Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Sie hatten mit Geldzählmaschinen gearbeitet und mit Geldbündelmaschinen, sie hatten Überstunden im Geldzählen gemacht, und es hatte Virtuosen im Geldzählen gegeben, die sich während des Geldzählens unterhalten konnten: Ihre Finger zählten weiter, im Kopf ging ein Nummernwerk und zählte bis hundert – und dabei sagten sie: »Lausig kalt heute, was? – Na ja, habe die ganze Nacht gebummelt, scharfe Sache! Vielleicht friere ich darum so!« Wobei sie unfehlbar richtig gezählt hatten und ihren Pack Millionen- oder Milliardenscheine bündelten. Keine Kasse, keine Stahlkammer hatte diese Geldmengen mehr fassen können, es war große Nachfrage nach Waschkörben gewesen. Waschkörbe erwiesen sich als höchst geeignet für die Aufbewahrung von Geld, und im allgemeinen waren sie auch völlig sicher.
Und dann war es auf einen Schlag mit alledem vorbei. Die Rentenmark war gekommen, die Flut verrann, und wie es ja meistens nach einer Flut ist: Sie hinterließ Schlamm, Zerstörung. Solange noch die hohen Scheine, die vielen Scheine im Umlauf gewesen waren, war es den Leuten, selbst den armen Leuten nicht so recht zum Bewußtsein gekommen, wie arm sie eigentlich waren. Die hohen Zahlen, die Masse der Scheine, das hatte einen Schleier über alles geworfen, es war unmöglich gewesen, klar zu sehen.
Nun aber fing bei den Banken das große Aufräumen an. Konten wurden nachgesehen, Sparbücher geprüft, Aktien gezählt und verglichen – und dann gingen Briefe an die Kunden heraus. »Sie werden gebeten, Ihr wertes Konto bei uns wegen Geringfügigkeit aufzulösen. Ihre Effekten usw. liegen zur Abholung in den Schalterstunden bereit. Mit vorzüglicher Hochachtung ...«
Und es begann der Einmarsch der Geprellten, der Schieflieger, der Enteigneten, der sich betrogen Fühlenden; es kamen die alten Leute, die mit den mühsam erworbenen Papieren ihren Lebensabend hatten sichern wollen, es kamen die Rentiers, die kleinen Sparer, mittlere und hohe Beamte. Es zeigte sich, daß dies Volk nicht gerade das gewesen war, was man geschäftstüchtig nennen kann. Sie hatten keine Devisenspekulationen gemacht, keine Schiebungen – sie hatten einfach gewartet und alles verloren.
Tagelang war die Halle der Bank angefüllt mit den Klagen, den Protesten, dem Weinen, den Verwünschungen der Alten. Die Angestellten redeten gut zu; aber es ist schwer, jemanden, der sich betrogen fühlt, durch Zureden zum stillen Dulden zu bringen. Es ist unmöglich.
»Hören Sie mal«, sagte ein alter Herr etwa und schlug erbittert auf seine schön gedruckten und mit schwungvollen Unterschriften versehenen Aktien. »Das sind hier also Aktien. Für zwanzigtausend Mark Aktien. Und die sind nichts mehr wert?«
»Sie müssen den Dollarstand in Betracht ziehen, Herr Rat. Der Dollar stand zuletzt auf 4 200 Milliarden Papiermark. Diese Aktien sind auch Papiermark. Es kommt also noch nicht einmal ein Pfennig Wert heraus.«
»Aber als ich der Fabrik mein Geld gab, war es Goldgeld. Die Reichsbank wechselte es mir jeden Tag gegen Gold ein.«
»Ja, damals, das war vor dem Kriege, Herr Rat. Wir haben seitdem einen Krieg verloren!«
»Wir ...? Sie vielleicht – ich nicht! Meine Söhne – aber das gehört nicht hierher. Die Fabrik aber, die damals mein Geld bekommen hat, die ist doch noch da, nicht wahr? Ich habe sie mir neulich einmal angesehen, die Schornsteine rauchten.«
»Ja gewiß, Herr Rat ...«
»Die Fabrik ist also nicht zu Papier geworden ...«
»Sie müssen verstehen, Herr Rat, die Entwertung der Mark ...«
»O doch, ja, ich verstehe vollkommen. Es ist wie bei meinen Kriegsanleihen. Es ist wie bei: ›Der Dank des Vaterlandes ist euch gewiß ...‹«
»Wir haben den Krieg ...«
»Ausgezeichnet – und lassen die anderen dafür bezahlen! Ich danke! Guten Tag, mich sieht eine Bank nicht wieder!«
Er ging dahin; der unselige Angestellte, dessen zwanzigster empörter Kunde das an diesem Tage war, sah ihm verzweifelt nach ...
Aber schließlich war auch das vorüber. Der Kehraus war vorbei, das große Reinemachen war beendet, nun konnten die neuen Gäste kommen. Nur – sie kamen nicht! Es war alles für sie bereit – man würde ihre Spargelder den Zeiten entsprechend hoch verzinsen. Die neuen Aktienausgaben der Werke versprachen die schönsten Gewinnaussichten – aber sie kamen nicht. Sie wollten nicht Zinsen, noch Gewinn. Sie hatten kein Vertrauen mehr – sie blieben aus.
Alsobald verbreitete sich die Redensart von der ungeheuerlichen Aufblähung des Apparats. Die Inflation war eine Aufblähung des Geldmarkts gewesen (ein sehr schöner, ja, ein richtiger Vergleich für eine übelriechende Sache), die Banken hatten sich mit aufgebläht – nun wurde abgebaut! (Dieser Vergleich war nicht ganz so gut. Abbauen kannte man früher weniger, dafür sagte man Einreißen. Abbauen aber klang besser. Jede Zeit hat die Redensarten und Fachausdrücke, die sie verdient.) Also auf zum Abbau!
Unvermeidlich kam der Tag, an dem Heinz Hackendahl zum Personalchef gebeten wurde. Das Vorzimmer des Personalchefs war dicht gefüllt, alle drei Minuten ging die Tür zu seinem Büro auf, und die Stimme der Sekretärin flötete: »Der nächste Herr bitte!«
Es wurde gewissermaßen im Akkord abgebaut.
Natürlich wußten die Versammelten, was ihnen bevorstand. Aber in den meisten Fällen nahmen sie es nicht tragisch. Bisher hatte es immer Arbeit gegeben, wirkliche Arbeitslosigkeit kannte fast noch niemand.
»Ich hatte den Laden hier längst über ...«
»So schnuppe! Ich kann jeden Tag als Auslandskorrespondent ...«
»Die werden sehen, wie sie ohne mich zurechtkommen!«
»Bitte, der nächste!«
Als Heinz Hackendahl aber eintrat in das Büro des Personalchefs, sah er etwas anderes: einen älteren Angestellten, einen glatzköpfigen Mann, dem der Personalchef ein Glas Wasser einschenkte.
»Beruhigen Sie sich doch! Herr Tümmel! Sie bei Ihren Fähigkeiten, morgen haben Sie wieder eine Stellung ...«
»Was soll ich tun? Was soll ich nur tun? Keine Bank stellt so alte Leute ein! Die Angestelltenversicherung ist auch entwertet ...«
»Bitte, bitte, Herr Tümmel, beruhigen Sie sich, bitte, achtzig Herren warten noch draußen! Wenn ich mich bei jedem so lange ...«
»Fünfunddreißig Jahre habe ich hier gearbeitet, und nun setzen Sie mich auf die Straße!«
»Aber wer redet denn von Straße!? Herr Tümmel – tüchtig wie Sie! Und wir ...? Das sind doch nicht wir, das sind doch die schlimmen Zeiten, wir haben diese Zeiten doch nicht gemacht ...«
»Millionen habe ich für die Bank verdient, und jetzt ... Aber das sind die Kapitalisten ...«
»Ich bitte, Herr Tümmel, ich bitte doch sehr! Wir wollen nicht von Politik reden, ich habe wirklich keine Zeit mehr. Bitte, Fräulein, bringen Sie Herrn Tümmel auf sein Zimmer. – Also, Herr Hackendahl, Sie wissen ja, um was es sich handelt ... Gezwungen, einzuschränken ... Bedauern, wertvolle Dienste ... bei günstiger Konjunktur eventuell Neueinstellung ...«
Der Personalchef leierte wie ein Automat. Er leierte an diesem Vormittag schon zum fünfzigsten Male. Nun aber juristisch einwandfrei und exakt: »Kündigung zum ersten Juli. Es wird Ihnen freigestellt, unter sofortiger Erhebung Ihres Gehaltes bis zum dreißigsten Juni schon jetzt Ihren Arbeitsplatz zu verlassen ...«
»Ich kann also schon morgen fortbleiben!«
»Jawohl, natürlich. Sie sehen, wir sind entgegenkommend. Aber solche Herren, solche alten Angestellten, die wollen das nicht einsehen – er sagt immer: fünfunddreißig Jahre Dienst. Aber er hat doch auch fünfunddreißig Jahre sein Gutes von der Bank gehabt. Daran denkt der Mann gar nicht. – Bitte, unterschreiben Sie, daß Sie Ihre Kündigung erhalten haben!«
»Kriegt der Mann denn noch 'ne Stellung?«
»I wo! So ein alter Krauter! Der kann sich doch gar nicht mehr umgewöhnen! Ich habe ihn vor zwei Jahren mal in ein anderes Zimmer setzen wollen, verstehen Sie, nur drei Zimmer weiter, genau dasselbe Zimmer, die gleiche Größe, die gleiche Einrichtung – Gott, hat der Mann einen Spektakel gemacht! Er sagt, er hat Heimweh! Gibt's denn so was: Heimweh nach einem Bürozimmer?! Nee, mit dem Tümmel ist es aus. – Ja, Fräulein Schneider, haben Sie'n expediert? – Also, bitte, der nächste! Auf Wiedersehen, Verzeihung, guten Tag, Herr Hackendahl!«
Heinz ging zu seinem Büro. Er hatte ein volles Vierteljahr Ferien vor sich. Das hatte es noch nie gegeben in seinem Leben! Würde Irma sich freuen! Man konnte verreisen, man hatte ja Geld! Nach Hiddensee? Zu Tutti? Es war herrlich! Was diese Rentenmark doch alles Gutes brachte!
Im Vorübergehen sah er eine offene Bürotür. Da saß, umringt von teilnehmenden Kollegen, Herr Tümmel. Er hatte den Kopf in die Hände gestützt und rief schluchzend immer von neuem: »Nie kriege ich wieder 'ne Stelle! Nie!«
Der arme Kerl, er würde wirklich keine Stellung mehr bekommen. Wie schlimm war es, alt geworden zu sein! Heimweh nach einem Büro! Wie gut war es, noch jung zu sein! Er würde immer Arbeit haben, manchmal mehr, als ihm lieb war!
Er packt auf seinem Büro die Sachen zusammen. Er verabschiedet sich von den Kollegen. Dann geht er zur Kasse und bekommt anstandslos sein Gehalt für drei Monate ausgezahlt. Fünfhundertvierzig Goldmark. Er hat noch nie so viel selbstverdientes Geld bei sich getragen. Das macht ihn unternehmungslustig. Auf dem Heimwege steht er lange vor einer Elektrohandlung, sieht ins Schaufenster, murmelt mit sich, rechnet ...
Schließlich betritt er den Laden. Er verhandelt lange mit dem Verkäufer, seltsame Worte werden laut, die er bisher nur las. Dann erhandelt er grüne Drähte und braune Schnüre, ein Brettchen, auf dem sonderbare Dinge montiert sind, lauter scheußlich teures Zeug ...
Sein Gewissen ist nicht rein, als er den Laden verläßt. Jetzt, da der Kauf geschehen ist, kommen ihm Bedenken: Was wird Irma sagen? Schließlich sind sie nicht so gestellt, daß sie über fünfzig Mark für eine Spielerei ausgeben können ... Es ist keine Spielerei! sagt er in Gedanken bereits vorwurfsvoll zu Irma. Es ist eine ganz große Sache ...
Dann kommt er zu Haus an. Er ist sehr gespannt, was Irma sagen wird, genauer: ein wenig ängstlich. Denn das stürmische Wetter, das ihren Eheantritt begleitete, ist ihnen treu geblieben: Sie streiten viel, freilich ohne Bosheit.
Aber Irma sagt nichts, als er kommt, denn Irma ist nicht da. Wahrscheinlich bei ihrer Mutter ... Er ist ja ein paar Stunden früher als sonst nach Haus gekommen, es ist alles in bester Ordnung, trotzdem es natürlich schöner wäre, wenn er Irma sofort alles hätte erzählen können. Sie brauchte auch nicht ewig bei ihrer Mutter zu sitzen ...
Als sie dann aber ankommt, hat er es gar nicht eilig, mit ihr zu sprechen. Im Gegenteil, er ruft unwillig, als sie die Tür ein wenig laut zumacht: »Leise doch, Irma! Bitte – ich glaube, ich hatte eben was! O Gott, die Uhr tickt viel zu laut – bitte, Irma, steck doch mal den Wecker unters Kissen!«
»Nanu«, sagt sie verblüfft und starrt ihren Gatten an, der da an einem komischen Apparat sitzt, Kopfhörer über den Ohren, und zwei grüne Drahtkreise leise gegeneinander bewegt. »Was ist denn nun kaputt?! Wieso bist du denn schon zu Hause? Es ist doch noch nicht vier ...«
»Radio!« antwortet er geheimnisvoll. »Ich hatte eben schon was ... Ich glaube, es muß Nauen gewesen sein ... oder Paris ... O Gott, Irma, bitte, setz dich hin, lauf nicht so rum, ich höre ja nichts ...!«
Sie starrt ihn an, Zweifel, Besorgnis bewegen sie. »Bist du krank geworden, Heinz?« ruft sie ängstlich. »Bist du darum nicht auf der Bank?«
»Gekündigt!« murmelt er. »Das heißt, erst einmal drei Monate Urlaub. – Ach, Irma, bitte, wenn du dich einen Augenblick ganz ruhig hinsetzen wolltest – ich erzähle dir gleich alles ...«
»Gekündigt ...«, sagt sie und setzt sich wirklich. Starrt ihn an. »Und du ...«
Sie ist ganz hilflos.
»Nicht schlimm!« murmelt er. »O Gott, müssen die grade jetzt ihre verdammte Wasserleitung nebenan laufen lassen! Und ich hatte ... Irma ... da!«
Sein Gesicht strahlt. Vorsichtig löst er die eine Muschel aus dem Kopfhörer. »Bitte, Irma, komm mal! Auf den Zehenspitzen! Halte das ans Ohr, ja? Hörst du es? – Hörst du es ...?! Das ist Musik, merkst du, ich glaube, sie spielen Wagner, es wird aus Nauen kommen, oder vielleicht auch aus England, ich weiß das noch nicht, ich kriege das noch besser raus! – Du hörst es doch auch, nicht? Bitte, Irma, kuck mich nicht so blöd an, Radio, du weißt doch, du hast doch auch davon gelesen, Musik aus dem Äther, sie senden es in Nauen und Paris und London, überall, Radio ...« Er buchstabiert es leise, während er immer weiter horcht, sein Gesicht strahlt ...
»Na natürlich!« sagt sie, viel zu laut. »Ist doch klar, Mensch! Radium – womit sie einen bestrahlen ... Aber sag mir um Gottes willen, Heinz, wieso machst du jetzt hier Radium ...«
»Radio! Radio ist ganz was anderes als Radium!«
»Wieso machst du hier Radio, wo du auf der Bank sein mußt?! Wieso bist du gekündigt? Wieso hast du Urlaub?«
»Da! Nun ist es wieder weg! Kannst du nicht ein bißchen aufpassen? Na, ich kriege es schon wieder ... Also hör zu, Irma. Gekündigt bin ich wirklich, aber erst zum Juli. Und bis dahin brauche ich nicht mehr hinzukommen. Ich habe Urlaub, denke doch, Irma, ein Vierteljahr Urlaub! Und mit vollem Gehalt!« Strahlend schlägt er auf seine Tasche. »Denke doch, Irma, fünfhundertvierzig Eier ... Das heißt«, unterbrach er sich, »ich habe mir den Radioapparat davon gekauft, dreiundfünfzig Mark, eine großartige Sache ...«
»Was?!« sagt sie empört. »Über fünfzig Mark für das Zeug?«
»Du mußt bedenken, es ist Radio! Musik einfach durch Luft und Wände!«
»Quatsch! Hättest du lieber ein anständiges Grammophon gekauft und ein paar Platten. Das Ding knackt ja ewig in den Ohren! – Wagner sagst du? Dabei war es der Walzertraum von Strauß! Oder ist der von Lehár?«
»Es war die ›Tannhäuser‹-Ouvertüre!«
»Ich hab's deutlich gehört! Sie singt: ›Und ich hab sie ja nur auf die Schulter geküßt ...‹«
»Das ist ja überhaupt aus der ›Fledermaus‹ ...«
»Na ja, ich sage doch immerzu Strauß. Kein Gedanke an Wagner! Und warum bist du gekündigt?«
»Arbeitsmangel! – Über hundert Mann haben sie heute gekündigt! Abbau nennen sie das, auch eine neue Erfindung! Und ich sage dir, Irma, da war ein Mann, von der Effektenabteilung, schon älter, der hat so geweint ...! Der denkt, er kriegt nie wieder 'ne Stellung. Na ja, bei dem ist es ja wirklich schwierig, der ist schon alt ...«
»Und du ...?«
»Ich? Ich krieg doch immer 'ne Stellung! Ich bin doch jung. Ich kann doch arbeiten! Wer richtig arbeiten kann, wird immer verlangt! Ach, Irma, mach bloß kein Gesicht! Jetzt fahren wir erst mal zu Tutti ... Und dann ...«
»Und dann?«
»Wird sich alles finden! Irma, mach Essen, aber leise, ich will sehen, daß ich das Dings hier weiter befummle. Das ist was Herrliches – Musik aus der Luft. Marconi, weißt du ... Ach, Mensch, Irma, im Grunde bin ich schrecklich glücklich – Radio und Urlaub!«
»Und keine Stellung!«
»Kriege ich immer!«
»Das stimmt, fleißig bist du. Und auf Hiddensee freue ich mich auch schrecklich! Es wird schon alles werden!«
Die Zeit der valutenstarken Ausländer war vorüber, es gab für Vater Hackendahl keine trinkfröhlichen Amerikaner mehr; seit die Mark fest und das Leben nicht billiger in Deutschland war als in anderen Ländern, seit man nicht mehr Häuserblocks für ein Monatseinkommen und Pelze für ein Trinkgeld kaufen konnte – seitdem verödete Berlin. Das Ausland überließ Deutschland sich selbst. Mochten sie glücklich werden mit ihren ewigen Streitereien zwischen Reich und Ländern, Bayern und Preußen, Reichswehr und Reichswehr. Mochten sie sich weiter zanken über Fürstenabfindung und Flaggenfrage – wenn sie nur zahlten! Dies war – neben der restlosen Entwaffnung – die einzige Frage, die das Ausland noch interessierte.
Wenn aber der eiserne Gustav am frühen Morgen die trübe Kaiserallee hinunterzockelte zum Bahnhof Zoo, so war die einzige Frage, die ihn interessierte, ob es heute eine Fuhre geben würde oder nicht. Es gab Tage, an denen es überhaupt keine Fuhre gab, düstere Tage, schwarze Tage. Wo er den ganzen Tag hinten an der Ankunftseite des Bahnhofs hielt, die Autotaxen kommen und abfahren sah, und kein Gepäckträger rief: »Eine Taxe erster Jüte mit Hufeisen! – Na, Justav, wie is et? Trauste deinem Rappen noch 'ne Landpartie bis zum Knie zu?«
Die Wahrheit zu sagen, auch die Autotaxen hatten flaue Zeiten. Hackendahl sah das ein. Er hatte sich auch darin geändert: Er verachtete Chauffeure nicht mehr, er redete mit ihnen, er gab zu, daß sie ähnliche Menschen waren wie er, mit ähnlichen Sorgen.
»Ihr habt et jut«, sagte er wohl. »Euer Zosse frißt nich, wenn er nich arbeitet!«
»Aber die Steuern, Justav!« seufzten sie. »Bedenke die Steuern! Autosteuer, Gewerbesteuer – ob wir fahren oder nicht ...«
»Jewerbe zahl ick ooch«, sagte Hackendahl.
»Wat denn? Wat denn. Mann?! Deine fünf Piepen! Aber wir ...!«
Nein, es war kein Grund, neidisch zu sein. Wenn man nur selbst eine Fuhre kriegte, die sich lohnte! Aber damit sah es immer fauler aus! Eine Weile ging es noch mit Paketefahren, ja, die Hackendahlsche Droschke erster Klasse war eine Zeitlang eine Konkurrenz der Berliner Paketfahrt. So gegen Abend, kurz ehe sie bei der Post zumachten, ehe die D-Züge nach dem Westen fuhren, kamen die Büroboten.
»Na, Justav, wie is et? Und du faßt doch ooch een bißken an? Für 'ne Molle und 'nen Korn?«
»Mach ick. Tu ick allens! Wenn ihr Brüder bloß nich immer im letzten Momang kommen wolltet! Nu muß allens in einem Karacho jehn!«
»Na, Justav, nu schimpf man nich. Dein Vorwärts schafft es schon, der hat den jewissen Zislaweng! Ab dafür!«
Dann luden sie in irgendeinem Geschäft Pakete auf, die ganze Droschke randvoll, daß der Kontorjüngling nachher neben Gustav auf dem Bock thronen mußte. Paketmassen, die in den letzten zehn Minuten auf der Post angeschleppt wurden, zur Wut der Postbeamten, oder Expreßsendungen. »Wir müssen den D-Zug nach Köln noch schaffen, Justav, oder der Chef setzt mir raus. Jib dem Blücher Saures!«
Das waren noch immer die besten Fuhren für Hackendahl. Diese Kontorburschen waren keine schlechten Fuhrherren, immer vorneweg mit dem Maulwerk, immer, trotz aller eigenen Miseren, bereit, einen Witz zu machen und über einen Witz zu lachen, und gar nicht geizig, was die Fahrgelder anging ...
Es war natürlich unfaßbar lange her, daß Gustav Hackendahl in erstklassiger Aufmachung Geheime Sanitätsräte und Professoren in die Charité gefahren hatte – wenn man heute an so etwas dachte, mußte man einfach lachen. Daß man es einmal so gehabt hatte und sich dabei noch Sorgen gemacht hatte, das war einfach lachhaft!
Und es kamen die Zeiten, da dachte man wieder an diese Paketfuhren zurück als an recht angenehme Zeiten. Der Geier mochte es holen, aber auch mit den Paketfuhren hörte es langsam auf. Manchmal, wenn Gustav Hackendahl jetzt die Straßen entlangfuhr, Fische angeln, wie er das nannte, sah er noch einen seiner alten Bekannten, einen Boten ... Er schob eine Zweiradkarre mit ein paar Paketchen darauf, oder er trug auch seine Last ganz bequem unter dem Arm.
»Na, Erwin, wie klappt der Laden? Dir sieht man ja jar nich mehr! Ihr habt wohl nischt mehr zu fahren?«
»Fahren? Hau bloß ab, Justav. Ick versteh immer fahren! Jawoll, fahren – Schlitten fahren se mit uns! ›Betrieb vakleinern, Unkosten varringern, abbauen‹, krächzt der Chef. Mir hat er ooch zum Ersten jekündicht ...«
Schlechte Nachrichten, traurige Nachrichten – schließlich gar keine Nachrichten mehr! Schließlich traf er sie nicht mehr, der eiserne Gustav, seine Freunde, die Kontorboten, mit ihren messerscharf gebügelten, unglaublich hellen und unglaublich weiten Shimmyhosen, sie waren verschwunden, verweht – als hätte es sie nie gegeben.
Dem alten Gustav war es nun oft, als sei er wirklich uralt, als komme er mit seiner Droschke und seinem Zossen aus Urzeiten her, habe alles erlebt und überdauere alles. Jetzt war es schon manchmal so, daß die Gepäckträger ihm Fremde zuschickten, und er erzählen mußte, wie es vor zwanzig, dreißig Jahren hier ausgesehen hatte und dort, wie sie die Kaiser-Wilhelm-Kirche gebaut hatten, wie der Kurfürstendamm WW genannt wurde, was aber Wilder Westen bedeutete, wie sie noch mit Kremsern eine Tageslandpartie nach Hundekehle machten, wie sein Schimmel mit einem Auto um die Wette lief ...
»Ja«, sagte er dann. »Det war allens anders, allens hat sich vaändert. Bloß ick nich – ick bin nämlich eisern! Darum nennen se mir alle den eisernen Justav!«
Aber er hatte sich eben doch verändert. Er war nicht stehengeblieben, das gab es nicht. Er schwamm auch im Strom seiner Zeit, er war ein Teilchen seines Volkes. Er konnte sich dem nicht entziehen, was sein Volk erlebte, er mußte weiterleben. Immer mit dem Gedanken an Muttern zu Haus, Mutter, die auf ihn wartete, so angstvoll, leider so sehr angstvoll. Wenn er da auf seinem Bock wartend saß, oder eigentlich nicht wartend, mehr vor sich hin dösend, so dachte er oft an Mutter, die auf ihn wartete. Wenn es spät wurde mit ihm, legte sie sich wohl ins Bett, aber sie schlief nie ein, ehe er kam.
Dann hob sie den Kopf vom Kissen und fragte angstvoll, ach, so sehr angstvoll: »Na, Vater?«
»'n Abend, Mutter. Jut zuweje?«
»Ist was, Vater?«
»Nee, heute nich, Mutter. Na laß man, morjen jeht's um so besser!«
»Ach, Vater ...«
Es war so schwer, ihr zu sagen, daß er gar nichts nach Haus brachte. Ohne Mutter, dachte er, hätte es ihm nicht so viel ausgemacht. Er wäre schon mit Brot und Speck und einem Topf Kaffee zufrieden gewesen, wenn nur der Gaul sein Futter hatte ... Aber Mutter war wie ein Kind, sie glaubte, sie müsse gleich verhungern, wenn es nicht einmal am Tage warm zu essen gab.
So hielt er einen Teil seines Geldes zurück, wenn er einmal einen guten Tag gehabt hatte, um ihr am nächsten auch noch etwas geben zu können. So gab er sich Mühe, grübelte über neue Fuhrgelegenheiten nach, wurde nicht bequem, ließ sich nicht gehen. Vielleicht war es sogar sehr gut, daß Mutter mit ihrer ewigen Angst und Stöhnerei da war – es gab so viele Menschen, die jetzt einfach versackten, es lohnte sich für sie nicht mehr. Bloß keine Anstrengung, es half doch alles nichts ...
Der alte Hackendahl aber strengte sich an, er grübelte. Wenn es mit den Reisenden nicht mehr ging, wenn es mit den Paketfuhren nichts mehr war, so mußte es eben mit den Nachtfuhren etwas werden! Irgendwie mußte es werden, irgendwie mußte er für Muttern das Geld heranschaffen!
