden. Ein armer Mensch hat auch eine Seele, die selig werden will, eben so gut wie seine Vorgesetzten.«

»Wahrhaftig, Frau Wirthin,« sagte der Lieutenant, »Sie thun dem Freiwilligen Unrecht; ich kann es Ihnen zu schwören, daß er mehr Gentleman ist, als der Officier.«

218 »Ach!« rief die Wirthin, »sehen Sie nur: ja, mein erster Mann war ein kluger Mann; der sagte wohl immer, man kann nicht stets vom Rocke auf das Herz schließen. Doch jener könnte auch wohl gut genug gewesen sein, denn ich sah ihn erst, als er über und über voll Blut war. Wer hätte das gedacht! vielleicht ein junger Edelmann, der eine unglückliche Liebe hat. Ach, wenn er sterben sollte, wie würden sich seine Eltern grämen! der Teufel muß doch den Elenden zu einer solchen That getrieben haben. Es ist wahr, er ist eine Schande für die Armee, wie Euer Gnaden sagen; denn die meisten Herren von der Armee, die ich jemals gesehen, waren ganz andere Leute und sahen nicht aus, als ob sie Christenblut vergießen wollten, eben so wenig wie andere Menschen; ich meine nämlich in friedlichen Zeiten, wie mein erster Mann immer sagte. Denn freilich, wenn sie in den Krieg kommen, da müssen sie Blut vergießen, aber darum sind sie nicht zu tadeln. Je mehr Feinde sie umbringen, desto besser; und ich wünschte von ganzer Seele und von ganzem Herzen, daß sie sie Alle umbringen könnten.«

»O pfui, Frau Wirthin!« sagte der Lieutenant lächelnd: »alle, das wäre ein etwas zu grausamer Wunsch.«

»Durchaus nicht,« antwortete sie; »ich bin gar nicht grausam, bloß gegen unsere Feinde; und das schadet nichts. Es ist doch ganz natürlich, daß wir unsern Feinden den Tod wünschen, damit die Kriege einmal aufhören und unsere Abgaben geringer werden; denn es ist erschrecklich, was wir bezahlen müssen. Was sagen Sie dazu, über vierzig Schillinge Fenstersteuer geben zu müssen, bei alledem daß wir zugesetzt haben, so viel wir nur konnten; fast das ganze Haus haben wir verfinstert, ja wahrhaftig. Ich sagte zu dem Steuereinnehmer, sagte ich, ich dächte Sie sollten glimpflich mit uns verfahren; wir sind doch gewiß 219 gut Freund mit der Regierung; und das sind wir auch sicher, denn wir bezahlen ihr einen hübschen Thaler Geld. Und gleichwohl denke ich oft bei mir, die Regierung glaubt nicht mehr auf uns halten zu müssen als auf die, die ihr nicht einen Heller einbringen. Ja, ja, das ist so der Welt Lauf.«

