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Eine Woche später ließ sich der junge Rechtsanwalt Mafi in die Zelle des geständigen Mörders führen, um jene Ermahnungen, die der Gefängnisdirektor von Como an den Angeklagten gerichtet hatte, mit anderen Worten zu wiederholen. Er sagte ihm ungefähr folgendes: »Der Gerichtshof hat nicht die Aufgabe, den Unglücklichen zu verurteilen, der sich vielleicht während der Untersuchung in eine Falle locken ließ. Wenn der Angeklagte gar keine Einwände erhebt oder gar mit offenen Armen die Verurteilung annimmt, so hat das Gericht dennoch die gesetzliche Pflicht, für die Verteidigung des Angeklagten zu sorgen. Sie haben sich geweigert, einen Verteidiger zu wählen, das ist Ihre Schuld. Der Gerichtshof hat einen unberühmten Rechtsanwalt als Verteidiger bestellt, der aber jedenfalls alle Kräfte einsetzen wird, um Ihnen zu helfen. Dieser Verteidiger bin ich, und ich hoffe, daß Sie vor allem Ihr bisheriges System aufgeben und mir alles gestehen werden, ist doch der Verteidiger der Beichtvater des Angeklagten. Wenn Sie aber zu mir kein Vertrauen haben, so ist es noch immer Zeit, einen anderen Rechtsbeistand zu wählen.«
Fritz Neumüller schaute dem jungen Rechtsanwalt in das freundliche Gesicht und hörte ihn mit sanfter Stimme und mit liebenswürdiger Beredsamkeit so viel Gutes versprechen.
In Wirklichkeit waren die Blicke Neumüllers nicht auf den Advokaten gerichtet, sondern schauten in eine weite, weite Ferne.
»Glauben Sie ja nicht, mein lieber Herr Neumüller, daß Sie sich durch das Geständnis des Verbrechens präjudiziert haben. Jeder während der Voruntersuchung begangene Irrtum kann während der öffentlichen Verhandlung gutgemacht werden. Wie wäre es, wenn Sie Ihr Geständnis zurückzögen? Man hat zwar in Ihrer Tasche den auf Fritz Neumüller lautenden Paß gefunden, und die Personenbeschreibung paßt vollkommen auf Sie. Auch der Hotelier von Sondrio und die Führer haben Sie als einen jener Unglücklichen erkannt, die am Morgen des 13. Juni nach dem Monte della Disgrazia aufgebrochen sind. Darum wird es schwer sein, einen Freispruch zu erzielen. Aber wir können eine Herabsetzung des Strafmaßes erreichen. Warum sagen Sie mir gar nichts? Sie werden mich zwingen, Ihr Schweigen als die Folge einer geistigen Störung hinzustellen und eine irrenärztliche Untersuchung Ihres Geisteszustandes zu beantragen. Darum ist es wahrhaftig besser, daß Sie Vernunft annehmen. Also sprechen Sie doch endlich, ich beschwöre Sie!«
Der erst seit kurzem flügge gewordene Rechtsanwalt hatte seine ganze Rede mit so überzeugender, zum Herzen dringender Stimme gesprochen, daß Fritz Neumüller lächeln mußte und ihm in freundlichem Tone antwortete: »Es tut mir leid, Ihren Wunsch nicht erfüllen zu können, aber ich habe getötet und verlange meine Strafe.«
Die Rollen waren wirklich vertauscht: der Angeklagte war von dem besten Willen beseelt, seinem Verteidiger einen Gefallen zu erweisen, mußte sich aber entschuldigen, ihm zu keinem oratorischen Erfolg verhelfen zu können, weil er eben ernste Gründe für sein Verhalten habe. Und der ehrgeizige Advokat wurde von dieser Eröffnung so betroffen, daß er sogar verstummte. Freilich nur einen Augenblick lang, dann taten sich die Schleusen seiner Beredsamkeit mit neuer Kraft auf, und es war ein reines Wunder, daß die Kerkerwände diesem Wortschwall widerstanden und kein Loch bekamen, durch das Rechtsanwalt und Häftling hätten bequem entweichen können.
