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Neuntes Kapitel.

Schon als Kind hatte sich Irma der Kunst gewidmet. Sie sollte sie zu ihrem Beruf machen, den Traditionen ihrer Familie folgend; war doch schon ihr Vater in den Zigeunermusikbanden von Budapest einer der besten Geiger gewesen. Das Zauberinstrument der Moldauzigeuner war immer die Violine, aber Irma hatte mit ihren Eltern in Budapest gelebt und auch Klavier spielen gelernt. Ihr Meister war – der Tote gewesen.

»Flavio Campana, der Violinist?« warf der Direktor ein.

Nein, nein, der Tote war ein ausgezeichneter Klavierspieler, der gleich ihrer Mutter aus der Moldau stammte und mit Irma ein ganz klein wenig verwandt war, ein Vetter etwa im dritten oder vierten Gliede. Er hatte sie, als sie noch ein Kind war, auf den Armen getragen und sie die Fingerchen über die Tasten des Klaviers mit immer größerer Gewandtheit dahinfliegen gelehrt. So war sie, von ihm unterrichtet, unter den Augen der Eltern, die auch tüchtige Künstler waren, aufgewachsen.

Als Irma 17 Jahre alt geworden war, hatte sie in ihrer Kunst die Tüchtigkeit ihres Lehrers erreicht, der ihr, da er ihr nichts anderes mehr beibringen konnte, in der Liebe Unterricht geben wollte. Davon wollte aber Irma absolut nichts wissen, und alle Bemühungen ihres ehemaligen Lehrers waren vergeblich. Indes war ein Sohn des alten Kampanien, ein ausgezeichneter Violinspieler, in Budapest angekommen, dessen Zauber sogar in der Zigeunerfamilie wirkte und Irmas Herz der Liebe öffnete. Nach einem Konzert, in welchem sie, von dem Geiger begleitet, Chopin oder vielleicht Bach gespielt hatte, waren die ersten Liebesworte gestammelt worden.

Wieder unterbrach der Direktor Irmas Erzählung, indem er meinte, daß ein Fritz Neumüller doch nicht ein Sohn des alten Kampanien und in Terra di Lavoro geboren sein könne. Irma hatte erst noch ein wenig mit sich selbst gekämpft, bevor sie sich das Geheimnis entschlüpfen ließ, das sie vielleicht in ein Wirrsal bringen würde. Endlich hatte sie aber doch geantwortet: »Nein, nein! Das war nicht Fritz Neumüller. Der ist tot und begraben. Haben Sie aber Mitleid mit uns und verraten Sie uns nicht!«

Wer waren also die beiden, die sich zu lieben begonnen hatten? Irma und Flavio Campana, die sich geliebt hatten und immer noch lieben. Nicht Fritz Neumüller ist der Überlebende, sondern Flavio Campana, ihr rechtmäßiger Gatte.

Er hatte sein Vaterland Italien, wie von einer unsichtbaren Macht getrieben, verlassen und war in Budapest angekommen. Dort war nach jenem Duett jene starke Liebe zum Ausbruch gekommen, und nach einem Jahr wurde Hochzeit gefeiert. Fritz Neumüller schien von der Gleichgültigkeit, die ihm Irma zeigte, nicht beleidigt, und als der glückliche Liebhaber als berühmter Künstler ihm nicht nur die Liebe, sondern auch den Ruhm streitig machte, war er so liebenswürdig, über sein doppeltes Unglück sogar zu lächeln. O, er verstand es gut, zu heucheln. Ja, er erbot sich sogar, das junge Paar auf seinen Konzertreisen zu begleiten, um mit den beiden in einem etwaigen Trio mitzuwirken und den geschäftlichen Teil zu besorgen, wobei er sich nur mit einem Viertel des Gewinnes begnügte. So bestand die größte Kunst Fritz Neumüllers darin, gleich von allem Anfang an die Freundschaft seines Nebenbuhlers zu gewinnen und den Verdacht Irmas zu entwaffnen. Er blieb ihr gegenüber der alte weitläufige Verwandte, dessen Abstand von ihr die verweigerte Liebe noch vergrößert hatte. Er war immer höflich und stets bereit, jeden Wunsch derjenigen, die er zur Seinigen hatte machen wollen, zu erfüllen. Bloß suchte er ihrem Blick auszuweichen, als wäre es ihm noch immer nicht möglich, sie wunschlos zu betrachten. Irma begriff dies instinktiv und vermied es, Blicke und Worte an ihn zu richten.

