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In der Phantasie des Gefängnisdirektors malte sich das traurige Bild der verlassenen Frau mit allen Reizen rührender Schönheit, als die Phantasiegestalt eines Tages in Fleisch und Blut erschien. Sie hatte sich durch ein Kärtchen, das den Namen »Irma Campana« trug, anmelden lassen, und Herr Felice hatte gerade noch genug Zeit, um den Schreiber zu entfernen, der übrigens keinen Verdacht schöpfte, da es auch schon andere Male vorgekommen war, daß er wegen irgendeines Besuchers, der mit dem Direktor unter vier Augen sprechen wollte, die Kanzlei hatte verlassen müssen.
Der Direktor war sehr aufgeregt, als er dem Kanzleidiener den Auftrag gab, die Dame eintreten zu lassen. Sie war in tiefes Schwarz gekleidet, hochgewachsen und schlank. Ihre ungeheure Aufregung drückte sich in dem Zittern aus, das ihren ganzen Leib leise schüttelte. Ein schwarzer dichter Schleier verhüllte das Antlitz; auf dem Kopf saß ein Hut, der mit gerippter Gaze geputzt war.
Herr Felice war Damen gegenüber stets von einer echt ritterlichen Haltung. Handelte es sich um eine schöne Dame, da erhob sich die Ritterlichkeit sogar zur poetischen Huldigung. Und darüber herrschte wohl kein Zweifel, daß Irma schön war. Ihr Bild, das sich in den Prozeßakten befunden hatte, war der zuverlässigste Beweis hierfür gewesen.
Dieser wurde schon in jenem Augenblick voll bestätigt, in dem die Dame neben Herrn Felice Platz nahm und sein gutes Auge den Schleier durchdringen konnte.
Frau Campana zitterte heftig, bevor sie zu sprechen begann, während der Direktor der ängstlichen Spannung der Besucherin Rechnung trug und gleichfalls schwieg. Dann suchte er mit den folgenden Worten, die er mit weicher, fast demütig klingender Stimme aussprach, der Unglücklichen Vertrauen einzuflößen: »Hier ist für eine Dame ein trauriger Ort. Doch deswegen sollen Sie keine Furcht haben. Sie sind wohl gekommen, weil Sie von mir etwas wissen wollen? Sprechen Sie frei heraus! Ich stehe Ihnen gern zu Diensten!«
Irma blickte auf, und aus ihren Augen leuchtete ein Strahl der Hoffnung. Mit immer noch zitternder Stimme sagte sie: »Hat er Ihnen nicht meinen Namen genannt?«
Der Direktor antwortete mit dem Ausdruck aller seiner Herzensgüte: »Er hat mir sein Leid erzählt, nichts weiter.«
Jetzt konnte Irma ihre Tränen nicht mehr zurückhalten und weinte still in sich hinein, während Herr Felice ihr kaum hörbar Mut zusprach. In diesem Augenblick klopfte ein Wächter an die Tür der Kanzlei, und der Direktor erhob sich, um die unangenehme Störung abzufertigen. Als er wieder an den Schreibtisch zurückkehrte, hatte die Weinende den Schleier gelüftet und trocknete sich mit einem weißen Tüchlein die Tränen. Die himmlische Schönheit dieses Gesichts rührte den empfindsamen Mann so sehr, daß auch er nach seinem Taschentuch suchte, aber er bezwang sich mit dem Aufgebot seiner ganzen Kraft.
Das Antlitz war weiß wie Schnee, der aus den Wolken zur Erde gefallen ist, um das Licht des Tages zu verfinstern, die Haare hatten die Farbe und den Glanz der blonden Ähren, die von der Sonne geliebkost werden. Feurig leuchteten die stolzen Augen, und die Lippen, die jetzt bleich waren und tiefe Traurigkeit verkündeten, mußten sich auch zu einem hellen Lächeln kräuseln können, wenn in das Herz der Armen Freude einziehen sollte.
Herr Felice fürchtete sich davor, eine Frage zu stellen, weil er nicht indiskret sein wollte. Er wartete also, bis Frau Campana selbst ihren Wunsch aussprach und so das heikle Thema des Gespräches begann.
Und sie stellte jene Bitte, die der Direktor befürchtet hatte, nämlich ein paar Sekunden mit ihm, mit Nr. 800, allein zu sein.
Nach einer kurzen Pause, die der unglücklichen Frau eine Ewigkeit schien, fragte der Direktor mißtrauisch, weil er noch immer nicht überzeugt war, daß sein Gefangener wirklich Fritz Neumüller sei: »Sie wollen mit Fritz Neumüller sprechen?«
Statt einer Antwort nickte Irma nur mit dem Kopfe, und der Direktor fuhr fort, durch Fragen der Wahrheit zuzustreben.