Fritz Neumüller ließ alle die wohlgemeinten Worte schweigend über sich ergehen und lächelte nur bitter, als der unermüdliche Demosthenes fortfuhr: »Ist es möglich, daß der Gedanke, diesen traurigen Ort bald zu verlassen und nicht hier für das ganze Leben begraben zu sein, für Sie nichts Verlockendes hat? Was für ein Mensch sind Sie, wenn Sie die goldene Freiheit verschmähen? Und wartet dort draußen nicht irgendein teures Wesen auf Sie, eine Mutter, eine Schwester, eine Gattin, eine Freundin, ängstlich besorgt um Ihr Schicksal und nach Ihrer Heimkehr bangend?«
Fritz Neumüller glaubte allen diesen Worten gegenüber die größte Gleichgültigkeit bewiesen zu haben, aber sein Rechtsfreund sagte ihm geradezu, er habe in seinen Augen gelesen, daß sein fortgesetztes Schweigen einer fern weilenden Freundin schweren Kummer bringe. Und der beredte Advokat fuhr nach dieser Äußerung fort, seinen schweigsamen Klienten nach allen Regeln der Kunst zu bearbeiten.
»Ich kann mir ja vorstellen,« meinte er, »daß der Untersuchungsrichter Ihnen den Vorschlag gemacht hat, ihr zu schreiben. Sie haben aber jedenfalls recht getan, darauf nicht einzugehen. Einem Angeklagten kann ja das kleinste Stückchen geschriebenes Papier verhängnisvoll werden. Doch mir können Sie vertrauen. Soll ich etwas an irgendwen schreiben?«
»Ich habe an keine lebende Seele etwas zu schreiben, da ich mich als tot und begraben für alle anderen Menschen betrachte.«
Das war eine Hartnäckigkeit, wie sie der junge Advokat in seiner freilich noch nicht sehr langen Praxis niemals erlebt hatte. Er gab sich aber noch nicht besiegt und erneuerte seinen Angriff.
»Werden Sie mir immer so antworten?« fragte er mit bewegter Stimme, »auch wenn ich Ihnen sage, daß ein Wesen, das Ihnen teuer ist, eine weinende Frau, Sie beschwört, Ihr Schweigen zu brechen und ein Wort zu Ihrer Rechtfertigung zu sprechen?«
Jetzt aber bemächtigte sich Fritz Neumüllers eine tiefe Erregung, jede Faser seines Körpers schien zu zittern, aber trotzdem blieb er stumm. Der Rechtsanwalt mußte an diesem ersten Tage unverrichteter Sache abziehen, hoffte aber auf einen besseren Erfolg bei seinen nächsten Besuchen. Doch umsonst. Jeden Tag verschwendete er vergeblich die ganze Fülle seiner Beredsamkeit. Endlich kündigte er seinem schwierigen Klienten an, daß ihm keine andere Art der Verteidigung übrigbliebe, als ihn für geisteskrank, und zwar als von einer gutmütigen Verrücktheit befallen, zu erklären.