Ihre wahre Liebe, die sie mit ganzer Gewalt erfaßt hatte, riet ihr, die Gesellschaft des verschmähten Liebhabers zu meiden, aber eine geheime Macht oder vielleicht richtiger eine gewisse Schwäche und ein falsches Mitleid hielten sie zurück. Und dann hatte sie die Vorgeschichte Fritz Neumüllers nicht einmal ihrem Flavio anvertraut. Weil ihr Flavio das Ideal eines hochherzigen Mannes war, übertrug sie diese Eigenschaft auch auf Fritz. So schwieg sie, und das war ihre Schuld. Bloß ein einziges Mal war sie in Versuchung gekommen, ihrem Gatten alles zu gestehen. Sie fuhren mit der Eisenbahn durch den Böhmerwald. Irma war eingeschlummert, während Flavios Kopf mit seinen krausen Haaren in ihrem Schoße lag, als sie plötzlich die lästige Empfindung eines gierigen Blickes hatte, der sie unverwandt betrachtete. Sie wachte auf. Es war Fritz gewesen, dessen lüsterne Augen auf sie gerichtet gewesen waren, sofort aber anderswo hinschauten, als sich Fritz entdeckt sah.

Irma fühlte ein seltsames Unbehagen, das sich aus Mitleid und Kränkung zusammensetzte. Sie wollte die Augen schließen, aber zwischen den nicht vollständig geschlossenen Augenlidern bemerkte sie die Blicke ihres Reisegenossen, die bald nach den Koffern, bald nach der Flamme, die noch nicht vom grünen Schleier verdunkelt war, bald nach den schwarzen Fichten, an denen der Zug vorbeifuhr, starrten, um dann immer wieder zu ihr zurückzukehren. Diese Blicke, die sie niemals gesucht hatte, schienen ihr in dieser Nacht unheimlich zu glänzen. Es war ihr, als ob er sie nicht mit den schwarzen Pupillen, die sich im Schatten verloren, sondern mit dem Weiß des Auges betrachte.

Flavio war damals aufgewacht, und sofort hatte sich sein Blick mit den leuchtenden Augen des andern gekreuzt, aber dann wandte er sich mit zärtlicher Liebkosung zu Irma, die sich, von Furcht geschüttelt, an ihn drückte.

Bei Sonnenaufgang schaute nicht mehr der Wald zu den Fenstern herein, sondern die weite Ebene, über deren Horizont das blasse Tagesgestirn in die Höhe stieg. Fritz Neumüller war guter Laune aufgewacht und fragte seine Reisegefährten, wie sie geschlafen hätten. Er selbst habe, wie er sagte, ausgezeichnet und ohne irgendeinen bösen Traum geruht. Den ganzen folgenden Tag war er ein liebenswürdiger Genosse gewesen, daß Irma Bedenken trug, ihren Verdacht Flavio zu gestehen. Irgend etwas in ihrer Seele raunte ihr zu: »Du mußt schweigen!« und sie schwieg.

In jener ersten Zeit ihrer Reisen war außer der Drohung jenes gierigen Blickes nichts Beunruhigendes vorgekommen. Doch jedesmal, wenn sie zu dritt im Coupé saßen, fühlte sie im Schlaf jene verliebten Blicke. Bei Tag war Fritz sanft, fast schüchtern, und er wurde erst in jenem Augenblick kühn, in welchem sie ihre Augen schloß. Dann schien er ein anderer zu sein, der ihr befahl: »Schlafe, mein Lieb, das mich nicht gewollt hat! Schlafe und komme aus den Armen des Mannes, die dich umschließen, zu mir, der ich dich liebe mit allen Sinnen.«

Und sie hatte lange widerstanden, wie sie sich wohl erinnerte. Ja, sie glaubte sagen zu können, daß sie sich immer widersetzt habe. Diese Einladung zu schwerer Sünde war immer nur im Schlafe gekommen. Sobald sie aus diesem erwacht war, konnte sie ihm ruhig ins Auge schauen, ohne daß er sie noch beherrschte. Nur in der Nacht, wenn Fritz Neumüller in demselben Coupé schlief, hatte sie das vollkommene Bewußtsein ihres seltsamen Seelenzustandes. Sobald der Tag angebrochen war, wurde sie vollständig Herrin ihrer selbst und fühlte sich in der starken Liebe, die sie mit Flavio vereinte, überglücklich.