Nun wurde wieder einmal der Tag mit der Nacht vertauscht. Am späten Abend erst spannte Gustav an, Nacht war es, wenn er in den Westen fuhr. Aber er fuhr nicht mehr zum Zoo, er fuhr die stillen, halbdunklen Straßen des alten Westens ab. Leer hallte der Hufschlag des Pferdes von den grauen, kaum beleuchteten Häusern wider. Es war so still, trostlos still ... Immer im Schritt durch diese Straßen, so langsam, wie der Gaul nur gehen wollte ... Und dabei Ausschau halten ...
Wie die Zeiten sich geändert haben, wie wir uns geändert haben mit den Zeiten! Eisern? Ach was, eisern, ja, im Ertragen, eisern im Durchhalten, eisern im Lebenswillen! Eisern in der Entschlossenheit, Muttern das Geld nach Haus zu bringen, das tägliche, jämmerliche Geld, fünf Mark, wenn es ein guter Tag war, aber auch mit Zwei fuffzig läßt es sich auskommen ...!
Da gehen die Mädchen, sie stehen an den Ecken, vereinzelt, manchmal auch zwei, drei. Es sind nicht die großen Nutten, die auf der Tauentzien und dem Kurfürstendamm herumlaufen, die würden sich auch schönstens für eine Pferdedroschke bedanken ...! Es sind die kleinen Mädchen, bestimmt nicht mehr hübsch, bestimmt nicht mehr frisch, mit Webefehlern, wie man so sagt, die hier auf der Lauer liegen, die Schüchternen abzufangen – die kleinen Mädchen, auf der Jagd nach Angetrunkenen, nach den sehr Betrunkenen, die die Luft gerade wieder so weit ernüchtert hat, daß sie verstehen, was so ein Mädchen von ihnen will, oder nach den ein bißchen Betrunkenen, die von der frischen Luft benommen sind – ja, nach denen wird hier gejagt ...
Und wenn sie dann zur Strecke gebracht sind, dann ist es gut, wenn solch ein Wagen zur Hand ist. Es ist lustig, mal wieder in einer Pferdedroschke zu fahren, gerade in seiner jetzigen Stimmung gefällt es dem Kavalier! Und es ist gut für die Mädchen, wenn der Herr rasch ans Ziel kommt. Betrunkene überlegen sich alles sehr plötzlich, gleich fällt ihnen wieder etwas anderes ein!
Aber der alte Mann auf dem Bock sorgt dafür, daß es schnell geht. Und er kennt alle Absteigequartiere, alle hochherrschaftlichen Pensionen mit Nachtglocken, alle Stundenhotels der Gegend. Er ist auch nicht so wie ein Chauffeur, der immer Angst hat, sein Wagen wird ihm geklaut. Er hilft den Mädchen, klingelt für sie, stützt den Herrn die Treppen hinauf – oh, der alte Droschkenkutscher ist in Ordnung, er kennt Berlin bei Tag und bei Nacht, wie es weint und wie es lacht; er zuckt nicht, er ist eisern ...
»Laß man, Justav!« sagen die Mädchen zu ihm, wenn der Kavalier durchaus die Droschke nicht bezahlen will. Wieso denn?! Er habe keine bestellt, und überhaupt, was er hier eigentlich solle ...? – »Laß man, Justav, ick bring det morjen mit dir in Ordnung ...«
Ja, das sind seine Nachtfuhren, derart ist das Geld, das er Muttern nach Haus bringt! Aber davon sagt er ihr nichts.
Hat er etwa geglaubt, dies bliebe ihm erspart ...? Ihm blieb nichts erspart ... Es gefiel ihm vielleicht nicht, es gefiel ihm ganz bestimmt nicht, betrunkene Kavaliere ins Bett zu schaffen, und in solch ein Bett! Aber wenn er leben wollte, wenn er Mutter Geld bringen wollte, so hatte er keine Wahl. Er hatte nur die Wahl zwischen Leben und Sterben. Das Sterben stand ihm völlig frei, zur Zeit herrschte eine gewisse Sterbefreudigkeit in Berlin, über die es auch eine Statistik gab. Selbstmordstatistik – hauptsächlich waren die ganz jungen und die ganz alten Leute von dieser Neigung erfaßt ...
Aber sterben wollte der eiserne Gustav nun einmal nicht, er wollte vor allem nicht, daß Mutter starb. So mußte er sein Brot nehmen, wo er es fand. Es war kein gutes Brot, es war auch kein sauberes Brot – aber es war Brot.
Nein, er dachte nicht daran, sich zu beklagen, er klagte überhaupt nicht. Er war jetzt Mitte der Sechzig, aber ganz alt war er noch nicht. Wie fast alle Menschen dieser Zeit hatte er eine vage Hoffnung, sie zu überstehen: Einmal mußte ja doch etwas anderes kommen, etwas Besseres. Es war unmöglich, daß es immer nur bergab ging.
Nein, wenn ihn da auf seinen nächtlichen Fahrten durch die grauen Straßen ein Gedanke plagte, so war es der an Eva ... Eva hätte er nicht gerne hier wiedergesehen, so wiedergesehen, er auf dem Bock, sie mit einem Mann im Wagen ... Eva in solch ein Absteigehotel zu fahren, das wäre wirklich für ihn ein Zusammenbruch gewesen, die Tochter und der Vater ... Solange er nur allein um die Art dieser Fuhren wußte, ertrug er es. Er hatte es allein mit sich auszumachen, was er sich zumuten durfte. Aber ein anderer, und gar einer aus der Familie, und nun sogar ausgerechnet sie, die er wegen solcher Dinge aus dem Hause gejagt hatte – unmöglich! Der Gedanke an Eva, der war es, der ihn immer plagte. Wegen Eva hätte er diese Fuhren gern aufgegeben ... Aber da war nun wieder Mutter ...
Er hatte Eva zum letzten Male auf der Anklagebank gesehen. Sie hatte nicht einmal zu ihrem Vater hinübergeschaut. Nur diesen Kerl, schräg vor ihr, hatte sie immerzu angesehen. Ihre Zeit mußte jetzt ungefähr herum sein, aber nein, er wollte sie nicht wiedersehen! Nie!
Und dann kam eine Herbstnacht, eine Oktobernacht. Ein wütender, stoßweiser Ost, wie er selten in Berlin weht, jagte den Regen in schweren, klatschenden Schlägen durch die verödeten Straßen. Hackendahl hatte dem Rappen die Wachstuchdecke übergelegt. Aber es half nichts, der Wind schlug sie immer wieder klatschend gegen die Flanken des Gauls. Alles triefte. Es blieb nichts, als nach Haus zu fahren. Wenn auch ohne Geld. Es kam doch niemand.
Er war schon auf der Heimfahrt, als er von der Tür eines Cafés angerufen wurde: »Heh, Kutscher!«
Der Herr im Gummimantel kam zu ihm gelaufen, froh, endlich eine Fahrgelegenheit gefunden zu haben. »Kutscher, fahren Sie mich ... Das heißt, ich habe da noch 'ne Dame, hat ein bißchen viel geladen, na, wir schaffen das schon ... Wo fahren wir hin? Nicht zu teuer, wissen Sie!«
»In Ordnung. Sechs Eier die Nacht für Sie und die Dame, und Sie brauchen morjens auch nicht gleich raus. Aber machen Se'n bißken schnell, mein Zosse is keen Freischwimmer, der ersauft mir noch!«
Der Herr brachte das Mädchen aus dem Café, setzte es in die Droschke.
»Los! Ab dafür!«
Der Vater fuhr die Tochter, die ihn nicht erkannte, die er nicht erkannte, in das Absteigehotel.
Manches erspart das Leben seinen Menschen eben doch.
Schon drei Tage voraus hatte den alten Hackendahl eines jener Dienstmädchen bestellt, die es eigentlich gar nicht mehr gab, eine Alte mit weißer, gestärkter Latzschürze und Häubchen, mit zwei langen, weißen Bändern bis ins Kreuz: Am Donnerstag, pünktlich um zehn Uhr vormittags, solle er vor dem Hause Neue Ansbacher 17 halten und ihre Herrin, die alte gnädige Frau, in eine Klinik fahren.
»Jeht in Ordnung, Frollein!«
»Aber nicht vergessen! Zehn Uhr!«
»In Ordnung!«
Am nächsten Tage faßte sie ihn schon wieder ab – ob er auch daran denke?
»Der Laden klappt, Frollein. Übermorgen. Zehn Uhr vormittags. Neue Ansbacher 17.«
Mit seinem Gedächtnis war sie zufrieden, aber ob er wirklich vorsichtig fahre? Ob er sich vor den Autos in acht nehme? Die alte Gnädige hasse die Automobile. Sie habe noch nie in einem Automobil gesessen. Seit einundzwanzig Jahren sei sie nicht mehr aus der Wohnung gekommen. Sie sei doch schon dreiundneunzig!
»Ick paß schon uff, Frollein. Ick bin ooch bald siebzig.«
»Und ich bin dreiundsechzig.«
Sie lächelten sich an, sie waren beide sehr stolz, wie weit sie es gebracht hatten.
»Aber mit dreiundneunzig – da sollte se doch nich mehr uff de Straße ... Wo se's doch jar nich mehr jewöhnt is. Det muß ihr doch wirre machen ...«
»Aber sie muß doch in die Klinik zur Operation! Der Herr Geheimrat verlangt es, sie soll sonst nicht wieder gesund werden!«
»Icke, wenn ick so alt wäre, ick ließe nich mehr an mir rumschnippeln, Frollein. Ick ließe allens, wie es is.«
»Aber sie will! Sie will durchaus! Sie will hundertelf Jahre werden – sie sagt, das ist so 'ne schöne Zahl, die hat sie sich schon als junges Mädchen vorgenommen ...«
»Na ja«, meinte Gustav. »Wir Ollen, wir sind noch'n anderet Kaliber als det junge Jemüse heutzutage. Wat wir ausjehalten haben, det halten die im Leben nich aus! Wir sind eisern!«
Und damit fuhr er weiter.
Wurde am nächsten Tage noch einmal erinnert und brachte – »Ick rede jejen meinen eijenen Vorteil« – doch einen Krankenwagen in Vorschlag. »Denn, Frollein, dreiundneunzig und Droschke, det stuckert doch'n bißken, und'n Krankenwagen is doch allens Jummi un Federn ...«
»Aber sie will nicht! Der Herr Geheimrat hat ihr einen Krankenwagen bestellt, zu elf, aber so ist sie, sie fährt heimlich 'ne Stunde früher mit 'ner Droschke ... Sie lacht schon jetzt, wenn sie daran denkt, wie sie den Herrn Geheimrat an der Nase herumführt ...«
»Det muß ja die richtije Nummer sein, Ihre Jnädije ...«
»Und ob! Was sie will, das will sie, und was sie nicht will, das tut sie nicht. Krankenwagen ist Auto, und Auto will sie nicht. ›Auto is Benzin‹, sagt sie, ›und Benzin, wenn man's ansteckt, geht in die Luft. Alle Autos gehn noch mal in die Luft‹, sagt sie ...«
»Na, na«, sagte Hackendahl und wiegte den Kopf, »mir sollte es recht sind, aber ick jloobe nich mehr daran ...«
Und am nächsten Tag fand sie dann wirklich statt, die Fuhre der Dreiundneunzigjährigen, die erste Ausfahrt nach einundzwanzig Jahren ...
Aus dem Portal des Hauses Neue Ansbacher 17 kam ein ungeheurer Lehnstuhl, ein Polsterwerk aus Wölbungen und Buckeln und mit Stützen für die Arme und mit Stützen für den Kopf, bespannt mit einem völlig verschossenen Samt, auf dem Vögel waren: Kolibris und ein großer gelbblauer Ara.
Zwei richtige Ziehleute mit blauen Blusen trugen den Sessel in einem Gurt, und ein dritter Ziehmann ging hinterher und hielt die Lehne ... Und hinter dem dritten Ziehmann ging der Portier und trug Decken und Kissen, und hinter dem Portier ging das alte Dienstmädchen und hatte ein Köfferchen in der Hand – und all diese Leute hatten halb feierliche, halb vergnügte Gesichter ...
In dem Sessel aber saß ein Frauchen, so ein ganz kleines Frauchen, nur noch eine Handvoll Mensch, mit Kinderhändchen und schneeweißen dünnen Haaren. Auf den Haaren lag ein glatt anliegendes Häubchen aus schwarzen Schmelzperlen. Das Gesicht des Frauchens war ganz klein, mit tausend Falten und Fältchen gingen die Lippen in den Mund hinein, aber die Augen sahen noch recht frisch in die Welt.
Jetzt sahen sie Gustav Hackendahl an, diese Augen, und eine ganz helle, hohe Stimme sagte zufrieden: »Ja, das ist noch ein richtiger Berliner Droschkenkutscher. Das hast du gut gemacht, Malvine. – Wie heißen Sie denn, lieber Mann?«
»Gustav Hackendahl«, sagte der alte Hackendahl und grinste über sein ganzes Gesicht. Er kam sich endlich wieder einmal wie ein ganz junger Mensch vor. »Aber die Leute sagen uff mir bloß eiserner Justav.«
»Eiserner Gustav! Hast du das gehört, Malvine? Ja, das ist noch das gute alte Berlin. – Aber füttern Sie Ihr Pferd denn auch gut, lieber Mann? Es sieht so mager aus.«
Dieser Greisin wollte der eiserne Gustav doch lieber nichts von seinen Nahrungssorgen erzählen, sondern er versicherte, der Rappe bekomme alle Tage seine zwölf Pfund Hafer, bloß, er verdaue so schlecht, weil er so schlecht kaue: Er habe nämlich stumpfe Zähne ...
»Ja, die Zähne! Die Zähne! Und die Verdauung – wenn man alt wird. Früher! Ja früher!« Aber die alte Dame besann sich gleich wieder. »Also denn, Malvine, denn gib dem Pferd seinen Zucker ...«
Und siehe, es war alles vorbedacht, Malvine hatte Zucker in der Schürzentasche. »Drei Stück für jetzt, und noch mal drei, wenn du Pferd uns brav gezogen hast.«
Und nun wurde die alte Dame in die Droschke geladen, mit Kissen und Decken fest verankert, und dann stieg Malvine dazu ...
»Los, Kutscher. Aber langsam, denn ich will auch was sehen, und ich kann die alte Raserei überhaupt nicht leiden ...«
Los ging der Rappe, Schritt vor Schritt, und immer wenn ein Auto vorüberglitt, rief die alte Dame: »O pfui!« Und bei jedem Laden sah sie heraus und kramte in ihrer Erinnerung und rief: »Hier hat doch früher ein Zuckerbäcker gewohnt, Sie müssen's doch noch wissen, Kutscher! Dietrich, richtig, Dietrich hieß er.«
Aber sie fuhr mit einem Schrei zurück, denn ein großer, zweistöckiger Autobus donnerte vorüber – und sie fragte erst nach einer Weile ängstlich, ob es denn nicht mehr die netten Pferdeomnibusse gebe? »Gar keine mehr? Nicht einen einzigen mehr?«
Bald verwirrte sie sich, und sie wußte nicht mehr, durch welche Straßen sie fuhren, und sie fragte, ob er denn nicht falsch fahre, hier seien doch früher Anlagen gewesen und Wasser. »Das Wasser kann doch nicht auch weg sein! Ich sehe doch noch die Kinder, wie sie darin plantschten!«
Ach, die Kinder, die die alte Dame plantschend vor Augen hatte, waren wohl schon längst tot, und auch deren Kinder waren wiederum große Menschen geworden und plantschten nicht mehr, sondern hatten Sorgen und ließen sich auch schon in Krankenhäuser fahren. Die schöne Fahrt in der alten Droschke, auf die sich die Greisin so gefreut hatte, war ihr schon nach zehn Minuten zuviel. In ihren Zimmern hatte sie glauben können, das alte Berlin lebe noch. Nun war alles anders geworden, anders die Straßen, die Häuser, die Läden. Andere Menschen liefen herum, ganz andere – und plötzlich kam ihr wohl zum Bewußtsein, wie alt sie war, wie uralt. Daß ihre ganze Welt gestorben und längst vergangen war und daß sie, sie allein noch lebte – schlimm allein.
Da schloß sie die Augen und bat, daß er rascher führe, bat nur um ein Bett ... schnell um ein Bett ... Denn ein Bett wird nicht anders, wie eine Stadt anders wird, es ist überall und zu allen Zeiten dasselbe. So verlangte die Greisin jetzt ihr Bett, und als sie vor der Klinik hielten, konnten ihr die Träger nicht schnell genug mit der Bahre kommen, und der Kutscher und das Pferd und der Zucker waren völlig vergessen. Sie verschwand in der Tür, das leise weinende Mädchen Malvine hinter sich, und lange mußte Gustav Hackendahl warten, bis eine Schwester kam, die Decken und Kissen und Sachen zu holen.
»Wegen des Fahrgeldes sollen Sie auf das Büro zu der Frau Oberin kommen, Kutscher«, sagte die Schwester.
Brummend stieg der alte Hackendahl vom Bock, strängte den Rappen ab und hing ihm den Futtersack vor. Dann ging er auf das Büro, und als sich dort die Frau Oberin von ihrem Ausguck am Fenster umdrehte, da war dieses große, stattliche, sehr energisch aussehende Frauenzimmer seine Tochter Sophie.
»Na, Sophie ...«, sagte er. »Det is ja komisch ... Muß ick 'ne halbtote Frau fahren, um dir mal wieder zu sehen. Wie sich det so jibt zwischen Eltern und Kindern ...«
»Ich habe dich draußen halten gesehen, Vater ...«, sagte sie kühl. »Darum habe ich dich reinrufen lassen. Ich hätte dir das Geld auch rausschicken können. – Was macht Mutter?«
»Ja, so biste, Sophie. So biste immer jewesen. Kühl bis ans Herz hinan ...«
»Ich hab mich nicht gemacht, Vater ...«
»Wir wollen nicht streiten, Vater. Was macht Mutter?«
»Wat soll se machen? In diese Zeiten! Die Hauptsache, det wir satt zu essen haben ...«
»Es geht nicht gut? Nein, ich sehe es an der Droschke und an deinem Pferd. Und an dir sehe ich es auch, Vater ...«
»Det brauchste mir nich zu sagen, ick tu, wat ick kann. Jib mir mein Fahrgeld, vier Mark fuffzig macht et. Et kann mir ja schlecht jehn, darum ha'ick nich nötig, mir von meine eijene Tochter dumm kommen zu lassen. Ick brauche dir nich, aber du hast mir mal jebraucht ...«
Sie sah ihn nachdenklich mit ihren kühlen Augen an.
»Ich habe dich gebraucht, Vater, wie jedes Kind seinen Vater braucht, nicht mehr. – Aber davon wollen wir nicht reden, vergangen ist vergangen ...«
»Det sagst du! Ick seh euch Kinder immer noch, wie ihr klein wart. Aber det wollt ihr nich mehr wissen, ihr wollt immer bloß jroß jewesen sind.«
»Ich weiß noch sehr gut, wie ich klein war, manchmal träume ich davon. Keine guten Träume. Erst seit ich auf eigenen Füßen stehe, bin ich zufriedener geworden. Ganz zufrieden werde ich nie – es ist, als fehlte mir was, Vater.«
»Ick bin nich schlecht zu dir jewesen, Sophie. Ick bin jewesen, wie ick konnte.«
»Ja, und ich, wie ich konnte. Also, Vater«, sagte sie, »ich habe mich jetzt durchgefressen. Ich bin Oberin hier in dieser Klinik und habe einen Anteil daran und verdiene nicht schlecht, und wenn du willst, kann ich etwas tun für euch, für Mutter ...«
»Ick will keen Jeld von dir.«
»Ich würde dir auch keins geben, mit Geld hilft man keinem Menschen. Aber was meinst du, wenn du mit Mutter hierherziehen würdest? Unten ist eine ganz nette kleine Wohnung, und du könntest die Zentralheizung besorgen und den Warmwasserkessel ...«
»Nee, Sophie, ick bin Droschkenkutscher und ick bleibe Droschkenkutscher. Portier werd ick nich uff meine ollen Tage ...«
»Denk doch auch an Mutter ...«
»Wenn ick zufrieden bin, is et Mutter recht. Det bißken Happenpappen hab ick noch immer jeschafft.«
Sie war nicht die Spur gekränkt, sie sah ihn nur nachdenklich an. Er, der Vater, war vielleicht trotzig und verlegen, aber sie, die Tochter, war ganz kühl, kalt ...
Und doch war sie vielleicht nicht völlig kalt. Etwas plagte sie. Es war nicht Liebe, nein, bei weitem nicht, es war etwas wie Pflicht oder Ehre, was sie plagte, wenn sie da den alten Mann vor sich sah, in seinem abgeschabten, fleckigen, vielfach geflickten Kutschermantel, dem bärtigen Gesicht, das wie gegerbt aussah ...
Wenn sie ihn nicht vor Augen hatte, wenn sie nichts von ihm wußte, so mußte es sie nicht kümmern ... Sie konnte sich eine Privatklinik aufbauen, auf der Höhe der Zeit, eine angenehme Arbeitsstätte, ein sicheres Auskommen und vor allem ein Geltungsbereich, eine Welt, in der sie zu befehlen hatte: Pflegern, Schwestern und Kranken, sie, der so lange immer nur befohlen worden war ...
Da stand er nun vor ihr, er, der ihr am meisten, am härtesten, am folgeschwersten befohlen hatte – nein, es war vielleicht doch nicht nur Schuld- und Pflichtgefühl!
Sondern es war in ihr, sie erkannte es, der Wunsch, dem zu befehlen, der ihr befohlen hatte, den von sich abhängig zu wissen, von dem sie abhängig gewesen war. O nein, sie hatte nicht die Absicht, mit ihm herumzukommandieren, ihn die Macht der Tochter spüren zu lassen. So stark war ihre Rachsucht nicht, so kleinlich war sie auch nicht. Sondern es genügte ihr schon das Wissen: Er ist abhängig von mir, er arbeitet für mich – das hätte ihr schon genügt. Nur, er wollte nicht!
Sie hat ihn immer weiter angesehen, während ihr dies halb klar durch den Kopf geht, und dabei hat sie rasch einen anderen Plan gemacht.
Der Vater aber ist unter ihrem Blick ärgerlich geworden, so mag er sich nicht gerne ansehen lassen, zu allerletzt von der eigenen Tochter. »Nu mach man«, sagt er, »und jib mir mein Jeld! Viere fuffzig, ha'ick jesagt ...«
»Natürlich, entschuldige ... ich überlegte nur ...« Sie nimmt aus dem Schreibtisch Geld, gibt es ihm. »Bitte unterschreib die Quittung, ich muß das haben für die Patientin ...«
»Was hat se denn?« fragt der Vater, »'ne uralte Frau. Wird se wieder?«
»Wer? Ach, die du gebracht hast! Ja, ich weiß nicht, ich glaube, es ist Krebs – nein, sie wird nicht wieder. Kaum. Sie hat auch lange genug gelebt, nicht wahr?«
»Hoffentlich sagste das nich ooch mal uff mir, Sophie! Ick bin ooch bald siebzig.«
»Auf dich? Wieso? Ach nein, Vater, du wirst noch lange mitmachen, ich glaube, du wirst uralt. Das eine muß man dir nachsagen, du hast uns eine eiserne Gesundheit mitgegeben. Kerngesund!«
Ein ganz schwaches, ein klägliches Glücksgefühl durchrieselt den alten Mann: die erste kleine Anerkennung, die er von dieser Tochter hört ...
»Nun hör aber mal zu, Vater. Ich habe mir noch was überlegt ...«
Er macht eine abwehrende Bewegung, er will nichts von ihr, aber dann hört er doch zu. Sie setzt ihm auseinander, daß diese Klinik mit ihren achtzig Betten viele kleine Fuhren braucht: Gepäck von Kranken muß geholt und weggeschafft werden, Lebensmittel, Kohlen, Holz sind zu fahren – ständig gibt es etwas zu fahren.
»Rollkutscher wer ick nich!« sagt er hartnäckig. »Ick bleibe Droschkenkutscher. Denn hätt ick lieber Auto fahren jelernt.«
Aber sie gibt nicht nach. Sie wird mit ihren Ärzten reden – »mit meinen Ärzten«, sagt sie –, die Kranken sollen oft an die frische Luft, mit dem Auto ist das nichts Rechtes, entweder Zug oder eingeschlossene Luft. »Man müßte einen kleinen offenen Wagen anschaffen, es lohnte sich schon. Wir kämen auf unsere Kosten. Wir nehmen hier nur gutzahlende Patienten auf. Wir würden ihnen die einzelne Fahrt berechnen – und dir würden wir monatlich eine Pauschale geben. Es wäre wirklich kein Geschenk, Vater.«
»Ick fahr Taxe«, sagt er hartnäckig. »Ick bin nie Lohnkutscher jewesen!«
»Doch, Vater«, sagt sie rasch. »Ich weiß noch, vor dem Kriege hast du auch regelmäßig Kundschaft für einen Monatssatz gefahren.«
»Det war mit der Taxe. Ick hab nie'n Lohnwagen jefahren. Höchstens zu Pfingsten mal'n Kremser.«
Sie ist klug genug, ihn nicht zu drängen. »Nun, du kannst es dir ja überlegen. Es muß ja nicht heute sein. Ich will auch erst mit meinen Ärzten sprechen. Übrigens könntest du nebenbei weiter Droschke fahren – soviel wird es hier auch nicht.«
Er geht, er verspricht, es sich zu überlegen, aber natürlich ist keine Überlegung nötig. Er will keine Geschäfte mit der Tochter haben. Sein Gefühl sagt ihm, daß das nicht gut gehen kann, wenn die Eltern von der Tochter abhängen, wenn die Tochter dem Vater Weisungen zu geben hat.
(Er hat die richtige Witterung: Gerade, was sie lockt, stößt ihn zurück.)
Und dann: Er will überhaupt nicht. Kranke in den Straßen spazierenfahren – ausgeschlossen! Er ist ein Droschkenkutscher, er ist das regelmäßige Klappklapp der Taxuhr gewöhnt, das Ziel, das er zu erreichen hat, das Warten an den Halteplätzen und den langsamen Schwatz mit anderen Kutschern und Chauffeuren ... Er ist der eiserne Gustav – womöglich möchte die ihn noch in eine Livree stecken, imstande ist sie dazu!
Er spricht gar nicht erst mit Mutter von der Sache, aber das hilft ihm nichts. Er hätte es wissen müssen, wenn Sophie etwas will, sitzt sie dahinter. Und gerade dadurch, daß er Mutter die Sache verschwiegen hat, ist sie schon dafür gewonnen.
