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Viertes Kapitel.
Ein Friede bricht aus

1

Als Heinz Hackendahl, der Siebzehnjährige, der jetzt nur noch von seiner Mutter »Bubi« genannt wurde, nach dem Mittagessen aus der Wohnung fortgehen wollte, hob Vater Hackendahl den Kopf. Er hatte in der Küche gesessen, es hatte ausgesehen, als schliefe er – der »Lokal-Anzeiger« lag neben ihm auf der Erde.

»Wohin?« fragte er den Sohn.

Heinz Hackendahl überlegte. Daß er ein bißchen durch die Straßen bummeln wollte, sehen, was eigentlich los war, durfte er dem Vater nicht sagen. Auf dem Jüngsten, dem einzig ihm verbliebenen Kind, lastete schwer die Hand des Vaters. Um so bedenkenloser half der Junge sich durch Schwindeln.

»Zu Rappold«, sagte er darum nach kurzem Besinnen. »Mathese ochsen. Trigonometrische Gleichungen – Cosinus, Cotangens. Parallelepipedon ...«

Der Alte sah mißtrauisch auf den Sohn. »Wo haste denn die Bücher?«

»Brauch keine, Rappold hat sie.«

»Heft?«

»Hab ich in der Tasche ...« Heinz zeigte eine Ecke von dem schwarzen Wachstuchdeckel. Hätte der Vater geahnt, daß dieses Heft keine »Mathese«, sondern Verse enthielt, wäre es schlimm ausgegangen.

Aber der Alte knurrte bloß. »Daß du mir nich in die Stadt gehst!« sagte er drohend. »In der Stadt schießen sie.«

»Denke nicht daran. Muß Mathese büffeln. Warum schießen sie denn?«

»Was weiß ich? Wahrscheinlich, weil sie's Schießen gewohnt sind. Weil sie nicht mehr auf die Engländer und Franzosen schießen dürfen. Weil sie's letzte bißchen Geschäft kaputtschießen wollen.«

»Dem Schimmel sind ein paar Tage Ruhe ganz gut, Vater«, meinte Heinz tröstend.

»Dem Schimmel? Der is nur noch für die Wurst gut!« Der Alte sah finster drein. Dann, fast zaghaft, daß er an seine eigenen Interessen im allgemeinen Zusammenbruch dachte: »Meinst du, daß meine Kriegsanleihen noch was wert sind?«

Heinz sah den Vater ungewiß an. Gustav Hackendahl sprach mit seinen Kindern nie über seine Vermögensangelegenheiten, aber von der Mutter wußte Heinz, daß 25 000 Mark Kriegsanleihen, das stark verschuldete Haus in der Wexstraße und der Schimmel mit Droschke die Reste von aller Wohlhabenheit des Vaters waren.

Eigentlich muß der Alte viel Sorgen haben, dachte der Sohn mit einer raschen Aufwallung von Mitleid. Und er klagt nie – das muß man sagen. Darin ist er eisern.

Er dachte auch daran, wie der alte Mann tagaus, tagein auf seinen Bock stieg, um ein paar Mark nach Haus zu bringen – aber das Schulgeld, alles, was Heinz für die Penne brauchte, wurde stets klaglos gezahlt.

Fast lächelnd sagte er: »Deine Kriegsanleihen, Vater, ach, die sind doch eisern! Vom Deutschen Reich garantiert!«

Der Vater hatte seine trübe Stunde, er lächelte nicht. »Der Kaiser hat abgedankt«, sagte er. »Er ist über die holländische Grenze, weißt du schon ...?«

Heinz grinste verächtlich. »Hast du von ›Lehmann‹ je was anderes erwartet? Bei uns Jungen war der längst abgemeldet. Glaubst du, der garantiert deine Kriegsanleihen? Der ist doch nicht das Deutsche Reich!«

»Hast du die Waffenstillstandsbedingungen gelesen? Die Franzosen wollen bis an den Rhein. In der Stadt schießen sie – vielleicht gibt es bald kein Deutsches Reich mehr!«

Der Sohn klopfte väterlich dem gefürchteten Vater auf die Schulter. »Das gibt es, verlaß dich drauf! Jetzt kommen wir dran!«

»Ihr ...?!«

»Na ja! Kaputt ist ja jetzt ziemlich alles – was? Wer soll's aufbauen? Ihr Alten?«

»Etwa ihr ...?!«

»Wer sonst?«

»Mach, daß du an deine Schularbeiten kommst!« schrie der Alte plötzlich. »Du bist ja verrückt! Ihr – wo wir nicht gesiegt haben?! Lausejunge!«

»Ich werde den Hölscher wegen der Anleihen fragen«, sagte Heinz ungerührt. »Sein Vater ist bei der Deutschen Bank.«

»Arbeiten sollst du! Schularbeiten! Ich besorg meine Geschäfte allein ...«

Der Vater knurrte drohend.

»Soll ich also den Hölscher fragen ...?«

Der Vater knurrte unbestimmt.

»Im übrigen kann ja jetzt auch Erich jeden Tag nach Haus kommen, der Herr Leutnant, die Leuchte des Hauses ... und die gute Sophie ...«

»Um sechs bist du wieder hier!«

»Kann auch später werden, Vater«, erklärte Heinz unbestimmt. »Parallelepipedon ist verdammt knifflig!«

»Um sechs!«

»Wie gesagt! Knifflig! Auf Wiedersehen, Vater. Eßt mir bloß mein Brot nicht auf, wenn ich später komme!«

Und nachdem er so seine verspätete Rückkehr vorbereitet hatte, sprang Heinz eilig die dunkle Treppe hinunter und lief über den Hof auf die Straße.

 

2

Heinz Hackendahl hatte natürlich nicht die geringste Lust, zu Rappold zu gehen und zu arbeiten. Auch der Weg zu Hölscher wegen der Kriegsanleihen schien ihm nicht eilig. Einen Augenblick sah er die graue Wexstraße hinunter, die an diesem Novembertage besonders grau und trostlos aussah. Vor den Lebensmittelläden standen sie Schlange. Immer noch oder schon wieder, seine Mutter würde wohl irgendwo dazwischen stehen.

Es war alles wie sonst, aber: In der Stadt schießen sie, klang es im Ohr des Siebzehnjährigen. Man müßte sich das einmal ansehen, dachte er ...

Aber dann ging er doch wie gewohnt um die Ecke rechts, zwei Block geradeaus, um die Ecke links, schräg über den Fahrdamm – und nun stand er vor dem Papierwarengeschäft der Witwe Quaas.

Heinz faßte in seine Tasche: Jawohl, die heute früh der Mutter abgeschwatzte Mark weilte noch bei ihm. Wohlan! Man konnte zum Ankauf von zwei Stahlfedern (Preis fünf Pfennige) oder von fünf Löschblättern (Preis auch fünf Pfennige) schreiten. Wenn es auch kein großer Einkauf war, man muß das Dekorum wahren.

Die Ladenklingel bimmelte jämmerlich – und doch angenehm vertraut. Der Laden war staubig, leer, kalt und schien Heinz Hackendahl doch einer der angenehmsten Plätze der Welt. Die Witwe Quaas war ein kleines, verhutzeltes, trost- und hilflos aussehendes Weiblein, mit den Hungerfalten und den Hungeraugen der Kriegsjahre – aber für Heinz war sie ein ausgesprochen erfreulicher Anblick.

»Zwei Bremer Börse«, sagte Heinz möglichst laut. »EF, die ganz spitze, Frau Quaas, wissen Sie?«

»Heinz! Herr Hackendahl! Ich hatte Sie doch gebeten, nicht so oft zu kommen!« sagte die Witwe hilflos.

»Aber ich brauch die Federn wirklich, Frau Quaas«, versicherte Heinz zwar bieder, aber sehr laut. »Ich muß sofort einen Aufsatz über den Vogelflug in den Dramen des Euripides ins reine schreiben. Ich komme bestimmt nicht wegen Irma ...«

»Herr Hackendahl, Sie sind doch erst siebzehn, und Irma ist kaum fünfzehn ...«

»Zwei Bremer Börse, EF, ganz spitz, Frau Quaas. Von Irma reden wir nicht, Irma ist ohne alles Interesse ...«

»Was quatschst du denn hier von mir, Heinz? Was ist denn los?«

»Tag, Irma. Zwei Bremer Börse, EF, ganz spitz ...«

»Red keinen Stuß! Du hast mehr Federn als wir hier im Laden. Was ist los?«

»In der Stadt sollen sie schießen ...«

»Au fein! Gehen wir hin ...?«

»Denn schon besser fahren, sonst ist der Spaß alle, ehe wir ankommen ...«

»Mutter, hast du'n Fuffziger für mich? Du kannst ihn mir am Sonnabend vom Taschengeld abziehen.«

»Irma! Unter keinen Umständen erlaube ich dir ... Wenn sie in der Stadt schießen! Herr Hackendahl, Sie sollten sich schämen ...«

»Disposition: Groß Lateinisch A, Frau Quaas: Erstens schießen sie nicht. Zweitens: Groß Lateinisch B: Wenn sie schießen, gehen wir nicht hin. Alpha: Wo sie schießen. Beta: Schießen sie nicht. Drittens: Groß Lateinisch C: Habe ich Fahrgeld, Alpha: für mich, Beta: für Irma ...«

»Herr Hackendahl, bitte, fangen Sie nicht wieder an, so schrecklich mit mir zu reden! Mir wird immer ganz wirr im Kopf davon. Irma kann doch unmöglich ...«

»Unmöglich! Ich kann Ihnen sofort drei bis sieben gute Gründe sagen, Frau Quaas, daß sie doch kann. Erstens kann sie, da ihre freie Willensbestimmung, selbst wenn wir annehmen, daß mehr eine Freiwilligkeit als ein freier Wille ...«

»Herr Hackendahl, bitte seien Sie still! Immer kommen Sie in meinen Laden ...«

»Heinz, hör jetzt auf, Mutter zu ärgern. Mutter hat ja schon erlaubt, daß ich fahre ...«

»Ich erlaube es nicht, nein, ich erlaube es keinesfalls, Irmchen, o Gott, wenn dir was passiert! Zieh wenigstens deinen Wintermantel an! Ach nein, die Mottenlöcher sind noch nicht gestopft. Und bind dir den Schal um ...«

»Tjüs, Mutter, gib mir 'nen Kuß. Hab bloß keine Angst um – Heinz! Ich paß schon auf ihn auf!«

»Kröte! Unbotmäßige Sklavin! – Bitte, Frau Quaas, ich möchte meine beiden Federn haben. Sie sollen nicht sagen können, daß ich bloß Irmas wegen in Ihren Laden komme ...«

»Natürlich tun Sie das! Natürlich sage ich das! Und es gibt auch noch einmal ein Unglück ...«

»Was denn für 'n Unglück? Was denn für eines, Frau Quaas? Sehen Sie, da sagen Sie nichts, da werden Sie rot – verderbte Phantasie der älteren Generation! Sind wir darüber erhaben, was, Irma?«

»Angeber! – Ärgere dich nicht, Muttchen, hier hast du auch 'nen Süßen. Du mußt doch Heinz kennen. Der macht sich selbst mit großen Worten besoffen ...«

»Und dich mit!« schluchzte die Witwe Quaas.

Irma, die Vierzehnjährige, sah ihre kleine vergrämte Mutter an. »Ach, Muttchen, um was ihr euch alles Sorgen macht! Als wenn wir Kinder nicht selber Verstand hätten! Ich habe doch auch Augen, Mutter. Ich weiß doch, was los ist mit den Männern ...«

»Erlaube mal, Irma! Wenn du jetzt deine Ansichten über Männer niederlegen willst – ich mache dich aufmerksam, daß sie einem unverbürgten Gerücht nach in der Stadt schießen ...«

»Also los! Tjüs, Mutter! Wenn's spät wird, klopfe ich gegen die Scheibe.«

»Ach, Irma! Herr Hackendahl ...!«

Sie liefen schon aus dem Laden.

 

3

»Latschen oder mit Dampf?« hatte Irma gefragt und »Mit Dampf, aber atmosphärisch!« zur Antwort bekommen.

Keuchend waren sie, zwei, drei Stufen nehmend, die Bahnhofstreppen hinaufgestürmt und in einen schon abfahrenden Zug gesprungen.

»Der Bulle hat nicht mal Zurückbleiben geschrien.«

»Hat wahrscheinlich momentan andere Sorgen, Tochter der Luft«, hatte Heinz geantwortet, aber selber nach Luft geschnappt.

Sie saßen einander gegenüber im Abteil, echte Kinder von vier Notjahren, Hungerkinder. Ziemlich hart, recht hundeschnäuzig, aber im allgemeinen, nämlich da, wo sie Wert darauf legten, völlig zuverlässig.

Sie waren so schlecht gekleidet, wie das nur in Zeiten möglich ist, wo ein heiler Anzug aus anständigem Stoff einfach nicht zu bekommen ist. Heinz trug irgendeinen aus den besten Stücken der Brüder zusammengestoppelten Anzug, viel zu kurz um Hand- und Fußknöchel, und auch schon wieder ziemlich geflickt. Irma hatte unter ihrem dünnen abgeschabten Mäntelchen ein Kleid, verwaschen, aber ein paar Flicken zeigten noch die ursprünglichen Farben. Der Rock reichte knapp bis zu den Knien, zu diesen Knien, an denen die Baumwollstrümpfe immer wieder gestopft waren. Das Schlimmste aber waren die Schuhe, Schuhe, die von den Besitzern immer wieder selbst geflickt waren, mit dicken, aufgenähten Rüstern, kreuz und quer gesteppt, mit aufgeklebten Flicken – und mit Holzsohlen, auf denen sie ohrenbetäubend klappern konnten.

Jetzt taten sie es, ohne Rücksicht auf den einen Mitfahrer im Abteil, denn sie froren an den Füßen. Der Zug war ungeheizt, die Scheiben zerbrochen ...

»Lausig kalt!« sagte Irma. »Was ist der?«

»Irgend so'n biederer Gewerbetreibender ohne Ware. Denkt darüber nach, ob er nicht noch die Löcher im Käse verkaufen kann. Heh, Sie, Mitmensch!«

Der vor sich hin dösende Mitmensch schreckte zusammen. Er sah den jungen Mann verdrossen-müde an und sagte dann drohend: »Wennste, und du siehst heutzutage einen pennen, und du weckst ihn, biste ein Schwein und gehörst in die Schnauze geschlagen!«

»Abgestunken, Liebling!« jauchzte Irma.