Wieso hatte dieser auch nicht den geringsten Verdacht gegen seinen Kunstgenossen schöpfen können? Weil er ihn für einen Freund hielt und von ihm aufrichtig geliebt zu sein glaubte.

So waren drei Jahre vergangen, und in dieser Zeit, die der erwiderten Liebe kurz schien, den unbefriedigten Gefühlen dagegen eine Ewigkeit gedeucht haben mag, ereignete sich nichts, was den Verdacht Flavios hätte wecken können, nichts, was Irma die Kraft geben konnte, ihrem Gatten die Unruhe ihres Herzens zu enthüllen. Aber immer dauerte die langsame Vorbereitung einer Seele an, die eine andere besiegen und besitzen wollte.

Irmas Ehe war kinderlos geblieben, doch sie und Flavio waren damit zufrieden, da ihr unstetes Leben die Erziehung eines Kindes sehr schwer gemacht hätte.

Auf ihren Reisen waren sie auch nach London gekommen und hatten in der Gesellschaft der Stadt sowohl bei den adelsstolzen Lords als auch bei den reichen Industriebaronen Beifall und materielle Erfolge gefunden. Da erkrankte Irma plötzlich, gerade als sie ihren Gatten auf einer Konzertreise durch Belgien hätte begleiten sollen. Flavio Campana hatte sich verpflichtet, in verschiedenen Städten dieses Landes seine Kunst zu zeigen. Von Irma und Fritz Neumüller war in dem Konzertvertrage nicht die Rede.

Die Krankheit Irmas war etwas sonderbar und ließ anfangs an eine beginnende Mutterschaft denken. Aber der Arzt war anderer Ansicht, verordnete Bitterstoffe, geistige und körperliche Ruhe und kalte Waschungen.

Am Vorabend der Abreise, als sich Flavio darein gefügt hatte, ohne Irma, nur von Fritz begleitet, die Tournee zu unternehmen, und seine Frau für einen langen Monat der Pflege des Arztes und einer Gesellschaftsdame zu überlassen, erkrankte plötzlich auch Fritz. Am Morgen faßte ihn ein heftiges Fieber, und Flavio sah das sonst so lebhafte Auge matt geworden, während das Gesicht des Patienten einen gelben Ton angenommen hatte. Flavio machte sich Gedanken darüber, obgleich der Arzt ihm versichert hatte, es handle sich um nichts Bedeutendes und sein Freund werde in wenigen Tagen nach Brüssel reisen können, um ihn dort zu erreichen. So sah sich Flavio gezwungen, zum ersten Male allein zu reisen und verließ London mit der dem Künstler bekannten Unruhe, der sein ganzes Ich der Kunst, dieser schönen Tyrannin, gibt.

In dem Augenblick, als er die Schwelle seines Glückes verließ, kehrte Flavio noch einmal zurück, um seine Frau zu küssen, und wollte schon dem Impresario telegraphieren, daß er auf das Engagement verzichte und ihm auch noch den Schaden vergüten wolle. Aber Irma und Flavio waren nicht reich genug, um dies tun zu können. Sie hatten in London viel ausgegeben, wo jeder Atemzug in dieser von Kohlenrauch beschmutzten Luft viel Geld kostet. Er konnte also beim besten Willen auf die Konzertreise nicht verzichten. So mußte er sich darein finden und abreisen. Wie traurig ist es manchmal um die Kunst bestellt!

»Versprich mir, bald nachzukommen!«

Diese wenigen Worte bewegten die arme Kranke ganz gewaltig. Sie sagte aber nichts. Kaum war ihr Gatte abgereist, schrieb sie ihm einen Brief, der ihn in Brüssel erreichen mußte, um ihm zu sagen, wie lieb sie ihn habe, und ihm zu versprechen, sie werde ihm nachkommen, sobald sie sich kräftig genug fühlte. Sie sprach nichts von Fritz Neumüller, es war ja selbstverständlich, daß sie ihn veranlassen würde, abzureisen, sobald er genesen sei. Anderenfalls war sie entschlossen, die Reise allein zu machen, denn um nichts in der Welt hätte sie mit Fritz reisen wollen.

