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Fichte wird als Kind armer Webersleute am 19. Mai 1762 in Rammenau in der Oberlausitz geboren. Aus seiner Kindheit haben wir ein paar sehr charakteristische Anekdoten. Die eine zeigt den Knaben als Wunderkind intellektueller Begabung, er konnte nämlich die gehörten Predigten fast wörtlich rekapitulieren und verdankte dieser Staunen erregenden Leistung das Interesse eines Gönners, der von da an für seine höhere Schulbildung sorgte. Die zweite Anekdote zeigt echte Bubennatur, den zukünftigen Helden im Konflikt mit dem asketischen Ideal, welches der Dorfpfarrer und die ganze pietistische Frömmigkeit im Elternhause ihm aufgedrungen hatten: seine Freude an dem Kinderbuch vom gehörnten Siegfried erscheint ihm als sündhaft. Der Wille siegt schon hier über den Trieb, das geliebte Buch wird mit Tränen, aber mit heldenhaftem Entschluß in den Mühlbach geworfen. Erfolg: Prügel vom Vater, der die leichtsinnige Verachtung des teuer gekauften Buches strafen zu müssen meinte. Für die Armut im Elternhause haben wir manche Zeugnisse. Es waren acht Geschwister.
Der Knabe kam auf Kosten seines Gönners nach dem berühmten Internat von Schulpforta. In einem seiner Schulbücher fand sich als Motto eingetragen:
Si fractus illabatur orbis
Impavidum ferient ruinae.
Dies Leitwort hat ihn zeitlebens nicht verlassen.
Von Schulpforta als Student nach Jena und Leipzig, natürlich als Theologe. Die Unterstützung, die der Gymnasiast genossen hatte, erlosch für den Studenten. Er fraß sich durch mit Stundengeben, so gut oder schlecht es gehen mochte, der übliche Hungerkandidat. Was wir von seiner äußeren Existenz erraten können, wird am besten gezeichnet durch die Worte, mit denen Heine einmal eine Dame beschreibt: »öde wie der Freitisch eines Theologen«; nur daß diesem Theologen der Freitisch zumeist gefehlt zu haben scheint. Das erste größere Dokument, das wir von dem großen Fichte haben, ist ein Bettelbrief um ein Stipendium an den Konsistorialpräsidenten seines Vaterlandes, ein rührendes Gesuch, aus dem hervorgeht, wie lange er gezögert hatte, ehe er auch nur dazu sich entschließen konnte. »In meinen akademischen Jahren drückte mich der herbste Mangel zu Boden, der desto trauriger für mich war, als – ich wage mich Ew. mit allen meinen Fehlern zu zeigen – ich mich desselben bitterlich schämte.« Das Gesuch blieb ohne Erfolg.
Als die Not am größten war, errettete ihn eine Hauslehrerstelle in Zürich, die sich ihm bot. In seiner Eigenschaft als Hauslehrer legte er ein »Tagebuch der auffallendsten Erziehungsfehler, die mir vorgekommen sind« an. Er meinte damit die Fehler der Eltern und legte das Buch den Eltern vor. Es ist das nicht gerade die Art, wie sich sonst mittellose Hauslehrer um die Erhaltung ihrer guten Stelle zu bemühen pflegen. Fichtes Persönlichkeit aber überzeugte diese Eltern, er blieb immerhin mehr als ein Jahr bei ihnen. Wie er sich von ihnen trennte, berichtet er selbst in einem Brief an seinen Bruder. »Ich verließ Zürich, weil es mir, wie ich mehrmals nach Hause geschrieben habe, in dem Hause, in welchem ich war, nicht ganz gefiel. Ich hatte von Anfang an eine Menge Vorurteile zu bekämpfen; ich hatte mit starrköpfigen Leuten zu tun [sie waren wohl kaum starrköpfiger als er!]. Endlich, da ich durchgedrungen und sie gewaltiger Weise gezwungen hatte, mich zu verehren, hatte ich meinen Abschied schon angekündigt, welchen zu widerrufen ich zu stolz und sie zu furchtsam waren.« Er zwang sie gewaltiger Weise, ihn zu verehren, das war, wohin er kam, sein Verhältnis zu seiner Umgebung, zur Mitwelt und, wie wir hoffen, auch noch zur Nachwelt.