»Daß du mich nun nicht mal mehr fragst bei so was, Vater!« klagt sie. »Das hätte ich nicht von dir gedacht! Aber natürlich, so'n Mann zerbricht sich nie den Kopf, was die Frau für ihn kochen und wie sie hinkommen soll mit dem Geld! Manchmal gibst du mir drei Tage nichts – und dann hätten wir doch unser Festes!«
Er antwortete nicht, aber Mutter redete weiter, klagte weiter. Wenn sie ihn sah, wenn er nur zwei Mark ablieferte statt fünf, wenn er seine Ruhe haben wollte, immerzu ging das: »Da könnte man nun sein Festes haben, aber er will nicht! Er wird immer dickköpfiger, je älter er wird. Er tut's einfach nicht. Auf mich hat er nie gehört, am liebsten hätte er mir gar nichts von der Sache gesagt ...«
So ging es unaufhörlich, ob sie nun aßen, ob er schlafen wollte ... Er konnte noch zornig werden, o ja, das ging noch, überkochen, losbullern konnte er noch ... Aber was half das? Man kann mit bald siebzig nicht jede Stunde lostoben, nicht einmal jeden Tag. Und Mutter war zäh, sie konnte immerzu klagen; noch wenn sie schlief, ging ihr Atem wie ein anklagendes Ächzen ... Was Festes, was Festes, was Festes schien sie zu schnarchen.
Immerhin dauerte es fast vier Wochen, bis der eiserne Gustav nachgab und zu der Oberin Sophie ging.
»Mutter will ja partuh! Det hättste nich machen solln und zu Muttern jehn, det war 'ne Sache zwischen uns.«
Aber die Oberin war an diesem Morgen sehr beschäftigt. Außerdem war alles schon vorbereitet. Es ärgerte ihn sehr, wie sicher Sophie mit seiner Zusage gerechnet hatte. Er bekam einen Zettel. Da und da einen Halb-Landauer ansehen, dort einen Plattenwagen ... Einen neuen blauen Mantel anmessen lassen. Schuhe ... Es war alles bedacht und so bedacht, daß er keinen Widerspruch erheben konnte ... Sogar der Schneider schien Bescheid zu wissen. »Versteht sich, Herr Hackendahl, etwa wie Ihr alter Mantel – natürlich. Frau Oberin hat mir schon Weisungen gegeben.«
Und dann ging es los mit den Fuhren. Es war ja noch Winter, er konnte nicht einmal revoltieren, daß er keine Patienten zu fahren bekam. Es waren nur Gepäckfuhren, Lebensmittel, gegen Abend fuhr er Abfälle, Asche ...
Als sie ihn das erste Mal am frühen Morgen dreißig gefüllte Uringläser zu einem Laboratorium fahren ließ, verlangte er die Frau Oberin zu sprechen. Aber natürlich war Frau Oberin im Operationssaal – unabkömmlich! Er solle nur schnell machen mit seinen Gläsern (Amseln sagten sie dafür), die Untersuchung sei eilig ...
Also fuhr er. Da er der alte Hackendahl war, tröstete er sich mit dem Gedanken, daß es schließlich schnuppe sei, ob er den Urin seiner Gäste in Glasflaschen oder natürlich aufbewahrt spazierenfahre ...
Es is ja allens janz menschlich, Justav, tröstete er sich.
Manchmal, in den schönen Tagen auf der Insel Hiddensee, wollte den Heinz Hackendahl doch eine Unruhe überkommen, daß er hier in den Tag hinein lebte und fest darauf vertraute: Ich werde schon eine Stellung bekommen. Laßt mich nur erst wieder in Berlin sein!
Etwas wie Angst beschleicht ihn. Er läuft hier herum. Wenn sie zum 1. Juli nach Berlin heimkehren, haben Irma und er noch etwa anderthalb Monate zu leben. Und was dann? Es ist doch was unterwegs! Wird er eine Stellung bekommen? Ich gehe nie stempeln! Wir fressen uns immer durch! Und das Kind ...?
Verdammt noch mal! Es ist doch eine komische Sache! Wenn er die Arbeitslosen, die es jetzt sogar hier auf der Insel gibt, herumstehen sieht, bekommt er doch wahrhaftig Angst, daß er keine Angst hat! Keine Lebensangst. »Bin ich leichtsinnig«, fragt er Tutti und Irma, »daß ich mir gar keine Gedanken wegen einer neuen Stellung mache? Was sollen wir tun, wenn ich keine neue Stellung bekomme?«
»Ach, das gibt es ja nicht!« ruft Tutti, die ihr ganzes Leben gearbeitet hat. »Wer arbeiten will, findet auch Arbeit! Die nichts finden, die wollen bloß nicht.«
Eigentlich denkt Heinz Hackendahl ähnlich, aber er sagt: »Es gibt jetzt zwei Millionen Arbeitslose, die können nicht alle faul sein.«
»Warum denn nicht?« widerspricht Tutti. »Die sind im Krieg und in der Inflation verbummelt! Kuck dir doch die jungen Bengels an, mit der Schiebermütze auf einem Ohr und mit der Zigarette im Maul – die wollen ja gar nicht arbeiten!«
»Also ihr meint nicht, daß ich mir Gedanken machen muß?« fragt er noch einmal. »Es ist nicht leichtsinnig von mir, daß ich hier sitze und nichts für eine neue Stelle tue?«
»I wo!« sagt Tutti wieder. »Verdirb dir bloß die schönen Urlaubstage hier nicht. Du wirst schon eine Stellung kriegen.«
Irma sagt gar nichts, Irma ist jetzt oft still. »Das kommt von meinem Zustand«, hat sie ihm erklärt.
Als sie aber am Abend noch gegen das kleine Blinkfeuer auf der Düne zu gehen, drückt sie plötzlich seinen Arm fest an sich und sagt: »Heinz, bitte nicht erst Ende Juni fahren!«
»Nein?« fragt er. »Hast du doch ein bißchen Angst wegen 'ner Stellung?«
»Quatsch!« sagt sie. »Ich habe seinetwegen Angst. Nein, keine Angst. Aber es soll doch alles vorbereitet sein, wenn es kommt.«
»Logisch«, sagt er. »Fahren wir also Mitte Juni.«
Und schweigend gehen sie weiter.
Logisch, hat er gesagt, aber das war bloß eine Redensart. Er findet es komisch, wie das bei Frauen ist: So recht kann er nie verstehen, worüber Irma nachdenkt, wie sie zu ihren Ergebnissen kommt. Sie ist überzeugt, daß er eine Stellung bekommt, das fühlt er. Sie hat keine Angst wegen des Geldes, nicht im Traum denkt sie an Stempeln! Sie kennt überhaupt keine Lebensangst. Aber früher müssen sie doch fahren, damit das Kleine es ordentlich vorfindet. Das Kleine, das nichts von Ordnung weiß ...
Eine komische Sache. Wenn es so anfängt, ist leicht auszurechnen, daß es so weitergeht: Was für die Eltern ordentlich genug ist, reicht noch lange nicht für das Kleine.
»Vor allem muß ich sehen«, erklärt Irma, »daß ich seine Babyausstattung fertigmache. Es wäre ganz schön, wenn du in deiner neuen Stellung ein bißchen mehr verdientest. Fünfzig Mark brauche ich bestimmt für die Ausstattung – ob du soviel für dein Radio kriegst?«
Sieh da, sieh da: Stempeln und Lebensangst, Rentenpsychose und Babyausstattung, höheres Gehalt und ohne weiteres verkauftes Radio – es kommt von allen Seiten! Und er hat Angst, daß er keine Angst hat ...?! Er hat ja schon Angst, natürlich hat er Angst – was da alles kommen soll Und zwischen sich und dem dunklen Schicksal nichts, eigentlich gar nichts – als den Glauben an sich, so ein Selbstvertrauen, auf berlinisch würde er zu sich sprechen: Die Sache wird schon schiefgehen, Heinz!
Und dann ging alles wundervoll glatt! Schon in Stralsund hatte sich Heinz Berliner Zeitungen gekauft, und während der Zug sie der verelendeten, hungernden Stadt immer näher brachte, studierte er Inserate.
»Das ist was für mich, Irma!« rief er und zeigte auf ein Inserat, durch das vom Bankhaus Hoppe & Cie. jüngere Buchhalter, energisch, gut aussehend, gesucht wurden. Vorzustellen nachmittags von drei bis fünf.
»Was du dir einbildest!« sagte sie natürlich. »Gut aussehend, energisch?!«
»Hoppe & Cie., nie gehört«, überlegte er nachdenklich. »Na, man wird ja sehen ... Allen Dreck nehme ich auch nicht.«
Er war von einer wundervollen Ahnungslosigkeit. Und im Zaubermantel dieser Ahnungslosigkeit betrat er das Banklokal der Firma Hoppe & Cie. in der Krausenstraße. Wenn man einen Bankpalast gewöhnt war, hatte man vielleicht recht, die Nase über dieses verräucherte, schmutzige Lokal zu rümpfen. Wenn man freilich in diesen Tagen arbeitslos war, eine Stellung suchte ...
»Stellung?« fragte der junge Mann hinter der Rampe. »Stellung? Längst alles besetzt. Sie sind wohl von gestern?«
»Ich komme von auswärts!« sagte Heinz, entschlossen, sich nicht imponieren zu lassen. »In den Seebädern haben wir die Berliner Zeitungen einen Tag später.«
»Ach, Sie haben in der See gebadet?« grinste der andere. »Und ick dachte, Sie hätten zu heiß gebadet, weil Sie so angeben.«
Beide lächelten sich vergnügt an.
»Na, was Angabe betrifft, sind Sie auch ganz tüchtig!«
»Muß man, Mensch, muß man! Hier in diesem Laden besonders! Sagen Sie mal, Sie kommen mir so bekannt vor! Sind Sie auch von ...?«
»Natürlich. Versteht sich. Ausfuhrstatistik!«
»Gestatten, Menz! Erich Menz! Effekten!«
»Heinz Hackendahl ...«
»Auch abgebaut so hoch von droben? Ja, hier ist alles besetzt. Schade, ich hätte gerne was für einen alten Kollegen getan.«
»Was macht ihr denn hier?« Heinz sah die fünf Männerchen im Schalterraum an, die ziemlich gelangweilt herumsaßen.
»Machen? Wir tun gar nichts ...«
»Und da stellt ihr noch ein?«
»Nächsten Ersten soll es richtig losgehen. Da ziehen wir um, Friedrichstraße, piekfein! Schade, daß alles besetzt ist. Wir haben schon vorgestern Stücker hundert weggeschickt!« Plötzlich kam Leben in ihn. »Das ist der Olle, der da aus der Tür kommt. Quassel ihn einfach an, vielleicht klappt der Laden ...«
Der Olle, der höchstens dreißig sein konnte, war ein sehr elegant gekleideter, ziemlich verlebt aussehender, semmelblonder, dünner Mann mit Monokel ...
»Herr Doktor«, sprach ihn sein Angestellter Menz an. »Entschuldigen Sie, das ist ein Kollege von mir, Herr Dahlhacke, auch von der Bank. Er ist grade frei geworden, mächtig tüchtig, glänzende Zeugnisse ... Wenn es sich noch machen ließe, Herr Doktor?«
»Was denn machen? Immer soll ich machen. Und ihr macht gar nichts, für mein gutes Geld! Was können Sie denn machen, Herr Dahlhacke?«
Heinz verzichtete erst einmal auf einen Protest gegen seinen neuen Namen. »Ich habe alle bankmäßigen Arbeiten gelernt. Meine Zeugnisse ...«
Er griff in seinen Busen ...
Herr Hoppe winkte ab. »Gebe gar nichts auf Zeugnisse – zeugen können se alle ... Haha!« Er lachte Hackendahl explosiv ins verdutzte Gesicht. »Geistesgegenwart haben Sie nicht viel, Herr Dahlhacke«, sagte er unzufrieden. »Bei mir muß ein junger Mann energisch sein. Er muß auch mal einen Kunden abwimmeln können! Raussetzen muß er ihn können!«
»Das haben wir in den letzten Monaten reichlich bei unserer Bank tun müssen, Herr Doktor.«
»Na also!« sagte Herr Hoppe. »Sind Sie verheiratet? Schön. Ich mag das gerne, wenn meine Leute verheiratet sind. Ich selbst bin Junggeselle. Kinder ...? Sie erwarten? Großartig, habe noch nie'n jungen Mann gehabt, der erwartet! Hahaha!« Wieder ins Gesicht geprustet. »Also denn zum Ersten! Herr Tietz, Herr Dahlhacke ist engagiert zum Ersten, zweihundert Eier Anfang, alle halbe Jahre um fünfzig steigend, bis zum Höchstsatz von zweihundert. Hahaha!«
Plötzlich mürrisch, starrte Herr Hoppe seinen neuen Angestellten an. »Aber 'n anderen Schlips binden Sie gefälligst bei mir um, Dahlhacke. Mit so viel Rot, das geht hier nicht. Wir sind hier neutral ...«
Er verschwand durch die Tür in sein Allerheiligstes.
»Der is wohl ein bißchen ...?« fragte Hackendahl voll Mitleid.
»I wo! Der Junge gibt nur an! Das ist ein ganz schlauer Hund!«
»Aber der ist doch nicht aus dem Bankfach?!«
»Ihre Sorge! Wenn der man blecht! Seien Sie froh – zweihundert Piepen! Und er zahlt netto – keine Abzüge!«
»Na also!« sagte Heinz Hackendahl gedankenvoll.
Es war wirklich ein seltsamer Laden, in den Heinz Hackendahl da geraten war, und blieb es auch, nachdem die Firma ihren Umzug in die höchst vornehmen Räume an der Friedrichstraße gehalten hatte. Die Frage freilich, ob der Inhaber der Firma, Herr Hoppe (& Cie. trat nicht in Erscheinung) verrückt war, entschied Heinz schon nach wenigen Tagen ganz im Sinne des Kollegen Menz: Herr Hoppe dachte nicht daran, verrückt zu sein, Herr Hoppe war ein schlauer Hund, ein helles Aas!
Damit war er freilich der Lösung der Frage, was Herr Hoppe wirklich war, nicht näher gekommen. Noch einmal konnte er negativ antworten: Herr Hoppe war keinesfalls ein Bankfachmann. Um dies zu entdecken, brauchte man aber keinen Scharfsinn. Herr Hoppe machte nicht den geringsten Hehl daraus, daß er keine Ahnung vom Bankwesen hatte.
»Ihr Bankhengste«, pflegte er zu sagen, wenn ihn ein Angestellter wegen einer Buchung bedrängte, »ihr Zahlenwallache! Von meinswejen verbucht das Debet per Saldo ins Kredit, die Hauptsache, der Laden funkt! Hahaha!«
Abschließendes Prusten in irgendein Gesicht.
Wie es schien, hatte Herr Doktor Hoppe (völlig ungewiß, ob er je einen Doktor gemacht hatte, aber auf den Doktortitel legte er Wert!) eine in der Inflation verkrachte kleine Bankfirma erworben und rüstete sich nun, da die Großbanken sorgenvoll nach Kunden ausschauten, für sein Liliputbänkchen seinerseits Kunden zu fischen. Heinz Hackendahl erfuhr, daß kurz vor der Übersiedlung in die Friedrichstraße einige tausend sehr persönlich gehaltene Schreiben versandt worden waren, die den Adressaten dringend rieten, ihre Gelder bei Hoppe & Cie. anzulegen ...
Die weiter laufende Versendung dieser Werbebriefe, das Bestimmen der Empfänger schien eine der wichtigsten Aufgaben des Herrn Hoppe zu sein. Umringt von Dutzenden deutscher Adreßbücher saß er in seinem Allerheiligsten, fern war ihm die Neigung, Scherze zu machen oder Haha zu prusten. Weise Worte sprach er zu seinen Angestellten, während sie die Adreßbücher absuchten:
»Denken Sie immer daran, meine Herren, wir wollen eine jungfräuliche Kundschaft interessieren. Herrschaften, die bisher noch nicht mit Banken zu tun gehabt haben. Leute, die das Vertrauen zu ihren Sparkassen verloren haben, Männer, für die Aktien, Kuxe, Obligationen unbekannte Dinge sind – kurz, den kleinen Mann. Der kleine Mann spart bereit; wieder, eben hat er erst was auf den Deckel gekriegt – und schon spart er wieder! Aber wie? In einem Spartopf, in einem Strumpf. Totes Kapital, von Dieben bedroht – wir wollen es dem Kapitalmarkt zuführen, denn auch der kleine Mann verdient gerne Geld! Wie ...?«
Sie fanden, daß Herr »Doktor« Hoppe eine ziemlich komische Kruke sei. Aber jedenfalls achtete er darauf, daß seine Anregungen auch befolgt wurden ...
»Wer hat hier ein Schreiben an Herrn Regierungsrat von Müller gerichtet? Sie, Dahlhacke?« (Auch nach erfolgter Aufklärung war der Chef bei dieser Namensform geblieben.) »Ich muß Sie doch dringendst ersuchen, meine Wünsche zu beachten. Reden Sie nicht! Ein Regierungsrat, und noch dazu von Müller, der ist im Leben kein kleiner Mann, der Mann kann Aktien haben, er kann sogar in einem Aufsichtsrat sitzen! Besser achtgeben! Ja, wenn es ein Pastor wäre, Pastoren sind immer gut. Gärtnereibesitzer sind auch nicht schlecht«, er wurde sinnender, »Oberlehrer gehen vorzüglich, Hebammen, richtig, Menz, Sie wollten einen Witz machen, aber Hebammen sind einmal sparsam, das kommt durch ihren Beruf, zum andern ... Ob es einen Reichshebammenbund gibt? Mir ist so ... Man müßte sehen, daß man seine Mitgliederliste erwischt. Ich habe schon daran gedacht, einmal alle Hebammen schlagartig zu bearbeiten ... Nein, sehr richtig, Krambach, keine Landwirte, Landwirte sind rausgeworfenes Geld ...«
So ging es zu, wenn diese Werbebriefe versandt wurden. Es war klar, daß Herr Hoppe nur die Kundschaft der kleinen, unerfahrenen Leute wünschte. Das mußte nichts Schlimmes bedeuten. Er legte eben auf den Fang der kleinen Fische Wert, die von den Großbanken verschmäht wurden. Kleinvieh bringt auch Mist ...
Was nun die Werbeschriften selbst anging, so wünschte Herr Hoppe keinerlei interessierte Beschäftigung seiner Angestellten mit ihnen. Diese Schreiben mit ihren schöngedruckten Anlagen kamen fertig aus einer Druckerei, der Werbebrief selbst war mit einer Type täuschend ähnlich einer Schreibmaschinenschrift gedruckt. Daß seine Angestellten diesen Brief, in dessen Kopf sie Adresse und Anrede einzusetzen hatten, lasen, konnte Herr Hoppe nicht hindern, aber sonst ...
»Herr Menz! Herr Menz!!«
»Bitte sehr, Herr Doktor?«
»Darf ich Sie ebenso höflich wie dringend darauf aufmerksam machen, daß Sie sich hier befinden, um Briefe postfertig zu machen, nicht zur Lektüre. Ich bezahle keine abendlichen Überstunden mit fünfzig Prozent Aufschlag, um Leseabende zu veranstalten! Bitte, meine Herren, dies Tausend muß heute nacht noch zur Post!«
Trotz dieser Überwachung sickerte natürlich einiges durch. Herr Doktor Hoppe konnte die Augen nicht überall haben, in einem unbewachten Augenblick klauten seine jungen Leute einfach einen Brief und lasen ihn zu Hause. Das mochte Herr Hoppe auch eingesehen haben, er mochte auch überlegt haben, daß seine Angestellten im Schalterraum der Kundschaft Rede und Antwort stehen mußten, er wurde allmählich gesprächiger.
»Ich hab's euch Jungen ja gleich angesehen«, sagte er überlegen, »ihr seid auf den Rücken gefallen, daß ich der Kundschaft drei Prozent Zinsen im Monat verspreche, ja, unter Umständen sogar vier und fünf Prozent! Da habt ihr gleich gedacht, da muß was faul sein! Habe ich recht, Dahlhacke?«
Heinz Hackendahl wurde verlegen, weil Hoppe gerade ihn herausgegriffen hatte ... Dann sagte er ziemlich ärgerlich: »Wirklich, Herr Doktor, ich verstehe nicht ...«
»Natürlich verstehen Sie nicht, deswegen rede ich doch mit Ihnen, weil Sie nicht verstehen. Aber eigentlich müßten Sie's verstehen. Sie sind doch von einer Großbank, Sie müßten doch wissen, daß da manchmal, und gar nicht selten, ein Geschäft mit unterläuft, das fünfzig, das hundert, das sogar zweihundert Prozent abwirft ...«
»Selten – fast nie!« sagte Heinz Hackendahl.
»Aber es kommt vor. Sehen Sie! Was, es kommt vor, Krambach? Sagen Sie!«
»Doch ja, natürlich, bei den Tausenden von Geschäften ...«
»Es ist aber kein Reingewinn, man muß die vielen Geschäfte dagegen rechnen, die nichts abwerfen oder Verlust bringen«, wandte Heinz Hackendahl ein.
»Natürlich, bei den Großbanken!« sagte Herr Doktor Hoppe verächtlich. »Die machen zehn gute und zehntausend mäßige Geschäfte im Jahr. Darum können sie natürlich auch nur ein oder anderthalb Prozent Zinsen geben! Aber wenn da ein Mann kommt, ein einfacher Doktor Hoppe, und macht nur ein Geschäft, aber ein sehr, sehr gutes – was kann denn der für Zinsen zahlen, he?«
Sie sahen ihn stumm, abwartend, zögernd, mißtrauisch an.
»Die Lüneburger Heide!« sprach wieder Herr Doktor Hoppe. »Wir sind fündig an sieben Stellen der Lüneburger Heide!« Er holte tief Atem, dann sagte er schlicht: »Ich lasse nach Erdöl bohren, in der Lüneburger Heide, wir finden es. Aber wir brauchen Kapital: Konzessionen, Bohrtürme, Leitungen, Raffinerien, Straßen, Bahnen ... Ich bitte den kleine Sparer um das Kapital, ich beteilige ihn großzügig, wie kein Bank. Ich kann das, denn ich spare den enormen Benzinzoll ...«
»Und sonst macht unsere Bank nichts?« fragte Krambach.
»Nichts!« sagte Herr Hoppe entschlossen. » Ein erstklassiges Geschäft – sonst nichts!«
»Wissen Sie«, sagte später, als sie gemeinsam nach Haus gingen, Menz zu Hackendahl, »das kann natürlich sein, wie der Olle sagt, möglich ist es. Aber es kann auch nicht sein. Möglich ist das auch. Aber mir ist aufgefallen: Der Mann redet nie, wie ihm die Schnauze gewachsen ist, und am doofsten hat er geredet, wie er das vom Petroleum gesagt hat ...«
»Ja«, meinte Heinz, »wenn das nun wirklich so ein gutes Geschäft ist mit dem Petroleum, und das kann ja sein, ich habe auch schon was gelesen von Bohrungen in der Lüneburger Heide – dann kann er natürlich überall Geld kriegen, und nicht zu sechsunddreißig bis fünfzig Prozent, wie er jetzt verspricht, sondern zu zehn bis zwanzig Prozent. – Ich weiß nicht, der Doktor Hoppe sieht mir eigentlich nicht aus, als wenn er bloß aus Liebe zum kleinen Mann zwanzig oder dreißig Prozent Zinsen verschenkt ...«
»Richtig, Kollege! Wenn er nur die kleinen Leute bearbeitet und durchaus keinen dabei haben will, der was von Bankgeschäften versteht ...?«
»Dicke Luft, Kollege ...!«
Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander.
»Zweihundert Eier sind kein Katzendreck«, sagte Menz dann gedankenvoll. »Und Stempeln soll verdammt weh tun ...«
Er schwieg. Auch Heinz Hackendahl schwieg.
»Und das ist doch alles noch gar nichts«, fuhr Menz fort. »Mit so was kann man nicht zu Polizei und Staatsanwaltschaft laufen ...«
»Im Gegenteil«, sagte Heinz Hackendahl, »damit kann man sogar eklig reinrasseln: Verleumdung, Geschäftsschädigung ...«
»Eben, Kollege, wir wissen nichts ...«
»Aber wir passen auf!«
»Und wenn ...!«
»Denn!«
»Is jemacht!«
»Trotz zweihundert Eiern!«
»Und stempeln!«
»Versteht sich!«
»Is ja bloß logisch, Mensch!«
»Na denn!«
»Also denn! Bis morjen!«
»Jute Nacht!«
Sie waren jung, beide, Hackendahl wie Menz, wie alle anderen Angestellten von Hoppe & Cie. Vielleicht hatte Herr Doktor Hoppe nicht ohne tieferen Grund nur junge Angestellte engagiert. Sie waren jung, und wie junge Leute hatten sie Freude an einer Arbeit, die gut lief; sie glaubten so gern, wo andere glaubten. Sie erlagen dem Erfolg, dem Glauben, der Suggestion der anderen. Solange alles noch in Vorbereitung gewesen war, solange noch Werbungen verschickt wurden, solange das Geld nur zögernd in die Kasse tropfte, so lange waren sie kritisch, zweifelten, hatten flaue Gefühle ...
Aber es kam die Zeit, da die Leute sich an der Kasse drängten, da keine Werbeschreiben mehr ausgesandt wurden, und der Strom schwoll doch nicht ab. Es kam die Zeit, da Herr Doktor Hoppe nicht mehr für jeden Kunden zu sprechen war, wo die jungen Leute selbst die Kundschaft abzufertigen, aufzuklären hatten, wo sie Zweifel beschwichtigten, rosige Zukunftsaussichten malen mußten ...
Und es ist unvermeidlich, daß etwas hängenbleibt in einem von dem, was man hundertmal wiederholt, was man mit Eifer, mit Überredung vertreten hat. Heinz Hackendahl hatte nun so oft schon die Frage des Benzinzolls erklärt, er hatte so viele Male berichtet, daß man in der Lüneburger Heide an sieben, an zehn, an fünfzehn Stellen fündig geworden sei, er hatte Photos von den Bohrtürmen gezeigt und technische Erläuterungen gegeben – er hatte so lange anderen Leuten ihre Zweifel ausgeredet und sie zum Glauben an Herrn Hoppe bekehrt, bis er sich selbst seine Zweifel ausgeredet, bis er selbst gläubig geworden war ...