»Ich möchte ja nur gerne wissen«, protestierte Heinz, »ob der Zug wirklich bis zum Potsdamer durchgeht ...«

»Wieso denn nicht?«

»Weil sie in der Stadt schießen!«

»So? Wenn se schießen, wirstet schon merken, und der Zug, wenn er nich durchgeht, wirstet ooch merken!« sprach der Mann und drückte den Kopf in die Ecke.

»Philosoph der Gasse«, bemerkte Heinz nicht eben leise. »Stoiker des Weddings – siehe Branchenadreßbuch unter Mistik.« Er gähnte. Dann: »Hast du gemerkt, Irma, der Zug gähnt – vor Leere?«

»Nu sag noch, weil sie in der Stadt schießen. Du hast heute deinen hellen Tag, Heinz. Nicht satt geworden heute mittag, wie?«

Heinz schlug sich auf die »Kute«, dorthin, wo bei anderen der Bauch sitzt. »Nein!« rief er. »Seit Jahren nicht mehr! Ewig Hunger!«

»Und uns haben sie immer gesagt, wenn Frieden ist, kann man sich satt essen. Scheibenhonig! Die haben uns 'ne feine Jugend angerichtet!«

»Frieden – das ist doch nicht Frieden. Du hörst doch ...«

»... sie schießen in der Stadt«, ergänzte Irma. »Wenn du mir nun noch sagen würdest, warum sie eigentlich schießen?«

»Keine Ahnung! Aber wenn sie 'ne richtige Revolution machen, kann sein, das Militär macht nicht mit ...«

»Was ist 'ne richtige Revolution?«

»Keine Ahnung! Die französische haste auf der Penne gehabt: Guillotine, Könige, Kaiser, Minister Kopf ab ...«

»Wilhelm ist doch fort!«

»Also sieh nach Osten!«

»Alexanderplatz?«

»Quatsch! Rußland! Lenin ...«

»Wer ist denn bei uns Lenin?«

»Keine Ahnung, vermutlich Liebknecht ...«

»Magste den?«

»Quatsch! Weiß gar nichts von ihm. Bloß, daß sie ihn eingespunnt haben, weil er gegen den Krieg geredet hat ...«

»Ist er denn jetzt wieder draußen?«

»Keine Ahnung! Aber das dürfte das Wesen der Revolutionen sein: Die draußen sind, werden eingespunnt, und die gebrummt haben, kommen wieder raus ...«

»Potsdamer Bahnhof! Siehste, der Zug ist doch so weit gekommen. Mensch, Heinz, wenn du das schöne Fahrgeld ausgegeben hast, und es ist gar nichts los!«

»Sabbel nicht, Tochter der Quaasin! Erst taten, denn raten. Komm!«

Sie gingen nebeneinander durch den fast leeren, verdreckten Vorortbahnhof, kalt, wach, lebenshungrig. Schäbig angezogen und nicht übermäßig säuberlich gewaschen, liege es nun an der Kriegsseife oder an ihrer unbekümmerten Jugend.

Beide gelblich, kränklich blaß, beide schon faltig, beide mit großen Nasen, beide mit dunklen Ringen um die Augen. Aber beide mit dem gleichen kalten, klaren, ein wenig eisigen Blick, erschütternd illusionslos. Beide in jeder Beziehung verhungert, aber auch beide mit einem grenzenlosen Appetit auf alles – reinweg alles! Schön wie Häßlich, Kartoffeln oder Knochen, Hoch oder Gemein.

Sie gingen nach dem Potsdamer Platz zu, nebeneinander, ohne es zu wollen im gleichen Schritt, ohne auch nur auf den Gedanken zu kommen, sich zu berühren, den Arm zu geben, an der Hand zu fassen, ohne eine Spur von Zärtlichkeit.

Kalt – aber doch voll Licht!

Musterbeispiele des nicht tot zu kriegenden Lebens.

 

4

»Da!« sagte Heinz und blieb mit einem Ruck stehen.

Aus der Dessauer Straße bog ein großes Lastauto, bunt mit den farbigen Klecksen des Militärs bemalt, und auf ihm standen Matrosen, die Brust frei, in ihrer blauen Tracht. Die Mützenbänder wehten im Wind, weite, schicke Hosen trugen sie. Sie hatten Gewehre in der Hand, Maschinenpistolen, zwischen ihnen drohte ein MG, über ihnen wehte eine rote Fahne.

Die Matrosen sangen. Sie sangen irgendein Lied, das im Getöse nicht zu verstehen war. Heinz sah nur, wie sich ihre Münder bewegten im Takt, und über den Mündern die klaren, kalten, scharfen Augen.

Etwas überlief ihn, er stieß aufgeregt Irma an. »Siehst du? Großartig!«

Sie nickte.

Hinter dem Auto, hinter der Handvoll bewaffneter Matrosen kam der Zug, der endlose Zug der Marschierenden. Viele Gestalten in Feldgrau, aber auch die nicht Feldgrau trugen, sahen grau aus. Sie schlurrten nebeneinander, ein endloser Zug, Männer und Weiber, Soldaten, Arbeiter, ein Mann im Bratenrock. Ein Bursche hielt ein Weib umgefaßt, das ein Kind auf dem Arme trug. Der Bote irgendeines Geschäfts schob seinen Handwagen mitten im Zug.

Sie schlurrten dahin, sie hielten nicht Takt, manche sangen. Manche sahen bloß starr vor sich ...

Aber über ihnen wehten Fahnen, rote Fahnen, riesige, rote Tücher. Kleine Fahnen, hastig an Besenstiele genagelt, und große, lange, düster leuchtende Bahnen an dicken Stangen. Und über ihnen schwankten Schilder, schnell geschmierte Pappdeckel oder große, sorgfältig gemalte, die quer über den ganzen Zug reichten. Sie verlangten: »Friede, Freiheit, Brot!« – »Raus aus den Betrieben! Generalstreik!« – »Nieder mit dem Militarismus!« und »Brot! Brot!! Brot!!«

So zogen sie nach dem Potsdamer Platz zu. Am Straßenrand standen die Leute und schauten stumm. Denen riefen sie zu: »Kommt mit! Liebknecht redet!«

Manche schlossen sich zögernd an, manche willig, manche aber taten, als hätten sie nichts gehört oder wandten sich verlegen ab.

»Gehen wir mit, Heinz?« fragte Irma.

»Ja. Aber nebenher. Schaut mir zu lahm aus. Sieh, daß wir wieder an die Spitze kommen, in den Matrosen, da steckt Musike!«

»Großartig!« stimmte auch Irma zu, und sie drängten sich an der Seite des Zuges wieder nach vorn.

Aber plötzlich gab es ein Hindernis. Auf dem Gehsteig, ihnen entgegen, kamen zwei, drei Soldaten, Unteroffiziere, mit Pappkartons in der Hand. Sicher waren sie auf dem Wege von einem Bahnhof zum anderen, nur auf der Durchfahrt in Berlin ... Sie gingen eng aneinandergedrückt, ohne nach dem Lastauto mit den Matrosen zu sehen, als hätten sie ein schlechtes Gewissen ...

Aber nun kam aus der Zugspitze ein junger Mann ihnen schräg entgegen, ein junger, recht schneidig aussehender Mann in Knickerbockers mit seidig glänzendem Waffenrock, sicher so etwas wie ein Offizier, aber ganz ohne Abzeichen und Orden, nur mit einer roten Armbinde.

Und als Heinz diesen jungen Menschen mit dem blassen, hübschen, ein wenig frechen Gesicht gerade auf die drei Unteroffiziere zugehen sieht, packt er Irma am Arm, zwingt sie stehenzubleiben und flüstert aufgeregt: »Da! – Erich!«

»Wer? Was? Erich? Was für 'n Erich?«

»Mein Bruder Erich – und wir denken, der Junge ist noch draußen!«

Mit vielen anderen drängen Irma und Heinz zu der kleinen Gruppe, vor der der junge Mann stehengeblieben ist. Von dem fahrenden Lastauto springen zwei Matrosen und gehen, Maschinenpistolen in ihren Händen, mit weiten, wehenden Hosen, ein wenig schaukelnd, auf die immer größer werdende Gruppe zu.

Der junge Mann in schneidigem Feldgrau, Erich Hackendahl also, tippt dem vordersten Unteroffizier mit einer Fingerspitze auf die Achselklappe ... »Das nehmen wir lieber ab, Kamerad, wie?« sagt er halblaut. »Das Dings da! So was gibt es nicht mehr ...«

Der Unteroffizier sieht zögernd zu dem jungen Mann auf. Er erkennt ja wohl, daß dies ein Offizier ist oder doch war, er sagt bittend, stockend: »Wir fahren ja gleich weiter – vom Anhalter. Man möcht's doch nach Haus bringen ... Ich hab's mir ehrlich im Feld verdient, Kamerad ...«

Aber er hat sich in dem jungen Manne getäuscht. Der junge Mann ist nicht so nett und hübsch, wie er aussieht.

Erich Hackendahl faßt ganz plötzlich, rechts und links, mit beiden Händen um die Achselklappen. Er reißt mit solcher Gewalt an ihnen, daß die Nähte platzen, daß der Mann taumelt, und dabei schreit er: »Den Dreck gibt es nicht mehr! Vorgesetzte gibt es nicht mehr!! Verdienste gibt es nicht mehr! Militaristen gibt es nicht mehr!!« Und bei jedem »Nicht mehr« gibt er dem Mann einen neuen harten Stoß.

Abseits, längst als Untätige aus dem Strudel gedrückt, stehen Heinz und Irma.

»Vielleicht muß es sein?« sagt Heinz finster. »Wenn alle gleich sind ...? Es sieht elend aus. Und daß gerade Erich dabeisein muß!«

»Kannst du ihm denn nichts sagen?« drängte Irma. »Wo er doch dein Bruder ist!«

»Ich will es versuchen!« sagte Heinz und machte ein paar Schritte auf den Strudel zu.

Doch da löste sich der Tumult gerade. Einige fingen an zu laufen, um den Demonstrationszug wieder zu erreichen, andere gingen plötzlich in Nebenstraßen.

»Erich!« rief Heinz den Bruder jetzt an, der zwischen den beiden Matrosen einherkam.

Erich fuhr herum und starrte Heinz an. Erst lag ein abweisender Zug auf seinem Gesicht, da hatte er ihn noch nicht erkannt. Dann wurde sein Gesicht dunkelrot, da wußte er, daß es der Bruder war, der Bruder, gerade in diesem Augenblick ...

»Du, Bubi?« fragte er langsam. »Was machst du denn hier?«

»Und was machst du hier?« fragte Bubi trotzig dagegen.

»Das ist doch ein armes Frontschwein!« rief Heinz wütend. »Muß der in der Heimat Dresche kriegen?«

»Dein Brüderchen, Hackendahl?« fragte ein Matrose spöttisch.

Heinz schrie fast: »Ich hasse die Gewalt ...!«

»Das habe ich auch immer gesagt«, lachte der Matrose ungerührt, »wenn ich von meinem Vater Senge kriegte. Wer nicht hören will, muß fühlen.«

»Also wie ist es, Hackendahl?« fragte der andere Matrose. »Schloß oder Reichstag? Aber sag uns die Wahrheit – deine Scheidemänner wollen wir nicht hören!«

»Reichstag!« sagte Hackendahl bestimmt. »Liebknecht spricht am Reichstag!«

»Es geht dir dreckig, alter Junge«, drohte der Matrose, »wenn du uns verkohlst!«

»Weiß ich! Reichstag!« sagte Erich bestimmt.

»Also los!« rief der andere Matrose, und beide liefen auf die Fahrbahn, sprangen auf das Trittbrett eines vorüberfahrenden Autos, riefen dem Chauffeur etwas zu, und schon fuhren sie dem Zug nach. Widerwillig mußte Heinz zugestehen, daß er noch nie so unbekümmerte Männer gesehen hatte.

Erich schien aufzuatmen. »Die werden sich wundern!« grinste er plötzlich. »Liebknecht redet nämlich doch am Schloß!«

»Und du schickst sie zum Reichstag?«

»Natürlich – Liebknecht ist nämlich eine Art Konkurrenz von uns. Und den Leuten ist's im Grunde ganz egal, wen sie hören ...«

»Und wer seid ihr?« drängte Heinz. Irma stand direkt neben ihm, und ihr Blick ging wachsam vom einen Bruder zum anderen.

»Mein lieber Junge, ich kann dir unmöglich hier auf der Straße die augenblicklich recht verworrene politische Situation erklären«, sagte Erich mit aller Überlegenheit des älteren Bruders. »Überhaupt würde es richtiger sein, du gingest nach Haus und machtest deine Schularbeiten. Hier wird immerhin dann und wann geschossen. Die Eltern werden deinetwegen in Sorge sein.«

»Fürtrefflich, mein roter Bruder!« sprach Heinz, der bei der brüderlichen Ermahnung ohne Mühe seinen schnoddrigen Pennälerton wiederfand. »Aber der alte Häuptling sitzt schon lange mit seiner Squaw im Wigwam – seit wann, darf ich ihm sagen, wandelt mein roter Bruder hier schon wieder auf dem Kriegspfade?«

Erich war sehr rot geworden, der rote Bruder war wirklich rot geworden.

»Laß den Unsinn, Bubi!« sagte er grob. »Am besten sagst du ihnen gar nichts – ich habe noch keine Zeit. Wirklich, ich komme bald, vielleicht schon sehr bald.«

»Ferne von mir!« wehrte Heinz ab. »Nie hat Lüge diesen Mund entweiht ...«

»Wenigstens brauchst du Vater nichts von der Geschichte eben zu sagen. Er versteht das nicht so ...«

»Ich auch nicht ...«

»Also, hör zu, Bubi ...« Plötzlich strahlend, der alte Erich, der Liebenswürdige: »Deine Freundin ...? Willst du mich nicht bekannt machen?«

»Irma Quaas«, sagte Irma schon.

»Erich Hackendahl. Sehr angenehm. Also paß auf, Bubi. Jetzt habe ich unmöglich Zeit ... Ich muß zum Reichstag ... Da spricht einer von uns ...«

»Von euch ...«

»Zum Volk. Ihr solltet euch das auch anhören, da ihr doch mal hier seid. Und dann, so gegen sieben, denke ich, reden wir gemütlich miteinander. Kommt in den Reichstag – ich habe da ein Zimmer.« Er sagte es gleichgültig, aber es war ihm leicht anzumerken, wie stolz er auf dieses Zimmer war. »Ich erkläre dir dort alles. Hier hast du einen Passierschein, daß ihr reinkommt ...«

Er gab Heinz einen gestempelten Zettel.