»Wenn die Geschwornen nicht einig werden, so tritt wenigstens keine Zuchthausstrafe ein. Ja, aber auch eine Gefängnishaft ließe sich vielleicht abwenden, und der Aufenthalt in einer Irrenanstalt kann selbst ganz vernünftigen Menschen keinen Schaden bringen. Ich weiß es wohl, mein lieber Neumüller, daß Sie ebensowenig toll sind wie ich und daß Sie nur irgendein Geheimnis verbergen wollen. Sie sind ja in Ihrem guten Recht, dies zu tun, wenn Sie der Richter fragt. Aber um Gottes willen, wenn Ihr Verteidiger mit Ihnen spricht, müssen Sie doch aufrichtig sein. Doch ich nehme es Ihnen nicht übel und werde für Sie mit dem gleichen Eifer arbeiten, als wenn Sie mir Ihr volles Vertrauen geschenkt hätten.«
Am nächsten Tage kehrte er mit einem Psychiater zurück, noch dazu mit einem sehr berühmten, der innen und außen, aber eigentlich mehr außen von einer Wissenschaft beherrscht war, die die Bewunderung der Laien erregte. Er war im Gegensatz zu dem Rechtsanwalt ziemlich wortkarg. Man sah es sofort, daß er seinen Beruf nicht darin erblickte, mit dem Aufwand großer Beredsamkeit seine Beweise zu liefern, vielmehr schien er gewohnt, das, was er für recht erkannt hatte, ruhig und nüchtern zu behaupten, ohne einen Widerspruch zu vertragen. Er war von dem Mord bereits unterrichtet, und als er in die Zelle Fritz Neumüllers getreten war, maßen seine kurzsichtigen, mit Brillen bewaffneten Augen sofort den Schädel des Verbrechers, und obgleich dieser dicht behaart war, erklärte er ihn mit dem geübten Blick des Kenners für mikrozephal. Aber er begnügte sich nicht mit dieser Feststellung, sondern suchte noch nach anderen Merkmalen, die die Abnormität des Individuums beweisen sollten. Die vorstehenden Backenknochen, die niedrige Stirn, die gebogene Nase, die tiefliegenden Augen, die in ihrer Bosheit gleichsam im Hinterhalt verborgen waren, konnte er aber beim besten Willen an Fritz Neumüller nicht konstatieren. Dieser hatte merkwürdigerweise lebhafte Augen, die trotz des Bösen, das sie lange Zeit im eigenen Ich und um sich herum geschaut hatten, schön geblieben waren. Die Nase war gerade, die Stirn hoch, beinahe gewölbt, von den auf die bleichen Wangen niederfallenden Haaren anmutig umrahmt, und die Backenknochen dieses geständigen Verbrechers waren unter der Haut kaum sichtbar. Auch die Kiefer waren keineswegs stark. Es war alles in allem ein schöner Künstlerkopf, der dem untersuchenden Irrenarzt gar keine Anhaltspunkte für eine vorhandene Degeneration gab. Aber so schnell ließ sich der Gelehrte nicht entwaffnen. War es ihm auch nicht möglich gewesen, die Schädelmaße festzustellen und den Verbrecher mit dem elektrischen Algometer zu prüfen, weil dieser es nämlich nicht erlaubte, so versuchte der berühmte Psychiater, aus anderen Merkmalen auf eine krankhafte Veranlagung zu schließen. So notierte er in seinem Büchlein: »Henkelohren, mikrozephal, auffallende Blässe, merkwürdige Schweigsamkeit, stark ausgeprägte Stirnadern, Zuckungen der Augenmuskeln, Anlage zu Geistesstörungen, wahrscheinlich ererbt.«
Der freundliche Rechtsanwalt fürchtete, daß sich Fritz Neumüller aufregen würde, wenn ihn der berühmte Gelehrte wie ein Versuchsobjekt prüfte, und er bemühte sich, seinen Klienten mit dem Hinweis darauf zu beruhigen, daß dies alles nur geschehe, um das Strafmaß zu verringern. Die Psychiatrie müsse die Juristerei ergänzen, um die Geschwornen genügend zu erleuchten.
Aber Fritz Neumüller wollte von den Untersuchungen seines Schädels und seiner Seele absolut nichts wissen; er warf sich, als er den zudringlichen Fragen seines Verteidigers und des Irrenarztes auf keine andere Weise entgehen konnte, auf das Bett und wandte sich gegen die Mauer. So mußten die beiden mit geringen Ergebnissen die Zelle verlassen.