»Welches Interesse fesselt Sie noch an den Mörder?«
Da erhob Irma ihr stolzes Haupt und rief lebhaft aus: »Er ist kein Mörder!«
»Er wurde als solcher verurteilt und verbüßt jetzt seine Strafe.«
Eine lange Pause folgte, bis der Direktor das Schweigen brach und, wenn auch mit aller Liebenswürdigkeit, einen schweren Vorwurf erhob: »Der Justiz fehlte eine gewichtige Zeugin, die mit solcher Bestimmtheit, wie Sie es jetzt tun, seine Unschuld bekräftigt hätte.«
Die schöne Frau verstand die Äußerung des Direktors vollkommen, doch sie senkte nicht die Stirn.
»Ich war schwerkrank gewesen. Aber meine Zeugenaussage hätte auch kaum den geringsten Wert gehabt, da ich ja nichts beweisen konnte. Das Schicksal hat sein Opfer gefordert ... O, haben Sie Mitleid mit mir, Herr Direktor!«
Bei jeder anderen Gelegenheit hätte Herr Felice einem solchen Appell sofort Gehör geschenkt und diese Bitte und noch viel mehr erfüllt. Aber jetzt hatte ihn ein fürchterlicher Verdacht erfaßt. Er glaubte alles zu durchschauen und in ein grauenhaftes Gewirr Klarheit zu bringen. Diese Frau hatte ihren Mann mit seinem Freunde betrogen, dessen Mordtat sie mit der Phrase beschönige, das Schicksal habe sein Opfer gefordert. Fritz Neumüller hätte dann die Absicht gehabt, die ehebrecherische Frau zur seinen zu machen, wenn nicht seine Verhaftung das tragische Idyll vereitelt hätte.
Doch nein und abermals nein! Diese Tränen, die aus so wunderbar schönen Augen träufelten, sprachen von ganz anderem Leid. Die Sache mußte doch nicht so sein. Was sollte er nunmehr machen? Der Direktor eines Strafhauses ist, solange kein Erlaß der Gerichtsbehörde etwas anderes vorschreibt, der fast unumschränkte Herrscher seines kleinen Reiches, und so konnte Herr Felice, ohne irgendeinen Paragraphen zu verletzen, einfach befehlen, Nr. 800 hereinzuführen.
Wenn er sich aber wieder vorstellte, was geschehen würde, sobald Fritz Neumüller hier eintrat, wenn er an die Flut von Tränen und Vorwürfe dachte, an den Ausbruch der Verzweiflung, die unausweichlich wären, da erwachten in ihm neue Bedenken.
»Ich kann Nr. 800 in das Sprechzimmer kommen lassen,« sagte er, »und Sie können dann in Gegenwart eines Gefängnisaufsehers durch das Gitter sprechen. Doch ich begreife, daß Sie das nicht wollen.«
Immer wieder senkte sich auf das freundliche Gesicht des Herrn Felice ein dunkler Schleier. Es widerstrebte seiner rechtschaffenen Natur, eine ruchlose Liebe zu begünstigen. Selbst die Schönheit der Ehebrecherin blendete ihn nicht, und er erwiderte in strengem Tone: »Ich kann nichts anderes erlauben, als daß Sie mit Fritz Neumüller im Sprechzimmer und vor Zeugen sprechen.«
»Ich weiß es wohl,« schrie Irma, die Hände ringend, auf, »daß Sie meine Bitte nicht erfüllen können. Ich möchte ihn aber nur sehen, ohne von ihm gesehen zu werden. Nur das eine bitte ich, wenn es möglich ist.«
Dieser Bitte konnte der Direktor kein Nein entgegensetzen.
»Nr. 800 befindet sich gerade im Nebenzimmer. Stellen Sie sich hierher und schauen Sie durch das Schlüsselloch, während ich mit ihm spreche. Sie werden ihn also von vorn sehen. Erschrecken Sie aber nicht: der Aufenthalt im Gefängnis hat ihn ein wenig verändert. Und vor allem verraten Sie weder sich noch mich!«
Gesagt, getan. Er ging in das Nebenzimmer, rief Nr. 800 und ließ ihn ein paar Sekunden mit dem Gesicht gegen die Tür gewandt stehen, um ihn dann wieder zu seinen Büchern zurückzuschicken. Als er aber in die Kanzlei getreten war, erwartete ihn ein Bild des Jammers: Irma war ohnmächtig in einem Stuhl zusammengesunken, Todesblässe bedeckte ihr Antlitz. Herr Felice wollte die Arme aufrichten, was ihm aber nicht gelang. Im Gegenteil, die Ohnmächtige stürzte ihrer ganzen Länge nach mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden hin, und der gute Direktor war in nicht geringer Verlegenheit. Wen sollte er zur Hilfe rufen, einen Sträfling, einen Aufseher?