Welche Sicherheit wurde aber auch jedem Geldgeber geboten! Jeden Tag konnte jedermann ohne jede Kündigung sein Geld wiederholen – und bekam noch drei Prozent Monatszinsen. Ließ er sein Geld aber über einen Monat stehen so bekam er vier Prozent, über ein halbes Jahr fünf Prozent »Bitte schön, hier Ihr Geld, Ihre Zinsen – wenn Sie einmal wieder wollen, beehren Sie bitte uns!«
»Nie beleidigt sein, meine Herren!« bat Herr Doktor Hoppe. »Kein Mißtrauen krummnehmen. Die Leute vertrauen uns ihre sauren Spargroschen an – sie haben ein Recht auf Mißtrauen. Immer freundlich und entgegenkommend, und in Zweifelsfällen lieber gegen die Bank als gegen den kleinen Mann!«
Es war wirklich erstaunlich, wie sie kamen, wie sie vertrauten, wie sie Geld brachten! Ja, sie vertrauten weder der Regierung noch bedeutenden Wirtschaftsführern, sie mißtrauten den Banken und Sparkassen – aber hier vertrauten sie! Sie standen erst zögernd in der Halle, sie sahen sich die Menschen an, die vor den Schaltern standen und hinter den Schaltern saßen. Sie betrachteten die Stöße Papiergeld, die der Kassierer neben sich aufgebaut hatte. Sie waren gereizt, ärgerlich, mißtrauisch, wenn sie um Auskünfte baten. Aber plötzlich sagten sie: »Na schön, dann werde ich mal hundert Mark einzahlen ...«
Sie kamen mit den kleinsten Beträgen, sie kamen mit Zehnmarkscheinen, mit Fünfmarkstücken, mit Rentengroschen. Nicht die kleinste Einlage durfte zurückgewiesen werden. Darauf hielt Herr Hoppe. Und der kleinste Kunde mußte genauso höflich behandelt werden wie der allergrößte! Es war nicht etwa so, daß Doktor Hoppe sein Allerheiligstes nur für die fetten Kunden verließ. Nein, gerade zu den Arbeitern, die zehn Mark von ihrem Wochenverdienst ablieferten, stellte er sich, redete mit ihnen, prustete ihnen sein Haha ins Gesicht.
Natürlich waren all diese Leute darum so mißtrauisch, weil sie ein schlechtes Gewissen hatten. Es waren die Zeiten, da Banken und Sparkassen ihren Einlegern zehn und auch zwölf Prozent Verzinsung boten – hier aber sollten sie sechsunddreißig, ja, bis zu sechzig Prozent Zinsen im Jahr bekommen! Es konnte nicht mit rechten Dingen zugehen, es konnte nicht stimmen!
Die Gier schlug eine Schlacht in ihnen mit dem Mißtrauen, endlich siegte die Gier, und sie brachten ihr Geld. Aber schon auf dem Heimwege fing das Mißtrauen an, wieder in ihnen zu nagen. Dann saßen sie wohl wach im Bett und grübelten und bedachten, daß sie schon einmal um all ihre Ersparnisse gebracht waren und daß sie sich geschworen hatten, keinem Menschen mehr zu trauen. Und am nächsten Morgen waren sie mit dem frühesten wieder da, sie murmelten Entschuldigungen, sie hätten es sich anders überlegt, oder sie logen, die Frau sei plötzlich krank geworden, und sie brauchten das Geld für eine Operation ...
Und dann bekamen sie ihr Geld zurück, anstandslos, mit den Zinsen für einen Tag, oft nur Pfennigen. Und sie, die ein schlechtes Gewissen hatten, wurden frisch und frei angelächelt. »Aber bitte sehr! Es ist ja Ihr Geld, nicht wahr? Wenn Sie wieder einmal etwas anlegen möchten, bitte sehr!«
Es gab einen Mann in einem grünen Lodenmantel mit strubbligem Haar, der kam jeden zweiten Tag. Sein Kontoführer tobte. Tausend Mark einzahlen – abheben (mit Zinsberechnung). Einzahlen, abheben (mit Zinsberechnung).
»Nun, nun«, sagte Herr Doktor Hoppe beruhigend. »Er wird sich schon geben, Krambach. Und er macht Ihnen das Zinsenrechnen bei der runden Summe eigentlich doch verdammt einfach, haha!«
»Aber er ist heute das elftemal dagewesen«, klagte Krambach. »Ich kann ihn schon nicht mehr sehen! Und vor allen nicht riechen – der Mann muß hauptsächlich von Knoblauch leben, Herr Doktor!«
»Knoblauch soll sehr gesund sein«, meinte Herr Doktor Hoppe. »Fragen Sie ihn doch mal, wogegen er ihn nimmt! So eine Frage macht die Leute gleich zutraulicher.«
Aber der Lodenmantel wurde nicht zutraulicher, im Gegenteil, er wurde noch mißtrauischer. Es kam der Tag, da er am Morgen um neun Uhr seine tausend Mark einzahlte, sie aber am Abend schon wieder abholte – und einen Tag Zinsen beanspruchte.
»Tut uns leid, Herr Lemke«, sagte Krambach bedauernd »Aber Zinsen dieses Mal, nein! Wir bedauern unendlich!«
»Ich habe einen Zinsanspruch!« rief Herr Lemke erregt und roch noch stärker nach Knoblauch. »Ich habe Ihnen mein Geld anvertraut ...«
»Über Nacht müssen Sie es uns schon lassen, Herr Lemke. Vierundzwanzig Stunden muß es schon hierbleiben. Sehen Sie mal, Ihr Geld hat noch nicht bei uns gearbeitet ...«
»Gearbeitet!« Herr Lemke erfüllte die Schalterhalle mit seinem Geschrei, was die Angestellten unbedingt zu vermeiden hatten. »Mein Geld! Für Sie gearbeitet! Ihr sollt für mich arbeiten ...! Ihr habt mir Zinsen versprochen ...! Ich habe euch mein Geld anvertraut!«
»Sind Sie unzufrieden?« fragte Doktor Hoppe sanft den Schäumenden. »Was gibt es, Krambach?«
Krambach setzte erregt den Fall auseinander, erregter schrie Herr Lemke dazwischen.
»Geben Sie dem Herrn die Zinsen«, entschied Herr Hoppe.
»Aber der Einzahlungstag ist der Auszahlungstag!« protestierte Krambach. »Wie soll ich das verbuchen?!«
Herr Doktor Hoppe sah ernst auf Krambachs Brust. Er sah so ernst auf diese Brust, daß Krambach intensiv überlegte, ob er vielleicht einen Schlips mit dem verbotenen Rot trug.
»Wir wollen unsere Kundschaft zufriedenstellen, Herr Krambach«, sprach Herr Hoppe und faßte ordnend an den eigenen Schlips, während Krambach den seinen zurechtrückte. »Belasten Sie die Zinsen von Herrn Lemke meinem Privatkonto. Vertrauen ist ein zartes Pflänzchen ...«
Eine Woche lang erschien Herr Lemke und brachte seine tausend Mark, abends holte er sie wieder, zuzüglich Zinsen. »Das läßt kein anständiger Laden sich gefallen«, sagte Heinz Hackendahl zu Erich Menz. »Das ist Nepp!«
Dann, an einem Morgen, kam Herr Lemke, bleicher und verstrubbelter denn je. Er zahlte mit zitternder, aber entschlossener Hand zehntausend Mark ein. Und hob sie nicht wieder ab. Sondern brachte, als er das nächste Mal erschien, eine dicke, rotbackige Frau mit, die dreitausend Mark einzahlte ...
Aus einem Saulus war ein Paulus geworden, Herr Lemke ein Werber für das Bankgeschäft Hoppe & Cie. Manchmal noch stand er bei seinem Kontoführer, ein schmutziges Zettelchen in der Hand, und ließ sich vorrechnen, wie hoch sein Zinsgewinn schon war, und kontrollierte die Zahl an seinem eigenen Rechenergebnis.
»Wollen Sie Ihr Geld nicht wieder mal abheben?« spottete dann wohl sein alter Feind Krambach. »Bloß daß Sie sehen, es ist noch da.«
Aber Herr Lemke schüttelte den Kopf. »Ihr seid schon in Ordnung«, sagte er fast widerwillig. »Und euer Chef, das ist ein ganz schlaues Aas ...«
Manchmal sprach Heinz mit Irma über seine Bedenken, oft sprach er mit ihr davon.
»Der Laden kann nicht sauber sein, Irma!« klagte er. »Wer so den Kunden nachläuft, bloß um ihre Einlagen zu kriegen, der ist nicht in Ordnung!«
»Deine Sache, Mensch!« rief Irma. »Sei froh, daß du 'ne Stelle hast!«
Denn jetzt hatten auch die jungen Hackendahls ein wenig von ihrem Optimismus verloren. Die Arbeitslosigkeit breitete sich aus wie eine schleichende Pest. Sie raffte ganze Berufsklassen dahin. Irma war nicht mehr so sicher, daß Heinz unter allen Umständen eine Stellung bekommen würde. Und dann – es waren nur noch ein paar Wochen bis zur Geburt. Und Irma war dafür, daß das Baby seine Ordnung hatte ...
»Aber der Laden kann plötzlich auffliegen, Irma! Und ich sitze mit drin. Wegen Beihilfe oder so.«
»Mach dich bloß nicht lächerlich, Mensch. Vierzehn Angestellte seid ihr. Und ausgerechnet du ...!«
»Alle ... Es ist nicht in Ordnung, Irma! Die Einzahlungen, die sehen wir, aber was mit dem eingezahlten Geld wird, davon hat kein Mensch eine Ahnung. Das erledigt Herr Hoppe allein. Ich habe rumgehorcht bei den Kollegen ...«
»Sei so gut!« rief sie erbost. »Du willst dich wohl mit Gewalt um die Stellung bringen. Denk lieber daran, daß du Vater wirst, Mensch!«
»Ach, Irmchen! Schimpf doch nicht gleich wieder. Das willst du doch auch nicht, daß wir vom Kleine-Leute-Betrug leben.«
»Nun mach aber bitte einen Punkt!« rief sie. »Du betrügst keinen. Du kriegst deine zweihundert Eier und dafür arbeitest du ...«
»Aber ...«
»Sag mal, haben sie dir denn bei deiner Großbank erzählt, was sie mit dem Geld von der Kundschaft gemacht haben? Sei bloß nicht komisch, Heinz! Jetzt muß jeder zuerst an sich denken!«
»Aber ...«
Er hatte viele Abers, auch gegen das Bloß-an-sich-selbst-Denken. Er fand, es war nicht richtig. Wenn jeder bloß an sich dachte, mußte es schiefgehen, schien ihm.
Aber Heinz Hackendahl gab zu, daß Irma jetzt von dem erwarteten Kinde zu sehr beansprucht war, um ein richtiges Urteil zu haben. Heinz Hackendahl wurde demnächst Vater, aber noch war er allein. Allein beobachtete er die Vorgänge im Bankhause Hoppe & Cie., sehr ängstlich, denn im Grunde seines Herzens wäre es ihm gar nicht angenehm gewesen, wenn er einen klaren Beweis für die »Faulheit« des Hoppeschen Geschäftes bekommen hätte.
Er belauerte Herrn Hoppe, er hatte ein Auge auf ihn, als sei er der Detektiv und Herr Hoppe der zu überführende Verbrecher. Erleichtert stellte er fest, daß Herr Hoppe nichts an seinen Lebensgewohnheiten änderte. Er trug dieselben Anzüge wie bisher und rauchte die gleiche Zigarre. Er roch nicht nach Alkohol, er verschwand nicht in der Mittagsstunde zu einem solennen Börsenfrühstück. Pünktlich alle Morgen um neun Uhr, ein lästiges Muster für alle unpünktlichen Angestellten, erschien Doktor Hoppe auf seiner Bank. Keine verführerische Frauenstimme verlangte ihn je privat am Apparat.
Nein, Heinz Hackendahl fand nichts Auffälliges, nichts Verschwenderisches, gar nichts Verruchtes an diesem semmelblonden Herrn Doktor Hoppe. Und auch Erich Menz, mit dem er sich manchmal flüsternd über seine Zweifel unterhielt, hatte nichts gefunden. Erich Menz neigte jetzt dazu, die Dinge laufen zu lassen, wie sie liefen. »Froh, daß du so 'nen Druckposten hast! Stempeln – ei wei!«
Aber da war eine Stimme in ihm, die ließ Heinz keine Ruhe. Es war eine höchst lästige Stimme, es wäre ihm viel lieber gewesen, sie hätte geschwiegen. Es wäre bequemer gewesen. Es war dieselbe Stimme, die ihn nicht Tinettens Verführung hatte nachgeben lassen, die ihn gezwungen hatte, doch wieder zu dem Papiergeschäft der Witwe Quaas zu gehen, bis er seinen Frieden mit Irma gemacht hatte. In einer Zeit der Selbstsucht, der Entgötterung, der Gewissenlosigkeit war es die Stimme des Gewissens, etwas Gebieterisches in einem einzelnen jungen Mann, das ihm befahl, nicht ruhig zu sein, sich nicht satt machen zu lassen, ohne zu fragen, woher das Essen kam.
Dann kam ein Nachmittag, an dem Herr Doktor Hoppe ganz verändert schien. Ruhelos geisterte er durch seine Bank, hörte nicht, was man ihn fragte, verschwand eiligst in seinem Allerheiligsten, um sofort wieder ohne sichtbaren Anlaß eiligst aufzutauchen. Und war aufgeräumt, lärmend, faßte jeden an der Rockklappe, prustete jedem sein Haha ins Gesicht. Und war schon wieder finster, wortkarg, fast böse. Man hätte denken können, der Chef hätte einen gehoben, aber nein, das war es nicht.
»Ich nehme heute keine Zahlungen an!« schrie er plötzlich. »Meine Herren, weisen Sie die Kundschaft zurück! Ich will kein Geld.«
Die Angestellten starrten sich verblüfft an.
»Aber, was sollen wir den Kunden sagen?« flüsterte einer.
»Ganz egal, was Sie ihnen sagen!« schrie Doktor Hoppe. »Ich habe es satt! Ich will kein Geld mehr! Sagen Sie ihnen«, sagte er plötzlich ruhiger, »daß wir im Augenblick keine gewinnbringende Anlage hätten. Vielleicht morgen ...«
Und Herr Doktor Hoppe verschwand in seinem Allerheiligsten.
»Verrückt geworden ...«, flüsterte Erich Menz.
Zweifelnd schüttelte Heinz Hackendahl den Kopf. Und noch, als er ihn schüttelte, sah er einen Mann durch die Drehtüre hereinkommen, einen Herrn. Heinz Hackendahl duckte den Kopf, verschwand fast ganz hinter seinem Pult ...
Der Herr sprach leise mit einem Kollegen an der Schranke, der sah zweifelnd nach der Tür des Chefbüros. Der Herr flüsterte etwas Beruhigendes, der Kollege ließ den Herrn durch in das Allerheiligste ...
Heinz Hackendahl, wie gesagt, hatte sich versteckt. Es wäre ihm nicht angenehm gewesen, wenn sein Bruder Erich ihn gesehen hätte, Erich, bleich, aufgeschwemmt, fett geworden, mit dünnem Haar, aber sehr elegant, fast übertrieben elegant, mit einem Zylinderhut ...
Nach einer Viertelstunde geleitete Herr Doktor Hoppe seinen Besucher persönlich hinaus; Erich trug jetzt eine der Hoppeschen Aktentaschen.
Von der Tür zurückkommend, sprach Herr Hoppe heiter: »Ich habe eben die besten Nachrichten bekommen! Drei neue Bohrungen sind fündig geworden. Meine Herren, wir nehmen wieder Einlagen an!«
Von dem Augenblick an, da Heinz Hackendahl seinen Bruder Erich in der Schalterhalle der Bank gesehen hatte, da er ihn mit einer Aktentasche des Chefs hatte davongehen sehen, war aus seinem Verdacht fast eine Gewißheit geworden: Die Geschäfte des Bankhauses Hoppe & Cie. waren schlecht! Erich beteiligte sich an ihnen, und bisher hatte er Erich nur an üblen Unternehmungen beteiligt gesehen! Die Geschäfte mußten schlecht sein, denn sein Bruder machte mit ...
Mit Erich Menz konnte er hierüber nicht sprechen, Erich Menz brauchte nicht zu wissen, daß er solch einen Bruder hatte. Und mit Irma, die von Erich bestimmt nicht besser dachte als er, mochte er nicht darüber reden: Es waren kaum noch zwei Wochen bis zur Geburt.
Er stand allein, hatte allein zu entscheiden, allein die Verantwortung zu tragen. Was soll ich tun?! dachte er. Wenn ich von mir aus die Stellung aufgebe, habe ich nicht einmal Anspruch auf Stempelgeld! – Und zur Polizei laufen? Ich habe nicht einen Beweis!
Sie hatten fast keine Reserve, kaum hundert Mark. Was soll ich nur tun?! dachte er wieder. Ich muß die Stellung aufgeben! Ich mache nichts Dreckiges mit. Aber Irma, Irma wird mir Vorwürfe machen! Und dann stehen wir ohne alles da – und das Kind!
Das ging durch ihn, aber es haftete nicht. Zukunftssorgen, jawohl – aber drängender waren die Gegenwartssorgen. Mit finsterem Gesicht saß er jetzt an seinem Pult, es war natürlich ein Wahnsinn, sechsunddreißig Prozent Zinsen zu zahlen. Es mußte Betrug sein! Er war ja verblendet gewesen, daß er das nicht vom ersten Augenblick an durchschaut hatte!
Alle waren sie verblendet. Sie waren mißtrauisch und gierig – und ihre Geldgier, die Sucht, wenigstens auf eigene Rechnung noch den verlorenen Krieg zu gewinnen, das eigene Schäflein zu scheren, die anderen mochten hundertfach verrecken, war himmelschreiend! Dieser Lemke war ein wahres Muster! Als der Chef ihm Geld schenkte, ihm Zinsen auszahlen ließ, die ihm nicht zukamen, das Unsolideste tat, was ein Kaufmann tun konnte – da gewann er Vertrauen. Als er richtig betrogen wurde, da glaubte er!
Nur raus aus dieser Bruchbude! Ich bin ja blöd gewesen! Ich habe geschworen, ich will nie wieder was mit Erich zu tun haben! Und er fing an, heimlich in den Zeitungen nach Stellenangeboten zu suchen. Ach, sie waren so dünn gesät, erst jetzt fiel ihm auf, wie dünn sie gesät waren! Und er kam immer zu spät. »Danke, längst besetzt! Müssen Sie ein bißchen früher aufstehen, junger Mann!«
Es war eine verdammte Stimmung, die man von solcher »Bewerbung« mitbrachte. Aber es half alles nichts, ob verdammt oder nicht, ob Stellung oder keine – Dreck blieb Dreck, und mit Dreck gab er sich nicht ab!
Jeden Morgen, wenn er von der nun schon so schwer beweglichen Irma Abschied nahm, um ins Geschäft zu traben, verfluchte er sich wegen seiner Feigheit: Ich dürfte gar nicht gehen! Ich bin feige! Lebensangst, jetzt habe ich sie auch ...
Es war wie damals bei Erich und Tinette. Nein, Erich ließ sich nicht vergessen, alles erinnerte an Erich. Auch damals hatte er sich hundertmal geschworen, nicht wieder in die glänzende Villa zu gehen – und war doch gegangen, wie er jetzt jeden Morgen ging! Er war damals so lange feige gewesen, bis es ganz schlimm gekommen war: Demütigung, schmachvolle Niederlage ... Es durfte nicht wieder ganz schlimm kommen! Er mußte die Stellung aufgeben ...
Ja, wenn nicht Irma und das Kind wären, für mich allein hätte ich schon den Mut!
Aber das war bloß eine feige Ausrede, sich vorzumachen, was man alles tun würde, wenn und wenn nicht. Wenn ihm Doktor Hoppe wenigstens gekündigt hätte, daß er einen Anspruch auf Stempelgeld bekam! (Wieder so ein »Wenn«!) Er wurde brummig und wortkarg, er gab unklare Auskünfte, kaute herausfordernd auf dem Federhalter, wenn viel zu tun war, sagte »Herr Hoppe« statt »Herr Doktor Hoppe«, und band sich einen Schlips mit viel Rot um.
Er fand sich kindisch, er fand sich entsetzlich feige, daß er so dem anderen die Entscheidung über das eigene Schicksal zuschob, und tat's doch, tat's wieder – verkroch sich ... Man muß doch praktisch sein, tröstete er sich. Lebensklug. Man soll das schmutzige Wasser nicht wegschütten, ehe man sauberes hat, so heißt es doch sogar im Sprichwort.
Und dann kam alles viel schneller, als er für möglich gehalten hätte. Wirklich nahm ein anderer die Entscheidung über sein Schicksal in die Hände ...
Denn als er eilig mit ein paar Briefen durch die Drehtür zum Postamt rennen wollte, kam von der Straße herein ein anderer, sah durch das Glas ihn hinausgehen ... Beide drehten eifrig die Tür, Heinz drehte den Bruder Erich in die Bank hinein; nicht weniger eifrig drehte der Bruder Erich seinen Bruder Heinz aus der Bank hinaus. Dabei sahen die beiden einander sehr nahe durch das Glas an. Heinz hatte einen wütenden und doch verlegenen Gesichtsausdruck; Erich schien ungerührt die Sachlage zu prüfen, sah die Briefe in des Bruders Hand, sah, daß der Bruder ohne Mantel war ...
Auf der Straße blieb Heinz stehen, er mußte stehenbleiben, er mochte wollen oder nicht. Drüben, in der Halle, sah er den Bruder stehen und auch auf ihn zurückschauen. Bruder Erich gab durch das Türglas kein brüderliches Erkennungszeichen, tat auch nicht die Absicht kund, den Bruder zu sprechen ...
Einen Augenblick starrten die beiden einander an, die feindlichen Brüder ...
Heinz dachte etwas ganz Überflüssiges. Er hat wieder einen Zylinder auf, dachte er. So'n Affe! Aber er war schon immer ein Affe!
Als hätte er dem Bruder nichts Schlimmeres vorzuwerfen als diese Affigkeit!
Dann schoben sich Menschen dazwischen, jemand ging durch die Drehtür, plötzlich war Erich verschwunden. Sehr langsam und nachdenklich ging Heinz mit seinen Eilbriefen zur Post. Heute mache ich unter allen Umständen hier Schluß! sprach er drohend zu sich. Ich bin ein schlapper Hund! Ich bin feige! Ich kündige, ob Stempelgeld oder keines!
Aber er kündigte doch nicht, weil ihm nämlich gekündigt wurde. Bruder Erich hatte keinerlei Hemmungen, er hatte seinen Bruder nur einmal zu sehen brauchen ...
»Sagen Sie mal«, sagte Herr Doktor Hoppe sehr schnarrend, »sagen Sie mal – ich höre, Sie heißen Hackendahl?«
»Jawohl, Herr Hoppe.«
»Wieso nennen Sie sich da Dahlhacke?! Hören Se mal!«
»Habe ich mich nie genannt«, sagte Heinz mürrisch. »Sie haben mich so genannt.«
»Sehr komisch! Wieso soll ich Sie denn Dahlhacke nennen, wenn Sie Hackendahl heißen? Wollen Sie mir das bitte mal erklären?«
»Wahrscheinlich haben Sie meinen Namen falsch verstanden ...«
»Soso. Und wahrscheinlich haben Sie mich nicht verbessert, weil Sie nicht wünschten, daß ich Erkundigungen nach Ihnen einzog, was?«
»Und die haben Sie jetzt eingezogen – bei Herrn Hackendahl?«
»Wie reden Sie mit mir, junger Mann?! Ich bin Ihr Chef ... Durch mich leben Sie!«
»Ich dachte immer, durch meinen Vater ...«
»Junger Mann!«
»Hackendahl ...«
Doch Herr Doktor Hoppe besann sich plötzlich. »Ich kann Sie nicht mehr brauchen«, sagte er mürrisch. »Bei mir ist alle Tage Ultimo. Sie sind heute für heute gekündigt und entlassen. Hier haben Sie Ihr Gehalt für diesen Monat. Tiedtke oder wer Zeit hat soll Ihre Papiere fertigmachen. Ziehen Sie Leine!«
»Guten Tag, Herr Hoppe«, sagte Heinz Hackendahl, unglaublich erleichtert. Es war geschehen, es war überstanden – nun mochte kommen, was wollte ...
Zu einem war Erich doch gut: Erich war ein ausgezeichnetes Mittel gegen Feigheit.
Zwei Tage darauf legte Irma abends ihr halbfertiges Kinderhöschen aus der Hand, stöhnte leise und sprach: »Ich glaube, es ist soweit, Heinz!«
»Dann aber los!« sagte Heinz. »Wirst du denn noch laufen können?«
»Klar, Mensch!« Und sie gingen einträchtig zum Krankenhaus.
»Immer sachte mit der jungen Mutter«, sagte Irma. »Erst muß ich wissen, daß es wirklich soweit ist. Dies ist kaum mehr als kräftiges Leibweh.«
Und sie erzählte ihm noch einmal die blamable Geschichte ihrer Freundin, die sich mit schrecklichsten Wehen zum Krankenhaus fahren ließ und Mann, Mutter, Chauffeur in eine wahre Panik jagte, es könne noch im Auto passieren ... Ins Krankenhaus einzog, eine Nacht wartete, einen Tag, acht Tage, vierzehn Tage, nach Haus ging, weil es noch lange nicht soweit war – und, kaum daheim angelangt, ihre Geburt erledigte ...
»Ich würde mich zu Tode schämen! Nein, lieber warten wir noch ein halbes Stündchen!«
Sie gingen das halbe Stündchen, das zwei Nachtstunden dauerte, vor dem Krankenhaus auf und ab. Manchmal hielt sich Irma am Gitter fest, manchmal an einem Laternenpfahl, manchmal bloß an ihrem Mann ...
»Zu dumm, daß man noch keine Erfahrung hat, Heinz!« klagte sie. »Wir hätten gut noch eine Stunde zu Haus bleiben können.«
»Einmal ist das erste Mal«, sprach Heinz weise. »Das nächste Mal weißt du schon besser Bescheid!«
»Aber ich hätte das Höschen noch fertig gekriegt!« meinte sie. »Das wäre dann auch noch in Ordnung gewesen!«
Heinz hatte ihr nicht gebeichtet, daß die Hauptsache nicht mehr in Ordnung war: die Stellung. Daß er arbeitslos war. Daß er an den letzten beiden Tagen statt auf der Bank, Besuche in seiner Stempelstelle gemacht hatte. Es war erstaunlich, wie viele Papiere man beibringen mußte, um zu beweisen, daß man arbeitslos war, daß man schuldlos arbeitslos war, daß man gewillt war, jederzeit Arbeit anzunehmen, daß man nicht aus reiner »Rentenpsychose« die knappe Unterstützung dem auskömmlichen Gehalt vorzog.