»Du bist aber schon 'ne ganze Weile hier in Berlin, Erich«, sagte Heinz argwöhnisch.

»I wo! Noch nicht sehr lange! – Also auf Wiedersehen im Reichstag um sieben! Ich muß sehen, daß ich meine Schafe auch in den richtigen Stall kriege ...«

Er lachte, es klang verdammt fatzkig, fand Heinz. Dann lief auch er auf die Fahrbahn, kletterte auf eine Elektrische, winkte noch einmal mit der Hand und war fort.

 

5

Die beiden starrten ihm stumm nach. Dann tat Irma einen tiefen Atemzug. »Falscher Fuffziger – bei mir abgemeldet!« sprach sie.

Heinz packte sie bei den Schultern und schüttelte sie aufgeregt. »Was redest du, Sprößling des Papiers?! – Falscher Fuffziger – von meiner brüderlichen Liebe?!«

»Sag ich! Was für schöne falsche Augen der Kerl hat! Wie er mich angeleuchtet hat, als er endlich geruhte, mich zu bemerken! Der denkt auch, er muß bloß kieken, und alle Mädels wünschen sich gleich ein Kind von ihm.«

»Irma! Benimm dich anständig! Gedenke deiner ergrauten Mutter, die der festen Hoffnung lebt, du glaubst noch an den Storch! – Aber recht hast du: Falsch ist er, und er ist noch viel falscher geworden, seit er im Felde war.«

»Der ist bestimmt nie im Felde gewesen!«

»Na, denn in der Etappe!«

»Das glaub ich eher. – Du, Heinz, der hat nur loskommen wollen von dir. Wenn wir im Reichstag nach ihm fragen, weiß keiner was.«

»Das glaube ich hinwiederum nicht. Mit Vater war es ihm doch verdammt peinlich – für die Berichte an Vater möchte er uns doch ein bißchen bearbeiten!«

»Zeig den Wisch mal her, den er dir gegeben hat!«

Sie musterten ihn beide. Der schmierige, zwanzigmal durchgeschlagene Schreibmaschinentext besagte, daß der Inhaber zum Betreten des Reichstagsgebäudes berechtigt sei. Darunter: »Der Volksbeauftragte. Im Auftrag ...« und ein unlesbarer Krakel. Aber der Stempel lautete: »Arbeiter- und Soldatenrat Berlin«.

»Sieht echt aus!« entschied Irma. »Versuchen können wir's.«

»Ich sage dir ja, er ist wegen Vater in Druck. Und was machen wir bis sieben?«

»Hören wir uns die Rede an. Ich möchte doch kapieren, was eigentlich los ist.«

»Ich auch – also auf zum Reichstag!«

   

Der Platz am Reichstag war schon schwarz von Menschen. Und ständig kamen neue Züge, warteten geduldig, überweht von ihren roten Fahnen, ließen sich von Ordnern hin und her schicken und glitten schließlich hinein in die Masse der anderen, stumm, grau, aber mit verbissenen Gesichtern.

Irma und Heinz hatten es leichter. Mit aller Geschicklichkeit und Gerissenheit von Berliner Kindern schoben sie sich durch die Menge, drängelten und schimpften, daß sie gedrängelt würden, riefen nach einer verlorenen Mutti, deren Hut sie ganz vorne sahen, schlüpften lachend unter dem Arm eines Ordners durch – und landeten atemlos, völlig zerknautscht, aber mächtig aufgekratzt beim Bismarckdenkmal. Irgendwoher, weit her, hörten sie eine Stimme schreiend sprechen.

Einen Augenblick später waren sie auf dem Denkmal. Ein paar Meter über den Köpfen des Volkes saß Irma auf der runden Weltkugel, indes Heinz einem bronzenen Weibe auf der Schulter balancierte und sich eben an dieser Weltkugel festhielt.

Und wie stets, wenn sich jemand selbst erhöhet, waren die niederen damit einverstanden. Beifällig nickten sie.

»Dufte, der Junge!« – »Die Kleene is ooch richtig!« – »Erfrier dir bloß den Hintern nich. Mächen, du sitzt jrade auf dem Nordpol!« – »Sie da, Jüngling, treten Sie die Dame nich uff de Brust – so wat tut kein feiner Mann!«

Und: »Nun sacht uns bloß, wer redt denn? Is es Liebknecht?«

»Ich glaube, Scheidemann«, sagte Heinz aufs Geratewohl.

Aber es war nicht Scheidemann, es war ein ziemlich fetter, dunkler Herr, der dort auf den Stufen des Reichstagsgebäudes stand und schreiend Sätze über die Köpfe der Menge hin schleuderte. Das Volk stand ruhig, lauschend oder nicht lauschend, es stand geduldig, wie es immer gestanden hatte, fand Heinz.

Wenn man durchaus einen Unterschied gegen früher feststellen wollte, so war es der, entdeckte Heinz, daß der Herr, der da oben sprach, Zivil trug, nämlich einen schwarzen Bratenrock und graugestreifte Hosen. Auch hielt er einen steifen schwarzen Hut in der Hand – mit dem machte er manchmal eine Geste, unterstrich einen Satz.

Früher hatten nur immer Uniformen zum Volk geredet. Den Kaiser hatte man nur in Uniform gesehen, und selbst ein so unmilitärischer Mann wie der philosophische Kanzler von Bethmann-Hollweg hatte fast stets Uniform getragen.

Es war ein sehr kleiner Unterschied, selbst einem unerfahrenen Pennäler wie Heinz fiel das auf. Denn ganz fehlten auch hier die Uniformen nicht: Vier Stufen tiefer als der Redner standen auf der Treppe des Reichstages Soldaten, feldgraue Soldaten mit Stahlhelm und geschultertem Gewehr sowie mit reichlich Handgranaten am Koppel. Sie waren ein Zaun zwischen dem Redner und seinem Volk, jenem Volk, dessen Sieg der Redner eben feierte ...

So hoch, wie Heinz und Irma jetzt standen, war ganz gut zu verstehen, was der Redner eben schrie ...

Der Redner sprach vom Siege des Volkes, vom Sieg des Sozialismus: »Hüten wir uns, die reine Sache des Volkes zu beschmutzen ...!«

Er konnte nicht weitersprechen. Ein Knattern wurde laut, leise erst, dann immer lauter ... In die Menge kam Bewegung, in der Ferne wurden Schreie laut ... die näher kamen. Die Köpfe bewegten sich, duckten sich, es war, wie wenn Wind in ein Ahrenfeld fährt ...

Das Knattern ging laut immer fort. Nun wurde geschrien ...

»Die schießen auf uns!« – »Maschinengewehre!« – »Die Liebknecht-Leute sind es!« – »Spartakisten!« – »Mörder ...« Und immer lauter: »Lauft!« – »Rette sich, wer kann!« – »Wir lassen uns nicht niederschießen! Hilfe! Hilfe!!«

Der Redner oben hatte zu reden aufgehört. Er sah nach dem Geknatter hin, machte eine Geste – und trat zwischen die Säulen des Portals ...

Die Soldaten griffen nach den Handgranaten in ihren Gürteln ...

»Die schießen!« flüsterte Irma mit ganz weißen Lippen. »Hilf mir rasch runter ... Heinz! Heinz!!«

»Ich sehe nichts«, sagte Heinz. Er spähte nach dem Rand der Versammlung, der dünn wurde. Er sah Menschen laufen, sah das graue Verdeck eines Autos ...

»Mach zu! Hilf mir! Ich lasse mich nicht totschießen!«

Sie ließ sich in seine Arme gleiten, so plötzlich, daß er ins Wanken kam. Halb rutschten sie, halb fielen sie in die Menge hinunter, die wild strudelte, schrie, in Auflösung war ...

»Los! Los! Lauf doch! Heinz, faß mich an!«

Plötzlich liefen alle. Sie liefen für ihr Leben, manche stumm, manche laut schreiend, manche vor sich hin weinend, Männer, Frauen, Kinder ... Viele fielen, manche wurden hochgerissen, über andere liefen die Füße der Flüchtenden fort, keiner achtete auf ihr Geschrei ...

Das Geknatter schien noch stärker geworden ...

Die Panik hatte alle erfaßt, ohne nachzudenken, liefen sie, liefen von dem Redner fort, den Fahnen fort, die zertreten am Boden lagen, fort von den zerbrochenen Plakaten mit der Inschrift: »Friede! Freiheit! Brot!«

Heinz und Irma liefen zwischen den anderen. Sie waren jung, sie hatten lange Beine, sie liefen gut. Sie liefen nebeneinander, Hand in Hand; längst waren sie vom Platz, liefen durch Straßen, durch andere Straßen ...

»Lauf!«

»Kannst du noch?«

»Immer los! Lauf!«

Plötzlich wurde es ihnen bewußt: Sie liefen allein.

Sie liefen in einer breiten Straße, in der Mitte war ein Grünstreifen, rechts und links von ihm Fahrbahnen. Sie liefen auf dem Grünstreifen ...

Plötzlich hörten sie vor sich das Geräusch von Schüssen, nah, ganz nah. Das ganze Stadtviertel schien in Aufruhr.

Heinz versuchte sich zu besinnen. Wir laufen ja direkt in die Schießerei, dachte er. Er sah einen offenen Torweg. »Komm!« rief er. Und sie liefen Hand in Hand hinein in die Geborgenheit, in den Schutz.

Lange standen sie dort stumm, sie wischten mit zitternden Händen an ihren schweißigen Gesichtern herum. Dabei lauschten sie auf das Schießen, das immer wieder aufflackerte, nah und ferne. Einmal glaubten sie auch das schnelle böse Tacken eines Maschinengewehrs zu hören ...

Aber langsam ging ihr Atem ruhiger, klopfte ihr Herz nicht mehr so sehr. Hier in der Geborgenheit des Torwegs, allein miteinander, fühlten sie das gute, das köstliche Leben ... Die Schüsse knatterten ...

»Na, Irma!« sagte Heinz und versuchte ihren Kopf zu heben.

Plötzlich merkte er, daß sie lautlos in ihr Taschentuch weinte.

»Wir sind schöne Angsthasen! Was wir gelaufen sind!«

»Sei doch still!« rief sie wütend. »Du Feigling!«

»Na, Irma!« sagte er ganz verblüfft über diesen ersten, völlig unverständlichen Ausbruch des Weibes in seiner Freundin. Denn sie hatte ja das Laufen gewollt. »Beruhige dich, Tochter der Quaasin! Helden waren wir alle beide nicht ...!«

»Bist du ruhig!« schrie sie noch einmal und stampfte mit dem Fuß auf. Sie hatte völlig die Herrschaft über sich verloren. Alles in ihr zitterte noch – unerträglich war ihr die spöttische, gutmütig tröstende Stimme des Freundes. Und als er nun gar den Versuch machte, ihr scherzhaft das Taschentuch fortzuziehen, schlug sie zu, schlug ihm mit der Hand gerade ins Gesicht ...

»Na, Irma!« sagte er zum drittenmal. »Was soll denn das! Bei dir Dachstuhlbrand, wie?!«

Aber er war jetzt schwer gekränkt, er stellte sich auf die andere Seite des Torwegs und sah nur manchmal, eine tiefe Grübelfalte zwischen den Brauen, zu seiner kleinen Freundin hinüber, die jetzt noch viel fassungsloser weinte ...

»Na, ihr zwei kleinen Hübschen!« klang eine spöttische Stimme von der Straße her. »Was habt ihr euch denn hier verkrochen? Kommt mal her, ihr beide!«

In der Einfahrt stand ein Matrose, ein kleiner, dunkler Mensch mit einem frechen, bösen Gesicht, eine Pistole in der Hand ...

»Na, wird's bald?« rief er grob, als die beiden zögerten. »Die Hände hoch, Bengel! Du hast doch eben geschossen, du Aas!«

»Ich habe nicht geschossen! Ich habe gar nichts zum Schießen!« sagte Heinz trotzig und trat auf den Matrosen zu. »Sehen Sie doch nach!«

»Riskier du noch 'nen Ton!« sagte der Matrose drohend. Und mit geübten, raschen Händen tastete er den Jungen ab.

»Komm du jetzt her, Kleine!« rief er dann. »Dir hat er natürlich die Pistole zugesteckt, so ein Scheißkerl ist das!«

Sie standen nun beide vor dem kleinen, bösen Menschen, sehr blaß, aber beide sehr bemüht, sich nichts von ihrer Angst merken zu lassen ...

»Er hat wirklich keine Waffe, Herr – Matrose«, sagte Irma entschlossen. »Wir waren bloß in der Versammlung am Reichstag ...«

»Ach!« sagte der Matrose spöttisch gedehnt. »Bei den Scheidemännern wart ihr – ihr Helden! Und bis hierher seid ihr gelaufen – ihr Scheißemänner!«

Er sah die beiden verächtlich an.

»Wir sind beschossen worden«, sagte Heinz trotzig.

»Ja, beschissen seid ihr worden«, lachte der Matrose spöttisch. »Der Auspuff von einem Auto hat ein bißchen geknattert – und schon laufen zwanzigtausend Menschen wie die Hasen.«

Und verächtlich sah er die beiden an, die immer röter wurden.

»Aber jetzt wird hier doch geschossen«, beharrte Heinz. »Sie haben doch auch 'ne Pistole.«

»Ach, das bißchen Knallerei! Das sollt ihr sehen, wie schnell ich da Ruhe reinkriege!«

Er sah auf Irma. »Komm mit, Kleine!« sagte er. »Was willst du bei dem Lauselümmel mit den vollgeschissenen Hosen?«

»Danke«, sagte Irma. »Gehen Sie man lieber alleine – ich lasse mich nicht gerne totschießen!«

»Totschießen? Wer redt denn von Totschießen? Ich habe vier Jahre Krieg hinter mir und bin noch nicht totgeschossen. Sollste sehen. Kleine, gar nichts passiert!«

Er nahm die Pistole hoch, quer über die Fahrbahn ging er mitten auf den Grünstreifen.

»Straße frei! Fenster zu!« schrie er. »Fenster zu!« schrie er noch einmal.

Dann hob er die Pistole und schoß.

Sie hörten das Klirren von Glas, den prasselnden Fall der Scherben auf das Pflaster.