Eine drückende Angst erfaßte ihn, daß in diesem Augenblick der eben Beobachtete die Szene überraschen könnte. Schon wollte er auf den Knopf der elektrischen Klingel drücken, um den erstbesten Wärter herbeizurufen, als er seinen Entschluß änderte und mit einer sanften, von Mitleid erfüllten Stimme, nachdem er die in das Nebenzimmer führende Tür geöffnet hatte, Nr. 800 herbeirief.
Fritz Neumüller erschien, sah die Unglückliche auf dem Boden hingestreckt, begriff alles, oder richtiger, erriet, was vorgegangen war, und kniete rasch nieder, um zusammen mit dem Direktor den regungslosen Körper der Ohnmächtigen auf das Sofa zu betten. Fritz zitterte am ganzen Leibe, aber er blieb stumm. In ängstlicher Spannung suchten Direktor und Sträfling nach einem Lebenszeichen der wie tot daliegenden Frau. Herr Felix hatte ihren Puls ergriffen, der Sträfling den Halskragen der Armen geöffnet und mit innig warmer Stimme »Irma« gerufen.
Und endlich wachte Irma wieder auf, und ein merkwürdiger Wechsel von Licht und Schatten glitt über die Stirn des Sträflings, der aber die Augen nicht einen Moment lang von Irma abwandte und jetzt seinen menschenfreundlichen Gebieter fragte: »Wie ist sie hierhergekommen? Nach wem hat sie gefragt?«
»Nach Nr. 800.«
»Nach Fritz Neumüller?«
»Nach wem sonst?«
Mit einer Fülle von Worten in einer fremden Sprache, von der Herr Felice nicht das geringste verstand, suchte er sie nunmehr ins Leben zurückzubringen. Es schienen sanfte Vorwürfe und dann wieder feurige Bitten, zarte Worte, wie man sie einem kranken Kinde zuflüstert, und dann wieder ungestüme Beschwörungen, die dem geliebten Weibe galten. Herr Felice hatte vorsichtig beide Türen geschlossen, um die Atmosphäre des Kerkers von diesem traurigen Idyll abzusperren. Es war ihm ganz eigentümlich zumute, daß er, dessen Aufgabe es war, das Verbrechen zu strafen, dem Wiedersehen der beiden Komplizen, deren Anschlag Flavio Campana zum Opfer gefallen war, zusehen müsse.
Irma wurde endlich durch ein warmes Liebeswort ihres Geliebten geweckt, kam zu sich und erkannte wieder den Ort des Unglücks und den verzweifelten Liebhaber, um dessen Hals sie ihre Arme schlang und der ihr Engelsgesicht mit schweigenden Küssen bedeckte.
»Nein, nein, dich allein!« waren die ersten Worte, die sie mit kaum hörbarer Stimme ausrief, um dann in einer fremden Sprache fortzufahren, die vielleicht die ungarische, jedenfalls aber die Sprache der Liebe war. Und Herr Felice mußte jetzt mit beiden Augen weinen, wie sehr er sich auch andererseits des Zufalls freute, der die beiden Liebenden zueinander gebracht hatte. Dabei wunderte er sich darüber, daß er gar keine Entrüstung fühlte, wie es seine Amtspflicht gewesen wäre. Als es ihm endlich deuchte, daß er dem Mitleid genügende Zugeständnisse gemacht habe, rief er den Namen des Gefangenen, der sich mit fast sklavischem Gehorsam sofort erhob und zu dem Direktor, der sich in die Fensternische zurückgezogen hatte, hintrat.
»Wissen Sie, Herr Fritz, daß das, was ich erlaubt habe, beinahe ein Verbrechen ist? Sie haben ja etwas Glück genossen, aber bedenken Sie, was es bedeutet, die Witwe Campanas zu umarmen.«
Doch Irma fiel ihm ins Wort: »Um des Himmels willen! Sagen Sie das nicht! Denn ich bin seine ihm vor Gott angetraute Frau.«
Herr Felice lächelte mitleidig. Die Intervention des Himmels schien angesichts des unleugbaren Umstandes, daß der Gatte der Dame von dem, der sie jetzt küßte, getötet worden war, keineswegs besonders passend.
Aber auch Nr. 800 bestätigte: »Ja, Herr Direktor, Sie allein sollen die Wahrheit erfahren: Ich bin Irmas Gatte. Sie ist keine Witwe, das schwören wir bei dem Himmel, der auf uns herabsieht, bei dem Unglück, das uns getroffen hat. Fragen Sie mich nicht mehr ... ich müßte Ihnen zu viele unnütze Dinge erzählen ... wenn Sie etwas ahnen, so sagen Sie es niemand ... uns kann nicht geholfen werden.«
Einer solchen Behauptung konnte der Direktor nicht mehr mißtrauen.
»Da Sie rechtmäßig verheiratet sind, so geben Sie sich noch einen Kuß ... Aber jetzt müssen Sie von hier weggehen, doch lassen Sie mich an alles denken. Es wird sich alles machen lassen ...«