In Zürich fand er oder eigentlich fand ihn die Braut, Johanna Rahn, eine Nichte Klopstocks. Über sie und seine Liebe geben zahlreiche Briefe Auskunft, die einen besonderen Abdruck wohl verdienen würden. Hier ist für sie kein Raum. Wenn ein Fichte von Liebe spricht, so hat das Wort nicht denselben Klang, den es im Munde Goethes oder, um wieder einen ganz anderen zu nennen, im Munde Pestalozzis gehabt hätte. Für Fichte ist charakteristisch, daß er noch 1798 in der Sittenlehre die Liebe zuerst auf seiten des Weibes denkt, dem Manne aber Dankbarkeit für diese Liebe und Großmut zuweist; dies nennt er Gegenliebe. Aber Empfindungen für den Ernst der Liebe, für die Verantwortung, die mit ihr übernommen ist, für die Heiligkeit des beschlossenen Lebensbundes, für die über beider Gatten Leben hinausliegenden Aufgaben der Ehe, Empfindungen, wie sie mancher Bräutigam nur in der Viertelstunde vor dem Altar ein einziges Mal erlebt, waren ihm jederzeit gegenwärtig und bilden den ihm naturgemäßen Grundton dieser Brautkorrespondenz. Doch fehlt auch die holde Narrheit der Liebe in seinen Briefen nicht ganz, war er doch bei allem schweren Ernst auch ein rechter und ein ganzer Mann. Einen wunden Punkt hatte das Verhältnis: die Braut war wohlhabend, Fichte hatte nichts als seine Pläne. Der Gedanke, zu heiraten, ohne sich vorher die öffentliche Achtung durch eine bedeutende Leistung verdient zu haben, widerstrebte seinem Stolze, trotzdem er verliebt war. Er verließ Zürich wohl hauptsächlich deshalb, um der Versuchung aus dem Wege zu gehen, früher zu heiraten.
Er ging nach Leipzig zurück und ernährte sich weiter vom Hauslehrerspielen und Stundengeben. Dieser zweite Leipziger Aufenthalt ist die bitterste Zeit seines Lebens. Die alte notdürftige Existenz, – aber um wieviel war inzwischen das Gefühl seines eigenen Wertes, das Verlangen nach einer großen schriftstellerischen Tat oder großen Wirksamkeit gesteigert! Sein ganzer Kampf gegen Frau Armut ging um nichts anderes, als um das bischen Muße, damit er seine eigene Gedankenwelt, die ungeboren in ihm ruhte, ans Licht zu fördern vermöge. Aber auch dies Ziel blieb all seinem Fleiße unerreichbar. Alle Verbindungen, die sein Schwiegervater, die Lavater u. a. für ihn anzuknüpfen versucht hatten, blieben erfolglos. Die Berichte über das, was er litt, sind ganz lakonisch. Man muß schon zwischen den Zeilen zu lesen wissen. Wenn er der Braut in dieser Zeit einmal schrieb: »ich habe fast alles verloren als den Mut«, so läßt sich erraten, daß ihm auch der Mut zuzeiten fast abhanden war. Die Braut aber durfte am wenigsten davon wissen, denn gerade sie wünschte ja, ihm zugleich mit der Ehe alle äußerlichen Nöte seiner Existenz zu beenden. Von Zürich her also lockte, sobald er sich nur entschließen konnte, Liebesglück und ein sicherer Hafen. Der Kontrast zwischen der kümmerlichen Existenz und dem Glück, welches er anzunehmen verschmähte, wuchs mit den Jahren, noch schlimmer nagte an ihm der Kontrast zwischen dem, was er innerlich war und der Welt zu weisen nicht vermochte, und dem, was er vorstellte. In seinem Kopfe jagte ein glühendes Projekt des Ehrgeizes das andere. Man hat das Gefühl, wenn man die Leipziger Briefe liest, daß er einer Katastrophe entgegentrieb.