Fritz Neumüller genas sehr bald. Am nächsten Tage war das Fieber schon schwächer geworden, das Kopfweh verschwunden und die gute Laune zurückgekehrt. Sogar die Farbe des Gesichtes war wieder normal geworden. Er besuchte die Kranke, die sich auch besser befand und gezwungen war, ihn zu empfangen. Sie wollte aber, daß das Stubenmädchen während seines Besuches im Zimmer bleibe. Dies war aber nicht möglich, da die Klingel plötzlich läutete und das Stubenmädchen diesem Rufe folgen mußte. So blieb sie allein mit Fritz, der tat, als wollte er den Besuch beenden, und sie war darüber ganz verzweifelt. Was nachher geschah, war ihr nicht in Erinnerung geblieben. Vielleicht war das Stubenmädchen an ihr Bett zurückgekehrt und dann in das Nachbarzimmer gegangen. Nachdem die Tür des Vorsaales, die in ihr Zimmer führte, geschlossen war, konnte sich Irma dem Schlafe hingeben. Es war ein langer, von grausamen Träumen gequälter Schlaf. Beim Erwachen rief sie das Stubenmädchen, das noch schlief. Mit Mühe weckte sie Justina, die kaum einen Augenblick nachher wieder in tiefen Schlaf verfiel. Und es stieg in ihr eine fürchterliche Vermutung auf, daß ein Mann – und es konnte nur Fritz sein – sie mißbraucht habe. Sie erhob sich aus dem Bette, um die Bestätigung ihres Verdachtes zu suchen, um in ihrem Gedächtnis die Einzelheiten des bösen Traumes zu erforschen. Die Eingangstür war noch immer geschlossen. Fritz kam, um sich nach dem Befinden der Kranken zu erkundigen. Sie wollte ihn zurückweisen, empfing aber doch seinen Besuch. Über ihr Antlitz ergoß sich die Röte der Scham, weil ihr ihre Vermutung immer sicherer wurde und weil sie dem Blicke jenes Mannes, der sie auch jetzt noch mit den Augen in Besitz nahm, nicht widerstehen konnte. Sicherlich war sie im Schlafe der Nacht gefügsam oder zitternd, wie er es gewollt hatte, die Seine geworden. Sie erinnerte sich jetzt sehr gut daran.

Aber Fritz Neumüller tat nichts, als daß er sie wie ihr Gebieter betrachtete, und er sagte kein Wort zu ihr noch zu Justina, das den geringsten Verdacht hätte wecken können.

»Dir geht es ja heute morgen ganz gut, Schwesterchen,« sagte Fritz Neumüller, »ich schreibe sofort an Flavio, daß wir in wenigen Tagen abreisen können.«

Justina fragte, ob Herr Fritz ihr Bruder sei, und Irma wollte nicht nein sagen und antwortete mit ja. Warum sagte sie eigentlich diese Lüge? Kaum war sie allein, schrieb Irma einen Brief an Flavio, in welchem sie ihn beschwor, an ihr Bett zu eilen und sie gegen einen Traum, der sie fürchterlich bedrücke, zu verteidigen. Seitdem er fort sei, fühle sie sich in der Einsamkeit nicht wohl. Ein unbekanntes Schreckbild habe sich ihres Herzens bemächtigt, und sie sehe der Nacht nur mit Schaudern entgegen.

Die Macht, die sie dazu getrieben hatte, diesen Brief zu schreiben, verlor ihre Wirkung, sobald sie das Blatt geschlossen und den teuren Namen auf das Kuvert geschrieben hatte. Andere Betrachtungen drängten ihre Gedanken von dem bisher eingeschlagenen Wege ab. Sie sagte zu sich selbst: »Warum störe ich den Frieden meines geliebten Flavio? Weiß ich denn, ob das, was ich im Schlaf erfahren zu haben glaube, nicht die Ausgeburt krankhafter Träume gewesen ist? Fritz kenne ich doch nicht erst seit gestern, er war mir immer ein guter Freund, hat mich in seinen Armen getragen und später zu seiner Frau machen wollen. Ich hatte ihn nicht gewollt und er hat es mir nicht einmal übelgenommen. Er war immer sanft wie ein Lämmchen, das die Hand leckt, die es soeben geschlagen hat.«

Es könnte ja ganz gut sein, daß ihre Hysterie aus der Liebe zu Flavio und der ungerechten Abneigung gegen Fritz ein Phantasiegebilde erzeugt habe. Aber nein! Allmählich kamen ihr gewisse Worte, die er gesprochen hatte, gewisse Liebkosungen, gegen die sie sich aufgelehnt hatte, und schließlich ihre sklavische Willfährigkeit ins Bewußtsein. Wie war er aber ins Zimmer gekommen? Sicherlich war Justina seine Helfershelferin. Sie schien zwar ein gutes Mädchen, und vielleicht war auch sie in jenen tiefen Schlaf verfallen, aus dem sie sich nur mit großer Mühe hatte aufraffen können. Nein, Justina war nicht mitschuldig. Aber wie war es gekommen? In der Verwirrung, in die sie jene Frage versetzte, auf die nur sie selbst Antwort geben konnte, erinnerte sie sich nicht mehr, wieso sie begonnen hätte, irre zu reden. Es blieb ein Augenblick der Ruhe für diese gequälte Seele, dann fuhr sie in ihren Nachforschungen fort.