Noch einmal drehte sich der Matrose um. »Na, Kleine, wie is es? Du siehst, es passiert gar nischt!«

Und nun ging er die Straße weiter hinauf, in seinen weiten, wehenden, flotten Hosen, wachsam rechts und links an den Häusern hoch sehend, manchmal schießend, manchmal beschossen, aber immer weiter gleichgültig rufend: »Straße frei! Fenster zu!«

So entschwand er ihren Blicken.

 

6

»Der ist also bestimmt kein Feigling!« sagte Heinz. Aber er sagte es nicht spitz, er sagte es nachdenklich.

Trotzdem rief Irma sofort: »Aber Heinz!« Und leiser: »So dürftest du gar nicht sein.«

»Das ist es eben«, meinte Heinz. »Der hat nun bestimmt Mut – aber ist es die richtige Sorte Mut? Ob es mehrere Sorten Mut gibt? Dann gäbe es vielleicht auch verschiedene Arten Feigheit ...«

»Hör bloß auf!« sagte Irma. »Das ist ja alles Quatsch. Ich weiß genau, wenn du mutig sein mußt, dann bist du's auch. Und ich dito.«

»Siehste!« rief Heinz erfreut. »Das denkst du doch auch? Trotzdem wir wirklich gerannt sind wie die Hasen, als der Auspuff von einem Auto knatterte!«

»Das muß nicht wahr gewesen sein. Der kann das gesagt haben, um uns zu ärgern.«

»Das glaube ich nun doch nicht. Übrigens habe ich das Auto stehen sehen ...«

»Wenn du mir davon ein Wort gesagt hättest!«

»Du fielst ja direkt vom Nordpol in meine Arme.«

»Du ärgerst mich heute immer!«

»Und du schlägst mich!«

»Du weißt, ich habe es nicht mit Absicht getan!«

»Doch!«

»Nein!«

»Doch! Ausdrücklich! Mit der Faust auf die Neese! Mit Absicht!«

»Du bist geradezu gemein!«

»Nein!«

»Du sohlst es!«

»Von je war ich der Lüge abhold.«

»Nein!«

»Doch!«

»Siehst du, du sagst es selbst, daß du gelogen hast!«

»Eher auf den Scheiterhaufen – und sie bewegt sich doch!«

»Quatschkopf!«

»Danke ...«

Sie schwiegen, erhitzt, aber aufgemuntert.

Dann, nach einer Weile: »Heinz!«

»Nein!«

»Aber Heinz!!«

»Nein doch!«

»Ich will doch nur fragen, ob die Straße jetzt ruhig ist? Wir können doch hier nicht stehen bis in die Nacht!«

»Nein!«

»Was nein? Frei oder stehenbleiben?«

»Beides!«

»Döskopp!«

»Danke!«

Wieder langes Schweigen. Dann: »Heinz!«

»Ja doch, aber laut Geburtsschein besser Heinrich.«

»Heinrich ...«

»Nein, um Gottes willen!«

»Heinrich, mein Heinrich!«

»Was hast du bloß? Bist du wirren Sinnes?!«

»Ja! Heinz, sieh mich mal an!«

»Na – und?«

Was mach ich? Sie stampfte mit dem Fuß auf. »O Gott, stell dich bloß nicht so gräßlich doof an!«

»Ich und doof ...? Tochter der Quaasin!«

»Laß den Quatsch! Kapierst du noch nicht?«

Sie machte seltsame Mundbewegungen.

»Keine Ahnung, meine rote Schwester! Hast du Zahnschmerzen?«

»Heinz ...!! Komm her! Noch näher! Sieh mich an! Nein, sieh mich nicht an! Mach die Augen zu! Du sollst die Augen zumachen, du Affe! Ganz fest! Mogelst du auch nicht ...?«

»Ich habe die Augen zu ...«

»Ganz fest?«

»Ehrenwort!«

Pause. Dann fragte er ungeduldig: »Was ist denn? Was soll der Blödsinn?«

Irgend etwas Feuchtes, Warmes streifte sein Kinn ...

»Verdammt noch mal!« Er riß die Augen auf. »Was hast du gemacht? Hast du mich geleckt ...?«

Sie sah ihn an, zitternd vor Entschlossenheit.

»Ich habe dir einen Kuß gegeben, Heinz!« sagte sie feierlich.

Er starrte sie an. Mit der Hand wischte er sich das Kinn ab. »Verdammt!« sagte er. »Das ist wahrhaftig die Revolution! Einen Kuß!!«

Sie nickte. »Jawohl! Einen Kuß! Unsern ersten Kuß ... ich liebe dich nämlich.«

»Ich glaube, du bist verrückt geworden! Hast du vergessen, daß wir diese Abknutscherei als unästhetisch abgelehnt haben? Daß diese sogenannte Liebe bloß ein schlauer Trick der Natur ist zur Erhaltung der Art? Ich versteh dich nicht, Irma, diese Schießerei muß dich ganz durchgedreht haben!«

»Ist mir alles egal!« Sie verleugnete trotzig ihre gemeinschaftlichen Erkenntnisse. »Ich liebe dich, und da küß ich dich eben.«

»Na, Irma, sag mal, fand'ste den eben schön, den Kuß?«

»I wo! Gräßlich war er! Aber wenn man sich liebt, küßt man sich eben. Das ist so. Vielleicht muß man es lernen?«

»Dann lerne ich es nie.«

»Ich hatte auch schreckliche Angst«, gestand sie schamlos. »Sieh mich mal an, Heinz. Wie sehe ich aus?«

»Wie sollst du denn aussehen?«

»Ich meine, ob man mir was ansieht von dem Kuß?«

»Dir? Keine Spur!«

»Ich habe keine Flecken? Bin nicht besonders rot?«

»Gelb biste, wie 'ne Zitrone!«

»Dann versuchen wir es noch mal!« entschied sie mit unbeugsamer Energie.

»Ich bitte dich, Irma, laß doch den Blödsinn!« Der lange Bengel war grenzenlos verlegen.

»Bitte, Heinz! Nur noch einmal! Ich verspreche dir, nur noch dieses einzige Mal! Mach wieder die Augen zu! Ich schäme mich ja doch, aber ich schäme mich nicht vor dir ... Und bück dich ein bißchen, sonst treff ich wieder bloß dein Kinn ...«

»Irma ...«, protestierte er schwach.

Dann berührte etwas wie ein Hauch seine Lippen ... Es blühte auf, wurde weich. Er hätte nie gedacht, daß die dünnen Lippen seiner kleinen Freundin so weich und warm sein könnten. Um seinen Hals lagen ihre Arme, und auch diese Arme, Arme, die er doch kannte. Arme wie Stecken, lagen weich und schwer um ihn. In seinen Ohren fing das Blut an zu singen, eine süße, zauberhafte Melodie ... Zum ersten Male hörte sein Ohr diesen Klang, und ein langes Leben hindurch würde es immer begierig sein, ihm zu lauschen ...

Es ist ganz still ... Dann räuspert sich Irma ...

»Ich glaub, Heinz, sie schießen nicht mehr ...«

»Nee, glaub ich auch, höre nichts mehr ...«

Sie waren grenzenlos verlegen, sahen sich nicht an. Wieder einmal hatten Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis gegessen – und sie schämten sich, da sie erkannten, daß sie nackt waren ...

»Bis sieben ist noch aasig Zeit ...«

»Ja, was meinst du, sehen wir mal nach Tutti ...?«

»O wie so richtig! Das schaffen wir grade noch.«

Sie liefen los, zurück in das Stadtinnere, nebeneinander. Beide dürr, schlecht gekleidet, unterernährt und mäßig gewaschen – aber in beiden brannte der Lebensfunke. Oh, heute leuchtete er ihnen schon fast aus den Augen!

 

7

Bei Gertrud Hackendahl, die von allen, die sie wirklich kennen (aber das sind nur wenige), Tutti genannt wird, sitzt Eva Hackendahl. Tutti läßt ihre Maschine sausen und hört dabei mit halbem Ohr, mit abweisendem Gesicht auf das, was Eva ihr von den Vorgängen in der Stadt erzählt ...

Gertrud Hackendahl hat diese Besuche der Schwägerin nicht sehr gern. Gustäving muß dann stets sofort in das Zimmer gehen, er darf nie die Tante küssen. Eva ist in den letzten zwei Jahren nun das geworden, was sie ohne eigene Kraft und ohne eigenen Mut werden mußte: ein Straßenmädchen. Das ist schon ein Grund, warum Tutti die Schwägerin nicht mag: Eine Frau, der die Liebe heilig ist, wird stets der grollen, die aus den Liebesäußerungen ein Gewerbe macht ...

Und doch läßt Tutti Hackendahl immer noch die Schwägerin in die Wohnung, erträgt sie, duldet sie, läßt sie sich aussprechen ... Weil nämlich Gertrud Hackendahl versteht, daß jeder Mensch im Elend eine Insel haben muß, zu der er fliehen kann aus der Trostlosigkeit des Alltags, daß er eine Stätte der Geduld wissen muß, etwas wie eine Heimat ...

Sie ist solche Heimat für Eva, irgendein Bindeglied zu jener Eva, die ehemals war. Hier kann sie sitzen und reden und denken, sie gehört noch dazu ...

Die kleine, verkrüppelte Tutti Hackendahl versteht das sehr gut; sie hat ja selbst solche Insel, solche Heimat ...

Sie sieht nach der Kommode hinüber – dort ist auf einer Spitzendecke alles aufgebaut, was an Otto Hackendahl erinnert: ein paar Bilder; die Tasche mit ihren Briefen, die sie ihr damals aus dem Felde geschickt haben (die Flecken darauf sind nun schon lange schwarz geworden); alles, was sie von seinen Schnitzereien hat auftreiben können; in einem Kästchen seine Messer, seine Raspeln, die kleine Säge, ein Stück Lindenholz, in dem verborgen der Christus steckt, an den er zuletzt gedacht hat. Daneben, was ihr der Schwager Heinz gebracht hat: seine Schulzeugnisse, ein paar Hefte, ein zerlesenes Erdkundebuch.

Sein zweiter Sohn, der nachgeborene Otto, ist noch zu klein. Aber dem anderen Sohn, dem jetzt sechsjährigen Gustäving, zeigt sie manchmal diese Sachen. Sie erzählt ihm von seinem Vater, wie sie ihn heute sieht, von dem wirklichen Otto Hackendahl, einem mutigen, sorglichen Mann, einer Art Künstler im Holzschneiden ... Und wenn es schon dunkel ist, erzählt sie dem Kind, daß die letzten Worte seines Vaters waren: »Es hilft nichts, wir müssen voran!«

Dann hält sie den Jungen lange still im Arm, und sie betet für ihn zu Gott, daß etwas von diesen Dingen in ihm keimen möge ... Satt zu essen kann ich ihm nicht geben, denkt sie manchmal. Aber den Glauben kann ich ihm doch geben ...

Sie weiß nicht, was für ein Glaube das eigentlich ist; es scheint ihr nur ein guter Glaube zu sein ...

Helden und Heldenverehrung! Vielleicht wäre sie in der Gefahr, aus einem Menschen einen Gott zu machen, aus einer Liebe eine duselige Schwärmerei. Aber sie lebt zu nahe der Erde, sie bekommt all ihre Schwere zu spüren. Sie hat zwei Kinder zu versorgen, sie muß viele Stunden vor den Lebensmittelgeschäften stehen, und wenn sie dann abgehetzt nach Haus kommt, hat sie Essen zu kochen, die Wohnung sauberzuhalten, Wäsche zu waschen – aber sie muß auch für das tägliche Brot arbeiten. Die Pension für eine Kriegerwitwe ist nur klein, sie muß zehn, zwölf Stunden an der Maschine sitzen, um das Nötigste zu verdienen.

Sie schläft nie mehr als fünf Stunden – und fünf Stunden Schlaf sind schon viel. Der gute Kassenarzt schüttelt den Kopf. »Lange machen Sie es auch nicht mehr! Zum hundertstenmal sage ich Ihnen: Scheren Sie sich ins Krankenhaus!«

»Bis meine Jungen groß sind, halte ich es noch aus, Herr Doktor«, lächelt sie. »Dann ruhe ich mich bestimmt aus.«

Der Arzt sieht sie nachdenklich an. Er ist sich gar nicht sicher, ob diese Frau nicht längst vor dem Frieden ihren Frieden haben wird. Aber er mißtraut seinen ärztlichen Erkenntnissen. Vom ärztlichen Standpunkt aus müßte mindestens die Hälfte seiner Patienten längst verhungert sein. Doch sie kommen immer wieder, diese Frauen, fast ohne Schlaf, überbürdet, theoretisch tot – und leben immer weiter.

Auch der Lebensfunke in diesem schwachen, verkrüppelten Körper – ja, ist es nicht fast, als brennte er stärker statt schwächer? Zwei Kinder und ein Traum – damit läßt sich eben doch leben, trotz alledem!

 

8

Die Nähmaschine schnurrt, eine Naht rauf, wieder runter, die nächste Naht. Gertrud Hackendahl arbeitet, und dabei hört sie auf das, was ihr Eva erzählt.

Eva erzählt natürlich von der Revolution, wie sie ihr erscheint, und diese Revolution wird ihr natürlich nur merkbar in der Beziehung auf ihn. Er ist natürlich derjenige, welcher – und derjenige welcher ist bei Eva Hackendahl immer noch Eugen Bast.

Eva Hackendahl hat nie in ihrem Leben einen Mann geliebt. Ihr erstes und einziges Erlebnis war Eugen Bast, und den hat sie von je mit aller Kraft ihres schwachen Herzens gefürchtet und gehaßt. Wenn man nach der Liebe geht, so ist Eva Hackendahl noch immer eine eiserne Jungfrau, sie hat nie einen Mann geliebt, sie hat nie einen Mann angeschaut, seiner zu begehren. Sie kennt alle Männer nur von einer Seite her, und daß diese Seite ihr recht ekelhaft erscheint, dafür haben Eugen Bast und einige Krankheiten gesorgt!

Da sitzt sie bei der Schwägerin und redet. Sie redet hin und her, sie hat dies gehört und sie hat das gehört, sie wendet es so und wieder anders. Sie ist unerschöpflich darin, weil Eugen Bast eben ein unerschöpfliches Thema ist.

Sie ist immer noch recht hübsch, die Eva Hackendahl, nur etwas Scharfes hat ihr Gesicht bekommen, und etwas Weinerliches klingt in ihrer Stimme mit ...

»Ja«, sagt sie, »und der Herr hat gesagt, daß sie morgen schon alle aus dem Gefängnis rauslassen, alle, nicht bloß die Politischen ...«

Gertruds Gesicht wird abweisend: Dafür hat Otto nicht gekämpft, dafür ist Otto nicht gefallen, daß die Eugen Basts wieder frei auf der Straße herumlaufen ...