Die Katastrophe ward vermieden. Die Krisis ward durch ein Ereignis glücklich gelöst und geendet, das ganz unerwartet in sein Leben hineinfiel, und das für niemand die gleiche Bedeutung haben konnte wie für ihn: er lernte Kants Philosophie kennen. Wodurch diese Philosophie ihn hinauszuheben vermochte über alles, was er litt, das ist hier nicht Raum, auszuführen. Sie gab ihm zunächst, was er bisher vergebens gesucht hatte, Form und Inhalt für eigene Produktion: ein Verkünder, ein Jünger, ein Apostel dieses Genius zu werden, wurde fürs erste sein Lebensziel. Ferner erzog ihn Kants kategorischer Imperativ dazu, sogar seinen Ehrgeiz zu verachten. Alle Eitelkeit, die noch in ihm war, tat er damals von sich ab aus Stolz. So wurde ihm nun auch möglich, sich mit dem Gedanken an die Rückkehr nach Zürich zu befreunden; für Ostern 1791 ward sie beschlossen. Aber auch jede Dorfpfarre hätte er damals angenommen, nur um seine Eitelkeit zu demütigen. Die inneren Konflikte seines Lebens enden hier, obgleich ihm noch einige Zeit in Not weiter zu darben beschieden war. Von dem Moment an, wo er Kant ergriff, war er ganz – Fichte.
Ein unerwarteter Zusammenbruch des Rahnschen Vermögens machte jetzt plötzlich auch die Heirat, wenigstens vorläufig, unmöglich. Durch solche Überraschung war Fichte natürlich nicht aus der Fassung zu bringen. Er nahm wieder eine Hofmeisterstelle an, diesmal in der Nähe von Warschau. Dort fand er Verhältnisse vor, die ihn anwiderten, und gab die Stelle sofort auf. Nun pilgert er fast mittellos nach Königsberg – zu Kant. Um Kants willen ward der fast Dreißigjährige wieder zum Studenten, und nur, um sich seinem Meister vorzustellen und zu empfehlen, schrieb er eine Arbeit, wie wohl nie ein Student eine ähnliche seinem Professor eingereicht hat. Dabei ging aber das Geld schrittweise zur Neige. Jetzt schrieb Fichte noch einen Brief an Kant, um von ihm die Mittel zu borgen, mit denen er wieder in die Heimat zurückgelangen könne. Die letzte Zuflucht, die sächsische Dorfpfarre, schien das einzige, was ihm noch winkte. Kant fand nicht gleich Zeit, auf diesen Brief zu antworten. Fichte schrieb in sein Tagebuch: »Heute wollte ich arbeiten und tue nichts. Mein Mißmut überfällt mich. Wie wird dies ablaufen? Wie wird es heut über acht Tage um mich stehen? Da ist mein Geld rein aufgezehrt!«
Das war am 13. September 1791. Das Tagebuch endet hier, mit ihm die Prüfungszeit für Fichte. Und das kam so: Kant riet bald danach, die von Fichte eingereichte Arbeit drucken zu lassen, und sorgte für einen Verleger. So erschien Fichtes erstes Buch mit dem Titel »Kritik aller Offenbarung« 1792. Es war anonym und im gleichen Verlage, in dem sonst Kants Werke gedruckt wurden. Von diesem wurde über denselben Stoff gerade damals ein Buch erwartet. Alle Welt hielt diese erste Arbeit des Jüngers für das Werk des Meisters selbst. Die Kritik überschüttete es mit Bewunderung. Kant machte den Namen des jungen Autors bekannt, und – Fichte war ein berühmter Mann.