»Ja richtig, ich habe so begonnen: Kann ich den Brief an Flavio abschicken? Warum soll ich ihm in Brüssel den Frieden stören und er alles im Stiche lassen, um hierher zurückzukehren? Heute geht es mir bedeutend besser, und ich könnte selbst sofort abreisen. Wohlan, ohne Fritz etwas zu sagen, werde ich heimlich meine Koffer packen, die Rechnung bezahlen und mit dem Wagen zum Bahnhofe oder zum Landungsplatz fahren.«

Einen Augenblick lang ließ sie sich von diesem neuen Phantasiebild fortreißen. Sie dachte noch darüber nach, in welcher Weise sie die Wachsamkeit Fritz' überlisten könne. Anstatt eines Bahnhofs würde sie dem Kutscher ganz einfach aufgeben, die Themse entlang zu fahren und dann irgendwo zu halten, so daß das Ziel ihrer Reise unbekannt bliebe. Aber vielleicht würde dieser Plan, der so einfach erdacht war, in der Ausführung eine Katastrophe herbeiführen. Der Gedanke, ertappt zu werden, und dann Fritz, der sie um den Grund ihrer Flucht fragen würde, nicht antworten zu können, sondern lügen zu müssen, dieser Gedanke schnitt ihr, die so aufrichtig war, daß sie sogar sich selbst immer die Wahrheit sagte, den letzten Weg der Rettung ab.

Wenn sie nicht allein abreisen konnte, hätte sie sich von ihm begleiten lassen müssen, von jenem Mann, der mit jedem seiner Blicke eine Schlinge nach ihrer Seele warf, um sie vollkommen zu fesseln. Und wie dicht würde erst das Netz während einer langen Reise sein! Nein, nein, bevor sie mit ihm allein gereist wäre, zöge sie es vor, in London zu bleiben, in ihrem Zimmer eingeschlossen, durch einen gegen die Tür gestellten Sessel vor Überraschungen geschützt. Justina würde sie unterstützen. Doch nein, sie könnte ja seine Mitschuldige oder vielleicht gar seine Sklavin sein. Es schien ihr richtiger, Justina zu sagen, sie befände sich besser und benötige ihrer nicht. Im Bedarfsfalle würde sie läuten.

Noch einmal faßte ihren Geist jene seltsame Verwirrung, die ihr den Frieden raubte. Dann fuhr sie fort, ihren Gedanken nachzuhängen.

»Dieser Brief wäre eine schlimme Botschaft. Jeden Tag sollte eine Frau ihrem Gatten die Liebkosungen freundlicher Gedanken bringen. Dieser Brief wäre aber das Gegenteil. Und was für Erklärungen könnten ihm gegeben werden, wenn er mit schweren materiellen Opfern zurückkehrte, dem traurigen Rufe der Furcht gehorchend? Wenn aber der Verdacht wahr wäre? Nein, nein, es war kein Verdacht. Und wenn er falsch wäre, so würde immer viel Leid entstehen. Flavio würde sich von seinem Freund Fritz losreißen, an den ihn eine vielleicht ungerechte Liebe gebunden hatte, um die hysterische, eifersüchtige Gattin zufriedenzustellen. Und wenn eines Tages in Flavio ein Verdacht auftauchte und er die schreckliche Wahrheit erführe, was würde dann aus beiden werden?«

Irma sah schon im Geiste ein blutiges Duell zwischen den beiden voraus, in welchem einer oder vielleicht beide tot bleiben würden.