Es muß eine Hellsichtigkeit bei Ehefrauen geben, in seine Gedanken hinein fragte Irma: »Du, Heinz, das ist doch in Ordnung mit deiner Stellung?«
»Versteht sich!« log er kühn. »Wieso denn nicht in Ordnung?«
Sie sah ihn argwöhnisch an. »Du kommst mir so vergnügt vor die letzten Tage!«
»Na, erlaube mal, denkst du, ich wäre vergnügt, wenn ich keine Stellung mehr hätte?!«
»Heinz, mach keinen Quatsch, wenn ich jetzt drin bin!«
»I wo! Aber ich glaube, wir gehen jetzt besser rein!«
»Noch fünf Minuten! Ich will mich doch nicht blamieren!«
Sie schaffte es dann wirklich, daß sie Hals über Kopf, ohne Formalitäten und Personalien, aus dem Aufnahmezimmer weggeschleppt wurde. Das letzte, was Heinz »vorher« noch von ihr hörte, war: »Siehst du, Heinz, ich bin nicht zu früh gekommen!«
»Na, wissen Sie, Jüngling«, sagte die Oberschwester in der Aufnahme bärbeißig, »ein bißchen früher ging es wohl nicht? Da hat Sie wohl das Fahrgeld gereut?«
Aber Irmas Methode hatte doch das Gute, daß er keine schlaflose Nacht vor sich hatte. Die Papiere waren noch nicht ausgefüllt, da kam schon eine Schwester: »Alles erledig, junger Vater! Ich gratuliere auch!«
»Nanu!« sagte er ganz verblüfft. »Ist das aber schnell gegangen! Hätt ich nie gedacht! Was ist es denn?«
»Wird Ihnen die junge Mutter morgen sagen. Jetzt rücken Sie hier lieber ... Es ist schon nach Mitternacht!«
Aber obwohl es nach Mitternacht war, ging Heinz nicht nach Haus. Er fand das Wetter gerade richtig für einen längeren Spaziergang. Es näherte sich der Frühling, was meist besonders unangenehmes Wetter heißt. Ein schneidender Wind wehte ihm bald Schnee, bald Regen ins Gesicht, und trotzdem langte ein sehr aufgeräumter Heinz bei den kleinen Papierladen an und erschreckte die Witwe Quaas tödlich durch Trommeln auf die Fensterscheiben.
Dann, als ihr klargeworden, es war kein Einbrecher, sondern bloß der Schwiegersohn, erschrak sie wieder über die Botschaft, sie sei nun Großmutter. Sie hantierte drinnen mit zitternden Händen an ihrem Schlafrock, er stand draußen. Er sollte hereinkommen, aber er wollte nicht.
»O Gott, o Gott, du bist so komisch, Heinz!« jammerte sie. »Es ist doch nichts mit Irma?! Trink doch wenigstens einen Kaffee! Wann war es denn?«
»Nach zwölf, Quaasin!« sprach Heinz. »Und wir hätten es beinahe auf der Straße abgemacht!«
»Nein, herrje! Komm doch wenigstens rein und trink einen Kaffee! Du holst dir ja den Tod in dem Winde! Ach Gott, nun habe ich dich noch gar nicht gefragt. Junge oder Mädel?«
»Es war noch nicht festgestellt, Schwiegermutter!« rief der Schwiegersohn aus der dunklen, heulenden Nacht. »Sie warteten noch auf den Arzt. Morgen mittag, nein, heute mittag werden sie's raus haben.«
Er entrann ins Dunkel, er meinte, noch lange ihr Jammern zu hören, aber es war wohl nur der Wind, der in Fugen, Ritzen und Schlüssellöchern heulte.
In der Wexstraße brauchte er nicht in die Wohnung hinauf, im Stall brannte schon Licht. Der Vater, der beim Rappen gesessen, wandte langsam nach dem eintretenden Sohn den Kopf und hörte stumm den Bericht.
Auch er fragte: »Ein Junge?«, aber ihm wurde gesagt, daß der Sohn es noch nicht wüßte.
»Es is ooch ejal«, sagte der Vater. »Dienen müssen se doch nich mehr – es is janz ejal, ob Junge oder Mächen, es is heute allens eene Wichse! Freuste dir ...?«
»Natürlich, Vater.«
»Natürlich – komisch, wenn de bedenkst, det ick mir auch mal über euch jefreut habe. Det verstehste heute sicher ooch nich mehr, det man mal so dusslig war.«
»Deswegen freu ich mich heute doch, Vater.«
»Logisch, weil de denkst, du bist ne janz andere Sorte Vater. Na, laß man, ick will dir nich ärjern. Ick will dir wünschen, det dir dein Kind nich mehr antut, als du mir anjetan hast. Denn kannste jroß zufrieden sind.«
»Danke schön, Vater. Und nun will ich sachte nach Haus und noch ein paar Stunden schlafen. Ich habe für heute noch viel vor.«
»Wat haste denn vor? Mußte auf deine Stelle oder läßte dir Urlaub jeben?«
»Meine Stelle – na, Vater, dir kann ich's ja sagen, Irma weiß noch von nichts. Meine Stelle habe ich nicht mehr, da haben sie mich vor drei Tagen rausgesetzt.«
»Nee, so was!« wunderte sich der Alte. »Det ooch immer allens Unglück zusammenkommt. Da biste wohl in Druck? Wülste stempeln jehn?«
»Muß erst mal sehen. Gerne nicht.«
»Soll ick mal bei der Sophie fragen? Die kann vielleicht wat für dich tun. Die is janz jroß mit ihre Klinik. Ick jloobe, die jehört ihr überhaupt.«
»Nee, laß man lieber, Vater. Mit Sophie bin ich nie gut zurechtgekommen.«
»Recht haste: Verwandtschaft alleene is schon schlimm jenug! Und denn noch Verwandtschaft und Jeschäft! – Kommste heute noch vorbei und sagst es Muttern? Ick möchte nich jerne, weeßte, ick bringe nich den nötijen freudijen Schwung uff!«
»Ich will mal sehen, Vater. Vielleicht wird's erst morgen was.« Er zögerte, er fragte den Vater nicht gerne, aber dann tat er es doch. »Hast du mal wieder was von Erich gehört, Vater?«
Der Alte wandte ihm den großen Kopf langsam zu. »Von Erichen ...?« fragte er langsam. »Fragste det bloß so oder mit 'ne bestimmte Absicht?«
»Er ist wahrscheinlich der Grund gewesen, daß mir auf der Bank so plötzlich gekündigt ist.«
Und er erzählte dem Vater kurz von dem Wiedersehen mit dem Bruder.
»Det is Erich!« nickte der Alte. »Det hat der befummelt. So is er. Nee, direkt weeß ick nischt von ihm, bloß uff'n Bahnhof Zoo hab ick'n Stücker zweimal jesehn ...«
»Dann weißt du also auch nichts«, sagte Heinz ein bißchen enttäuscht.
»Wart doch ab, bis'n alter Mann ausjeredt hat! Aufm Zoo – mit 'nem Zylinder und 'nem Fernkieker und 'ne Aktentasche. So um dreie rum. Weeßte nu mehr?«
»Einen Zylinder hat er auch bei uns getragen, und die Aktentasche.«
»Und'n Fernglas«, sagte der Alte hartnäckig und voller Bedeutung.
»Weiß ich nicht.«
»Allzu doof kleedt ooch nich«, meinte der Vater mißbilligend. »Wat jehn denn so for Züje um drei'n vom Zoo?«
»Weiß ich wirklich nicht. Da gehen so viel Züge ...«
»Det sind Züje mit Jepäck, aber nich Züje mit 'nem Fernkieker und Zylinder. Riechste noch immer nischt ...?«
»Ach, du meinst ...!« rief der Sohn, und war wirklich bestürzt über das fabelhafte Feuerwerk, das in seinem Kopf losging ...
»Jawoll!« sagte der Alte mit Nachdruck. »Det meene ick! Ick meene, det man vom Bahnhof Zoo so um dreien rum nach Karlshorst und Hoppegarten und Strausberg fährt. Ick hab früher Rennonkels jenug dahin jefahren. Und Wettonkels ooch ...«
Dieses Licht, das von den Fahrten seines Bruders auf die Geschäfte des Bankhauses Hoppe & Cie. zurückstrahlte, blendete Heinz zuerst, aber dann schien alles klar ... Verrückt hatten sie gesagt? Jawohl, soweit ein Besessener verrückt ist! Eiskalt, skrupellos – in Rennwetten machen, da kam es auf zehn oder zwanzig Prozent Zinsen mehr oder weniger wirklich nicht an! Diese Kerle – die Gelder der kleinen Leute ...
»Es stimmt, Vater, es stimmt!« rief er und ging schon zur Tür. »Ich muß gleich ...«
»Na, wat mußte jleich? Es is erst fünfe!«
»Aber morgen früh, Vater, heute früh, man muß für die Sparer retten, was zu retten ist. Dieser Hoppe – so'ne Schlauheit, natürlich geht er nie selbst auf die Bahn, damit ihn bloß keiner sieht! So ein Schwein! All die Spargroschen ...«
»Na«, sagte der Alte. »Det sind immerhin Spargroschen von so'nen, die fünfzig Prozent Zinsen haben wollen. Viel Mitleid hätt ick mit die Brüder nich.«
»Aber es ist doch alles Schwindel und Betrug – das mit dem Petroleum in der Lüneburger Heide!«
»Setz dir hin, Heinz! Wat regste dir uff? Dir haben se doch rausjesetzt, wat jeht dir der janze Zinnober noch an?!«
»Aber, Vater! Es muß doch ...«
»Na wat denn? Wat denn?! Recht und Jesetz, und ausgerechnet von uns aus ...?! Laß die man ihren Kram alleene befummeln, wozu haben se denn Polizei und Richter und Staatsanwalt, können die doch uffpassen! Wat jeht dir det an?«
»Nein, Vater«, sagte Heinz. »Das stimmt nicht. Früher hast du auch anders gedacht.«
Der Alte schwieg eine Weile. Dann fragte er: »Du hast woll 'nen jewaltijen Zorn uff Erich?! Wejen dem bißken Kündijung biste doch nich so wütend?«
»Ich bin gar nicht ...«, fing Heinz an. Wütend auf Erich – wollte er sagen. Aber er sagte es nicht. Denn es war nicht wahr. Denn er war wütend auf Erich. Denn er haßte Erich. Nicht nur wegen der Ereignisse damals. Sondern weil er fühlte, daß Erich das Böse war. Er wußte, Erich liebte das Böse, er tat Böses, nur um Böses zu tun, es gab nie ein Vorwärtskommen, wenn solche Leute wie Erich am Werk blieben ... Aber ...
»Aber, Vater, ich will das nicht anzeigen, um ihm eins auszuwischen. Bestimmt nicht. Ich will mich nicht rächen. Ich will nur nicht, daß dieser Betrug weitergeht.«
»Na ja«, sagte der alte Hackendahl. »Denn zeig an – aber jib dem Erich vorher'n Wink. An Eva is et eigentlich jenug.«
»Ich kann doch nicht, Vater! Wenn ich Erich warne, warnt er den anderen. Dann gehen die Einlagen ganz verloren ...«
»Du kannst es im letzten Augenblick machen. Denn hat er keene Zeit mehr ...«
»Vater, ich kann es nicht. Ich darf es nicht.«
»Tu's man, Heinz. Es is ja ejal. Wat früher war, det Anständije, det is ja doch kaputt! Laß se alle man toben, denk ick oft. Det wird doch nischt wieder mit uns, Heinz. Laß'n loofen, den Erich.«
»Es wird noch wieder anders ...!«
»Wie denn? Ick weeß nich, wie. Es jeht immer mehr in'n Dreck. Und, Bubi, ick hab'n Schlund voll. Wie se da jestanden hat, uff de Armesünderbank, die Eva, meen ick, und sieht mir nich an, immer bloß den jemeenen Kerl, und ick muß dem Richter sagen, wie mein Kind jewesen is, und er fragt mir vor alle Leute, ob se schon früher jeklaut hat und wann se anjefangen hat mit de Männer, und ob se ville jelogen hat, und ick denk immer, det is meene Tochter, aber se kiekt mir nich an ... Det is nu mein Beitrag zu's deutsche Volk ... Nee, Heinz, noch mal detselbe, un nu mit Erichen ... Nee, mein Junge, det is nich! Da machen wir nich mit, ick nich un Muttern ooch nich ...«
»Na also tjüs, Vater«, sagte Heinz nach einer Weile. »Ich will tun, was du gesagt hast. Wenn es auch bestimmt nicht richtig ist ...«
»Jott, Heinz, wenn de mir det mal erzählen wolltest, wat richtig is im Leben ...«
Nein, es war nicht richtig, Heinz war fest davon überzeugt. Er saß den Vormittag über auf der Polizei und auf dem Präsidium Alexanderplatz und sah die mißmutigen Gesichter der Beamten und ihre Unentschlossenheit. Er las ihnen den Verdacht von den Mienen: Rache eines entlassenen Angestellten ...
Berlin war ein Chaos, es geschahen so viel offenkundige Verbrechen, zum Himmel schreiend; die Beamten waren übermüdet, überanstrengt, und sie waren auch gereizt, weil ihnen so oft der Zugriff bei einem offenkundigen Verbrechen behindert worden war ... aus politischen Gründen, aus freundschaftlichen Gründen, wegen Beziehungen. Es gab ganz andere Bankhäuser als das kleine Winkellokal Hoppe & Cie. – es gab große Herren, die Barmat hießen, die Kutisker hießen ... Herren, derentwegen schon mancher Beamte gezwungen worden war, aus dem Dienst zu gehen ...
Nein, sie waren nicht sehr willig, wegen des bloßen Geredes eines entlassenen Angestellten einzuschreiten. Nun ja, sie würden zusehen, beobachten, Ermittlungen anstellen ... Seine Adresse hätten sie ja ...
»Dann ist es zu spät«, sagte der junge Mann. »Wo kann ich hier noch hingehen?«
»Sie machen ja mächtig viel Dampf dahinter!« lachten sie. »Na, kommen Sie einmal mit!«
Sie setzten ihn in das Vorzimmer eines höheren Tiers, eines gefürchteten Bullenbeißers. Sie gaben dem anmeldenden Beamten das Protokoll, und dann verließen sie ihn ... »Es wird ihm schon langweilig werden«, sagten sie.
Da saß nun Heinz Hackendahl und wartete, aber langweilig wurde es ihm nicht.
Sondern er dachte an den Bruder Erich, das machte ihn so hartnäckig. Und plötzlich wußte er, daß er wirklich keinen Menschen auf dieser Welt so haßte wie den Bruder.
Vor den Bruder aber hatte sich der Vater gestellt, ein alter Mann, der nicht viel Freude mit seinen Kindern erlebt hatte. Man konnte es schon verstehen, daß er sich schützend vor den Sohn stellte. Nicht aber konnte man den Sohn verstehen, nein, er verstand sich selber nicht. Hier saß er, er saß um des Bruders willen hier, wenn er aber erreicht haben würde, daß sie gegen ihn vorgingen, dann wollte er an das Telefon laufen und den Bruder warnen ... (Er hatte ja schon die Telefonnummer auf einem Zettel in der Tasche!) Er wollte ihn nicht warnen, weil er etwa glaubte, der Bruder werde nach solcher Warnung anders werden, sondern bloß so ... aus einem schwächlichen Mitleid, innerlich fest davon überzeugt, Erich werde weiter Böses tun ...
Ja, hier ging es um eine Entscheidung, es kam darauf an, ob man den Mut hatte, sich selber weh zu tun, nur nach dem eigenen Herzen zu handeln ... Niemand rief einen, niemand half einem auch ... Nur auf sich selbst war er gestellt ... Ach, wenn es doch nur ein gleichgültiger Mensch, irgendein Hoppe gewesen wäre, daß es gerade der Bruder sein mußte! Und er erinnerte sich Erichs, wie rasch und hell er gewesen war – o doch, jawohl, einmal hatte er ihn sehr bewundert und geliebt!
Vielleicht, dachte er, kann man so sehr nur hassen, was man einmal sehr geliebt hat.
Und dann hätte er sich doch wieder gerne um die Entscheidung gedrückt. Entschuldigungen genug, um zu gehen – was würde Irma schon warten!
Aber nun ist es soweit, daß er hinein darf zum Kriminalrat, und die eine Möglichkeit gibt es nicht mehr, daß er ausreißen kann. Aber es gibt noch die andere Möglichkeit, daß er schonend schweigt (und telefoniert).
»So«, sagte der dicke Herr mit dem roten Gesicht, nachdem er das kurze Protokoll gelesen hatte. »Und nun erzählen Sie mir die Sache noch mal, mit Ihren eigenen Worten ...«
Und das tut dann Heinz, erzählt, was da protokolliert ist, aber nicht mehr.
»Ist das alles, was Sie wissen?« fragt der Kriminalrat.
Und Heinz nickt hastig.
»Da fehlt was«, sagt der Dicke. »Und das wissen Sie auch ganz gut, daß da was fehlt.«
Heinz tut, als verstünde er nicht.
»Sie decken jemand«, sagt der Bullenbeißer ganz freundlich. »Sie wollen jemand schützen.« Er lächelt. »Sehen Sie«, sagt er, »wenn man hier lange genug sitzt, dann bekommt man einen Riecher dafür, das ist kein Kunststück. Und bei Ihnen fehlt überhaupt das Bindeglied, wieso Sie auf Rennwetten geraten haben ...«
»Das habe ich mir so überlegt«, sagt Heinz verlegen.
»Na, natürlich haben Sie sich das so überlegt!« sagt der dicke Herr und steht auf. »Guten Morgen, mein lieber junger Herr, und kommen Sie besser nicht wieder. Eier essen und die Eierschalen nicht zerschlagen, das haben wir nicht gelernt, und Sie werden's auch nicht lernen. Die Welt stinkt wie ein großer Misthaufen, aber wenn sich jeder sein eigenes Häufchen Gestank apart beiseite tragen will, dann kriegt man den Gestank nicht weg ... Diesen Hoppe werden wir uns schon langen, ich weiß sogar schon, wer das ist, nämlich ein mit einer Ladenkasse weggelaufener Kontorist. Aber grade Ihr Privathäufchen Gestank hätte mich interessiert ... Doch wie gesagt, wir haben auch ohne Sie genug zu tun, und wenn Sie kein Mann sein wollen, sondern sich als Waschlappen wohl fühlen, na, denn prost die Mahlzeit! Es ist ja schließlich Ihre Sache!«
Jedes dieser grob herausgepolterten Worte traf Heinz wie einen Stich ins Herz, Und nun saß der Rotgesichtige schon wieder, las in Akten und schien der Ansicht, sein angebellter Besucher sei längst gegangen.
»Herr Kriminalrat!« sagte Heinz leise.
Der blätterte und las und hörte nicht.
»Herr Kriminalrat!« sagte Heinz lauter.
»Was denn? Sind Sie noch nicht raus? Sie werden sich einen Plattfuß erstehen, Jüngling!«
»Herr Kriminalrat!«
»Na also, dann schießen Sie los! Aber klare Fahrt – sonst lohnt es das Zuhören gar nicht!« Und nun fuhr Heinz klare Fahrt ...
»Das ist auch wieder gar nichts!« sagte der Kriminalrat am Schluß unzufrieden. »Ein Zylinderhut und eine Aktentasche und ein Prismenglas sind noch keine hinreichenden Indizien. Natürlich alle Achtung vor Ihrer Kenntnis der brüderlichen Liebe – aber auch das ist noch kein Beweis!«
Er brummte und murrte unzufrieden vor sich hin. Dann fragte er: »Anrufen wollten Sie ihn, was? Warnen wollten Sie ihn? Zeigen Sie mir mal die Telefonnummer!«
Heinz tat es.
»Na schön!« sagte der Kriminalrat. »Nun sollen Sie mal sehen, was für reizende Menschen wir hier auf dem Alex sind. Jetzt werden Sie hier von meinem Apparat Ihren Herrn Bruder anklingeln, und Sie können ihm sagen, daß, na, sagen wir in einer halben Stunde bei seinem Freund Hoppe die Kriminalpolizei Einschau hält, und meinethalben können Sie ihn auch wegen der Rennwetten anstoßen – alles genau, als stünden Sie in einer hübschen ruhigen Telefonzelle ...«
Es ist ein wunderliches Ding um ein Menschenherz. Nun, da es ihm angeboten wurde, nun, da er es mit polizeilicher Erlaubnis tun durfte, wollte Heinz um keinen Preis den Bruder anrufen. Ja, er schauderte direkt vor dem angebotenen Telefon zurück, er fürchtete sich davor, Erichs Stimme am Apparat zu hören ...
»Na, was denn, junger Mann?« sagte der Kriminalrat.
»Jetzt bloß nicht wieder zimperlich! Denken Sie, ich will Sie reinlegen? Will ich gar nicht! Ich will ganz offen mit Ihnen sein und Ihnen erzählen, daß meine Herren jetzt schon bei Hoppe & Cie. sind ... Und wenn da jetzt so ein kleiner, allerdings leicht verspäteter Warnungsruf Ihres Herrn Bruders einträfe, so hätten wir ein Indiz ...«
Es war immer wieder dasselbe: Von einer Entscheidung wurde man zur anderen gedrängt, es half kein Zurückweichen. Es war dem Heinz schon viel erschienen, daß er den Bruder preisgegeben hatte, gegen des Vaters Wunsch. Daß er ihn nun aber selbst in die Falle locken, daß seine Stimme den Köder abgeben sollte – nein, und noch mal nein!
»Es kommt mir so schrecklich schmutzig vor!« sagte er verzweifelt.
»Schmutzig – jawohl«, polterte der Bullenbeißer. »Alle Halbheit ist schmutzig, da haben Sie recht. Was schlecht ist, ist schlecht – und mit Halbheit kommt man darüber nicht fort. – Und nun gehen Sie am besten nach Haus – und essen was, Sie sehen völlig käsig aus. – Nein, Sie sollen gar nicht telefonieren müssen, glauben Sie, ich brauche Sie für solche Witzchen?! Ich wollte nur mal sehen, was Sie für ein Mensch sind. Na, denn adjüs, es ist noch nicht alle Hoffnung verloren, daß Sie eines Tages ein Mann werden. Adjüs, ich habe zu tun, ich bin kein Erzieher!«
Aber vielleicht war er das doch, diese Bulldogge!
Er hatte wirklich viel um die Ohren, der junge Heinz Hackendahl, in diesen Tagen. Aber bei allem, was er tat, hallte ihm die polternde Stimme des rotgesichtigen Dicken nach. Er vergaß sie nicht gleich wieder, sie machte ihn fester.
Es kam sehr schnell die Stunde, da er seiner jungen Frau erzählen mußte, daß es vorbei war mit der schönen Stelle bei Hoppe & Cie. Er mußte es ihr erzählen, denn die dicken Überschriften in den Zeitungen hätten es ihr doch verraten. »Hunderte von Sparern um alles betrogen«, hieß es da. »Petroleum und Totalisator« – »Geistliche, die Wucherzinsen nehmen« – »Hoppes Pechsträhne« usw. usw. Erzählen also mußte er es ihr. Aber er hätte ihr nicht von seinem Anteil an diesem Zusammenbruch erzählen müssen, und doch tat er es. Weil ihm immer noch jene Stimme im Ohr gellte.
»Ich habe es eben tun müssen, Irma. Von dem Augenblick an, wo ich Erich sah, mußte ich es tun.«
Und wie es fast immer bei Frauen ist, sie nahm es ganz anders, als er erwartete. »Es wird schon irgendwie gehen«, sagte sie. »Bei den anderen geht es ja auch.«
Nein, keine Vorwürfe.
Und auch der Vater nahm es anders, als erwartet. Heinz suchte ihn abends auf, wieder saß der Vater im Stall beim Rappen ...
»Sophie will mir 'nen andern Zossen koofen, meiner sieht ihr nich schön jenug aus«, sagte der Alte. »Aber ick weeß nich, ick bin so an ihn jewöhnt. – Na, dein Laden is nu wirklich jeplatzt, wat?«
Jetzt hätte Heinz sich wiederum drücken können, ohne jene Stimme, denn von einem Erich Hackendahl hatte bisher nichts in den Zeitungen gestanden. Und wenn er dem Vater doch alles erzählte, so tat er es, weil er die Stimme noch hörte, weil ihm richtig schien, was die von Halbheit gesagt hatte.
»Ja so«, sagte der Alte. »Hastes also doch jesagt! Na ja, halb und halb ha'ick mir det schon so jedacht. Du kannst eben ooch nich aus deine Pelle. Ick nich und du ooch nich. Det is, wat einem so schwer injeht, det der andere ooch seine Pelle für sich apart hat. Man denkt immer: Der muß doch in dieselbe Pelle stecken wie du, is doch ooch bloß Menschenpelle. Und dabei is se janz anders.«
Aber als Heinz schon an der Stalltür stand, rief der Alte noch: »Du, Heinz – von Erich weeßte also nischt?«
»Nein, Vater!«
»Na denn hau ab! Aber wenn de wat hörst, sagste es mir jleich. Bloß keene halbe Sachen, det de denkst, du mußt mir schonen von wejen dem, wat ick damals jesagt habe. Halbe Sachen sind Schruz!«
Gedankenvoll ging Heinz und überlegte, wie seltsam das war, daß zwei so verschiedene Menschen wie der Kriminalrat und der alte Droschkenkutscher die gleichen Ansichten über Halbheit hatten ...
Aber er mußte weiter, er hatte keine Zeit, viel stille zu stehen. Da waren die Besuche bei Irma und dem Kind, das ein Sohn geworden war; einem fernen, halbvergessenen Bruder zum Gedächtnis und einer nahen Schwägerin zur Freude war es Otto genannt worden. Aber diese Krankenbesuche hörten bald auf; nach den offiziellen acht Tagen kehrte Irma wieder zurück in die kleine Wohnung.
Nun wohnten sie da zu dreien und fingen an, sich einzurichten zu dreien und sich einzugewöhnen zu dreien. Das war manchmal nicht so einfach, es war ein ganz anderes Leben, als es zu zweien gewesen war. Aber das lernte sich ...
Was sich gar nicht lernen ließ, das waren die täglichen Wege zur Stempelstelle. Von dort kam er immer wieder traurig und müde und oft auch böse zurück. Im Grunde war es eine einfache Sache, Millionen hatten es mit ihm alle Tage (und später zweimal wöchentlich) zu erledigen: Man ging auf ein Büro und hielt eine Karte hin. Auf die Karte wurde ein Stempel gedrückt, zum Beweis dessen, daß man sie hingehalten, und dann konnte man wieder gehen ... Und einmal wöchentlich gab es Geld. Wirklich eine sehr einfache Sache ...
Aber sie machte traurig, müde, und oft machte sie auch böse ...
Da war die Stempelstelle selbst. Sie war in einer kleinen ehemaligen Villa untergebracht, sie lag in einer kleiner Villenstraße. Nichts Vornehmes, um Gottes willen, ganz kleine Pensionäre wohnten da, ehemalige Lehrer oder Prokuristen, die vielleicht gerade noch vor der Inflation das Glück gehabt hatten, von ihren lebenslänglichen Ersparnissen sich diese kleinen Maurermeistervillen mit zweihundert Quadratmetern Garten zu kaufen.
Es wohnten also kleine Leute in der Straße, wo die Stempelstelle lag, zu der noch ein bißchen kleinere Leute gingen. Und doch erfuhr Heinz Hackendahl von den anderen Arbeitslosen, daß die Anwohner dieser Straße Eingabe um Eingabe wegen Verlegung der Stempelstelle machten. Nach Ansicht der Anwohner nämlich schändete die Stempelstelle ihre Straße. Sie entwertete die Villen. Der Kaffee schmeckte den Pensionären nicht, wenn sie die Erwerbslosen vorbeilaufen sahen. Sie gönnten die Stempelstelle einer Straße, in der noch kleinere Leute wohnten.