»Nun ist es ja bloß, Gertrud«, fährt Eva in ihren Überlegungen fort, »daß er doch gar nicht in Berlin ist. Er sitzt doch im Zuchthaus in Brandenburg! Vielleicht lassen sie in Brandenburg die Leute nicht raus, was meinst du, Gertrud?«

»Wenn sie klug sind, behalten sie die Kerle drin«, sagt Gertrud Hackendahl. »Sie haben ja nachher bloß die Arbeit, sie wieder einzufangen!«

»Vielleicht haben sie in Brandenburg keine Revolution?« überlegt Eva weiter. »Brandenburg ist ja bloß ein Städtchen. Ich bin zweimal da gewesen, zweimal hab ich ihn besuchen dürfen. Man darf Zuchthäusler nur zweimal im Jahr besuchen. Und ein Jahr ist er ja erst drinnen ...«

Jetzt ist Gertrud Hackendahls Gesicht ganz hart und verschlossen geworden. Sie findet es schamlos von der Schwägerin, so von diesen Dingen zu reden! Wie sie offen von Zuchthaus und Dieben spricht, das ist schamlos! Und Tutti läßt ihre Maschine rattern, so laut es nur geht.

»Aber ich hab immer Pech im Leben gehabt«, spricht Eva klagend weiter, »und so werden sie wohl auch in Brandenburg Revolution machen, und der Eugen kommt wieder raus! Und ich habe immer gedacht, ich hätte noch zwei Jahre Ruhe vor ihm. Oh, was mach ich nur, Gertrud, was mach ich nur ...?«

Jetzt klingt wirkliche Angst aus Evas Stimme. Das fühlt Tutti auch, und so hält sie einen Augenblick mit Nähen inne, dreht sich zur Schwägerin um und sagt: »Du fährst einfach fort aus Berlin! Du hast dir doch ein bißchen was gespart, du kannst überall leben! Wie ich den Kerl kenne, was ich von ihm gehört habe, denk ich, der hat jetzt bei dieser feinen Revolution in Berlin so viel zu tun, daß er dir bestimmt nicht nachreist!«

»Aber dann, wenn mein Geld alle ist, und ich muß wieder hierher zurück, dann kriegt er mich doch! Und dann wird es extra schlimm – ich hab dir doch erzählt, wie schlimm es damals war, als ich nur die paar Wochen in der Munitionsfabrik gearbeitet hatte. Das halte ich nicht noch mal aus!«

Sie sitzt ganz zusammengefallen da, sie ist nur noch Angst. Jetzt denkt sie wieder an die Zeit zurück, da Otto aus dem Felde kam, da die Geschichte in der Munitionsfabrik passierte – sie wußte nicht, wohin, also ging sie zu ihm. Ja, sie war direkt zu ihm gegangen; ein Hund, den sein Herr sehr verprügelt hat, läuft auch einmal fort, aber er kommt wieder, er kommt immer wieder, zum harten Herrn, zu Schlägen, zu Hunger ...

Und sie hatte alles erlebt: Härte und Schläge und Hunger. Er hatte sie gnadenlos verprügelt, und dann hatte er sie sofort wieder zu einer Frau gebracht. Diesmal nicht in die Lange Straße, wo die Bezahlung zu schlecht war, sondern diesmal in den Westen, in die Augsburger Straße. Da hatte sie arbeiten müssen, arbeiten wie kein anderes Mädel. Tag und Nacht hatte sie auf die Straße gehen müssen – und nie hatte sie ihm genug verdient! Er hatte ihr jeden Pfennig abgenommen, er hatte ihr nicht einen Groschen für Essen, Kleidung, Wohnung gelassen.

»Sollen sie dich doch einstecken, Dowe«, hatte er bloß gelacht. »Da mach ick mir jar nischt draus. Krepier doch!«

Ach, er hatte es so getrieben, mit Schlägen und Drohen und Geldverdienen, daß sogar die harte Frau, daß sogar die Mädchen sich ihrer erbarmt hatten. Es wurde schließlich alles hinter seinem Rücken geregelt! Aber immer die Todesangst, daß er dahinterkommen könnte!

Oh, die schreckliche Stunde, da er entdeckt hatte, sie besaß ein Seidenkleid! Ein Abendkleid mit tiefem Ausschnitt, das sie doch brauchte, weil die Herren mit den Mädchen in Weinlokale oder Bars gehen wollten! Er nahm ihr das Kleid nicht etwa fort, er gab ihr eine Schere in die Hand, und er ließ sie das Kleid zerschneiden ... Sie selbst mußte es zerschneiden, ihr geliebtes, schönes Seidenkleid, das einzige hübsche Stück, das sie besaß – in lauter Fitzelchen und Schnitzelchen, die zu nichts zu brauchen waren!

Und das andere Mal, wie sie nach seinem Diktat an das Gesundheitsamt der Stadt Berlin hatte schreiben müssen, daß sie sich als Straßenmädchen anmelde: »... Hochachtungsvoll Eva Hackendahl ...« Und alles auf einer Postkarte ...!

Oh, wie sie ihn gehaßt hatte, wie sie ihn immer noch haßte! Und doch immer stärker fühlte, daß er unentrinnbar war, daß sie nie auch nur die geringste Kraft in sich fand, sich gegen ihn aufzulehnen.

Wie sie die anderen Mädchen beneidete um ihr angstfreies Leben, sie, die sich kaufen konnten, was sie begehrten, die im Bett liegenbleiben durften, wenn sie müde waren, die nicht jeden Augenblick ihres Lebens vor einem katzenhaften Schleicheschritt beben mußten und der frechen Frage: »Na, Dowe, wieviel Pinke haste zusammen für deinen Eugen?! Glotz nich – oder ich ballere dir einen in die Fassade!«

Bis der Himmel oder das Schwurgericht sich ihrer erbarmte und den klugen Eugen Bast doch einmal wieder für drei Jahre ins Zuchthaus nach Brandenburg schickte! Drei Jahre Freiheit, eine endlose Zeit, eine Zeit des Aufatmens, Glück, das schäbige bißchen Glück, das einem verdorbenen Leben eben noch abzuringen war ... Und am Ende dieser drei Jahre würde man fliehen, mit erspartem Geld, vielleicht nach Österreich, in ein kleines verschollenes Nest. Dort konnte man sich einen Laden kaufen, einen Tabakladen, oder besser noch Wäsche, sie hatte Geschmack für Wäsche.

Und nun jetzt, nach einem Jahr schon, der Friede – und solch ein Friede, der den Eugen Bast wieder zu ihr ließ! Beinahe stöhnt sie auf. Es ist ja nutzlos, ihn zu belügen, er durchschaut sie doch. Und wenn er sie nicht gleich durchschaut, so wird er mit der Frau und den anderen Mädchen quatschen. Er holt die aus – sie hat mit drei Jahren gerechnet und leichtsinnig von ihren Plänen geredet! Er wird ihr das Geld nehmen und die Kleider, und dann wird er sie doch noch quälen und strafen für jedes Wort, das sie gesagt hat ...

Jetzt stöhnt sie wirklich auf, und die Schwägerin hält die Maschine an und fragt: »Was hast du denn? Hast du solche Angst vor ihm?«

Sie nickt. »Bestimmt lassen sie ihn raus. Und dann fängt alles wieder an!«

Gertrud Hackendahl weiß längst, daß der Eva nicht zu helfen ist. So sagt sie bloß ärgerlich: »Was das bloß für Kerle sind, die solche Zuchthäusler rauslassen?! Selber ins Zuchthaus gehören die!« Ihr dünner, schmallippiger Mund zuckt. »Aber warte nur, wenn erst das Heer von der Front zurückkommt!«

»Meinst du?« fragt Eva schüchtern. »Glaubst du, die Soldaten stecken Eugen wieder ein?« Einen Augenblick leuchtet eine matte Hoffnung in ihr auf, aber sie erlischt gleich wieder. »Nein, nein«, sagt sie mit einem Seufzer, »ich habe kein Glück. Die Soldaten können gar nichts machen. Die haben auch nichts mehr zu sagen, jetzt, wo sie besiegt sind und wo wir den Krieg verloren haben ...«

»Was sagst du ...?« fragt Gertrud Hackendahl und steht von ihrer Maschine auf. Sie fragt es so, daß es plötzlich totenstill ist in der kleinen Küche.

Eva starrt die Schwägerin nur an.

Die steht vor ihr, eine kleine, verkrüppelte Gestalt. Jetzt hat sie die Hände aufs Herz gelegt, als empfinde sie Schmerz. Mit weit offenen Augen starrt sie Eva an.

»Was sagst du?« fragt sie noch einmal leise. »Deutschland ist besiegt? Deutschland hat den Krieg verloren ...?

»Alle Leute sagen ...«, fängt Eva ratlos an.

»Du hältst den Mund«, wird sie plötzlich angefahren. »Nie wieder redest du so etwas bei mir! Schämst du dich denn gar nicht? Hast du denn gar kein Ehrgefühl im Leibe?! Du bist die Schwester von Otto.« Ihr Blick streift rasch die Kommode, aber gleich sieht sie die Schwägerin wieder an, flammend sieht sie sie an. »Du weißt, wie er gestorben ist und wofür er gekämpft hat – und du sagst besiegt, du sagst verloren ...«

»Gertrud, bitte, ich meine doch nicht Otto ...«

»Ja, wofür ist er denn gestorben, wenn wir besiegt sind? – Wo sind wir besiegt?! Sag doch, wo haben wir eine Schlacht verloren?! Sag doch! Pfui Teufel, die Schande! Wir haben gesiegt, gegen die ganze Welt haben wir gekämpft und gesiegt, kein Feind steht in Deutschland, und du sagst besiegt?! Wo sind wir denn besiegt, wo?!«

Sie steht flammend da, sie hat immer schneller und zorniger gesprochen, noch nie in ihrem Leben ist sie so zornig gewesen. Gustäving hat die Stimme gehört, er steht in der Tür, er sieht von der Mutter zu der Tante, er ballt die Fäuste ...

»Tu Mutti nichts!« ruft er.

Aber seine Mutter merkt ihn gar nicht. »Das ist ganz richtig«, ruft sie, »daß die jetzt die Zuchthäusler rauslassen. Da sieht doch jeder gleich, was das für eine Revolution ist ...!«

Sie steht da, sie sieht ihre Schwägerin empört an. Dann erinnert sie sich, wem sie das alles sagt. Es hat ja keinen Zweck, die versteht ja nichts, die hat nichts in sich. Otto war einmal – fast – ähnlich, aber er hatte etwas in sich, was der Vater nicht kaputt gekriegt hatte: Er konnte lieben. Eva hatte gar nichts in sich ...

»Sage nicht noch einmal so etwas in meiner Küche«, erklärt sie darum abschließend. »Gustäving, geh in die Stube, paß auf Brüderchen auf ...«

Sie setzt sich wieder an die Maschine.

Nach einer Weile sagt Eva schwach: »Mir ist es ja egal, was die Leute sagen. Wenn bloß Eugen nicht wieder rauskommt ...!«

Gertrud antwortet gar nicht, sie sitzt und näht. Sie hat gerade wieder die erste Näharbeit einer Privatkundin: Sie näht einen feldgrauen Militärmantel zu einem Damenmantel um. Sie hat bisher nicht darüber nachgedacht, aber plötzlich fällt ihr ein, daß es bisher solche Arbeit nicht gab. Bisher gab es nie genug Militärmäntel, und jetzt ist dieser hier, den sie unter den Händen hat, zuviel ... Wird ein Damenmantel ...

Sie näht immer zögernder, schließlich hört sie ganz auf und starrt auf den Mantel.

Plötzlich begreift sie, an diesem Stück Näharbeit begreift sie, daß der Krieg endgültig aus ist, daß es vorbei ist mit dem, für das Otto kämpfte ... Daß die Leute sagen, der Krieg ist verloren ... Was das bedeutet – auch für sie! Gerade für sie!

Sie schluckt heftig.

 

9

»Gertrud!« mahnt Eva. »Es hat geklingelt. Hast du nicht gehört? – Oder soll ich aufmachen?«

»Nein, laß, ich gehe schon.«

Es klingelt wieder.

»Gertrud! Gertrud!! Ach – einen Augenblick!« Namenlose Angst klingt in Evas Stimme. »Wenn es Eugen ist? – Bitte, bitte, laß mich in die Stube gehen, ich fasse die Kinder auch nicht an. Bestimmt nicht!«

»Glaubst du«, sagt Gertrud, »ich lasse den Kerl in meine Wohnung?! Nie! Aber geh schon in die Stube. Nur bitte, wirklich – laß die Kinder ...«

Eine ganz andere, eine aufgelebte Gertrud Hackendahl läßt den Heinz mit seiner Freundin Irma in die Küche. Das ist die richtige Tutti, die nie vergißt, daß Heinz der einzige Hackendahl ist, der zu ihrer Hochzeit gratuliert hat, der völlig damit einverstanden ist, daß sie Otto nahm. Sie mag den Heinz so gerne, weil er sie oft besucht, nur um zu plaudern, weil er sich stundenlang mit den Kindern abgibt, weil er seine kleine Freundin zu ihr bringt.

Sie sieht in dem Jungen trotz seiner Unfertigkeit, trotz seiner Großsprecherei etwas von ihrem verstorbenen Mann: das Uranständige, eine langsame, beharrliche Zuverlässigkeit.

»Heinz! Irma! Daß ihr an solch einem Tage herfindet! Kommt rein!« Und leise: »Eva ist auch da.«

»Eva?« fragt Heinz Hackendahl gedehnt.

Er überlegt kurz, sieht nach Irma. Er hat Eva nicht wieder gesehen, seit sie die elterliche Wohnung verließ.

»Na, ich weiß nicht ... Sollen wir nicht lieber abhauen?«

»Meinetwegen?« fragt Irma. »Sei bloß nicht blöd, Heinz!«

»Komm ruhig rein, Heinz«, meint auch Gertrud. »Sie ist ganz – friedlich ...«

»Tag, Eva«, sagt Heinz dann ein wenig verlegen. »Lange nicht gesehen, wie? Alte Leute geworden, was? Und ihr macht hier unterdes 'ne Revolution? Ungeheuer!«

Aber er wandte sich gleich wieder zu Tutti. »Ich muß dir was zeigen. Habe einen Groschen investiert, beginnendes Archiv der Revolutionsgeschichte!«

Er zog eine Zeitung aus der Tasche, entfaltete sie, daß alle den Titel sehen konnten, und fragte stolz: »Fein, was?«

»Die Rote Fahne – Organ des Spartakusbundes«, lasen sie.