Und so blieb der Brief in der Lade ihres Nachtkästchens eingeschlossen, um vielleicht an einem anderen Tage abzugehen oder vielleicht in Stücke gerissen und vom Bord des Schiffes, das sie nach Boulogne oder nach Antwerpen bringen sollte, ins Meer geworfen zu werden. Anstatt dieses Briefes sandte sie einen anderen, der ihre Ergebenheit in das Schicksal ausdrückte und sehnsüchtige Liebe verkündete. An diesem Tage fühlte sie sich ziemlich wohl und konnte einige Stunden außerhalb des Bettes bleiben. Beim Frühstück saß sie sogar wieder auf ihrem gewöhnlichen Platze, während der Stuhl zu ihrer Seite leer blieb, seitdem Flavio nach Brüssel gereist war. Fritz saß ihr zwar gegenüber, hatte aber Mitleid mit ihr und verschonte sie mit seinen gebieterischen Blicken. Er war ziemlich schweigsam und antwortete nur mit wenigen Worten, aß auch nicht viel, trank aber einige Gläser helles Bier.

In einem gewissen Augenblick fand Irma, die sich selbst überlassen geblieben war, den Mut, den Freund ihres Mannes zu fragen: »Wie fühlen Sie sich heute?« Und als Fritz antwortete, daß es ihm ganz gut gehe, fuhr Irma fort: »Wissen Sie, was Sie jetzt tun sollten? Heute noch abreisen, um mit Flavio zusammenzutreffen. In wenigen Tagen werde ich folgen. Meinen Mann habe ich schon hiervon benachrichtigt.«

Fritz verneigte sich, ohne ein Wort zu sprechen. Er schien einverstanden zu sein und daher nichts bemerken zu müssen. Als sie den Saal verließ, in welchem viele Freunde und Bekannte Irmas erschienen waren, um ihr zu ihrer Genesung zu gratulieren, bemerkte Irma, daß sich Fritz von einem Büchergestell ein Fahrplanbuch genommen hatte und es aufmerksam zu Rate zog. Er zeigte also seinen unbedingten Gehorsam.

Als die Arme in ihr Zimmer zurückgekehrt war, waren ihre Gedanken viel freundlicher, und sie glaubte wieder, daß alle ihre Schrecken und das Traumbild der verflossenen Nacht Schöpfungen ihres kranken Gehirns gewesen waren. Wieder legte sie sich die Frage vor, ob sie wahnsinnig oder das Opfer einer fixen Idee sei.

Das Abendessen ließ sich Irma in ihrem Zimmer servieren und dann wartete sie ängstlich auf Fritz, der gewiß kommen würde, um Abschied zu nehmen. Aber als er nicht kam, äußerte sie den Wunsch, ihn zu sehen, und er erschien. Sein Antlitz war blasser als gewöhnlich. Er sagte ihr, daß er die Stunde seiner Abfahrt noch nicht festgesetzt habe, sie aber jedenfalls benachrichtigen würde. Justina, die auf Irmas Geheiß geblieben war, wollte in diesem Augenblick das Zimmer verlassen, Irma bat sie aber, noch zu bleiben, weil sie ihr einen Auftrag geben wolle. Jetzt empfahl sich Fritz, und Irma wußte nicht recht, was sie dem Stubenmädchen sagen sollte. Endlich fand sie folgende Ausflucht: »Meine Liebe, ich will dich heute nacht nicht in deinen Gewohnheiten stören. Da ich mich wohl fühle, werde ich dich sicherlich nicht brauchen, nötigenfalls aber dich rufen.«

Irma wußte, daß das Zimmer der Stubenmädchen in der Nähe war und daß sie dort immer vier Mädchen finden würde. So verließ also Justina das Zimmer, und Irma schloß die Tür ab. Dann untersuchte sie die Schränke des Schlafzimmers, des Salons und des kleinen Gemaches, wo in der vorigen Nacht Justina so tief geschlafen hatte. Diese beiden Zimmer standen durch vier Türen mit den anderen Räumen des Hotels in Verbindung, aber sie waren von innen verriegelt, und ohne die Mithilfe eines Komplizen konnte niemand von außen eindringen.

Als sie allein war, zündete sie eine Kerze an und wollte in ihrem Notizbuch unter dem Datum des 26. März die seltsame nächtliche Erscheinung, die Gewalt, die ihr angetan worden war, beschreiben, sie wollte auch in den tiefen Hintergrund des Verdachtes eindringen und den Namen schreiben, der ihr bis gestern gleichgültig gewesen war, den sie aber heute fürchtete. Doch sie zögerte. War dies ihre Pflicht? Welche Beweise hatte sie dafür? Indizienbeweise konnten doch nicht gelten, und wenn sie das wenige Glück, das ihr im Leben noch lächeln konnte, retten wollte, so mußte sie stumm bleiben und sich lieber die Zunge ausreißen.