Immerhin wollte der Advokat die Meinung des illustren Gelehrten über seinen Klienten wissen, und dieser antwortete feierlich: »Das Äußere dieses Mannes bietet gar nichts Unregelmäßiges. Der Schädel ist vielleicht etwas kurz, aber der Kopf scheint mir wohlgebildet. Weder vorzeitige Kahlheit noch eine Schädeldeformation läßt sich konstatieren. Die Gesichtszüge sind regelmäßig, und selbst das Henkelohr, das bei einem anderen Individuum auf verbrecherische Neigungen hindeuten würde, ist bei einem Musiker nicht auffallend. Er hat einen freien Blick, ohne auch nur im geringsten zu schielen. Wenn einer die jüngste Vergangenheit dieses Mannes nicht kennt, so kann er ihn für nichts anderes halten als für einen Künstler, der unfähig ist, etwas Böses zu tun. Aber wir, die wir wissen, daß dieser Künstler ein Mörder ist, müssen uns daran erinnern, daß unsere Wissenschaft bei nicht weniger als vierundsechzig Räubern, die alle erdenklichen Schandtaten begangen hatten, ganz regelmäßige Gesichtszüge beobachtet hat.«
Der junge Rechtsanwalt schien über jedes einzelne dieser gewichtigen Worte nachzudenken. Doch der Gelehrte war noch nicht fertig und ergänzte seine Ausführungen in folgender Weise: »Vorläufig können wir nichts mit Sicherheit feststellen. Es bedarf noch weiterer Nachforschungen, um ein vollkommen klares Bild des Falles zu erhalten. Vielleicht könnte es sich um eine krankhafte Mordsucht handeln, die bei schweigsamen, verschlossenen, wenig geselligen Menschen auftritt. Dafür würde auch das freiwillige Geständnis seines Verbrechens sprechen, das Fritz Neumüller vor dem Richter abgelegt hat. Auch der Gefühlsmangel, der sich bei ihm zeigt, indem er keinem seiner Angehörigen zu schreiben wünscht und sogar die Beschuldigung des Diebstahls, gegen die er sich anfangs empört hatte, auf sich sitzen läßt, bestätigt meine Annahme.«
Diese kühne Idee leuchtete dem Rechtsanwalt Masi ein.
»Ausgezeichnet!« rief er aus, »die Zeugenaussagen werden Ihre Diagnose sicherlich bestätigen. Für mich ist es klar, daß Fritz Neumüller, als er seinem Freunde den Zweikampf vorschlug, wußte, was er tat. Wir wissen freilich nicht, warum er uns keine näheren Aufklärungen geben will. Der Revolver des Toten hat sich zwar nicht gefunden, aber die Führer versichern, drei Schüsse deutlich gehört zu haben, während der Angeklagte aus seiner Waffe nur zwei Kugeln abgeschossen hatte. Den ersten Schuß hat jedenfalls Flavio Campana in dem Schrecken, der ihn erfaßt hatte, abgegeben. Er wandte sich zur Flucht, schoß und flüchtete in solcher Hast, daß er dabei den Revolver verlor, der weiß Gott wohin geraten ist. Fritz Neumüller setzte ihm nach, so glaube ich die Szene zu rekonstruieren. Aber es ist keineswegs sicher, daß die Geschworenen mit meinen Augen sehen, während es anderseits ganz gewiß ist, daß der öffentliche Ankläger alles durch schwarze Brillen betrachten und jeden einzelnen Umstand in der schlimmsten Weise deuten wird. Dieses Duell am Fuße eines Gletschers wird der Staatsanwalt als unwahrscheinlich hinstellen oder gar als die Ausgeburt einer teuflischen Schlauheit bezeichnen. Darum, verehrtester Herr Professor, ist Ihre Idee, das Verbrechen einer krankhaften Mordsucht zuzuschreiben, ganz vortrefflich. Sie wird den Angeklagten retten. Ich danke Ihnen in seinem Namen.«