Was die Herren auf der Stempelstelle zu diesen Eingaben sagten, erfuhr man natürlich nicht. Aber dafür war gesorgt, daß sich immer Schutzleute in dieser Straße aufhielten. Die sahen auf ein gesittetes Benehmen der Erwerbslosen, es durfte nicht geschrien und nicht gesungen werden, man hatte ein Auge auf sie ...
Über solche Dinge wurde natürlich von den Arbeitslosen immer wieder gesprochen. Sie hatten viel Zeit, über so etwas zu sprechen, wenn sie da anstanden und auf ihren Stempel warteten. Sie redeten immer wieder davon, sie sprachen mit Leidenschaft, Haß, Erbitterung darüber. Sie gingen an den dürftigen Vorgärten vorüber – o nein, sie vergriffen sich nicht an ihnen, ihretwegen brauchten keine Schutzleute dazustehen! Aber sie sahen mit einem wahren Haß auf diese Gipszwerge, diese Glaskugeln, diese arme kleine Gärtnerei: Wenn die Pensionäre die Erwerbslosen nicht sehen konnten, so zahlten die ihnen das zehnfach zurück!
Dann waren da die Angestellten auf der Stempelstelle. Es war ganz klar, diese Angestellten in den Stuben und hinter den Schaltern hatten nur darum Arbeit, weil die anderen arbeitslos waren. Sie lebten von der Arbeitslosigkeit. Die Arbeitslosen waren ihre Arbeitgeber. Da hätten doch, meinten die Arbeitslosen, diese Angestellten ein bißchen höflich zu ihnen sein müssen, jawohl, sie hätten ihre Arbeitgeber freundlich und mit Achtung behandeln sollen!
Aber von solcher Achtung und freundlichen Rücksichtnahme war nicht das geringste zu spüren. Im Gegenteil, die taten alles, um ihren Arbeitgebern das Leben zu erschweren! Immer wieder verlangten sie neue Papiere und Nachweise. Sie schnüffelten im Vorleben der Arbeitslosen herum, sie gaben vor, etwas zu ermitteln, was sie das Arbeitsschicksal nannten. Sie rochen hinter jedem Dreck her, und wenn einer mal Krach mit seinem Werkmeister gehabt hatte, so hieß er widerspenstig, und hatte man sich früher mal krank gemeldet, und der Vertrauensarzt von der Kasse hatte einen wieder gesund geschrieben, so hieß man arbeitsscheu ...
Solche Sachen gaben sie einem zu verstehen, die Herren Angestellten hinter den Schaltern, und dann stießen sie die Glasscheibe zu. Sie ließen die draußen warten und frühstückten, ausgiebig aus Stullenpapier und Thermosflasche, und solche redeten von arbeitsscheu! Sie hatten sich wahrhaftig, als seien die paar Groschen, die sie einem zahlten, ihr eigenes Geld! Das waren die Richtigen, denen mußte man es nur einmal zeigen!
Und so zeigte man es ihnen. Alle Tage gab es Krach, in den Stuben und auf den Gängen. Aber die Brüder waren so gemein, sie ließen den, der ihnen mal richtig die Wahrheit sagte, vom Hausmeister heraussetzen, oder sie ließen gar einen Polizisten von der Straße kommen. Das bedeutete, daß man strafweise zwei Tage oder fünf Tage lang keine Unterstützung bekam, bloß, weil die die Wahrheit nicht hören wollten.
Ja, das war schon eine krank und verzweifelt machende Luft, in der man da stand und auf seinen Stempel wartete, manchmal stundenlang. Da konnte einem schon elend werden, wenn einer auf dem Gang schrie, daß er Schaum vor den Mund bekam: Diese Brüder, diese Blutsauger, ihm sperrten sie das Stempelgeld, und daheim konnte er zusehen, wie Frau und Kinder langsam verreckten ...
»Ja, du Glotzauge hinter dem Schalter, dich meine ich! Hast du schon deine Kinder abends vor Hunger blarren hören, du Speckjäger, und hast keine Krume Brot mehr und keinen Pfennig, was zu kaufen!«
So schrie der, und es half gar nichts, daß der Nachbar hinter Heinz Hackendahl flüsterte, der Bruder gebe bloß an, die letzte Unterstützung habe er gleich am Zahltag versoffen. Manchmal war es vielleicht wahr, und manchmal war es geschwindelt. Aber es war schlimm, daß die Menschen sich voreinander so nackt und schamlos zeigten ...
Und dann war auch schlimm, wenn einen der Nachbar darauf aufmerksam machte, daß der Vordermann nicht nur einen Stempel auf seine Karte gedrückt kriegte, sondern gleich den von gestern und vorgestern mit. »Der hinter dem Schalter hat das Parteibuch, und der vor dem Schalter hat auch das Parteibuch, und wenn du noch mal was anderes werden willst, als was du jetzt bist, so besorge dir schnell so ein Büchlein. Du sollst sehen, wie der Laden plötzlich funkt!«
Solches Gerede hatte Heinz ja schon auf seiner Bank gehört. Aber er hatte es nicht beachtet. In der Wartehalle der Stempelstelle hing ein großes Schild: »Politische Gespräche sind streng verboten.« Aber das Schild war wirklich völlig nutzlos, denn alle, die da warteten, redeten von Politik. Wenn sie nicht von ihren eigenen Schicksalen redeten, so sprachen sie von Politik.
O Gott, wie Heinz Hackendahl diese Stempelstelle hassen lernte, mehr konnten auch die gekränkten Anwohner sie nicht hassen! Dieses trostlose Grau, diese Gestalten, die immer grauer zu werden schienen, diese ewig gleichen Gestalten, die Schimpfer und die Verbissenen und die Skatbrüder und die Neidhammel. (Auf was alles man neidisch sein konnte! »Der hat's gut! Der hat bloß ein Bein. Der kriegt noch Rente! So gut möcht ich's auch haben!«) Und die Kollegen, die ihre jämmerliche Eleganz aufrechterhielten und alle Tage mit neuen Geschichten kamen, welche schicken Weiber sie in der letzten Nacht ausgeführt hatten ... Und die anderen Kollegen, die sich ganz plötzlich aufgaben, deren Anzüge gewissermaßen von heute auf morgen fleckig aussahen ... Und plötzlich hatten sie statt Schnürsenkel Bindfäden in den Schuhen und Löcher in den Jackenärmeln ...
Das ging aus dem Frühjahr über den Sommer hin, und manchmal war der Himmel strahlend blau, die Sonne schien, in den kleinen Villengärten war jedes Fliederblatt frisch. Sie aber waren alt und grau. Ihr Leben verrann mit Stempeln, für sie gab es keinen Sommer. Für sie gab es nur noch eines: stempeln gehen. Das war wie eine Krankheit, die einen ergriff, die jede Freude tötete, jede Lust lahmlegte, die nach und nach, langsam und allmählich von dem ganzen Menschen Besitz ergriff.
Da konnte man schon trübe, müde, trostlos nach Haus kommen und konnte sogar neidisch auf Irma werden, die in ihrem Haushalt herumwirtschaftete, für die es keine Arbeitslosigkeit gab, nein, die wegen des Kindes Otto sogar mehr als früher zu tun hatte ...
Er setzte sich auf einen Stuhl und sah ihr zu und wußte, daß er heute den ganzen lieben langen Tag keine andere Beschäftigung haben würde, als ihr zuzusehen.
Nach einer Weile sah sie sich zwei- oder dreimal nach ihm um und sagte: »Du machst einen ganz kribblig mit deinem Zusehen, Heinz. Komm, versuch mal, ob du Babys Wäsche waschen kannst ...« Und manchmal stellte er sich dann an das Waschbrett und fing an zu rubbeln. Aber selbst, wenn ihm die Arbeit gelang, konnte sie ihm keine Freude machen, denn um Freude zu machen, muß Arbeit einen Sinn haben. Bloß arbeiten, um zu arbeiten, als Zeitvertreib gewissermaßen, ist blöd.
Darum gab er es auch bald wieder auf, oder sie nahm ihm die Arbeit aus der Hand und sagte: »Laß man, Heinz. Ich wollte dich ja nicht ärgern. Bloß, es kann einen wild machen, wenn man dich was tun sieht. Es sieht immer so aus, als wolltest du einschlafen. Ich weiß, ich weiß schon, und du tust mir auch leid. Aber könntest du nicht etwas anfangen? Du könntest dich doch mal nach deinen alten Freunden umsehen. Oder besuch mal deinen alten Schullehrer. Das war doch schon lange dein Plan!«
»Meinst du?« fragte Heinz. »Ich weiß nicht, es sieht fast aus, als sollte es Regen geben. Aber vielleicht möchte ich doch gehen ...«
Eine Weile drückte er sich noch unentschlossen in der Wohnung herum. Aber dann, als Irma ihn noch ein bißchen anstieß, ging er doch los.
Er hatte nun den Professor Degener eine ganze Reihe von Jahren nicht mehr gesehen – eigentlich mußte er sich schämen, daß er sich so lange nicht um den geliebten Lehrer gekümmert hatte. Damals, als er in die Lehre gekommen war, damals war er noch ein paarmal hingegangen. Aber dann hatte das aufgehört. Es war ganz seltsam gewesen, wie wenig plötzlich zwei Menschen, die sich gerne mochten, miteinander zu reden gehabt hatten. Wie auf einmal merklich geworden war, daß der eine ein Altphilologe und der andere ein Banklehrling war, zwei lächerlich verschiedene Dinge, ohne jedes Verbindungsglied, schien es.
Jetzt aber ging er wieder zu ihm. Es war schön, wieder den alten Weg zu gehen, das alte Namensschild zu sehen, auf den alten Klingelknopf zu drücken. In einer sehr schlimmen Zeit, da er sich keinen Rat gewußt hatte, war er mehrmals hierhergegangen; jetzt war wieder eine schlimme Zeit.
Das alte Mädchen von früher machte ihm auf, sah ihm prüfend ins Gesicht und sagte dann: »Ja, ich weiß, Sie sind vom Jahrgang 19. Jawohl, ich kenn Sie noch wieder, wenn Sie auch lange nicht hier waren.«
»Schlechte Zeiten, Fräulein«, sagte Heinz.
»Der Herr Professor hat sich sehr verändert. Er ist nicht mehr im Amt, seit er den Unfall gehabt hat. Aber reden Sie nicht mit ihm davon, es regt ihn bloß auf. Und wenn er Sie nicht erkennt, es freut ihn doch. Nein, gehen Sie ruhig rein, Sie stören ihn nicht.«
Der Professor Degener saß, das Gesicht in die Hand gestützt, am Schreibtisch. Der einstmals flammendrote Haarschopf war nun ganz grau geworden, und als der Professor den Kopf hob und den Besucher anschaute, sah der eine häßliche rote Narbe quer über die einst so schöne, klare Stirn, und auch das eine Auge schien gestört. Das Lid hing tief und bewegungslos über das Auge hinab.
»Ja, Hackendahl, ich weiß wohl«, sagte der alte Lehrer. »Doch, ich erinnere mich, da waren zwei Hackendahls, aber Sie sind der andere, jawohl. Der andere ... Der eine hat mich nie besucht.«
Der alt gewordene Mann lächelte, es war etwas von dem früheren Humor darin, aber so blaß geworden, so blaß! »Wissen Sie, Hackendahl – setzen Sie sich. Sie müssen mir eine Frage beantworten. Sie sind nun älter geworden, und Sie füllen Ihren Platz im Leben aus. Aus dem Ring an Ihrer Hand sehe ich, daß Sie verheiratet sind, vielleicht sind Sie jetzt Vater. Sie nicken, Sie ernähren eine Familie ...«
»Leider nein, ich bin arbeitslos, Herr Professor.«
Der Professor nickte beistimmend. »Ja, ich habe davon gehört, viele sind jetzt arbeitslos. Es scheint ein neuer Beruf zu sein, und kein leichter, wie?«
»Nein«, sagte Heinz Hackendahl.
»Nun, immerhin«, sagte der Professor. »Sie füllen Ihren Platz aus. Sie sind etwas. Und nun sagen Sie mir einmal ganz offen, Schüler Hackendahl, hilft Ihnen das, was Sie bei uns gelernt haben, hilft Ihnen das in Ihrem Leben? Gibt es Ihnen noch etwas?«
Er sah mit dem einen blauen Fritzenauge den ehemaligen Schüler an, das Lid über dem anderen zitterte leise. Der Professor wollte noch keine Antwort, er sprach weiter: »Sehen Sie, ich erinnere mich Ihrer recht gut, Sie waren hinreichend aufgeschlossenen Geistes. Sie haben die Salzluft der homerischen Welt geatmet, und auch der Philosoph Platon war Ihnen nicht nur ein Name. Ja, und nun sagen Sie mir einmal, Schüler Hackendahl, ist von dem allen, was Sie bei uns lernten, noch etwas in Ihnen? Hilft es Ihnen? Freut es Sie?«
Heinz Hackendahl hatte nie darüber nachgedacht, das lag alles so weit, so weit zurück. Etwas Fremdes, halb Vergessenes, das erst jetzt bei den Worten des Lehrers langsam wieder lebendig wurde. Aber daß er erst überlegen mußte, das war wohl schon eine Antwort auf des Professors Frage, aber diese Antwort dem alten Mann zu geben, scheute er sich.
»Sehen Sie, Hackendahl«, fing Professor Degener wieder an. »Ich sitze hier viel und denke nach. Nein, ich bin nicht mehr im Amte, seit ... seit einiger Zeit nicht. Ich bin auch arbeitslos, aber freilich, ich bin ein alter Mann, ich habe mein Tagewerk hinter mir. Und nun muß ich mich immer fragen: Habe ich mein Tagewerk auch wirklich getan? Ich habe es mir ausgerechnet: Ich habe weit über tausend junge Menschen in die Welt der Griechen eingeführt, aber habe ich sie auch wirklich eingeführt? Daß ihnen etwas davon verblieb?«
Er hatte das Kinn in die Hand gestützt, und sein blaues Auge sah Heinz Hackendahl so klar und aufmerksam wie nur je an.
»Keiner hätte es schöner tun können als Sie, Herr Professor!« rief Heinz Hackendahl aus.
»Sie sollen Ihrem Lehrer keine Zensuren ausstellen, Schüler Hackendahl«, lächelte der alte Mann. »Sie sollen mir antworten, was Sie sich mitgenommen haben aus diesen Stunden. Denken Sie noch manchmal an Ihren Homer ...?«
»Ich lebe in einer so anderen Welt ...«
»Also auch nicht«, sagte der Lehrer betrübt. »Auch er nicht. So viele ich frage. Sehen Sie, Hackendahl, wenn man alt geworden ist, dann fängt man an, sich zu fragen: Warum hast du eigentlich gelebt? Was hast du geleistet? Da draußen ist so viel eingestürzt von dem, was uns älteren Menschen lieb und wert war, und alle Tage stürzt noch mehr ein ... Aber ich habe mich dann trösten wollen, ich habe mir gesagt: Du hast über tausend junge Menschen belehrt, du hast sie eingeführt in eine Welt der Schönheit, des Männermuts, von Liebe und Kampf ... Aber es ist nichts damit, euch allen bedeutet diese Welt gar nichts, es ist ein falscher Trost ...«
Der Professor sah den alten Schüler nicht mehr an, er sah nieder auf den Schreibtisch, auf das verbrauchte, grüne Tuch, auf dem die Arbeiten von tausend jungen Menschen gelegen hatten. Er hatte sie gelesen, zensiert, hatte verbessert, gemahnt, angefeuert, gelobt und getadelt. Aber es war nichts davon geblieben. Es war genauso, wie wenn ein Kind Striche in den Sand zieht; der Tau macht sie undeutlich, der Wind trägt den Sand fort, der Regen löscht die Striche aus: Es bleibt nichts. Reine Spielerei!
Der Schüler Hackendahl sah auf den alten Lehrer, er sagte: »Herr Professor, wir, die wir jetzt arbeitslos sind, wir denken auch oft wie Sie: Wozu leben wir eigentlich? Wir dürfen gar nichts leisten. Wenn ich da auf der Stempelstelle stehe – das ist ein Ort, Herr Professor, wo wir alle Tage hin müssen, um zu beweisen, daß wir auch wirklich nichts arbeiten, denn das ist heute unsere einzige Pflicht, nichts zu tun –, wenn ich da also auf dieser Stempelstelle zwischen den anderen bin, dann ist mir so, als würde ich unfaßbar schnell immer älter. Es ist so schwer zu erklären: als sei ich eben noch jung gewesen, und als würde ich nun unendlich schnell alt. Dazwischen aber liege gar nichts: keine Leistung, keine Freude, nur ein unfaßbar schnelles Altern ...«
»Wie bei mir«, murmelte Professor Degener. »Ich wollte auch noch nicht alt werden, und plötzlich war ich es und merkte, ich hatte noch nichts getan ...«
»Da ist einem die Schulzeit«, sagte wieder Heinz Hackendahl, »unendlich weit ab, als sei sie nie richtig gewesen. Aber«, sagte er und legte sachte seine Hand über die dünne, weiße, blauädrige Gelehrtenhand, »aber wenn man auch nicht an die ›Ilias‹ denkt und nicht mehr an die ›Antigone‹ – ich habe immer an etwas gedacht, was Sie mir einmal gesagt haben. Sie haben mir einmal gesagt, als es mir ganz schlecht ging: Man kann in den Dreck fallen, aber man muß nicht darin liegenbleiben. Und ein andermal, als ich große Pläne hatte, haben Sie gesagt: Zuerst die Zelle gesund, sonst kann der Körper nicht gesund werden ...«
Der Professor schüttelte unzufrieden den Kopf. »Das sind so Sprüche, Hackendahl. Die kann Ihnen jeder sagen, das ist nichts. Das hat nichts mit Griechentum und meiner Lebensarbeit zu tun.«
»Gewiß, solche Sprüche kann man vielleicht überall hören, Herr Professor. Aber überall haften sie nicht. Nicht, wenn sie irgendeiner sagt, helfen sie. Weil Sie mir das gesagt haben, deshalb hat es geholfen.«
Wieder war der Professor nicht zufrieden. »Ach, Hackendahl, weil es Ihnen grade schlecht ging, weil Ihr Herz aufgeschlossen war grade damals, deswegen hat es gewirkt. Das hat gar nichts mit mir zu tun. Hundertmal können Sie sagen ›Ehrlich währt am längsten‹, und keiner hört hin. Aber wenn Sie es grade einem sagen, der etwas Unehrliches tun will dann haftet es. Nein, das hat alles nichts mit mir zu tun.«
Und er stützte wieder den Kopf in die Hand.
»Sie wollen mir durchaus nicht geholfen haben, Herr Professor. Aber darum haben Sie es doch getan. Wenn es so wäre, daß es ganz egal ist, wer unser Lehrer gewesen ist, wenn statt Ihrer auch ruhig ein anderer den zweiten Aorist mit uns hätte pauken können, nun, warum kommen wir dann immer noch zu Ihnen, besinnen uns immer wieder auf Sie? Den Homer habe ich vielleicht für eine Weile vergessen, aber den Professor Degener habe ich nicht vergessen. Und so geht es doch vielen.«
»Es kommt kaum einer mehr«, sagte der Professor. »Es geht fast nie mehr die Klingel.«
Aber gerade, als er das sagte, ging draußen die Klingel, und herein trat ein alter Klassenkamerad von Heinz Hackendahl, der Hoffmann; größer geworden, massiger geworden, mit einigen Schmissen im Gesicht, aber trotzdem noch wohl zu erkennen ...
Sie begrüßten einander, und Heinz Hackendahl rief: »Höre einmal, Hoffmann. Herr Professor will durchaus ein Lehrer wie alle gewesen sein, am Ende behauptet er noch, es machte keinen Unterschied, ob der Kandidat – wie hieß er doch? Lieblich, Liebreich, Liebling? – uns unterrichtet hätte oder er?«
»Hoho!« lachte Hoffmann in gewaltigem Baß. »Das wollen wir doch lieber nicht sagen. Weißt du noch, Hackendahl, wie wir ihn geärgert hatten, und wir mußten in sein Klassenzimmer zur Abbitte? Das verlangten Sie, Herr Professor!«
»Ihr werdet euch schlimm genug benommen haben!«
»Er war eine Wanze, eine völlig verächtliche Wanze!« sprach Hoffmann und geriet ohne alle Schwierigkeiten in den alten Schülerton. Und überhaupt reisten die beiden sehr rasch in die alten Schülertage zurück, und nach einer Weile reiste ihnen auch der Professor nach, fort aus den heutigen Zeiten ...
Das alte Mädchen mußte Tee und Kuchen bringen. Ein wenig besorgt suchte der Lehrer nach einer Zigarre, die leicht genug war, der Jugend nicht zu schaden, und er verblüffte den Schüler Hoffmann höchlichst dadurch, daß er ihm heute, nach Jahren und Jahren, verriet, daß der Lehrer sehr wohl gemerkt hatte, der Abiturient Hoffmann hatte seine Examensarbeit abgeschrieben. »Aber ich wollte Sie nicht reinlegen, Hoffmann. Es war das letzte Notabitur mit sehr geringen Anforderungen, einer normalen Prüfung wären Sie nie gewachsen gewesen. Sie waren immer ein fauler Mensch, Hoffmann!«
Sie wurden noch ganz vergnügt, alle drei, auch der alte Lehrer. Er zerbrach sich nicht mehr den Kopf darüber, was er denn eigentlich im Leben vollbracht hatte – schon im allgemeinen ist das eine recht heikle Frage, und zur Zeit war sie noch heikler ...
Später gingen Hoffmann und Hackendahl gemeinsam nach Haus. »Warte, ich bringe dich«, sagte Hoffmann. »Wo wohnst du eigentlich, Hackendahl?«
»Nein, ich bringe dich«, sagte Hackendahl. »Ich habe Zeit ...«
»Was die betrifft, ich auch massenhaft!« sprach Hoffmann. »Ich habe zwar vor netto zweieinhalb Jahren meinen Referendar gemacht, aber auf Beschäftigung darf ich wohl noch einmal zweieinhalb Jahre warten. Oder auch fünf.«
»Also auch arbeitslos?«
»Natürlich, was denn sonst? Was ich von unserem Jahrgang noch sehe, das ist alles arbeitslos. Bitter, mein Sohn Hackendahl, drei, vier Jahre studiert und dann nichts mehr.«
»Ich habe auch vier Jahre gelernt.«
»Aber dann hast du doch etwas arbeiten können! Wir haben uns immer feste auf das Leben und seine Arbeit vorbereitet, und wie wir dann soweit waren für die Arbeit, da war die Arbeit weg. – Und was machst du? Schon verheiratet und Vater? Das hast du doch geschafft! Ich freilich hinwiederum ...«
»Das kannst du alle Tage schaffen.«
»Rede nicht leichtfertig. Wieso denn? Dieses, mein Sohn Hackendahl«, sprach Hoffmann und bewegte seine gewaltigen Glieder vorsichtig im Tuchgehäuse, »dieses ist der einzige mir noch verbliebene anständige Anzug. Nur für feierliche Gelegenheiten wie einen Besuch bei Professor Degener oder eine völlig erfolglose Bewerbung wird er noch getragen. Meine anderen Hosen – nun schön, meine alte Dame erklärt, sie seien nicht mehr zu flicken!«
»Alles wie bei uns!« rief Heinz Hackendahl. Und es ist nicht zu leugnen, er war fast erfreut darüber, daß es dem »Akademiker« nicht anders erging.
»Nur daß ihr stempeln gehen könnt«, sprach Hoffmann. »Unser Hosenhintern hat zwar wie der eure Löcher, aber dafür haben wir Vorurteile ... Stempeln gilt bei uns nicht für fein.«
»Ein paar Akademiker stempeln auch bei uns«, meinte Hackendahl.
»Na ja«, sagte Hoffmann. »Das sind so Bahnbrecher. Bald wird kommen der Tag, da der Vater, der Edle, spricht: Ich bleche nicht fürder ...«
»Ein bißchen anders hattest du es dir gedacht, was?«
»Was gedacht ...?«
»Na, den ganzen Klimbim, das Leben.«
»Freilich, freilich ... Es ist schon eine Scheiße.«
»Jawohl, Scheiße!«
»Freilich, Scheiße!«
Und einige Minuten vergnügten sie sich damit, einander das Wort »Scheiße« ins Gesicht zu sagen. Es war nicht bloß ein Wort für sie, es war wirklich – Scheiße.
Später sprachen sie von ihrem alten Lehrer, von Professor Degener ...
»Was ist denn das für ein Unfall gewesen?« fragte Heinz Hackendahl. »Weißt du was davon, Hoffmann?«
»Versteht sich. Hast du nicht gehört ...? Eine bildschöne Sache – paßt gut in die allgemeine Scheiße.«
Und Hoffmann berichtete, daß Herr Professor Degener, ein Mann schließlich, der allen demonstrativen Bekundungen seiner Gefühle abhold war, immerhin bei gebotenem Anlaß auf dem Balkon seiner Wohnung eine schwarzweißrote Fahne angebracht hatte. Dieser Balkon nun grenzte, wie das in der Großstadt einmal ist, an einen anderen Balkon, dessen Besitzer nicht für Schwarzweißrot war, sondern die rote Fahne vorzog ...
Da sich der Reichstag ebenfalls über die Frage nach der Farbe des deutschen Flaggentuches veruneinigte, eine Regierung darüber gestürzt wurde und der alte Herr von Hindenburg persönlich eingriff, aber erfolglos, denn die Gemüter waren bereits zu sehr erbittert – da also das ganze deutsche Volk seinen Flaggenstreit hatte, sah der Balkonnachbar nicht ein, warum er nicht auch den seinen haben sollte: Er nahm die schwarzweißrote Fahne des Professors durch Übergriff auf den fremden Balkon an sich und zerknickte sie.
Der Professor, mehr ein stiller Gelehrter, doch nicht ohne Feuergeist, hatte Flaggen bis dato nicht für wichtig erachtet, aber Flaggenschändung erachtete er für überaus wichtig. So ersetzte er die zerbrochene Fahne durch eine neue und legte sich auf die Lauer ...
Aber ein alter Lehrer hat darin nichts vor seinem jüngsten Schüler voraus: Er muß so pünktlich in der Schule sein wie er. Als der Professor am Mittag aus der Schule kam, mußte er feststellen, daß diesmal nicht nur seine schwarzweißrote Fahne verschwunden, sondern daß statt ihrer auf seinem Balkon eine rote erschienen war.
Professor Degener war ein humanistisch gebildeter Mann und daher der Meinung, auch im schlechtesten Menschen stecke etwas Gutes, das man mit Milde hervorlocken müsse.
Sanft rollte der Lehrer die fremde Fahne zusammen, erlaubte sich einen Übergriff durch Zurückstellen der Fahne auf den Nachbarbalkon und machte sich persönlich auf den Weg, ein ihm gemäßes Flaggentuch zu kaufen. So weit war er inzwischen aber doch warm geworden, daß er eine größere und stabilere Fahne als bisher kaufte. Diese neue war nicht so ohne weiteres zu zerknicken.