Bevor sie zu Bette ging, führte sie ihre Absicht aus, sie rückte einen Stuhl vor die Eingangstür und dann noch einen vor diesen Stuhl und endlich noch einen dritten vor den zweiten. Dann schlief sie ein.

Sie träumte, und es waren ganz merkwürdige Träume. Zuerst beschäftigte sich ihr schlafendes Gemüt mit jenen Furchtgedanken, die sie vor dem Einschlafen gequält hatten. Im Traume sah sie, wie sich Sessel und Bänke zu einer ungeheuren Barrikade auftürmten, um sie gegen einen unbekannten Übeltäter zu schützen. Dann nahm dieser Unbestimmte klare Formen an und hatte das gleiche Antlitz, die langen schwarzen Lockenhaare, den schmächtigen Hals Fritz Neumüllers. Endlich tauchte das verhaßte Gesicht wieder ins Dunkel zurück, und sie fühlte nichts anderes als die angenehme Empfindung der Sicherheit und das Bewußtsein, einer schweren Gefahr entronnen zu sein. Jetzt kamen wieder andere Träume. Flavio erschien ihr, der vielleicht zur selben Stunde in Brüssel an sie dachte oder von ihr träumte.

Plötzlich hörte sie leise rufen: »Irma, Irma, Irma!« Die Stimme war so schwach, als wäre sie nur die Bewegung stummer Lippen. Noch einmal riefen diese Lippen dreimal Irma, und ein drittes Mal wiederholten sie den Namen. Die arme Schlafende fühlte, wie dieser Ruf in ihre Seele drang. Sie sah die Bewegung der dünnen Lippen. Er war es, immer er, Fritz, der Versucher. Dann sagte jene tonlose Stimme dreimal die Worte: »Öffne mir.« Und die Bewegung der dünnen Lippen war immer die gleiche, doch der Akzent wurde immer heftiger, drohender und gebieterischer. Zuletzt schwieg er ein wenig, als die Schlafende zum Bewußtsein gekommen war; sie würde gehorcht haben, wenn dieses Trugbild die Aufforderung noch einmal wiederholt hätte.

»Öffne mir!« erklang jetzt die Stimme in befehlendem Tone. Und Irma, die vor dem Unglück, das ihrem Leben drohte, bebte, stieg aus dem Bett, wachte aber erst völlig auf, als sie mit den bloßen Füßen den kalten Boden berührte. Sie hatte schon einen Sessel weggerückt, um zu gehorchen. Dann schluchzte sie aber laut auf. Da erscholl von draußen dieselbe Stimme, die ihr Schweigen auftrug und dann selbst schwieg. Für diese Nacht hatte die Arme Ruhe.

Als sie in vorgerückter Morgenstunde aufwachte, war alles so geblieben, wie sie es vor dem Schlaf gelassen hatte. Sie hatte also die Kraft besessen, zu widerstehen, und legte sich wieder die Frage vor, ob nicht Justina im Einverständnis mit Fritz sei.

»Hast du Herrn Fritz gesehen?« fragte sie das Stubenmädchen.

»Er ist heute sehr früh ausgegangen, nachdem er sich nach Ihnen erkundigt hatte. Ich antwortete, daß Sie noch nicht geläutet hätten.«

Ach nein, diese Justina war ein großes Kind und einer schlechten Handlung unfähig. Man brauchte ihr nur in die Augen zu schauen, um sich davon zu überzeugen. Eine bewußte Mitschuldige konnte sie nicht sein. Gibt es nicht aber auch unbewußte Mitschuldige? Und hatte es für diesen Fall einen Zweck, sie zu befragen?

Irma fragte das Mädchen nur noch, ob Herr Fritz nichts gesagt, ob er über seine Abreise nichts gesprochen habe, und das Mädchen gab verneinende Antworten. Doch als Irma noch weiter in sie drang, da gestand sie: »Ich weiß es nicht gewiß, glaube aber geträumt zu haben, daß Ihr Bruder mir den Auftrag gegeben hat, etwas zu tun, ich weiß aber nicht mehr was.«

»Und du hast ihm gehorcht?« wollte Irma wissen.

»Lassen Sie mich nachdenken. Vielleicht werde ich mich erinnern.« Sie dachte ein paar Augenblicke lang angestrengt nach, um endlich zu erklären, daß sie sich an gar nichts mehr erinnere.