»Erste Nummer – frisch vom Faß!« grinste Heinz. »Pyramidal, wie?«

»Rote Fahne«, sagte Tutti mit gerunzelter Stirn. »Ich fand immer, Schwarzweißrot war eine gute Fahne, Heinz.«

»Natürlich! Wer redt denn davon? Du hast den Witz noch nicht kapiert, Tutti! Sieh doch genau hin, das ist doch der alte, liebe ›Skandal-Anzeiger‹. Die Brüder haben ihn auffliegen lassen und umgetauft ... Wenn ich denke, daß Vater heute abend statt seines geliebten ›Lokal-Anzeigers‹ die ›Rote Fahne‹ durch den Türschlitz gesteckt bekommt ...« Er grinste.

»Und das soll ein Witz sein, Heinz?« fragte Tutti traurig. »Ich versteh dich nicht! Die nehmen dem Besitzer einfach die Zeitung weg, stehlen sagt man dazu ...«

»Es ist eben Revolution, Tutti ...«

»Dann geht mir mit eurer Revolution! Die eine erzählt, die Zuchthäusler werden entlassen, und du sagst, sie stehlen Zeitungen – und das ist Revolution? Das ist eine Gemeinheit, sage ich!«

»Ich habe dir gleich gesagt: Kauf die nicht«, ließ sich Irma vernehmen. »Bei den Achselklappen waren auch rote Fahnen dabei, und dann, wie wir aus der Versammlung weggelaufen sind, weil wir dachten, sie schießen – da waren auch rote Fahnen dabei ...«

»Ihr scheint ja eine Menge erlebt zu haben ...?!«

»Ja, ich erzähle euch gleich ... Aber erst sollt ihr noch was sehen ...«

Er konnte es doch nicht lassen: Trotz seines Mißerfolges mit der Zeitung zeigte er ihnen den Passierschein zum Reichstag, er berichtete, was sie noch vor und was sie hinter sich hatten.

Tuttis Lippen preßten sich fest zusammen, als sie von den abgerissenen Achselklappen hörte.

»Unteroffiziere waren es, sagst du, Unteroffiziere, Heinz ...?«

»Ja. Es war natürlich wieder Blödsinn, daß ich dir das erzählt habe, Tutti. Es regt dich bloß auf.«

»Und dein Bruder hat es getan? Ja, hat er denn nicht daran gedacht, daß Otto ...?«

»Ich habe Erich nie leiden können«, sagte Eva. »Er war immer Vaters Liebling, aber ...«

»Nein, Vaters Liebling warst eigentlich du.«

»Nein, Bubi. Vater war bloß in mich verliebt, Erich aber hat er richtig gern gemocht. Der hat immer alles erreicht mit seinem Lachen.«

»Ein schlauer Hund ist er bestimmt«, gab Heinz zu.

»Ein Fatzke ist er!« rief Irma. »Ein richtiger Weiberheld!«

»Heinz!« bat Tutti. »Zeig mir doch noch mal den Passierschein.«

Sie nahm ihn, sah ihn an. »Arbeiter- und Soldatenrat«, flüsterte sie. »Es sind ja noch gar keine Soldaten von der Front zurück!«

Sie hob den Schein und sah Heinz an. »Heinz, wenn du auf mich hörst, steckst du den Schein mit der Zeitung in den Ofen!«

»Wir sollen nicht in den Reichstag? Aber das ist doch hochinteressant, Tutti! Sieh mal, ich geh bestimmt nicht wegen Erich. Erich ist mir ganz egal. Aber ich weiß doch gar nichts von der Revolution. Man müßte das doch wissen. Was ist der Spartakusbund? Warum klaut mein holder Bruder Erich dem Liebknecht seine Hörer? Ich denke, der Liebknecht ist auch Sozialdemokrat? – Von dem allen müßte man doch was wissen!«

»Aber warum mußt du denn noch mehr davon wissen, Heinz?« fragte Tutti aufgeregt. »Du weißt doch jetzt, daß die Revolution schlecht sein muß. Denk bloß an die Achselklappen!«

»Ach, Tutti, das verstehst du nicht!« beharrte Heinz ein wenig hilflos. »Du sagst, die Revolution ist schlecht. Einfach aus dem Gefühl heraus ...«

»Und sagt das Gefühl denn nicht das Richtige?«

»Ja, vielleicht. Ja, sicher. Aber das genügt doch nicht. Man hat doch auch seinen Kopf. Man muß doch auch wissen ...«

»Und du denkst, von Erich bekommst du was zu wissen?« fragte Eva böse. »So doof! Der will dich bloß rumschmusen, damit du Vater nichts erzählst!«

Heinz schloß fest seinen Mund. Er wußte ja, Eva hatte nie den Erich ausstehen können; er mochte ihn ja eigentlich auch nicht ... Aber so konnte man es auch nicht machen wie Eva, bloß Gehässigkeit, bloß weil es der Erich war, bloß darum alles schlecht finden.

»Sieh mal, Tutti«, sagte er darum und achtete gar nicht auf Eva. »Entschuldige, daß ich noch mal davon anfange, wenn es dir auch weh tut, von den Achselklappen, meine ich. Sieh mal, du bist empört. Aber da waren doch viele hundert Menschen auf der Straße, und Kriegsverletzte waren auch dabei, du hast sie auch gesehen, Irma?«

Irma nickte.

»Und wenn da keiner die Hand aufgehoben hat, wenn sogar die alten Frontkämpfer meinen: Die Achselklappen müssen runter, dann muß doch noch irgend etwas anderes dahinterstecken als bloße Gemeinheit ...? Ich meine, es muß doch irgendeinen Sinn haben?«

»Gemein bleibt immer gemein«, sagte Tutti hart. »Ich versteh nicht, daß du da noch nach einem Sinn suchen willst, Heinz. Unrecht bleibt ewig Unrecht.«

»Ich sage ja nicht«, fing Heinz wieder sehr hartnäckig an, »daß Unrecht Recht ist. Ich möchte nur verstehen, Tutti, warum ...«

»So etwas möchte ich nie verstehen«, sagte Tutti bitter. »Von so etwas will ich gar nichts wissen.«

»Doch, Tutti, doch!« widersprach Heinz. »Du hast ja auch unrecht getan und hast gefunden, es war ganz recht ...«

Sie starrte ihn fassungslos an. »Ich hätte ...?«

»Du hast doch auch Butter und Eier genommen, wo du sie kriegtest, und hast gesagt: Es ist recht!«

»Das ist ganz was anderes!« schrie sie fast. »Oh, wie kannst du so etwas sagen, Heinz! Soll ich meine Kinder verhungern lassen?«

»Natürlich ist es ganz was anderes, Tutti«, sagte er sanft. »Ich will dich doch nicht kränken. Das Ähnliche ist nur, die anderen, die noch mehr hungern, und die Richter, die richten, finden es unrecht.«

»Ein Pfund Butter (und es war nie mehr als ein halbes, was ich gekriegt habe!) und die Achselklappen zu vergleichen!«

»Denk doch jetzt mal nicht an die Achselklappen. Die sind doch nur ein Symbol dafür, daß sie keine Vorgesetzten mehr haben wollen. Alle sollen gleich sein oder so etwas.« Er verwirrte sich, fand aber gleich den Faden wieder. »Denk doch einmal daran, wie es mit uns Hackendahlschen Kindern und Vater ist; mit Otto war es doch auch so, Tutti!«

»Was ist mit Otto? Red du nicht von Otto, wenn du von den Achselklappen sprichst!«

»Ich rede von Vater, von Vater und Otto! Hat Otto nicht auch Vater gehaßt, und hat er sich nicht schließlich aufgelehnt gegen ihn?! Was mag Vater dabei gedacht haben, Tutti? – Otto hat doch Vater auch die Achselklappen abgerissen ...«

Einen Augenblick war es totenstill in der Küche. Der Junge stand groß und blaß vor seiner kleinen Schwägerin.

Sie hatte die Augen geschlossen. Sie besann sich nur mühsam.

Dann sagte sie flehend: »Geht raus, bitte, geht jetzt alle raus aus meiner Küche. – Nein, ich bin dir nicht böse, Bubi. Vielleicht hast du sogar recht, vielleicht ist es so, wie du gesagt hast, aber ich will es nicht wissen ... Ich will nie wieder etwas davon hören ... Du hast mir schrecklich weh getan, Bubi. – Ich weiß nur: Otto war gut, und wenn er seinem Vater weh getan hat, so hat er ihm weh tun müssen, er hat es nicht gewollt ...«

»Komm doch, Heinz. Du quälst sie bloß«, bat Irma.

»Also geh, Heinz, geh in den Reichstag. Geh überall hin, horche ... Und ich weiß doch schon heute: Du findest nur Schlechtes ...«

Er streckte ihr zögernd die Hand hin. »Auf Wiedersehen, Tutti!«

Sie lächelte schwach. »Du, Junge, ach, du Junge, du! Was wirst du dir die Finger verbrennen! Du hast ja so ein weiches Herz, dir tut ja ebenso weh, was du mir gesagt hast, wie mir. All ihr Hackendahls seid weich, ihr Kinder, meine ich.«

»Auf Wiedersehen, Tutti.«

»Auf Wiedersehen, Bubi! Tu dir nur nicht zu sehr weh ...«

 

10

Unten auf der Straße fragte Irma: »Wir gehen also doch zum Reichstag?«

»Da verlaß dich drauf!«

»Und wann kommen wir nach Haus?«

»Wenn es soweit ist!«

»Und was wird dein Vater sagen?«

»Da denk ich überhaupt nicht daran!«

Natürlich dachte er doch daran, aber plötzlich war ihm egal, was der Vater sagen konnte. Viele, viele Jahre lang hatte des Vaters Wort wie Donnerrollen, wie Gotteswort in seinem Ohr geklungen. Nun war sein Ohr taub für seines Vaters Wort geworden, wie die Soldaten nicht mehr die Befehle ihrer Offiziere hören, die Arbeiter nicht mehr ihren Lohnherren gehorchen wollten.

In seinem Kopf geht alles durcheinander, es verwirrt sich immer mehr. Tutti und die Zeitung, die abgerissenen Achselklappen und Ottos Auflehnung gegen den Vater, Bruder Erich mit Zimmer im Reichstag und entführten Liebknecht-Hörern, der Matrose ...: alles Verwirrung! Und doch ist eine Helle in dem allen, eine gespenstische, mehr geahnte Helle. Es ist die Ahnung, daß hinter allen Verwirrungen ein Sinn stecken muß. Ach, es ist vielleicht nur das Gefühl, daß er jung ist, daß er leben will und daß er kein von anderen verpfuschtes Leben führen, nicht deren Sündenbock sein mag. Daß er sein ureigenes Leben haben will, mit allen Chancen für Sieg und Niederlage!

»Du sagst ja gar nichts«, meinte Irma, beunruhigt durch das Schweigen des Freundes. »Du denkst wohl nach?«

»Tu ich!«

»Worüber denn? Über deinen Bruder?«

»Auch. – Was meinst du, Irma, habe ich viel Blödsinn geredet bei Tutti?«

»Teils – teils.«

»Ach, sag doch wirklich!«

»Recht hast du ja vielleicht, aber du hättest es ja nicht grade der Tutti versetzen müssen, wenn du eine Wut auf alle Hackendahls hast!«

»Davon habe ich doch gar nicht geredet.«

»Natürlich, bloß davon!«

»Ach nee ...« Er ärgerte sich ziemlich. So sieht das also für andere aus, zum Beispiel für Frauenzimmer, wenn er etwas rein sachlich bespricht. »Na ja, ihr Weiber ...«, tröstete er sich.

»Bitte sehr! Ich bin kein Weib – ich bin deine Freundin!«

»Also schön ...«

»Und wenn du jetzt deinem Bruder Erich ein bißchen von deiner Wut auf die Hackendahls abgeben würdest, würde es mich wirklich freuen. Da ist der Reichstag!«

Ja, da war er! Grau, dunkel, nicht mehr von Menschen umwimmelt, lag er im Nebel des Novemberabends. Nur wenige Straßenlaternen brannten.

Etwas beklommen kletterten sie die Stufen zum Hauptportal hoch und wurden angehalten von einem Soldaten, einem noch ganz ordnungsgemäßen Kriegssoldaten mit Gewehr, Stahlhelm und Handgranaten. Nur, daß dieser Soldat eine Armbinde trug – diesmal war es eine weiße Armbinde mit schwarzem Stempel.

Heinz nahm an, daß es der gleiche Stempel wie auf seinem Passierschein war, aber darin irrte er sich. Der Soldat faltete den Passierschein zusammen, gab ihn Heinz zurück und sagte: »Gilt nicht mehr.«

»Wieso gilt nicht mehr? Heute nachmittag habe ich ihn doch erst bekommen!«

»Und heute nachmittag haben wir die Brüder hier ausgeräuchert. Arbeiter- und Soldatenrat ist bei uns abgemeldet. Wir sind jetzt Noskes.«

»Aber mein Bruder ...«

»Möglich«, sagte der Soldat gleichgültig, »daß die Brüder jetzt im Schloß sitzen. Da werden sie aber auch nicht mehr lange bleiben, dafür wird gesorgt. Und wenn wir Lehmanns ganze Mottenkiste in den Klump ballern müssen!«

Damit drehte sich der Noskowiter um und verschwand unter dem Portal. Ziemlich bedrückt stiegen die beiden wieder die Treppe hinunter.

»Was machen wir nun? Gehen wir zum Schloß?«

»Hat ja keinen Sinn. Der Schein gilt doch bloß für den Reichstag.«

»Hier gilt er doch eben nicht!«

»Im Schloß gilt er erst recht nicht – das ist doch logisch, was?«

Unentschlossen umstrichen sie den dunklen Bau. Sie versuchten es an einer zweiten Tür, wurden aber wieder abgewiesen.

Doch an einer dritten Tür hatten sie Glück. Den Posten an der dritten Tür (um das Gebäude herum) schien noch nicht die Nachricht von der Austreibung des Arbeiter- und Soldatenrats erreicht zu haben.