In dieser Weise fuhr sie noch fort, als der Chirurg in das Zimmer trat. Der Lieutenant fragte sogleich, wie es seinem Patienten ginge, wurde jedoch mit der Antwort abgefertigt: »Jedenfalls besser, als es gegangen sein würde, wenn man mich nicht gerufen hätte; und es würde vielleicht noch besser gewesen sein, wenn ich früher gerufen worden wäre.« – »'s ist doch hoffentlich kein Schädelbruch vorhanden?« fragte der Lieutenant weiter. – »Hm,« meinte der Chirurg: »Schädelbrüche sind nicht immer die gefährlichsten Symptome. Quetschungen und Zerreißungen werden oft von schlimmern Erscheinungen begleitet und haben oft nachtheiligere Folgen als Knochenbrüche. Leute, die von der Sache nichts verstehen, glauben, wenn der Schädel nicht verletzt ist, dann ist alles gut; dagegen hätte ich für manche Contusionen, die mir vorgekommen sind, lieber gesehen, der Schädel wäre in Stücke zerbrochen gewesen.« – »Davon sind doch hoffentlich,« sagte der Lieutenant, »keine Symptome vorhanden.« – »Symptome,« entgegnete der Chirurg, »sind nicht immer regelmäßig oder constant. Es sind mir des Morgens sehr bedenkliche Symptome vorgekommen, die des Nachmittags in günstige übergingen und zum Abend wieder bedenklich wurden. Von Verwundungen kann man wirklich mit Fug und Recht sagen: Nemo repente fuit turpissimus. Ich erinnere mich, einmal zu einem Patienten gerufen worden zu sein, der eine heftige Contusion an der Tibia erlitten hatte, wodurch die äußere Cutis zerrissen und ein profuser Blutverlust entstanden war; 220 auch die innern Membranen waren so in ihrem Zusammenhange getrennt, daß man durch die Apertur oder Oeffnung der Wunde sehr deutlich den Knochen wahrnehmen konnte. Zu gleicher Zeit stellten sich einige fieberhafte Symptome ein (denn der Puls war sehr aufgeregt und indicirte eine Phlebotomie), ich fürchtete sofort eintretenden Brand. Um diesen zu verhüten, machte ich sogleich eine große Oeffnung in die Vene des linken Arms und ließ zwanzig Unzen Blut weg, das ich sehr dick und zähe, oder gar coagulirt zu finden erwartete, wie es in pleuritischen Entzündungen zu sein pflegt; aber zu meinem Erstaunen war es schön hochroth und in seiner Consistenz wenig von dem Blute eines vollkommen Gesunden verschieden. Ich ließ dann an den verletzten Theil eine Bähung machen, die ihrem Zwecke völlig entsprach; und nach drei- bis viermaligem Verbinden sonderte die Wunde einen dicken Eiter ab, wodurch die Cohäsion – – aber vielleicht bin ich Ihnen nicht ganz verständlich?« – »Nein, in der That,« antwortete der Lieutenant, »ich kann nicht sagen, daß ich eine Silbe verstehe.« – »Nun gut,« sagte der Chirurg, »dann will ich Ihre Geduld nicht ermüden; also kurz, binnen sechs Wochen war mein Patient so weit, daß er wieder so gut auf den Beinen war, wie vor der Verletzung.« – »Ich wünschte nur, Herr,« sagte der Lieutenant, »daß Sie so gefällig wären, mir darüber Aufschluß zu geben, ob die Wunde wohl tödtlich sein kann.« – »Herr,« entgegnete der Chirurg, »bei dem ersten Verbande sagen zu wollen, ob eine Wunde tödtlich werden wird, oder nicht, würde eine sehr thörichte Anmaßung sein; wir sind alle sterblich, und es kommen bei einer Cur Symptome vor, die auch die Gelehrtesten unseres Standes nicht vorherzusehen vermögen.« – »Aber glauben Sie, daß er in Gefahr ist?« fragte der andere. »In Gefahr! ei gewiß,« rief der Doctor: 221 »wen gäbe es unter uns, von dem man, wenn er auch noch so gesund ist, sagen könnte, daß er nicht in Gefahr wäre! Kann daher ein Mann mit einer so schlimmen Wunde als nicht in Gefahr schwebend betrachtet werden? Alles was sich gegenwärtig sagen läßt, ist, daß man wohl gethan hat mich zu rufen, und daß es vielleicht besser gewesen wäre, wenn man mich eher gerufen hätte. Ich werde ihn morgen früh wieder besuchen; unterdeß lassen Sie ihn nur sich ruhig verhalten und fleißig Gerstenwasser trinken.« – »Erlauben Sie ihm denn Molken?« fragte die Wirthin. »Ja, ja, Molken,« rief der Doctor, »immerhin, nur dünn müssen sie sein.« – »Und ein wenig Hühnerbrühe auch?« setzte sie hinzu. »Ja, ja, Hühnerbrühe,« sagte der Doctor, »ist sehr gut.« – »Darf ich ihm nicht auch etwas Gelee machen?« fragte die Wirthin weiter. – »Ei ja,« antwortete der Doctor, »Gelees sind sehr gut für Wunden, denn sie fördern die Cohäsion.« Und es war wirklich ein Glück, daß sie nicht kräftige Suppen und Saucen erwähnt hatte, denn der Doctor würde eher in alles gewilligt haben, ehe er die Kundschaft des Hauses eingebüßt hätte.