Es ist eine Peripetie in Fichtes Leben innerhalb der nun folgenden zwei Jahre, wie sie selten in einem Lebensdrama zu finden sein dürfte. Während er eine neue Hauslehrerstelle in der Nähe von Danzig gefunden hatte, waren inzwischen die Vermögensverhältnisse in Zürich wieder geheilt. Fichte eilt nun mit den ersten jungen Lorbeeren zu der Braut. Am 20. Oktober 1792 erfolgte die Hochzeit. Was Fichte in diesen Jahren geistig produziert hat, ist ungeheuer. Einige philosophische Rezensionen in Zeitschriften (1793) ließen ihn nicht nur als den bedeutendsten aller Kantianer erscheinen, sondern auch als einen Mann, von dem noch etwas anderes als Kantianismus zu erwarten sei. Auch die ganze »Wissenschaftslehre« ist in diesen Jahren konzipiert worden. Das Buch aber, das ihm am meisten Bewunderung, Neid und Haß zuzog, ebenfalls noch 1793 erschienen, heißt: »Beiträge zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution.« Es enthält weit mehr, als der Titel erraten läßt, z. B. außer Betrachtungen über Volksrechte und Regentenpflichten Urteile über Militär, Adel, Judentum, über die katholische und die protestantische Kirche, über Kirchengüter, über das Verhältnis zwischen Historie und Ethik usw.; über alle diese Fragen ebenso kühn und radikal wie originell und schöpferisch argumentierend, richtend, vernichtend, Neues fordernd und fördernd, Ziele weisend, an die damals in Deutschland, ja in Europa niemand dachte, und die noch heute größtenteils in der Zukunft liegen. Wäre Fichte nach diesem Buche gestorben, so bliebe er doch der kühnste und produktivste Denker seiner Zeit. Dies Buch allein läßt erahnen, was er erlitten haben mochte damals, als er alle seine Gedanken schweigend in sich wachsen ließ. Hier scheint er gleich alles auf einmal sich von der Seele gewälzt zu haben. Daß er nach einer so radikalen Arbeit einen Ruf nach Jena erhielt, war auch eine große Tat, die wir Karl August nie vergessen sollen. Goethe nannte sie »verwegen«, und wer die »Beiträge« gelesen hat, begreifts. So war denn Fichte im Sommer 94 glücklich verheiratet und Professor in Jena, von den Studenten mit Begeisterung erwartet und empfangen, als Schriftsteller gefürchtet und gefeiert, als Denker zu den Allerersten gezählt, mit Schiller bald nahe befreundet, von Goethe aus naher Ferne freundlich gegrüßt. Er konnte auch in seinen kühnsten Phantasien von einem glänzenderen Erfolg niemals geträumt haben. Das Jena von 1794 war der Brennpunkt der ganzen deutschen Bildung. Schiller war da und schloß eben damals mit Goethe, der oft herüberkam, seinen Bund durch den berühmten Brief vom August 94, die Horen wurden damals in Jena gegründet, desgleichen die Jenaer Litteraturzeitung, Wilhelm von Humboldt, beide Schlegel, Tieck, Schelling, Savigny waren zeitweilig hier beieinander. Schiller nannte Jena eine »Erscheinung, wie sie vielleicht nicht wieder vorkommen werde«, Dorothea Schlegel schrieb an Rahel: »Ich werde alle Tage klüger und geschickter. Wer es aber bei diesen und mit diesen Menschen nicht werden wollte, müßte von Stein und Eisen sein. Ein solches ewiges Konzert von Witz und Poesie, von Kunst und Wissenschaft, wie mich hier umgibt, kann einen die ganze Welt vergessen machen.« Man mag Schiller und Goethe als die Mozart und Beethoven in diesem Konzert bezeichnen, die Romantiker machten dazu ihre geniale Faschingsmusik. Fichte aber bedeutet in diesem »ewigen Konzert« die immer gleich strenge, immer unergründlich tiefe, nicht jedem genießbare noch verständliche, in sich aber absolut vollendete Bachsche Orgelfuge.
Von nun an ist Fichtes Leben das eines Gelehrten. Seine weitere Biographie sind die Bücher, die er schreibt. Man kann über diese weder kurz noch populär Bericht erstatten. Hier seien nur die Marksteine seines Weges durch die Titel der Hauptwerke verzeichnet.