»Geht man hier den Gang rauf. Da sitzt ein Portier. Der Mann weiß natürlich auch nicht Bescheid, aber heut weiß hier keiner Bescheid. Wer sucht, findet ...«

Sie suchten und fanden den Mann in der Portierloge. Eigentlich war es gar kein Mann, sondern ein weißbärtiger, würdiger Herr, noch aus den guten, ehrbaren Zeiten des Reichstages. Er schien durch den Trubel der letzten Tage völlig verwirrt zu sein.

»Jawohl, Herr Hackendahl hat hier ein Zimmer. Natürlich.«

Er sah hilflos seinen Telefonapparat an, dann eine Tafel an der Wand mit vielen Zimmernummern und vielen Namen. Er schüttelte trostlos den Kopf.

»Nein, von meinen Herren heißt keiner Hackendahl. Von meinen Herren kommt keiner mehr zu uns. Doch ja, Entschuldigung, Herr Eberl: kommt noch und Herr Noske und Herr Breitscheid und Herr Scheidemann ...«

Er schien in der Aufzählung derer, die noch kamen, fortfahren zu wollen.

»Aber ich suche Herrn Hackendahl. Er hat hier bestimmt ein Zimmer.« (Heinz war aber dessen nicht so sicher, wie er tat.)

»Dann kommen Sie man«, sagte der alte Mann und ging ihnen voran. Und im Weitergehen – die Jugend der von ihm Geführten schien ihm Vertrauen eingeflößt zu haben –: »Ich darf ja eigentlich meinen Posten nicht verlassen, es ist gegen das Reglement ... Eigentlich müßte ich Sie einem Boten übergeben. Aber unsere Boten sind auch alle weggelaufen, es kommt doch nicht mehr darauf an.«

Es schien wirklich nicht mehr darauf anzukommen. Sie sahen seltsame, verwirrende Dinge in dem großen, nach außen so feierlichen, goldgekuppelten Hause, an dem sie nur manchmal klein und ehrfürchtig vorübergegangen waren ...

Jetzt waren sie drinnen, und eine Tür ging auf, und aus dem Raum kam brüllendes Gelächter. Ein Haufe Männer saß dort, blaue Rauchschwaden zogen durch den Raum, und alle lachten, und alle waren in Hemdsärmeln ...

Sie gingen über dicke, weiche Seidenplüschläufer, mit ihren häßlichen, verdorbenen Schuhen, und plötzlich lag mitten auf dem Läufer ein Soldat, ein Feldgrauer, den Kopf auf dem Tornister, und schnarchte mit weit offenem Munde ...

Sie traten über ihn fort, und hier stand nun ein Fenster offen, in die graue Novembernacht hinein, und durch das Fenster drohten auf hohen Spinnenfüßen hinaus auf die kaum kenntlichen Häuser gegenüber zwei Maschinengewehre, standen da ganz allein und verlassen, mit ihren Hebeln, ihren Patronengurten, kein Mensch war zu sehen ...

Sie stiegen eine Treppe hinauf, und eine Gruppe Soldaten stand lachend beisammen und sah einem auf einer hohen Leiter zu, der ein großes, goldgerahmtes Kaiserbild mit schwarzen Pinselstrichen entstellte ...

Immer wieder hielt ihr Führer an und fragte; manchmal dunkel Uniformierte, wie er selbst einer war, dann ging alles langsam und freundlich und sehr kopfschüttelnd zu. Manchmal fragte er aber auch Soldaten oder Zivilisten, dann fragte er ängstlich und war froh, wenn er seine Auskünfte hatte und weiterlaufen konnte ...

Allmählich waren sie in immer belebtere Teile des großen Hauses gekommen. Überall liefen Männer, fast nur Feldgraue. Hinter den Türen hörten sie Telefone klingeln und Schreibmaschinen klappern – und plötzlich standen sie in dem großen, mit Marmorplatten ausgelegten Wandelgang, zwischen Säulen. Hohe Türen führten in einen riesigen, nur schwach erhellten Saal hinein ...

»Das ist der Sitzungssaal«, erklärte ihr Führer.

Auch der Wandelgang war voll von Soldaten. Sie saßen hingelümmelt auf den Bänken, sie schlenderten Zigaretten rauchend auf und ab, viele trugen den Stahlhelm. Da hatten sie doch wirklich sogar ein Feldgeschütz in die Wandelhalle gebracht! Grün und braun und gelb bekleckst stand es auf seinen Rädern, ein barbarisches Ungetüm. Das Rohr war gesenkt und drohte gegen eine geschlossene Tür ...

Aber wenn die Tür sich öffnen würde, und da unten standen Menschen, viele Menschen, eine Volksversammlung etwa, und diese Versammlung hörte gerade zufällig dem falschen Redner zu – dann würde dieser Kanonenschlund sich auftun und Tod und Verderben speien auf all die Ahnungslosen da unten. Von solchen Zufällen hing es ab, von solchen Zufällen hatte es heute nachmittag abgehangen.

Heinz Hackendahl schloß die Augen. Aber er öffnete sie gleich wieder, denn Irma hatte ihn angestoßen und ihm aufgeregt zugeflüstert: »Sieh doch den Offizier!«

Und er hatte hingesehen, und es hatte ihm einen Ruck gegeben. Denn da stand mitten zwischen den Soldaten, nein, etwas erhöht über ihnen, ein Offizier, ein hoher Offizier in Feldgrau, mit dicken, silbernen Achselstücken. Und am Hals hing ihm der »Pour le mérite«, und auf der Brust trug er, unter einer langen Ordensschnalle, das E. K. I.

Und dies schien den beiden ahnungslosen Kindern an diesem verworrenen Tage doch das verwirrendste aller Wunder: dieser Offizier, der dort mit seinem braunen, entschlossenen Gesicht unangefochten, eine Zigarette rauchend, zwischen den Soldaten stand, mit scharfen Augen alles beobachtend und manchmal halblaut einen Befehl gebend – und sie hatten doch selber gesehen, wie die armen drei Unteroffiziere wegen ein paar Achselklappen ...

»Also ist doch nicht alles Alte untergegangen«, sagte Heinz halblaut.

Irma drückte ihm aufgeregt die Hand. »Ich freue mich so, Heinz!« flüsterte sie.

Er fragte sie gar nicht, warum sie sich freute, er verstand es ohne weiteres.

Ein wenig später kam ihr Führer wieder zu ihnen zurück. »Jetzt weiß ich, wo Herr Hackendahl sitzt«, sagte er gekränkt. »Oben im zweiten Stock. Herr Hackendahl hat doch den Sicherheitsdienst für die Stadt Berlin! Das hätten Sie mir gleich sagen müssen, dann hätte ich ihn schneller gefunden!«

»Den Sicherheitsdienst – was denn für einen Sicherheitsdienst?«

Heinz kam sein Bruder Erich immer rätselhafter vor.

»Na, so gegen Überfälle und Plünderungen. Das müssen Sie doch wissen, wenn Sie sein Bruder sind!«

Der alte Mann sah ihn plötzlich mißtrauisch an.

»Habe ich wirklich nicht gewußt – trotzdem ich bestimmt sein Bruder bin«, sagte Heinz. »Dann zeigen Sie uns mal, wie wir gehen müssen. Und schönen Dank auch für Ihre Mühe!«

 

11

Das Schild an der Tür, sorgfältig in Rundschrift geschrieben: »Dr. Bienenstich – Sekretariat« war roh mit Bleistift durchstrichen. Das neue Schild aber, ein einfacher Pappendeckel, mit Blaustift gekliert: »Sicherheitsdienst« – dies neue Schild war wenig aufschlußreich.

Heinz klopfte, sah Irma an. Sie nickte, er klopfte noch einmal. Eine Stimme rief: »Herein« – und sie traten ein.

Der Bruder Erich stand mit einem dunklen, ziemlich fetten Herrn am Fenster. Er sah nur flüchtig nach seinen beiden Besuchern, rief: »Einen Moment mal!« und redete rasch, mit leiser Stimme, zu dem Dunklen weiter.

Irma und Heinz sahen sich fragend an. Dann nickte Irma bestätigend, und Heinz sagte halblaut: »Naturellement – det isser!«

Denn es war kein Zweifel: Diesen dunklen Herrn in schwarzem Rock, mit der zierlich gestreiften grauen Hose, den hatten sie schon mal gesehen – es war der Redner aus der roh gestörten Versammlung. Heinz hätte für sein Leben gern gewußt, wie der Herr hieß. Ebert war es nicht, Ebert war kleiner, und Liebknecht war es auch nicht, Liebknecht war nicht fett ... Er suchte in seinem Gedächtnis, aber bisher hatte er sich, echtes Kind der Kriegszeit, in der allein die Militärs Wichtigkeit zu haben schienen, nicht für die zivilen Abgeordneten interessiert, die nun plötzlich doch wichtig waren.

Der dunkle Herr sagte: »Also, Erich, laß das alles für morgen. Ich wenigstens muß heute nacht mindestens fünf Stunden schlafen – und dir würde es auch gut sein. – Übrigens lassen wir deinen Besuch warten ...«

Erich lächelte, aber Heinz sah dies Lächeln mit Ärger. Es war ein Lächeln, das zu sagen schien, wie völlig unwichtig dieser Besuch war ...

Der dicke Mann aber sah jetzt Heinz an. Er streckte ihm eine fette, sehr weiße Hand hin – bloß schlaff hin; Heinz mußte sie nehmen und drücken ...

»Und Sie sind also der Bruder von unserem tüchtigen Erich?« wurde Heinz gefragt.

»Man könnte auch sagen, daß Erich der Bruder von Heinz Hackendahl ist!« antwortete er ziemlich patzig.

Der dunkle Herr lächelte beistimmend. »Richtig«, sagte er, »man will nicht immer nur der Bruder von einem tüchtigen Mann sein. Und was sind Sie? Student? Gymnasiast?«

Heinz mußte zugeben, daß er noch Gymnasiast sei ...

»Und wie ist die Stimmung bei Ihnen, auf Ihrem Gymnasium?«

Heinz meinte, die Stimmung sei verschieden ...

»Natürlich!« Der Dicke verstand alles auf Anhieb. »Je nachdem, was grade zuletzt geschehen ist. Sehr richtig!«

Heinz fand, der Dicke dürfte ruhig sparsamer mit seinem Lob sein, er hatte stets eine tiefe Antipathie gegen das Lob seiner Lehrer gehabt.

»Und wie ist Ihre Stimmung?« wurde er gefragt.

»Ich habe Sie heute nachmittag reden hören«, sagte er gereizt. »Wir haben ziemlich laufen müssen, meine Freundin und ich.«

Zu seiner Überraschung schien der Stich kein bißchen zu verletzen. Im Gegenteil, es wurde herzhaft gelacht, ganz unverfälscht gelacht.

»Ja, das war ein bedauerlicher Zwischenfall!« lachte der Dicke. »Aber in den Folgen nicht ganz unangenehm, wie, Erich, mein Sohn?«

Erich gab lachend zu, daß die Folgen nicht ganz unangenehm gewesen seien, nein, gar nicht!

Heinz ärgerte sich immer mehr. »Ich habe ein paar Frauen und Kinder gesehen, die böse zertrampelt wurden«, sagte er gereizt in das alberne, selbstzufriedene Gelächter hinein.

Sofort wurde der Dicke ernst. »Ich weiß, ich weiß. Alles ist eben ein bißchen zu rasch gekommen, und die anderen treiben ... Nun, ich denke doch, solche kleinen Regiefehler werden bald nicht mehr vorkommen.«

Er nickte Erich freundlich zu, sagte noch einmal: »Also schlafe, mein Sohn Erich«, streckte Heinz die Hand hin, nickte freundlich in die Gegend von Irma und ging sachtfüßig aus dem Zimmer, sichtlich doch in Gedanken über den »kleinen Regiefehler«.

»Wer war denn das, Erich?« rief Heinz ungebührlich früh, denn die Tür war kaum geschlossen.

»Setzt euch bitte! Zigaretten? Du rauchst noch immer nicht, Bubi? Na, jetzt darfst du wirklich bald damit anfangen – wann baust du denn dein Abitur?«

»Wer das war, möchte ich gerne wissen«, beharrte Heinz.

»Du weißt das nicht? Du hast ihn doch reden hören! Wie hat dir denn die Rede gefallen?«

»Ausgezeichnet!« grinste Heinz. »Bis auf die Auspuffgeräusche. Und wer ist der Redner?«

»Ein zukünftiger Minister!«

Heinz lachte. »Oh, Erich!« rief er lachend. »Du bist doch noch immer der alte Heimliche und Dicketuer! – Habe ich ihn dir nicht ganz richtig geschildert, Irma?«

Irma nickte zustimmend.

»Also ein Minister – na, laß man, Erich, du brauchst mir seinen Namen gar nicht zu sagen. Wenn er wirklich Minister wird, erfahre ich ihn auch so. – Und du bist also sein Sekretär, künftiger Staatssekretär vermutlich? Oder noch höher?«

Aber Erich ärgerte sich gar nicht, im Gegenteil, er lächelte zufrieden und freundlich.

»Was meintest du eigentlich mit Auspuffgeräuschen?« fragte er recht harmlos.

»Stell dich noch an! Das lebensgefährliche Auto, das eure Versammlung auseinandergetöfft hat!«

»Entschuldige, die Versammlung wurde mit Maschinengewehren beschossen!«

»Verzeih, Irma und ich, wir saßen gemeinsam oben auf Bismarck: Es war ein Auto mit grauem Verdeck, das so knatterte!«

Die Brüder sahen sich an.

»Wenn ich dich vorhin recht verstanden habe, bist du gewaltig gelaufen?«

Heinz wurde rot. »Mit den Wölfen muß man heulen ...«

»Und mit den Schafen laufen!«

Erich lachte herzhaft. Er lachte immer mehr, je wütender seines Bruders Gesicht wurde.

»Bubi, Bubi!« rief er dann. »Du bist wirklich noch verdammt jung!« Sein Sieg machte ihn redselig. »Könntest du dir nicht unter Anspannung all deiner gewiß so beträchtlichen Geisteskräfte vorstellen, daß es im Endergebnis völlig gleichgültig ist, ob ein Maschinengewehr schoß oder ein Auto knatterte?«

»Nein«, sagte Heinz verblüfft. »Das kann ich mir wirklich nicht vorstellen. Das mußt du mir erklären!«

»Gleichgültig soll das sein, ob Menschen erschossen werden oder am Leben bleiben ...?!« rief Irma empört.