Der Doctor war kaum fort, als die Wirthin sich in einen Strom von Lobreden über ihn gegen den Lieutenant ergoß, dem jedoch die kurze Bekanntschaft keine ganz so günstige Meinung von seiner ärztlichen Geschicklichkeit beigebracht hatte, als sie die gute Frau und die ganze Nachbarschaft hegten (und vielleicht sehr mit Recht); denn ob ich gleich vermuthe, daß der Doctor ein wenig von einem eingebildeten Narren hatte, so mochte er doch nichts desto weniger sehr viel von einem Chirurgen haben.

Da der Lieutenant sich aus dem gelehrten Gespräche des Chirurgen so viel herausgenommen hatte, daß Herr Jones in großer Gefahr wäre, so gab er Befehl, Herrn Northerton in strenger Haft zu halten, denn er hatte sich 222 vorgenommen, ihn den nächsten Morgen vor ein Friedensgericht zu bringen und das Commando der Truppen bis Gloucester dem französischen Lieutenant zu übertragen, der, obgleich er weder lesen, noch schreiben, noch eine Sprache sprechen konnte, dennoch ein guter Officier war.

Am Abende ließ unser Commandant Herrn Jones sagen, daß, wenn ihm ein Besuch nicht beschwerlich fiel, er ihn besuchen würde. Diese Höflichkeit wurde von Jones sehr freudig und dankbar aufgenommen und der Lieutenant ging daher hinauf in das Zimmer und fand den Patienten besser als er erwartet hatte; ja, Jones versicherte seinen Freund, daß er schon längst würde aufgestanden sein, wenn es der Chirurg nicht geradezu verboten hätte; er fühle sich so wohl wie immer und werde durch weiter nichts als einen heftigen Schmerz auf der rechten Seite des Kopfes an seine Wunde erinnert.

»Es sollte mich sehr freuen,« sagte der Lieutenant, »wenn Sie so wohl wären als sie sich vorstellen; denn dann würden Sie im Stande sein, sich unverzüglich Genugthuung zu verschaffen: denn wenn eine Sache einmal nicht beigelegt werden kann, wie das in diesem Falle nicht angeht, so thun Sie um so besser, je eher Sie ihn herausfordern; aber ich fürchte, Sie halten sich für wohler als Sie sind, und dann würde er einen zu großen Vortheil über Sie haben.«

»Ich will es dennoch versuchen,« erwiederte Jones, »wenn Sie die Güte haben und mir einen Degen leihen wollen, denn ich selbst habe keinen.«

»Mein Degen steht herzlich gern zu Ihren Diensten, mein theurer junger Freund,« rief der Lieutenant, ihn umarmend; »Sie sind ein braver Jüngling und Ihr Muth macht mir Freude; aber ich bin besorgt um Ihre Kräfte; denn ein solcher Schlag und solcher Blutverlust müssen Sie sehr 223 geschwächt haben; und wenn Sie sich auch im Bett nicht schwach fühlen, so werden Sie es doch wahrscheinlich nach einigen Gängen desto mehr. Ich bin nicht dafür, daß Sie ihn heut Abend noch herausfordern; aber ich hoffe, Sie werden im Stande sein, uns einzuholen, ehe wir noch viele Tagemärsche voraushaben; und ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, Sie sollen Satisfaction haben, oder der Mann der Sie beleidigte, soll nicht länger in unserm Regimente dienen.«