Als er zurückkam, wehte wiederum die rote Fahne vor seiner Zinne, diesmal aber stand auch der Nachbar auf seinen Balkon und sah aus finsterem Auge auf den Gelehrten. Der hatte sich bisher wenig Gedanken über den Täter gemacht; nun sah er ihn, recht groß, recht massig, mit dunkler Augen ...
»Entschuldigen«, sprach der Professor sanft und fing an die Bindfäden, die die Fahne am Balkongitter hielten, zu lösen.
»Die Fahne bleibt!« sprach der Nachbar drohend.
»Keineswegs!« antwortete der Professor und knotete weiter. »Ihre Gesinnung ist nicht meine Gesinnung, daher wäre es eine Lüge ...«
»Die Pfoten weg!« befahl der andere. »Ich lasse mir mit Ihrem Lappen nicht die Fassade schänden!«
»Sie werden zugeben müssen«, sprach der Professor direkter, »daß eine aufgezwungene Gesinnung nur eine Sklavengesinnung sein kann. Grade wenn Ihnen Ihre Fahne lieb ist ...«
»Ihr Lappen kotzt mich an«, sprach der Dicke. »Willem sein Lappen!« Und heiser fing er an zu singen: »O Tannebaum, o Tannebaum, der Kaiser hat in'n Sack gehaun!«
Der Professor hatte die Fahne gelöst, er hielt sie in der Hand, er sprach erregter: »Es ist unwürdig, eines Mannes zu spotten, der wohl schwach, nie aber schlecht war. Ich bitte Sie ...«
»Laß deinen Lappen beiseite, Männeken!« sprach der Dicke drohend. »Ick werde dir zeigen, wer schwach ist ...«
Der Professor entfaltete unbeirrt die eigene Fahne. Der Dicke langte von Zeit zu Zeit über die Trennwand und vereitelte durch kleine Stöße das Anbinden. Professor Degener ging zwei Schritte weiter und knotete außer Reichweite. Der Feind nahm die zusammengerollte eigene Fahne und stieß mit ihr nach dem anderen ...
»Lassen Sie das ...«, sprach der Professor und ging bis an das Ende seines Balkons ...
»Die Fahne bleibt weg!« brüllte der Dicke drohend, aber es war nur leere Drohung: Der Feind war außer Reichweite.
Professor Degener, der (irrtümlich) glaubte, der Flaggenkonflikt sei durch Ausweichen gelöst, knotete still weiter. (Einem ähnlichen Irrtum waren die Herren im Reichstag verfallen, als sie die schwarzweißrote Gösch erfunden hatten.)
»Du nimmst den Rotzlappen weg!« brüllte der Dicke, aber stumm knotete der Professor.
Jetzt war der Feind in Siedehitze. Zuerst machte er Anstalten, von einem Balkon zum anderen zu klettern, aber ein Blick in die Tiefe erhielt ihn dem Leben. Er nahm einen Blumentopf und warf ...
»Lassen Sie diese Ungehörigkeiten!« sprach der Professor, sich umdrehend. Ihm war noch nicht klargeworden, daß ein Blumentopf etwas anderes ist als ein Schneeball, daß ein frecher Schüler ungefährlicher ist als ein erhitzter Parteimann.
Der zweite Blumentopf fuhr in das sich umwendende Gesicht und zerbrach. Der Professor stieß einen O-Laut aus, nicht so sehr aus körperlichem Schmerz, als aus Trauer über seine Menschen. Dann fiel er rücklings ...
Der Gegner starrte finster auf den gefallenen Mann, murrte: »Das wird ihn lehren, seinen Drecklappen woandershin zu hängen!« und verschwand ...
»Ist er denn wenigstens eingelocht?« fragte Heinz erbittert.
»I wo, der Professor stellt doch keinen Strafantrag. Nein, er hatte alles dicke, er wollte nicht mehr, hat sich auch gleich pensionieren lassen. Man kann es schon verstehen, wenn einer die Lust verliert ...«
»Ja, er ist alt. Er hat was gehabt im Leben – aber wir ...?«
»Ja, wir ... haben auch die Lust verloren, was? Aber schon vorher!«
»Schon vorher, jawohl!«
»Denke dir das bloß mal aus, Hackendahl, ich bin jetzt siebenundzwanzig, kriege schon Bauch und Glatze – und habe noch keinen Pfennig Geld verdient. Doch halt, daß ich nicht lüge: mit siebzehn und achtzehn fünf Mark die Woche für Nachhilfestunden. Aber so gut ist es mir seitdem nicht wieder gegangen.«
»Es mag ja noch mal anders kommen, Hoffmann.«
»Da lauer man drauf! Wenn wir's nicht anders kommen machen, Hackendahl!«
»Aber wie?«
»Ja, mein Sohn, das ist die Frage, wie?«
Bei Heinz Hackendahl wechselten Zeiten tiefster Niedergeschlagenheit mit Perioden stärkster Anspannung.
War er niedergeschlagen, so wurde ihm sogar der Weg zur Stempelstelle zu einer fast unmöglichen Aufgabe. Auf diesem Wege begegnete er den Glücklichen, die zur Arbeit gingen, die Aktentasche mit dem Frühstück unter dem Arm. Sie sahen ihn gedankenlos an, oder sie fanden vielleicht seinen Mantel reichlich schäbig.
Dann starrte er verbissen, sie waren so viel jünger als er, Jahr für Jahr kam eine neue Generation in die Arbeit – und eine tiefe, peinigende Angst überfiel ihn, daß er alt wurde, immer älter, bis er zu jeder Arbeit untauglich sein würde, ehe er noch recht gearbeitet hatte! Verbraucht, von Arbeitslosigkeit verbraucht!
Dann kam er wieder auf die Stempelstelle, reihte sich ein in die Schlange der anderen, einer von vielen, einer von immer mehr Arbeitslosen.
Nun kannte er schon bestimmte Gestalten, fürchtete die Nachbarschaft mancher, andere suchte er. Einer war da, sicher ein ganz dummer Kerl, der immer strahlend sagte: »Na, Kolleje, ooch wieder mal hier? Na, laß man, die längste Zeit ham wir hier nu jestanden!«
Das sagte er, Woche für Woche, Monat für Monat, immer mit demselben freundlichen, ein wenig dämlichen Gesicht, nicht zu erschüttern in seiner Hoffnung.
Dann gab es einen anderen, Marwede hieß er, neben dem mochte Heinz nicht stehen ...
»Tag, Kollege! – Der Kleine, weißt du, der Pries, der immer hierherkam, war früher bei der BEWAG – du kennst ihn doch ...? Der ist nun auch hops. Lysol getrunken. Haben ihn ins Krankenhaus gebracht, war aber schon alles verbrannt ... Jawoll, Kollege, der hat es ausgestanden, wir haben es noch vor uns ...«
Marwede sah Heinz Hackendahl an. »Peinlich zu hören, was? Aber is doch so! Selbstmord oder Verbrechen – das sind unsere Auswege. Sonst nichts!«
»Die Wirtschaft kann auch wieder in Gang kommen«, meinte Heinz.
»Aber wieso denn? Von was denn? Sag mir das mal! Und selbst wenn – uns brauchen sie dann nicht mehr! Dann gibt's so viel Jüngere! Wir können ja gar nicht mehr arbeiten – ich hab's neulich versucht. Geht nicht, nach zwei Stunden wurde mir übel.«
»Du bist eben unterernährt.«
»Und du denkst, das ist bei uns wie bei einem Dampfkessel, eine Schippe Kohlen mehr, eine Fettstulle mehr, dann funkt das Köpfchen wieder? Aber nee, das Köpfchen will nicht mehr, das ist eingeschlafen, das geht uns nicht wieder auf den Leim. Das will seine Ruhe haben. Selbstmord oder Verbrechen, Kollege, sonst nichts!«
»Vorläufig kannst du noch stempeln«, sagte Heinz, unnötig wütend.
»Ja, vorläufig. Du weißt nicht, Kollege, wie mir manchmal morgens ist. Da lieg ich denn auf der Falle, ausgezogen habe ich mich abends sicherheitshalber erst gar nicht, weil man doch nie weiß, ob man morgens Lust hat, sich wieder anzuziehen. Da liege ich denn und zähle mir an den Knöppen ab, Selbstmord, Verbrechen, Stempeln ...?«
»Du mußt komische Knöppe haben, daß die immer fürs Stempeln sind ...«
»Nee, weil ich feige bin, Mensch, man muß sich doch nich 'ne Soße um alles rum machen! Feige ist der Mensch vor allem, feige – du, ich; alle sind sie feige.«
»Dann quassel hier auch nicht von Selbstmord und Verbrechen!«
»Sag lieber nichts! Plötzlich ist so'n Ding passiert! Weißt du, ich habe alle Abende so'ne Bar an der Tauentzien auf dem Kieker. Da kommt immer so ein Dicker, der hat eine ganz geschwollene Brieftasche ... Und so gegen eins geht er im Halbdustern schräg über'n Wittenbergplatz ...«
»Halt deinen Sabbel!« schrie Hackendahl wütend. »Alles Angabe von dir!«
»Reg dich bloß nicht so künstlich auf! Du hast wohl auch schon an so was gedacht, daß du dich so künstlich aufregst. Aber du bist natürlich genauso feige wie ich.«
»Wenn du jetzt nicht die Fresse hältst, Marwede!« Und Heinz Hackendahl zeigte ihm drohend die Faust.
Aber nach so etwas kam er völlig erledigt nach Haus. Da sah er dann seinen Sohn, dieses Kind Otto, das so merkwürdig wenig weinte. Es hatte im Bettchen gelegen, da ging sein Vater stempeln. Als es seine ersten Laufversuche machte, ging sein Vater stempeln. Otto lernte sprechen, und sein Vater ging derweile stempeln. Und sah sich immer weiter stempeln gehen, vielleicht konnte ihm sein Sohn, noch etwas später, ein bißchen Gesellschaft leisten auf dem Wege zur Stempelstelle. Und noch später, dann stempelten sie vielleicht gemeinsam, Vater und Sohn.
So konnte man manchmal denken, und dann klangen einem die Worte Selbstmord oder Verbrechen so unheilvoll im Ohr ...
»Du, Irma«, sagte er dann. »Ist dir das immer noch nicht über, mit einem Arbeitslosen zum Mann?«
»Schlechte Stimmung?« fragte sie. »Laß man, es wird schon wieder. Ganz plötzlich, paß auf, wenn du ganz verzweifelt bist ...«
»Dann müßte es allerdings wirklich plötzlich kommen, so etwa in den nächsten drei Minuten ... Nein, ob du es noch nicht über hast, frage ich?«
»I wo! Ein richtiger Berliner verliert den Mut noch lange nicht. Geh jetzt mal los zu Mutter. Die wollte sehen, ob sie Heringe für uns kriegt. Beeil dich aber ein bißchen!«
»Heringsbändiger!« sagte er, ging aber doch.
Und dann kam wieder ein Tag, und alles war anders. Der Himmel brauchte gar nicht etwa blau zu sein, es konnte ruhig regnen, aber das Herz schlug anders, es schlug kraftvoll, hoffnungsvoll. Das wäre doch gelacht, dachte er, wenn ich mich unterkriegen ließe! Ich habe so ein Gefühl ... Er fuhr mit beiden Beinen aus dem Bett.
»Ich habe so ein Gefühl, Irma«, sagte er, »heute passiert was. Natürlich was Angenehmes. Und mit dem Essen warte nicht auf mich, ich will heute mal zur Sophie ...«
»Gut«, sagte sie. »Hals- und Beinbruch!«
An solchen optimistischen Tagen war das Stehen an der Stempelstelle nur dann unangenehm, wenn es lange dauerte. Über Marwede konnte man bloß lachen. »Na, immer noch kein Mord? Kein Selbstmord? Kollege, du wirst hier sicher noch dein goldenes Jubiläum feiern! Du wirst Ehren-Arbeitsloser, mit der Stempelkarte am Band!«
Worüber dann Marwede wieder in Wut geriet!
Aber das war einem egal. Kaum war die Stempelei vorüber, raste man los. Man hatte einen Elan, man hatte einen Schwung im Leibe. In den Zeitungshäusern kriegte man immer gleich die Zeitungen, die man brauchte, sah sofort die Inserate, die etwas versprachen. Und lief wieder los.
Und der Schwung, der Glaube, die Hoffnungsfreudigkeit trugen einen in die fremden Büros, man überrannte mit lächelnder Miene seine Mitbewerber, man bezauberte die Personalchefs, entlockte den griesgrämigsten Arbeitgebern ein Lächeln. Dann konnte man einfach alles: nicht nur doppelte Buchführung, italienische wie amerikanische, selbstverständlich bilanzsicher, sondern auch Schreibmaschine, Stenographie, englische und französische Korrespondenz. Schaufenster dekorieren? Selbstverständlich, können wir auch ...
An solchen Tagen war es einem fast egal, wenn sie schließlich doch nur sagten: »Sie bekommen Bescheid von uns.« (Der Bescheid kam nie.) Oder: »Alles besetzt! Leider – grade so was wie Sie hätten wir gebraucht. – Na, wir merken Sie vor.«
Und man zuckte kaum, wenn es hieß: »Was, das Inserat? Das haben wir doch schon vor sechs Wochen aufgegeben! Die Brüder drucken's einfach noch mal, damit sie überhaupt ein Stellenangebot in ihrem Blättchen haben. – Tut uns sehr leid, aber – vielleicht schlagen Sie mal auf der Zeitung Krach?«
Nein, man rannte weiter, wenn es hier nicht war, so war es dort. Irgendwo mußte es sein, heute, man hatte schon am Morgen solch Gefühl gehabt ...
Und wenn dann doch alle Wege umsonst gelaufen waren, so bewies das noch gar nichts, dann ging man einfach zu Sophie ...
»Na, wieder mal auf der Jagd?« fragte Sophie kühl. »Schön, daß du den Mut nicht verlierst. Natürlich kannst du den Abziehapparat benutzen. Sieh aber, daß du ihn zum Schluß gut rein machst, das letztemal waren die Walzen ganz verschmutzt!«
Auch das kümmerte einen nicht, trotzdem man den Apparat tadellos gesäubert hinterlassen hatte. Aber wer weiß, wer alles sonst noch sich Zeugnisse abzog, die Nachfrage nach solchen Apparaten war ungeheuer ...
»Hast du schon Mittag gegessen?« fragte die Oberin Sophie. »So, so. Ich glaube es dir zwar nicht, aber zwingen will ich dich nicht. Na, denn man los! Du weißt ja mit allem Bescheid. Und bitte, was ich noch sagen wollte, wenn du durchaus rauchen mußt, ich stelle dir Zigaretten hin – nimm die, bitte. Deine riechen so entsetzlich. Das Büro ist hinterher völlig unbenutzbar.«
Damit ging sie. Vielleicht war sie wirklich so, vielleicht hatte sie sich diesen Ton nur angewöhnt. Wer ein großes Haus mit vielen weiblichen Wesen darin in Ordnung zu halten hat, darf nicht sanft und lieblich sein. Also, sanft und lieblich war sie nicht. Nie gewesen.
Doch ein wenig verärgert, brachte Heinz seinen Abziehapparat in Gang. Allmählich aber trug ihn sein Schwung über den kleinen Ärger fort. Er mußte gut aufpassen, er wollte nur erstklassige Abzüge versenden, die Farbe tiefschwarz, aber doch kein bißchen geschmiert – der erste Eindruck, das Äußere einer solchen Bewerbung war so enorm wichtig. Es waren ja eigentlich nur sehr wenig Zeugnisse: das Lehrzeugnis von der Bank und das Abgangszeugnis von der Bank. Für jemanden Mitte der Zwanzig verdammt wenig. Es sah aus, als habe der Kerl nie gearbeitet.
Aber Heinz Hackendahl hatte sich geholfen: Zuerst hatte er sein Abiturientenzeugnis hinzugefügt. Und später, weil es doch auch recht gut war, sein Einjährig-Freiwilligen-Zeugnis.
Von dem Lebenslauf wurden der Sicherheit wegen auch Abzüge gemacht, obwohl manche ihn nur handgeschrieben haben wollten. Andere freilich haßten wieder das von der Hand Geschriebene, sie sahen handschriftliche Bewerbungen überhaupt nicht an.
Er versucht, sich die Stellung auszudenken, die er auf Grund seiner Bewerbungen bekommen wird – nein, beileibe nichts Großes, er verlangt nicht viel: normales Gehalt, der Chef oder Abteilungsvorsteher braucht nicht besonders liebenswürdig zu sein, die Kollegen, nun, Kollegen hin, Kollegen her – es wird sich schon mit ihnen leben lassen! Nichts Himmelstürmendes, nur eine nette Arbeit, eine Sache mit Schwung: Hackendahl, bitte erledigen Sie mir das noch schnell. Bleiben Sie heute eine Stunde länger. Sonst schaffen wir die Arbeit nicht.
Oh, daß es einmal Zeiten gegeben hatte, in denen einem angst war, die Arbeit nicht zu schaffen, da es zuviel Arbeit gab! Heute streckte man die Arbeit, damit sie für recht viele reichte, man erfand den Kurzarbeiter. (Im Kriege hatte man den Schwerarbeiter erfunden, der zerstörende Krieg war ein besserer Arbeitgeber gewesen als der aufbauende, sie nannten es Frieden ...)
Manchmal knurrte der Magen, dann dachte man an die Schwester, an die Oberin Sophie. Sie hatte sich nach dem Mittagessen erkundigt, und er hatte abgelehnt. Eine andere hätte vielleicht doch Mittagessen gebracht oder wenigstens einen Teller mit irgend etwas. Schließlich war man hier in einer Klinik, einem Haus, in dessen Küche es immer was zu essen gab ...
Aber so war Sophie nicht. Bitte schön, wer dankt, hat schon, ich will niemandem etwas aufdrängen.
Manchmal sieht sie zu ihm herein, aber nicht des Essens wegen, sondern wahrscheinlich mehr als Aufsicht für den Abziehapparat. Und natürlich auch, daß er keine seiner stinkenden Zigaretten raucht.
Aber davon spricht sie nicht, das ist erledigt. Sie hat ihre Wünsche geäußert, und das muß genügen. Sondern sie sagt etwa: »Hast du abends noch Zeit, Bubi? Schön! Ich habe da eine kleine Differenz mit dem Finanzamt, wegen der Umsatzsteuer. – Du könntest mir das mal aus den Büchern ausziehen.«
Sie nickt und geht wieder.
Wäre Heinz nicht so guter Laune, würde er sich über Sophie ärgern. Dies ist wiederum sie: Sie stellt dem Bruder kostenlos einen Abziehapparat zur Verfügung, ein kompliziertes Ding mit Walzen und Rädern, das natürlich nur eine bestimmte Lebensdauer hat und durch jede Benutzung seinem Ende näher gebracht wird – also, wie gesagt, kostenlos, trotz Farbverbrauchs und Abnutzung. Aber dafür kann der Bruder am Abend ein bißchen in die Geschäftsbücher sehen, drei oder vier Stunden.
Ist sie geizig? Vielleicht ist sie nur genau. Sie will nichts verschenken. Ihr ist im Leben auch nichts geschenkt worden, nein, sie ist gegen die Schenkerei.
Im Anfang, beim ersten Male, hat Heinz noch gedacht, sie würde ihm am Schluß solcher Steuerberatung geschwisterlich ein Fünfmarkstück in die Hand drücken. (Und er war entschlossen gewesen, dies Fünfmarkstück zurückzuweisen.) Aber sie hatte gesagt: »Danke schön, Heinz. Du weißt, ich darf dir kein Geld geben. Da du Erwerbslosenunterstützung erhältst, wäre das verbotene Schwarzarbeit.«
Komisch, komisch! Früher war sie spitz, sauer und flachbrüstig gewesen. Rund und fett war sie aus dem Feld gekommen, aber innerlich war sie genauso spitz und sauer geblieben, wie sie von Jugend an gewesen ...
Später kommt sie noch einmal herein. Diesmal läßt sie sich Zeit, sie bleibt nicht nur zwischen Tür und Angel. Sie setzt sich in den Schreibtischstuhl, nimmt eine von den dort hingestellten Zigaretten (ohne natürlich eine Bemerkung darüber zu machen, daß er keine genommen hat) und raucht ihm was vor ...
Sie sieht ihm zu, schließlich fängt sie zu sprechen an, sie klagt über Vater. Sie hat so viel für Vater getan, hat ihn neu eingekleidet, einen Plattenwagen gekauft, auch einen Halb-Landauer, sie ist sogar bereit, ein neues Pferd zu kaufen. »Aber Vater ist so widerborstig! Du sollst ja Einfluß auf ihn haben, wie mir Mutter erzählt hat. Sprich du doch mal mit ihm, Heinz ...«
»Wieso ist er widerborstig?«
»Einmal behandelt er mir die Patienten nicht nett genug ... Gott, es sind eben Patienten, kranke Leute, und nebenbei fast immer sehr wohlhabende Leute ... Da muß man sich eben auf ihre Wünsche einstellen, auch wenn sie ein bißchen quengelig sind. Neulich hat er doch wahrhaftig Herrn Fabrikbesitzer Otto, du weißt doch, von den großen Akkumulatorenwerken, mitten auf der Straße angeschnauzt, er solle machen, daß er aus seinem Wagen komme!«
»Vater ist eben alt!«
»Er sagt doch immer, daß er eisern ist. Soll er es mal zeigen! Natürlich ist Herr Otto quengelig, aber ich komme immer mit ihm zurecht. Und dann das mit dem Geld. Vater findet stets, ich zahle ihm nicht genug. Er sagt, mit seiner Droschke verdient er mehr. Aber er muß doch bedenken, daß ich alles angeschafft habe, Wagen und Kleidung, er ist doch gewissermaßen nur Lohnkutscher. Ich habe mich bei Mutter erkundigt, was sie in der Woche brauchen, das bekommt er. Er soll ja schließlich nicht reich werden mit dieser Fahrerei.«
Sie betrachtet sinnend den Bruder. Dann steht sie auf, die Zigarette ist aufgeraucht.
»Also schön, du redest mal mit Vater darüber. Er muß einsehen, daß ich zu einem kleinen, festen Wochenlohn Dutzende, Hunderte bekommen kann. Und daß es für mich nicht übermäßig angenehm ist, wenn er allen Patienten erzählt, er ist der älteste Droschkenkutscher von Berlin, der eiserne Gustav, und die Oberin ist seine Tochter.«
Heinz dreht eifrig die Kurbel seiner Maschine und gibt der Schwester keine Antwort. Sie scheint auch keine zu erwarten. Sie hat ihm gesagt, was sie sagen wollte, und nun geht sie ...
Heinz wird mit Vater natürlich nicht hierüber sprechen. Wenn Sophie Streit mit Vater anfangen will, so ist er dazu nicht nötig. Das Leben ist auch ohnedies kompliziert genug.
Als Heinz genug Abzüge fertig hat, setzt er sich an den Schreibtisch und fängt mit den Bewerbungen an. Eigentlich hat er das zu Haus tun wollen, aber da er am Abend noch die Bücher für Sophie durchsehen soll, lohnt es den Heimweg nicht. Hoffentlich macht sich Irma keine Gedanken über sein Ausbleiben.
Er fängt mit seiner unpersönlichen, schwungvollen Buchhalterschrift an: »Sehr geehrte Firma!« Er hat sich fünf oder sechs Inserate notiert, die den Vermerk tragen: »Nur schriftliche Bewerbungen« ... Wenn er sich daranhält und Sophie nicht zu oft stört, muß das bis zum Abend zu schaffen sein. Dann wird er die Briefe auf dem Heimweg in den Nachtbriefkasten stecken. Vielleicht hat er dann schon übermorgen die Aufforderung, sich persönlich vorzustellen ...
Als er daran denkt, bekommt seine Hand mehr Schwung, fließender preist er seine Vorzüge – immer eine etwa schwierige Sache. Man kann da leicht zuviel tun, Bescheidenheit ist aber auch dumm. Dann klingt so ein Bewerbungsbrief gleich nach gar nichts ... Etwas von dem Morgenschwung ist in ihn zurückgekehrt, die Hoffnung regt sich wieder, beim Aufstehen hat er gedacht: Heute wird es klappen! Jetzt denkt er: Übermorgen klappt es – vielleicht!
Es ist ein bißchen weniger geworden seit dem Morgen aber es ist doch Hoffnung, und mit auch nur ein wenig Hoffnung ist das Leben hundertmal leichter. Dies bißchen macht einen gewaltigen Unterschied aus, ohne dies bißchen ist alles pure Verzweiflung, aber mit ihm ist das Leben recht erträglich.
Da sitzt er und schreibt. Für jeden Bewerbungsbrief nimmt er eine frische Feder. Er pustet über das Papier, ein Stäubchen kann die Gleichmäßigkeit der Schrift stören. Er benutzt ein Linienblatt. Ehe er zu schreiben beginnt, gruppiert er den Stoff im Kopf nach Absätzen, überlegt, wie diese Absätze auf der Briefseite zu verteilen sind: Ein Bewerbungsschreiben darf nicht zu voll aussehen, es darf aber auch nicht an Schwindsucht leiden. Was er noch an Schaffensfreude besitzt, steckt er in diese Bewerbungsbriefe.
Er hat einen Kopf mit Verstand und Gedächtnis. Sein Verstand müßte ihm sagen, daß diese Bewerbungen zwecklos sind. Bei zwei Millionen Arbeitslosen sind die Chancen gegen ihn ungeheuer. Auf der Stempelstelle erzählen sie, daß auf ein einziges Inserat oft zwei-, dreitausend Angebote eingehen, Angebote darunter, die für ein halbes, für ein viertel Tarifgehalt zu arbeiten versprechen, für ein Trinkgeld! Die Aussichten sind gleich Null, die Aussichten lohnen nicht das Porto, seine Arbeitsaussichten lohnen weder Schwung noch neue Feder, noch Papier. Wenn er schriebe: Liebe Firma, ich bin der Mai und mache alles neu! – sein Brief hätte erheblich höhere Aussicht auf Beachtung.
Seine Erinnerung aber müßte ihm sagen, daß er schon Dutzende, schon Hunderte solcher Bewerbungsschreiben losgelassen hat. Was ist ihr Erfolg gewesen? Seine Erinnerung sagt untrüglich: Auf Hunderte von Briefen hat er nie eine Antwort bekommen. Auf zehn Briefe etwa kam der Bescheid, seine Bewerbung werde in Erwägung gezogen, er werde später Näheres hören. (Er hörte nie später Näheres.) Etwa fünfmal wurde er zur Vorstellung gebeten. (Leider inzwischen besetzt.)
Aber er schreibt weiter und hofft. Früher hat man auf den Stempelstellen viel von dem Recht auf Arbeit gefaselt, das jeder Geborene hat. Aber davon wird schon lange nicht mehr gesprochen.
Jetzt besitzt er nur noch die Hoffnung auf Arbeit. Anfallweise. Dann läuft er und schreibt und bewirbt sich.
Und langsam geht die Hoffnung wieder aus ihm, und die endlose, schwere Verzweiflung beginnt neu, in der es ihm fast unmöglich wird, auch nur auf die Stempelstelle zu gehen ...