1794 Wissenschaftslehre
1796 Naturrecht
1798 Sittenlehre
1799 Atheismusstreit
1800 Der geschlossene Handelsstaat D. i. der erste Versuch einer ethischen Nationalökonomie als Wissenschaft in Europa. – Bestimmung des Menschen
1804 Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters
1805 Das Wesen des Gelehrten
1806 Anweisung zum seligen Leben oder die Religionslehre
1807/8 Die Reden an die deutsche Nation
1813 Staatslehre
Fichtes äußeres Leben ist belanglos neben dem inneren Wachstum, das diese Reihe seiner Werke aufweist. Der berühmte Atheismusstreit, der ihn seine Professur kostete und von Jena nach Berlin führte, ist aus den mitgeteilten Dokumenten Vergleiche S. 33 und S. 217. biographisch genügend gekennzeichnet. Was er sonst an den Universitäten Erlangen und Königsberg vorübergehend oder an der Universität Berlin seit ihrer Gründung (1811) für eine Tätigkeit übte, was er für Berufungen erhielt oder ausschlug, was er für Reformen des Studententums und Universitätsunterrichtes unternahm oder vorschlug, hat, so bedeutsam auch das letztere ist, doch mehr nur akademisches Interesse. Wir verweilen nur noch bei seinem patriotischen Anteil am öffentlichen Leben seit dem preußischen Feldzuge von 1806. Fichte hatte gleich bei der Eröffnung desselben an höchster Stelle um die Erlaubnis nachgesucht, das königliche Hauptquartier begleiten zu dürfen. Er wollte mitwirken, so wie er es vermochte. Welche Rolle er dort für sich in Aussicht genommen hatte, wie er den Ernst und die Bedeutung der Lage schon damals begriff, zeigen die Dokumente S. 35 und S. 39. Er erhielt vom König (indirekt) folgende Antwort: »Ihre Ideen, mein lieber Fichte, gereichen Ihnen zu Ehre. Der König läßt Ihnen für Ihr Anerbieten danken. Vielleicht können wir in der Folge davon Gebrauch machen. Erst muß der König mit seinen Heeren durch Taten sprechen. Dann kann die Beredsamkeit die Vorteile des Sieges vermehren.« Der Feldzug, der in drei Vierteljahren von Jena bis Tilsit führte, muß wenigstens in die Erinnerung des Lesers zurückgerufen werden, damit er Fichtes Großtat würdige: er war so unerhört schmählich für die deutschen Waffen, wie der Krieg 1870/71 unerhört glorreich war. Das preußische Ultimatum datiert vom 1. Oktober 1806. 14 Tage danach ist der Feldzug eigentlich schon für Preußen verloren durch die vernichtende Niederlage in der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt. Schon am nächsten Tage schreibt Napoleon Preußen die Kriegskontribution von 159 Millionen vor. Am 21. Oktober ist ganz Preußen bis zur Elbe in französischen Händen. Vom selben Tage datiert die berühmte Kontinentalsperre, vom selben Tage aber auch die Weigerung des Königs, auf den Waffenstillstand von Osterode einzugehen. Dadurch wurde der Krieg auf das rechte Elbufer hinübergezogen und bis zum Juli 1807 verlängert. Es fehlt bekanntlich in diesem zweiten Teil des Krieges nicht an einzelnen preußischen Erfolgen und Heldentaten. Aber im Frieden von Tilsit, mit dem er endete, »trat nicht der rechtmäßige König von Preußen dem Sieger einige Landesteile ab, sondern der Eroberer bewilligte aus Achtung für den Kaiser aller Reußen die Rückgabe der kleineren Hälfte des preußischen Staates an seinen Monarchen v. Treitschke, Deutsche Geschichte. Bd. 1, S. 264.«. Im Winter 1807/8 hielt in Deutschland niemand mehr einen neuen siegreichen Feldzug für möglich. Kaum Blücher und Scharnhorst mögen damals von einem baldigen Befreiungskrieg geträumt haben. Alle Hoffnung war erloschen und blieb es bis 1812. Auch Stein fand nur am Hofe des Zaren noch eine Stätte, wo er für Deutschlands Sache werben und wirken konnte. Wie Fichte die Situation begriff, zeigt »das Fazit nach Tilsit« (S. 43); das Bitterste, was damals geschrieben wurde, schrieb er nieder, aber nur für sich selbst. Ohne den dunklen Hintergrund dieser strengen Abrechnung kann sein lichter, öffentlich verkündeter Optimismus, seine »Tröstung« (S. 57) und »Prophezeihung« (S. 58) gar nicht ganz gewürdigt werden.