»Und hast du heute nacht gut geschlafen?« fragte Irma weiter, von dem Wunsche beseelt, sich über ihre eigene Sünde Klarheit zu verschaffen. Doch Justina erwiderte, daß sie sehr gut geschlafen habe und mit ihren Kolleginnen zur gewöhnlichen Stunde erwacht sei.

Wie gewöhnlich ließ sich Fritz Irma melden, die ihm antworten ließ, sie werde gleich hinunterkommen, um die Post zu lesen, und wenn ein Brief von »ihm« angekommen wäre, ihn zu beantworten. So entzog sie sich noch einmal dem Zauber, den Fritz sicherlich auf sie ausübte, sobald sie allein zusammen waren.

So trafen sie sich in dem Schreibsaale des Hotels. Auf die kühne Frage Irmas, warum er noch nicht abgereist sei, antwortete er: »Ich wäre schon abgereist, aber ich habe mich nicht wohl gefühlt, da ich während der Nacht Schmerzen hatte und nicht schlafen konnte.«

Während er diese Worte sprach, suchte er ihrem Blick zu begegnen, um ihn an sich zu fesseln. Lange leistete sie Widerstand, endlich aber ergab sie sich. Jene Augen, in denen eine Träne zitterte, waren besiegt. Fritz' Blick war kalt geworden, ohne auch nur im geringsten die Liebe zu zeigen; er hatte in diesem Augenblick nur etwas Gebieterisches und Böswilliges. Er sprach kein Wort, seine dünnen Lippen bewegten sich nicht einmal. Aber trotzdem hörte sie seine anmaßende und nur anscheinend demütige Stimme ihrer Seele zumurmeln: »Heute nacht werde ich dir befehlen, die Tür zu öffnen, und du wirst es tun, und ich werde in deine Arme stürzen, um mich an dir zu sättigen.«

Er versuchte, als er den Eindruck tiefen Schreckens bemerkte, den seine Gedanken in ihrer Seele erweckt hatten, diesen ein wenig zu mildern, indem er laut sagte: »Frohen Mut, Irma!«

Und tatsächlich beruhigten sie diese Worte.

Am Abend war aber Fritz Neumüller noch immer nicht abgereist. Er blieb in seinem Zimmer, um den Glauben, daß er wirklich krank wäre, zu bekräftigen. Und wer weiß? Vielleicht war er wirklich von einem Leiden, das den einfachen Menschen unbekannt ist, befallen. Dieses Leiden kann der Willen anderer Seelen sein, die sich einer Seele aufdrängen, um sie auf den Weg der Sünde zu führen.

Als die Schatten der Nacht hereinbrachen, versuchte es Irma, zum Gebet ihre Zuflucht zu nehmen. Sie beschwor das Andenken ihrer guten Mutter, jede Versuchung und jeden Schrecken von ihr fernzuhalten. Und als sie mit heißen Tränen ihre Gebete gesprochen hatte, schloß sie sich in derselben Weise wie in der vorhergehenden Nacht ein, und bald überwältigte sie der Schlaf.

In dieser Nacht erschienen ihr keine bösen Gespenster. Sie träumte von Flavio, der sich über sie beugte und sie mit stürmischer Innigkeit umarmte, wie er dies schon lange nicht mehr getan hatte. Die Schattengestalt Fritz' blieb fern und die dünnen Lippen flüsterten nichts. Sie träumte nur immer wieder von Flavio, der ihr heiße Küsse auf den Mund drückte und sie bat, ihm ein Bild von ihr mitzugeben, damit er es immer vor seinen Augen habe, auch wenn sie räumlich weit voneinander getrennt seien. Sie stimmte zu, und Flavio nahm aus dem Erinnerungsbuche eine Photographie und schrieb darauf: »Meine Irma« und ein Datum. Dann verschwand er im Traume, und sie lächelte ihm noch verklärt zu.

Als sie aber erwachte, fand sie sich nicht in ihrem eigenen Bette, vielmehr in jenem, in welchem Justina einige Nächte geschlafen hatte, und es schien ihr, als hätte sie dort, entrüstet und von wahnsinnigem Schrecken erfaßt, Zuflucht gesucht. Sie kehrte in ihr Zimmer zurück und sah dort die Spuren einer großen Unordnung. Die schweren Sessel, die sie hätten verteidigen sollen, waren in die Ecken gestoßen, die Bettdecken und ein Polster auf den Boden gefallen. Die Tür war aber geschlossen geblieben. Jedoch die Photographie, von der sie geträumt hatte, war verschwunden.


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