»Ich wünschte,« sagte Jones, »daß es möglich wäre, die Sache noch heut Abend auszumachen; jetzt da Sie es einmal in Erwähnung gebracht haben, werde ich nicht eher Ruhe haben.«

»O denken Sie doch nicht daran,« erwiederte der andere; »einige Tage machen keinen Unterschied. Die Wunden der Ehre sind nicht so beschaffen wie die an Ihrem Kopfe: sie werden durch den Aufschub der Kur um nichts schlimmer. Es ist ganz gleich für Sie, ob Sie jetzt Satisfaction erhalten, oder nach einer Woche.«

»Aber gesetzt,« sagte Jones, »es würde schlimmer mit mir und ich stürbe in Folge meiner jetzigen Wunde.«

»Dann bedarf es,« erwiederte der Lieutenant, »einer Ehrenrettung überhaupt nicht mehr. Auch übernehme ich es, Ihrem Charakter Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und der Welt zu bezeugen, daß Ihre Absicht war, als Mann von Ehre zu handeln, wenn Sie genesen wären.«

»Noch,« versetzte Jones, »habe ich ein Bedenken bei dem Aufschube. Ich wage kaum, es gegen Sie, einen Soldaten, auszusprechen; indessen, ob ich gleich ein sehr ungezügeltes Leben geführt habe, so bin ich dennoch in meinen ernsteren Momenten und der Hauptsache nach ein wahrhafter Christ.«

224 »Das bin auch ich, glauben Sie mir,« sagte der Officier; »und zwar ein so eifriger, daß es mir Freude machte, als Sie über Tische die Sache unsrer Religion in Schutz nahmen; und es thut mir leid, jetzt zu hören, daß Sie sich scheuen, Ihr Glaubensbekenntniß vor einem jeden offen darzulegen.«

»Aber wie schrecklich,« rief Jones, » muß es für einen wahrhaften Christen sein, Rache in seinem Busen zu nähren, im Widerspruch mit der Lehre desjenigen, der sie ausdrücklich verboten hat? Wie soll ich auf dem Krankenbett den Gedanken daran ertragen? oder wie mich rechtfertigen vor der Stimme, die sich in meinem Innern wider mich erhebt?«

»Ja, wir haben eine solche Lehre erhalten,« rief der Lieutenant; »aber ein Mann von Ehre kann sie nicht befolgen. Und Sie müssen auf die Ehre halten, wenn Sie in der Armee dienen wollen. Ich erinnere mich, einst bei einer Bowle Punsch den Gegenstand unserm Feldprediger vorgelegt zu haben, und er bekannte, daß er schwer zu entscheiden sei; allein er meinte, daß das Gesetz in diesem einen Falle wohl auf die Soldaten etwas weniger streng anzuwenden sei und wahrlich, das müssen wir hoffen; denn wer möchte wohl leben ohne Ehre? Nein, nein, mein theurer Freund, sein Sie ein guter Christ, so lange Sie leben; aber sein Sie auch ein Mann von Ehre und dulden Sie keine Beleidigung; dazu sollen alle Bücher und alle Geistliche der Welt mich nicht vermögen. Ich achte meine Religion sehr hoch, aber höher noch meine Ehre. Es muß irgend ein Irrthum in den Worten des Textes, oder in Uebersetzung, oder in der Erklärung oder sonst wo vorhanden sein. So überlassen Sie sich diese Nacht der Ruhe, und ich verspreche Ihnen, Sie sollen Gelegenheit finden, sich Genugthuung zu verschaffen.« Hier gab er Jones einen herzlichen Kuß, schüttelte ihm die Hand und verließ ihn.

225 Aber wenn auch der Lieutenant mit seinem Räsonnement sehr zufrieden war, mit seinem Freunde verhielt es sich nicht ganz so. Nachdem sich Jones daher die Sache reiflich überlegt hatte, kam er endlich zu einem Entschlusse, rücksichtlich dessen wir den Leser auf das folgende Kapitel verweisen.


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