Während dieser langen Arbeitslosigkeit lächelte Heinz Hackendahl zweimal das Glück: Zweimal fand er Arbeit. Das eine Mal wurde er aushilfsweise auf einer Bank beim Jahresabschluß beschäftigt. Das war herrlich, wieder auf einem ordentlichen Büro zu sitzen und die vertrauten Arbeiten zu tun!
Freilich waren sie nicht mehr ganz vertraut. Viel Neues war dazugekommen. Die in Leinen gebundenen Geschäftsbücher, auf deren erster Seite verschnörkelt von alters her die Worte »Mit Gott« gestanden hatten, waren nun abgeschafft. Auf einzelnen Karten wurde Buch geführt, die Buchführungsmaschine hatte ihren Einzug gehalten, es gab keine Gelegenheit mehr, auch nur in Druckschrift Gottes Erwähnung zu tun ...
Das war neu für Heinz Hackendahl, neu war auch für ihn, daß er Jüngere um Rat und Auskunft fragen mußte. Als er noch in Stellung gewesen war, hatte er zu den Jüngsten gehört. Aber am erstaunlichsten war doch die Entdeckung, daß er nicht mehr stetig hintereinander arbeiten konnte. Es wurde ihm schwer, acht Stunden auf einem Stuhl zu sitzen, mit einer Arbeit vor sich, und mit nichts als dieser Arbeit vor sich. Aus den erwerbslosen Tagen steckte eine peinigende Ruhelosigkeit in ihm. Immerzu hatte er das Bedürfnis, aufzuspringen, herumzulaufen. Daß man acht Stunden lang das gleiche tun sollte, war so schwer zu lernen.
Es war in den langen letzten Monaten immer so gewesen, daß er jeden Augenblick etwas anderes hatte tun können. Er hatte Irma bei einer Arbeit geholfen, und plötzlich hatte er gesagt: »Einen Augenblick, ich hol bloß ein paar Zigaretten!« und war fortgelaufen auf die Straße.
Wenn er dann zurückgekommen war, hatte Irma seine Arbeit meistens schon erledigt, und er hatte ein bißchen mit dem Kleinen gespielt. Dann war ihm auch das über geworden, und wieder war er auf die Straße gegangen, um die ausgehängten Zeitungen zu studieren. Dann war er wieder in die Wohnung zurückgekehrt ...
Damals war ihm nicht recht zu Bewußtsein gekommen, wie ruhelos seine Beschäftigungslosigkeit ihn umtrieb. Aber jetzt, als er wieder vor einer Arbeit saß, fühlte er sie. Sie steckte in ihm, ewig wollte er aufspringen und loslaufen. Nicht an einen bestimmten Ort, zu einem bestimmten Tun – nein, einfach loslaufen ...
Er gab auf sich acht, er hütete sich, diesem Drang nachzugeben. Aber ein paarmal mußte er doch einen Tadel einstecken, daß er zu oft auf die Toilette gehe, man finde ihn nie an seinem Platz. Ihm war klar, daß er auf dieser Bank keine dauernde Arbeit bekommen würde, trotz aller Mühe, die er sich gegeben.
Die zweite Aushilfsbeschäftigung, die er fand, war bei einem großen Textil-Versandhaus. Dort wurden Wochen hintereinander Hunderttausende von Drucksachen versandt, eine riesige Werbung, nach amerikanischen Methoden, um Schwung in den stets zögernder werdenden Absatz zu bringen. Das war die richtige Beschäftigung für Erwerbslose, zu einem Dutzend saßen sie zusammen, Männlein und Weiblein. Drucksachen wurden gefalzt. Anschreiben beigelegt, eine Bestellkarte dazugetan. Es wurden Adressen geschrieben, Briefe kuvertiert – und dann wurde alles in vielen Waschkörben zur Post geschleppt.
Dabei wurde hin und her gelaufen, ständig konnte man seine Beschäftigung wechseln. Jetzt falzte man, jetzt packte man Drucksachen aus. Nun tippte man Adressen, und dann ging es los mit den Waschkörben, drei Straßen weit, zum nächsten Postamt. Und bei alledem wurde gelacht und geschwatzt, das Gefühl, Arbeit zu haben, ein paar Mark zu verdienen, machte auch den Mürrischsten vergnügt.
Es gab kleine Eifersüchteleien, ein bißchen Zank, Diskussionen um ein verschwundenes Bindfadenknäuel. Fräulein Pendel und Herr Lorenz wurden überrascht, wie sie sich hinter der Tür küßten ... »Hallo, hallo, ihr seid die Richtigen! Das nennt ihr wohl auch Drucksachen!«
Nicht enden wollendes Gelächter ...
Hier erwarb sich Heinz Hackendahl die volle Anerkennung seiner Chefs. Er übernahm eine Art Kommando über die undisziplinierte Horde der Erwerbslosen. Es lag ihm, zu vermitteln, Gegensätze auszugleichen, anzutreiben, ein Arbeitspensum rauszuholen ...
»Bis Sonnabend noch die ganze Nordmark, einschließlich Hamburg? Jawohl, das wird sich machen lassen, das werden wir schon schaffen! Sorgen Sie nur dafür, daß wir rechtzeitig Adreßbücher bekommen, die Hauptarbeit macht immer das Adressenschreiben ...«
Eine Zeitlang durfte sich Heinz Hackendahl sogar der Erwartung hingeben, endgültig angestellt zu werden. Man machte ihm Hoffnungen, er war fleißig, voller Verantwortungsgefühl. Dann wurde doch nichts daraus. »Es tut uns leid, Herr Hackendahl, Sie wissen, wie gern wir Sie dauernd beschäftigt hätten. Aber der Erfolg der Werbung ist doch nicht so, wie wir erwarteten. – Nein, machen Sie kein Gesicht, sobald wir jemanden einstellen, denken wir an Sie. Wir schreiben Ihnen dann bestimmt.«(Sie schrieben nie.)
Das waren zwei Lichtblicke, aber von zwei Lichtblicken kommt keine Helligkeit. Das Geld ging drauf für das Allernotwendigste, für Miete und Essen ... Nie auch nur die geringste Anschaffung. – Und es mußte angeschafft werden, die Wäsche verbrauchte sich, die Kleidung verbrauchte sich. Die Schuhe mußten besohlt werden, und bald waren die Schuhe so, daß der Schuster sagte: »Ja, junge Frau, was soll ich mit den Schuhen machen? Die Sohlen sind hin, und das Oberleder ist kaputt – die Schnürsenkel sind noch ganz gut, jawohl, zu den Senkeln würde ich mir an Ihrer Stelle ein Paar neue Schuhe kaufen!«
Die Eheleute rechneten hin und her, aber es ist eine alte Erfahrung, daß nach noch so langem Rechnen zehn Mark zehn Mark geblieben sind, das Rechnen hat sie nicht vermehrt. Die Unterstützungssätze für die Erwerbslosen wurden zwar erhöht, das ließ sich nicht leugnen, aber auch dann reichten sie nicht. Und aus der Erwerbslosenhilfe wurde die Arbeitslosenversicherung, aus der Stempelstelle ein Arbeitsamt. »Davon werden wir auch nicht satt«, murrten die ewig Unzufriedenen.
Nein, es wollte nicht reichen, man mochte rechnen, soviel man wollte. Langsam erst, dann immer schneller ging der Haushalt zurück. Die Hemden wurden morsch und die Mäntel dünn. Zerbrochenes Geschirr wurde nicht mehr ersetzt. Der Gasmann war eine Angst, und der Mann, der den elektrischen Zähler ablas, ein Schrecken. Langsam, langsam kamen sie mit der Miete in Rückstand. Erst blieb ein kleiner Rest, der beim nächsten Zahltag ausgeglichen wurde. Dann wurde der Rest nicht mehr ausgeglichen, und bald war man einen ganzen Monat im Rückstand.
Der Hausverwalter grüßte kaum noch, später kamen Briefe von der Hausverwaltung. Zuerst einfache, höfliche, dann eingeschriebene, strenge, unhöfliche, grobe ...
»Es hilft eben nichts: Wir wohnen zu teuer«, sagte Irma immer wieder, probeweise. »Es ist die Miete, die uns so reinreißt!«
»Warte nur«, sagte er. »Wir wollen nicht vorschnell sein. Vielleicht finde ich in allernächster Zeit was.«
Dann, vier Wochen später, wiederholte Irma ihren Spruch von der zu teuren Miete.
»Laß die Hausverwaltung doch schreiben!« sagte Heinz ärgerlich. »Die können uns den Buckel runterrutschen. Was die mir schreiben, ist mir so egal!«
Aber es war ihm gar nicht egal. Er litt darunter, daß er seine Verpflichtungen nicht erfüllen konnte, wie man so schön sagt. Es war ihm kein Trost, daß man ihm gegenüber die Verpflichtung nicht erfüllte, ihm nämlich nie eine Chance auf Arbeit gab.
Er gab sich einen letzten Stoß und nahm eine Stadtvertretung. Wie Hunderte seiner Leidensgenossen lief er mit einem Köfferchen herum. In dem Köfferchen waren eine Luftpumpe und eine Dose flüssiges Bohnerwachs sowie ein paar Bürsten. Und nun spritzte er jeder Hausfrau, die sich das gefallen ließ, Wachs auf die Dielen und glättete es schönstens ...
Ach, es waren nur wenige, die sich das gefallen ließen! Und von den wenigen bekamen noch weniger Lust, sich seinen Apparat zu kaufen. Und von den wenigen, die Lust bekamen, hatten nur ganz wenige Geld, das Zeugs zu bezahlen – nein, sie lohnte sich nicht, diese Lauferei!
»Laß es doch!« sagte Irma. »Du läufst dir mehr von den Schuhsohlen ab, als der Kram je einbringen kann!«
Und er ließ es. Er ließ es gerne. Er eignete sich nicht zum Verkäufer. Es widerstrebte ihm, einer Frau eine Sache aufzureden, die sie nicht brauchte, einer Frau, die mit Geld bestimmt ebenso knapp war wie Irma. Oft bekam er wegen eines verkauften Apparates Gewissensbisse.
»Was meinst du, wollen wir nicht doch die Wohnung aufgeben ...?«
»Meinetwegen – wenn du meinst.«
»Du weißt doch, die Miete ...«
»Ja doch! Ich sage doch ja!«
»Es hilft ja nichts, Heinz. Und für Mutter ist es auch ein Opfer.«
Natürlich, auch für Frau Quaas war es ein Opfer. Klein, kümmerlich und sorgenvoll nahm sie die Familie bei sich auf. Die Möbel der jungen Hackendahls verstopften ihre nicht große Stube, das meiste kam aber auf den Boden ...
»Jetzt werden wir reichen. Wir sparen nicht nur die Miete – auch mit dem Essen ist es viel einfacher, wo ich für Mutter mit koche. Sie zahlt uns doch einen Zuschuß. Jetzt können wir endlich ein bißchen anschaffen.«
»Zuerst wird die rückständige Miete bezahlt. Ich will keine Schulden haben – grade bei solchen nicht, die so tun, als wäre man ein Lump, bloß weil man keine Arbeit kriegt.«
Ja, nun wurde es ein bißchen leichter für Hackendahls. Irma half im Geschäft, die Mutter half im Hause, es ging wechselseitig hin und her. Man saß ein wenig eng aufeinander, Mutter und Tochter schliefen mit dem Jungen in der einen Stube, er war in die Küche verbannt ...
Es war natürlich eine verkehrte Welt: eine Ehe ohne Ehe, der einfachste Kuß geniert durch die Mutter. Die Frauen arbeitend, der Mann zur Untätigkeit verdammt ... Völlig verkehrte Welt, aber kaum verkehrter als die Welt draußen, die große Welt, die politische Welt, in der sie gerade mit Geschrei (und viel Streit) den Dawesplan starteten, eine Einrichtung, durch die dem Schuldner vom Gläubiger Geld geliehen wurde, damit der mittellose Schuldner nun besser seine Schulden zahlen könne ...
Es gab natürlich manche Erleichterung, manchen Lichtblick: Der Vater, der alte Hackendahl, hielt mit seinem Wagen vor dem Laden, der Junge Otto wurde hineingesetzt, der Vater Heinz setzte sich dazu.
Nun trabte Blücher los, der eiserne Gustav knallte mit der Peitsche, nicht weil dies nötig war, sondern weil es den Jungen freute, und sie fuhren drei, vier Straßenecken weit, begleiteten den Großvater auf seiner Fahrt in die Klinik.
Dann stiegen Vater und Sohn aus, sie gingen langsam zurück, sie blieben vor den Läden stehen, sie hatten Zeit. Kindliches Geschwätz, die kleine Hand vertrauensvoll in der großen – eine gute Sache, eine fromme Täuschung –: Das Kind weiß ja noch nicht, daß der Vater nicht gleich hinter dem lieben Gott kommt, daß er bloß ein Erwerbsloser ist, ein Ausgestoßener, ein Paria. Wie sehr Paria, das sollte er noch erfahren, auch das sollte ihm nicht erspart bleiben. Als er seine Karte zum Stempeln hingibt, sieht der Mann auf einen Zettel, dann in Hackendahls Gesicht.
»Herr Hackendahl? Sie möchten doch mal auf Zimmer 357 kommen.«
Also geht Heinz Hackendahl auf Zimmer 357. Wenn ihm hier so etwas gesagt wird, so tut er es. Er ist nur einer von Tausenden, kein Menschenschicksal, kein Einzelmensch mehr. Er hat sich längst abgewöhnt, hier auf irgend etwas persönlich zu reagieren. Aber diesmal ist er doch persönlich gemeint.
Am Schreibtisch sitzt ein dürrer, gelblicher Mann. Der hat ja einen komischen Kopf, denkt Heinz. Das ist mal richtig, was man eine Birne nennt ...
»Sie heißen Heinz Hackendahl, das und das, erwerbslos seit dem und dem, wohnen dort und dort, stimmt alles?«
Jawohl, alles stimmt – nur, daß ihm kein Stuhl angeboten wird, obwohl einer dasteht, das stimmt nicht. Aber es lohnt nicht, sich wegen so etwas aufzuregen. Hier muß man sich über nichts aufregen.
»Was ist denn das für 'ne Wohnung, die Sie haben?« fragt Birnenkopf. (Natürlich bekommt man eine Abneigung gegen solchen Kopf, wenn man so dämlich gefragt wird. Sonst fände man den Kopf bloß spaßig ...)
Heinz Hackendahl denkt, daß er nach seiner alten Wohnung gefragt wird, daß die Verwaltung sich wegen des Mietrückstandes beschwert hat. Aber der ist jetzt bezahlt, und das setzt er auch auseinander.
»So«, sagt Birnenkopf. »Mietschulden haben Sie also auch, und nun können Sie die bezahlen. Von was haben Sie die denn bezahlt?«
Natürlich wird einem bei solcher Fragerei langsam warm; Heinz Hackendahl sagt, daß er leider kein anderes Einkommen hat als seine Erwerbslosenunterstützung, und von der habe er eben den Mietrückstand bezahlt.
»Schön«, sagt Birnenkopf. »Früher reichte also die Unterstützung nicht zur Miete, und jetzt reicht sie. Wie kommt das?«
»Weil wir jetzt keine Miete bezahlen, weil wir bei der Schwiegermutter wohnen«, erklärt Heinz.
»Na ja, schön. Sie wohnen bei der Schwiegermutter. Für umsonst. Und was machen Sie da?«
»Nichts.« (Das ist es ja leider gerade, daß er da nichts macht.)
»So – gar nichts?«
»Nein, was soll ich denn da sonst machen?«
»Und plötzlich haben Sie so viel Geld, daß Sie Ihre Mietrückstände bezahlen? Hat Ihnen Ihre Schwiegermutter vielleicht das Geld gegeben?«
»Nein, die kommt grade mit Ach und Krach durch, mit ihrem kleinen Papiergeschäft.«
»So, sie hat ein Papiergeschäft? Da helfen Sie ihr wohl manchmal?«
»Nein.«
»Überlegen Sie sich Ihre Antwort lieber. Arbeiten Sie in dem Papiergeschäft mit?«
»Nein.«
»Und bekommen Entgelt dafür?«
»Nein.«
»Das Entgelt braucht ja nicht bar gegeben zu werden, es kann auch in freier Wohnung und Essen bestehen, nicht wahr?«
»Nein. Ich gebe meinen Anteil zu allem.«
»Und können trotzdem Mietrückstände bezahlen.«
»Ja. Weil nämlich ein gemeinsamer Haushalt billiger kommt als zwei getrennte.«
»Und Sie wissen bestimmt, daß Sie nicht im Laden arbeiten?«
»Ja, das weiß ich.«
»So. Das Verbot der Schwarzarbeit ist Ihnen natürlich bekannt?«
»Jawohl.«
»Sie wissen, daß Sie keinerlei Nebenarbeit gegen Entgelt verrichten dürfen?«
»Das weiß ich. Ich habe auch nie ...«
»Und daß das Entgelt natürlich auch in Sachleistungen bestehen kann, wie zum Beispiel einer Wohnung?«
»Ich habe nie ...«
»Die Strafbestimmungen sind Ihnen auch bekannt? Nicht nur Entziehung der Unterstützung, sondern auch Strafanzeige wegen Betruges ...«
»Ich habe nie ...«
»Sie haben laut hier vorliegender Anzeige am 5. dieses Monats, nachmittags gegen 6 Uhr, dem Anzeigenden drei polizeiliche Meldescheine für zehn Pfennig verkauft. Sie waren allein im Laden. Der Anzeigende ist bereit, seine Angaben zu beeiden. – Nun?«
»Das ist ja lächerlich ... So was ist ja hundsgemein! Und auf solche Denunziation geben Sie was? Da bestellen Sie mich feierlich her ...!«
»Wenn Sie sich ausgeschimpft haben, antworten Sie vielleicht präzis. Geben Sie zu, daß die Angaben des Anzeigers stimmen?«
»Sagen Sie mir doch mal, was das für ein Schweinehund ist!«
»So, Sie erinnern sich also nicht einmal? Sie bedienen oft im Laden?«
»Ich bediene überhaupt nicht im Laden! Zwei Frauen sitzen in der Wohnung, und am Tage kommen vielleicht zwanzig Kunden – das schaffen die Frauen allein!«
»Sie leugnen also, Schwarzarbeit geleistet zu haben – gegen diese eidesstattliche Versicherung?«
»Ich habe keine Schwarzarbeit getan! Das ist keine Schwarzarbeit, wenn ich mal in den Laden gehe! Ich nehme dadurch keinem Menschen Arbeit weg. Meine Frau hat vielleicht grade am Gaskocher gestanden und den Topf umgerührt, vielleicht hat sie gesagt: ›Geh du doch mal!‹ Wie kann das denn Schwarzarbeit sein?!«
»Die Auslegung, was Schwarzarbeit ist, überlassen Sie lieber dem Richter! Wenn das so war, wie Sie es schildern: Warum rühren Sie dann nicht den Topf und überlassen das Bedienen im Laden Ihrer Frau?«
»Weil Kochen Frauenarbeit ist: und ...« Er bricht ab.
Aber der andere fährt fort: »... und Kunden bedienen Männerarbeit. Sehen Sie, genau unsere Auffassung! Sie haben den Frauen also das Kochen überlassen und haben die Männerarbeit getan, nämlich das Kundenbedienen. Das haben Sie also hiermit zugegeben.«
»Ich habe gar nichts zugegeben! Ich habe gesagt, daß ich vielleicht einmal für meine Frau eingesprungen bin!«
»Immerhin sind die Einzelfälle so häufig vorgekommen, daß Sie sich an den einzelnen gar nicht mehr erinnern können!«
»Ist das hier ein Strafverfahren gegen mich?« schrie er wütend. »Das ist ja lächerlich! Glauben Sie wirklich, ich will den Unterstützungsanspruch verlieren und Gefängnis riskieren, um für zehn Pfennig Ware zu verkaufen?!«
»Zuerst einmal mäßigen Sie sich!« sprach der Birnenkopf mißbilligend. »Sie schreien mich ja an – das ist unstatthaft. Setzen Sie sich erst einmal und beruhigen Sie sich ...«
»Jawohl, jetzt bieten Sie mir einen Stuhl an, wo ich zu aufgeregt bin, mich hinzusetzen!«
»Aber warum sind Sie denn aufgeregt? Wenn Sie ein gutes Gewissen haben, brauchen Sie sich doch nicht aufzuregen. – Also, wie ist die Sache?«
»Das habe ich Ihnen schon gesagt!«
»Sie haben bestritten, schwarzgearbeitet zu haben, und zugegeben, im Laden bedient zu haben. Das ist ein Widerspruch.«
»Das ist kein Widerspruch. Mein Bedienen war keine Arbeit.«
»Das ist Ihre Auffassung.«
»Jawohl, das ist meine Auffassung!«
»Na schön, dann können Sie also vorläufig gehen.«
»Wirklich? Kann ich das? Sie wollen mich nicht sofort verhaften?!«
»Sie können gehen.«
»Na schön.«
Bereits, als er ging, war seine Wut fast verraucht. Er verstand sich selbst nicht mehr. Das waren ja bloß Federfuchser, irgendein gemeiner Hund schickte eine Anzeige, und sie reagierten sofort darauf. Sie tüftelten sich Fragen aus, sie waren genau, aber lebensfremd. Er hatte von diesen Dingen schon gehört. Jemand hatte seiner Schwester beim Umzug geholfen: Schwarzarbeit. Jemand hatte seiner Mutter ein Stück Land umgegraben? Schwarzarbeit. Jede menschliche Hilfsbereitschaft wurde verdächtigt. Es war unnütz, sich darüber aufzuregen, sie konnten ihm nichts wollen – aber es war doch unangenehm.
Es wurde noch unangenehmer.
Es wäre schon schlimm genug gewesen, daß er nun immer in der Stube oder Küche sitzen mußte, daß er überhaupt nicht mehr in den Laden zu gehen wagte, aus Furcht, in neuen Verdacht zu geraten. Daß er sich stets wie ein Gefangener vorkam, den ein unsichtbares Auge belauert.
Aber sie zwickten ihn weiter. Sie reichten ihn von Beamten zu Beamten. Es erwies sich, daß seine erste Vernehmung einen ungünstigen Eindruck erzeugt hatte. Der Birnenkopf hatte ihn als »renitent« bezeichnet, eine unerwünschte Eigenschaft. Er hatte fügsam zu sein, nicht renitent. Er hatte seine Schuldlosigkeit gehorsamst zu beweisen, denn den Beweis seiner Schuld hielten sie ja mit der Anzeige in Händen.
»Ja, mein Herr«, sagte ein sanfter, älterer Beamter. »Selbst wenn alles so gewesen sein sollte, wie Sie es darstellen, es hätte doch nicht sein dürfen. Als Unterstützter hätten Sie auch den Schein vermeiden müssen. Und den Anschein einer Schwarzarbeit haben Sie nicht vermieden.«
»Ich bin nie auf den Gedanken gekommen, daß es nach Schwarzarbeit aussieht, wenn ich meiner Frau mal helfe. Es gibt Tausende von Erwerbslosen, die kochen und machen die Stuben rein, während ihre Frauen ein paar Groschen verdienen.«
»Sie haben in einem Laden gestanden – als Verkäufer. Das ist etwas anderes. Takt, Herr Hackendahl, an Takt haben Sie es jedenfalls fehlen lassen. Wenn man aus öffentlichen Mitteln unterstützt wird, muß man immer daran denken, das öffentliche Ansehen zu wahren.«
Diese lächerlichen drei grünen Meldezettel zu einem Groschen – sie hingen Heinz Hackendahl allmählich zum Halse heraus. Wenn er wieder auf so ein Büro bestellt wurde, sah er seinen Akt da liegen, er schwoll allmählich an, er wanderte zwischen den Abteilungen hin und her. Vielleicht hatte er auch schon die Polizei und Staatsanwaltschaft besucht und war nur noch nicht dick genug zur Eröffnung eines Verfahrens wegen Betrug.
Schließlich kam es Heinz Hackendahl vor, als finge die Sache auch die Beamten zu langweilen an. Als befaßten sie sich nur mit ihr, weil der Akt eben da war, weil noch keiner den Mut gehabt hatte, »Verfahren eingestellt« darauf zu schreiben.
Nein, wirklich, das hatte Heinz Hackendahl gelernt, daß er gar nichts war. Er war ein Körnchen unter Millionen. Es war ganz zufällig, wie ihn die Räder faßten. Ganz heil blieb keiner, der zwischen diesen Rädern war. Manche wurden nur wenig beschädigt, manche aber wurden völlig zermahlen, sie fielen als Staub, als Asche aus der Maschine. Es gab sie nicht mehr.
Manchmal, wenn er über seine drei grünen Meldezettel nachdachte, fürchtete er, daß es mit ihm noch einmal so weit kommen, daß auch er eines Tages ganz zerrieben werden könnte. Aus der Zettelgeschichte war schließlich nichts geworden, sie schien eingeschlafen. Aber wenn er sich wirklich etwas hätte zuschulden kommen lassen, wenn er von der Schwester Sophie für seine Bücherdurchsicht ein Fünfmarkstück genommen hätte – zerrieben, Staub und Asche, vorbei!
Lange litt er unter dem Druck. Es war eine sehr schwere Depression. Er wollte nichts mehr tun, kein Stück mochte er in die Hand nehmen, keinen Schuh mehr putzen, dem Jungen nicht den Mantel anziehen, er wollte nichts mehr. Er war verurteilt, es war ein viel härterer Urteilsspruch über ihn verhängt als über jeden Verbrecher. Der Verbrecher durfte, ja, er mußte in seiner Zelle arbeiten. Etwas entstand unter seinen Händen, und wenn es bloß eine Kokosmatte war oder ein Einholnetz.
Er aber ging umher in der Welt, und alles war ihm verboten. Er durfte nichts tun. Er hatte Kräfte, einen Verstand, aber es war ihm verboten, seine Kräfte zu erproben, etwas zu vollbringen. Er durfte mit seinem Verstand nur grübeln, nichts weiter. Ausgeschlossen vom Leben, warte, bis du stirbst, wir geben dir gerade so viel, daß du noch länger warten kannst, noch ziemlich lange – auf dein Sterben. Dieses Warten, das ist deine Beschäftigung!
Die Schwiegermutter, Irma, die weinerliche Mutter, auch der Vater versuchten, ihn aufzuheitern, ihn in Bewegung zu setzen.
»Mach doch los, Heinz, sei nicht doof. Am Sonntag fahr ick dir und deine Familie een bißken ins Jrüne. Der Blücher freut sich ooch, wenn er mal wieder wat richtijet Jrünet zu sehen kriejt, nich bloß die jrünen Bänke uff'n Kaiserplatz!«
»Ja, die Bänke – hast du gelesen, Vater, die sollen jetzt auch für Arbeitslose verboten werden. Es ist eine Eingabe gemacht, wir lümmeln uns da bloß rum und nehmen anderen den Platz weg!«
Nichts zu machen – fast ein Tick schon, eine fixe Idee ...