In diesem Winter 1807/8 trat Fichte vor die Nation mit seinen »Reden«. »Ich weiß, daß wie Palm ein Blei mich treffen kann«. Palm hatte weniger getan, als er damals wagte. Er hatte nur ein Buch verlegt, das Napoleon reizte. Fichte schrieb ein Buch, das ihn viel mehr hätte reizen müssen, wenn französische Leser die Tragweite dieses Buches hätten ermessen können. Und er schrieb nicht nur, sondern er trat als Redner mit seiner Person ganz frei vor die Öffentlichkeit. Im Saale der Akademie, also an exponiertester Stelle, wurden in Berlin die Reden gehalten, »während seine Stimme oft von französischen Trommeln, die durch die Straßen zogen, übertäubt wurde, und während allgemein bekannte Aufpasser im Saale erschienen«. Denn in Berlin lag französische Garnison, und Napoleons Spione kamen überall hin. Fichtes Gattin verlor die Todesangst nicht, solange noch ein Franzose in der Stadt war. Er selbst aber bewies jetzt, was er so oft nur mit Worten hatte lehren können, daß das »Leben in der Idee« dem davon Ergriffenen mehr sei als alles andere Leben. Selbst der Gedanke an Nachruhm war es nicht, der ihn begeisterte: tiefere Worte über den Nachruhm, als er für sich allein niederschrieb, (S. 84) sind wohl nie geschrieben worden. Er tat einfach, was er mußte, und was, wie er ganz mit Recht empfand, »in dieser Lage nur er so recht eigentlich tun konnte«. Diese Situation ist nicht nur der Höhepunkt im Leben Fichtes, sie ist auch der Höhepunkt der ganzen Geschichte der neueren Philosophie. Niemals sonst hat diese ihren Beruf, ins Leben einzugreifen, mit so heiligem Ernst erfaßt. Nur in Platos wundervollem siebentem Brief hat die Weltgeschichte eine Situation von gleich erhabener Naivetät und – Tragik. Denn was Fichte damals seiner Nation »geben« wollte und gab, war für diese so wenig unmittelbar brauchbar, wie die Utopien Platos für die blutige Situation in Syracus. Es ist die Tragik des Idealismus in beiden Fällen. Doch ist es für die Tat Fichtes belanglos, ob die »Nationalerziehung«, die er damals ausmalte, brauchbar sei oder nicht. Was er damit suchte, eine einheitliche Bildung der Nation, ist auch unser reales Ziel und auch heute noch trotz aller rastlosen pädagogischen Reformen des 19. Jahrhunderts nicht viel mehr als ein schöner Traum. Groß ist der Tod des Märtyrers für seinen Glauben, groß auch der Tod eines Denkers wie Bruno für seine Überzeugung. Fichte vermochte für seine Heiligtümer, für Deutschlands Ehre und Zukunft, noch mehr als zu sterben, er vermochte, wie ein Krieger, zu leben, zu handeln, zu wirken auf die Gefahr eines ihm daraus erst erwachsenden Todes.
Fichte hatte in jenem Winter einen Krieg für aussichtslos gehalten, wie alle. Nach 1812 dachte auch er anders. Wie er über die Zukunft der deutschen Politik urteilte, zeigt das »Vermächtnis« von 1813. Schon damals forderte er den »Zwingherrn zur Deutschheit«, wenngleich er nicht ganz und nicht nur dasselbe damit meinte, was Bismarck nachher schuf. Bismarck konnte nur die eine Hälfte der Aufgabe lösen, die Fichte in das Wort »Deutschheit« gelegt hatte. Es war genug für eines Mannes Leben. Im Jahre 1862 hat Lassalle zum 100. Geburtstage Fichtes das Andenken dieser Worte erneuert, ohne zu ahnen, daß in eben diesem Jahre der von Fichte geforderte »Zwingherr« das Steuer der deutschen Politik mit fester Hand ergriffen hatte. An Fichtes 100. Todestage, wird ein ebenso Großer an der zweiten Hälfte der Aufgabe am Werke sein, die noch geblieben, an der Verwirklichung des innerlichen Sinnes dieses Wortes »Deutschheit«, den Fichte als den »in der Zukunft liegenden« Charakter unserer Nation zu erkennen meinte?
Fichte starb im Beginn der Freiheitskriege. Die Arbeit und Aufregung hatte auch seine Kraft aufgerieben. Schon seit 1810 war er leidend. Eine Ansteckung, die seine Frau aus den Lazaretten von ihrem Samariterdienst heimbrachte, kostete nicht ihr, wohl aber ihm das Leben. Er ist nur 6 Jahre älter geworden als Schiller. Die Reaktionsepoche, die in Deutschland den Freiheitskriegen folgte, hat er prophezeit (S. 69). Sie wäre wohl etwas anders verlaufen, wenn er damals nicht im Grabe geruht hätte. Geschwiegen jedenfalls hätte er nicht. Er starb am 27. Januar 1814. Die letzte Botschaft, die er mit Bewußtsein vernahm, war die Nachricht von Blüchers Übergang über den Rhein.