»Im Endergebnis, kleine Dame«, näselte Erich unendlich überlegen. »Ich sagte, im Endergebnis ...«

»Ich bin keine Dame!«

»Dann werden Sie hoffentlich mal eine!« Er wandte sich zu Heinz. »Paß auf, es ist ganz einfach. Ich will dir alles erklären ... Wir haben ein Abkommen mit den Liebknecht-Leuten – keiner stört die Versammlungen des anderen. Gewissermaßen eine Art Waffenstillstand. Genosse Liebknecht spricht vom Schloß, ›wir‹ vom Reichstag aus. – Wenn da nun auf unsere Versammlung Maschinengewehrfeuer eröffnet wird, haben wir doch das Recht, vom Bruch der Abmachungen zu reden, und einen Arbeiter- und Soldatenrat auszuräuchern, der wortbrüchig, unzuverlässig, treulos ist ...?«

»Es ist aber gar nicht geschossen worden!«

»Schafskopf! Wir behaupten es – und das genügt!«

Er sah den Bruder triumphierend an. »Siehst du denn nicht ein, daß es manchmal genügt, wenn man mit einiger Wahrscheinlichkeit behaupten kann, ein Recht sei verletzt ...?«

Er zwinkerte rasch mit seinen katzenschlauen, schönen Augen.

»Wozu muß man da genau untersuchen, ob Maschinengewehr oder Auspuff?« Er beugte sich vor, er flüsterte: »Könnte man nicht sogar zur Nachhilfe selbst ein Auto knattern oder ein Maschinengewehr tacken lassen ...?«

Er richtete sich gerade auf. »Dieser A.- und S.-Rat hier im Reichstag war wirklich sehr störend. War, lieber Bubi – seit heute nachmittag: war!«

Heinz sah den Bruder starr an. Er hatte von den Listen der Diplomatie in Büchern gelesen, von Verrat, Spionage, Schurkerei – das hatte etwas Abstraktes gehabt, fernab liegend, in längst vergangenen Zeiten. Daß es aber heute, vor seinen eigenen Augen, geschah, vom eigenen Bruder eingefädelt ...

»Oh, Erich ...«, sagte er und brach ab.

Hier war sogar Schimpfen zwecklos. Was hatte es zum Beispiel für einen Zweck, »Schwein« zu sagen – der war ja noch stolz darauf, ein Schwein zu sein!

»Und die Leute, die zu Liebknecht wollten, haben Sie heute nachmittag auch angelogen!« rief Irma empört.

»Der Zweck heiligt die Mittel, kleines Fräulein!«

»Und was ist euer Zweck? Warum macht ihr solche Gemeinheiten? Warum reißt ihr Achselklappen ab?« rief Heinz plötzlich aufgeregt. Dann sagte er widerwillig: »Ach, Erich, wenn das Vater erfährt ...!«

»Bitte, behalte Platz!« Erich war ganz ungerührt. »Nein, setze dich. Eben, um Vaters willen erkläre ich dir das, lasse ich mir deine brüderlichen Unverschämtheiten gefallen ...«

»Das glaube ich dir nie!« murmelte Heinz.

Erich überhörte es, weil er es überhören wollte. »Warum wir zu solchen Mitteln greifen? Weil wir die Macht haben wollen, allein und ungeteilt!«

»Aber wer ist das eigentlich, ›wir‹?!« rief Heinz verzweifelt. »Da redet einer, da redet ein anderer, alle haben sie rote Fahnen, alle machen sie Revolution. Du redest von einem lästigen Arbeiterrat – ja, was soll das alles?! Wer kann denn das alles verstehen? Das ist ja ein allgemeiner Zusammenbruch, ein Tohuwabohu ...«

»I wo, das ist alles ganz einfach. In drei Minuten hast du alles verstanden. Wir – das ist die große Sozialdemokratische Partei, die einzige Partei, die berufen und fähig ist, die Macht zu ergreifen und festzuhalten ...«

»Da du ihr angehörst, nicht wahr?«

»Laß jetzt die Sticheleien! – Dann gibt es noch die Unabhängigen, die sogenannten Unabhängigen«, fuhr Erich fort. »Das sind die Parteigenossen, die gegen die Kriegskredite stimmten. Ein Teil von ihnen neigt der Liebknecht-Gruppe zu, ein Teil möchte sich uns anschließen ...«

»Und die Liebknecht-Leute ...?«

»Jaha, die Liebknecht-Leute, die sind das Problem! Liebknecht ist heute ein sehr populärer Mann ... Er hat immer gegen den Krieg geschrieben, er hat im Zuchthaus gesessen, er möchte alles niederreißen – so was ist sehr populär heute! Aber wieviel Leute wirklich hinter ihm stehen, weiß keiner. Sein Spartakusbund ist nur klein. Du erinnerst dich doch an Spartakus, Bubi?«

»Natürlich. Thrazischer Kriegsgefangener. Stiftete einen Aufruhr der Sklaven und Soldaten gegen Rom an, siegte, hatte ungeheuerlichen Zulauf ...«

»Ich glaube ja an Namen«, sagte Erich. »Spartakusbund ... Du weißt auch noch, was mit Spartakus geschah?«

»Jawohl. Wurde schließlich vernichtend geschlagen. Fiel mit den meisten seiner Anhänger. Tausende wurden gekreuzigt ...«

»Jaha ...«, sagte Erich nachdenklich. »Kreuzigen tun wir ja heute nicht mehr ...«

Das Schweigen im Zimmer wurde drückend.

Erich sah auf, lächelte, als er die ernsten, bösen Gesichter seiner Besucher sah.

»Ihr seht ja so grimmig aus. Du gehörst doch nicht etwa dem Spartakusbund an? – Ich gebe dir mein Ehrenwort, du hättest auf das falsche Pferd gesetzt. Wir werden die Regierung bilden!«

»Ich habe überhaupt auf kein Pferd gesetzt«, rief Heinz wütend. »Das ist doch kein Rennbetrieb wie in Hoppegarten!«

»Nein, natürlich nicht. Man hat manchmal so dumme Redensarten. Entschuldige.«

»Ich glaube nicht nur an Namen, ich glaube auch an Redensarten. An Redensarten, die den verraten, der sie gebraucht«, sagte Heinz spöttisch.

»Mein lieber Junge!« Ganz der ältere, überlegene, sehr große Bruder. »Warum so gehässig? Natürlich freut es mich, daß ich auf der aussichtsreicheren Seite kämpfe! Ist das was Unrechtes?«

»Und was wollt ihr tun, wenn ihr an der Regierung seid?«

»Wir werden eine Demokratie nach westlichem Muster bilden«, erklärte Erich.

»Ja, natürlich. Das ist die Form. Ich meine, was wollt ihr erreichen, wenn ihr an der Macht seid?«

»Erreichen? Wieso?« Jetzt war es Erich, der verblüfft war. »Wenn wir an der Macht sind, haben wir doch unser Ziel erreicht! Oder ...?«

»Ach, Erich, sei doch nicht so blöd! Was wollt ihr denn mit der Macht anfangen? Ihr müßt doch irgendwelche Pläne, Absichten, ein Programm haben! Nur so an die Macht kommen ...«

»Ja, mein lieber Bubi, ich danke dir ja sehr für deine hohe Einschätzung, aber was das Regierungsprogramm angeht, da mußt du wirklich warten, bis es der künftige Ministerpräsident verkündet.«

»Rede doch keinen Stuß! Du bist doch kein Idiot! Ihr müßt doch etwas vorhaben! Wir haben den Krieg verloren – wie wollt ihr euch zum Beispiel mit unseren Feinden einigen?«

»Das wird sich schon finden! Sind wir erst eine Demokratie, werden Frankreich und England schon mit sich reden lassen. Natürlich werden wir zahlen müssen, ziemlich viel, mehr als die Franzosen einundsiebzig zahlen mußten – aber zwei demokratische Regierungen werden das schon friedlich aushandeln!«

»Hast du die Waffenstillstandsbedingungen gelesen?!« rief Heinz wütend.

»Aber warum regst du dich auf? Wir haben die doch nicht gemacht! Vergiß nicht, die Waffenstillstandsbedingungen sind zwischen Generälen ausgehandelt.«

»Diktiert sind sie worden!«

»Von Militärs. Nachher sind wir Zivilisten daran – und wir haben den Präsidenten Wilson.«

»Also was Kriegsende und Friedensschluß angeht, so sagt ihr einfach: Das wird sich alles schon finden.«

»Vollkommen richtig! Oder hast du andere Vorschläge zu machen?«

»Und das Volk – ich weiß nicht, ob du schon gemerkt hast, daß es fast verhungert ist? Daß jeden Tag Tausende an der Grippe sterben ...? Hungergrippe sagen sie. Was habt ihr denn mit diesem Volk vor?!«

»Mein lieber Bubi, schrei mich bitte nicht an! – Schließlich müßtest du wissen, daß die Sozialdemokratische Partei so etwas wie ein Parteiprogramm hat. Es ist ziemlich lang, ich kann es dir wirklich nicht aufsagen. Es steht was vom Achtstundentag darin, wenn ich mich recht erinnere, von der Sozialisierung der Betriebe, Tarifrecht ...«

»Und das wollt ihr durchführen?«

»Sicher! Bestimmt! Nach und nach – mit der Zeit wird das alles durchgeführt werden.«

»Also«, schrie Bubi fast, »habt ihr auch da keine Ahnung! Ihr wollt einfach bloß an die Macht!«

»Wollen wir auch!« schrie Erich dagegen. »Die Macht! Wenn wir erst die Macht haben, findet sich alles andere! Erst mal die Macht!« Er stand triumphierend, strahlend da ...

Und fuhr zusammen. Ein Knattern wurde laut, ein Tacken, es prasselte trocken, sang ekelhaft, Glas klirrte, Stimmen schrien ...

»In Deckung!« rief Erich. »Da unter den Tisch! Sie beschießen den Reichstag!«

Schon lagen sie alle drei auf den Knien, krochen unter den großen eichenen Tisch ...

Nicht eine Sekunde zu früh, denn schon splitterten die Scheiben ihres Zimmers, klirrend fielen die Scherben ... Es klatschte gegen die Türwand. Sie hielten den Atem an. Putz bröckelte – aber die Streugarbe des Maschinengewehrs war schon weitergewandert ...

 

12

»Wir hätten das Licht ausmachen sollen«, sagte Erich verdrossen unter dem Tisch. »Jetzt werden sie hier immer wieder reinfunken!«

Irma lachte, aber ein wenig krampfhaft. Der Schreck war zu kräftig für sie gewesen. »Jetzt ist es Ihnen aber nicht egal, ob Auspuff oder Maschinengewehr, Herr Hackendahl?« fragte sie bissig.

»Wir sitzen ganz gut in Deckung«, sagte Erich tröstend. »Die können uns gar nichts wollen!«

Er war der ruhigste von den dreien; immerhin war er ein paar Wochen im Schützengraben gewesen. Er hatte keine Angst.

»Sind das eure Freunde, die Matrosen, die da schießen?« fragte Heinz und versuchte, recht ruhig zu sprechen.

»Glaube ich nicht. Das Geschieße kommt schräg von rechts. – Ich habe so was gehört, daß sich kaisertreue Offiziere im Architektenhaus verschanzt haben. Sie werden ein Maschinengewehr aufs Dach gebracht haben. Na, das sind so kleine Späße, unsere Leute werden sie schnell zudecken ... Da, hörst du, da legen sie schon los ...«

Im Reichstag fing es zu knallen an, ungeregelt, hier, dort. Dann tackte ein Maschinengewehr, aber das andere antwortete. Wieder klirrte Glas, eine Trillerpfeife schrie ...

»Hoffentlich kriegen wir bald Ruhe«, sagte Erich gähnend. »Ich muß gestehen, ich läge gern bald im Bett.«

»Wir müssen auch nach Haus, Heinz!« erinnerte Irma.

»Ja, richtig«, sagte Erich gleichgültig. »Ich hatte schon daran gedacht, euch nach Hause zu fahren. Ich habe einen Wagen, einen Dienstwagen natürlich. Versteh mich recht ...«

»Versteh schon ...«, grunzte Heinz. »Nur ein Dienstwagen – der reine Staatssekretär! Der Privatwagen kommt auch bald ...?«

»Möglich«, gähnte Erich. »Vater geht's gut? Ich könnte ihm dann gleich guten Tag sagen.«

»Du weißt ja, eisern, Erich. Die Leute haben ihm so lange gesagt, daß er der eiserne Gustav ist, bis er's wirklich glaubt. Aber er hat sich doch gewaltig verändert.«

»Wieso verändert? Zugänglicher geworden ...?«

Das Maschinengewehr auf dem Architektenhaus war noch immer nicht zum Schweigen gebracht. Jetzt streute es wieder die Reichstagsfront ab, das Klirren von Glas kam näher und nahe. Nun schepperte es in ihrem Zimmer, Irma schrie leise auf.

»Keine Angst, kleines Fräulein, wir sitzen im toten Winkel«, beruhigte Erich – und der Feuerlärm entfernte sich.

»Nein«, sagte Heinz nachdenklich. Das Sitzen unter dem Tisch, als seien sie wieder Kinder geworden, regte zum Sprechen an. »Weicher ist Vater eigentlich nicht geworden. Eher dickköpfiger und rechthaberischer, seit er selber wieder Droschke fährt.«

»Er fährt selber wieder Droschke?!« rief Erich unwillig. »Was für ein Unsinn! Warum tut er denn das?«

»Weil er Geld verdienen muß, Erich.«

»Geld verdienen! – Da soll er doch die anderen fahren lassen!«

»Aber weißt du denn gar nicht, Erich ...?«

Heinz blieb vor Verblüffung der Mund offen. Ein Licht begann ihm zu dämmern. Er starrte den Bruder groß an.

»Was weiß ich nicht? Red schon! Es wird wohl alles bei euch völlig verfahren sein, und es wird Zeit, daß ich mich um euch kümmere!«

»Ausgezeichnet! Und vergiß nicht, Geld mitzunehmen, Erich. Tu viel Geld in deinen Beutel, das fehlt uns am nötigsten!«

Er spottete jetzt ganz offen, er hatte verstanden, warum der Bruder so freundlich gewesen war.

»Geld?« Erich achtete gar nicht auf den Spott, er war viel zu erfüllt von dem, was er hörte. »Geld? Rede doch keinen Unsinn, Bubi! Vater ist doch ein wohlhabender Mann! Auf eine Viertelmillion habe ich ihn immer taxiert.«

»Na schön. Frag ihn mal nach seiner Viertelmillion!«

»Aber das Geld kann doch nicht alles weg sein!«

»Weiß ich nicht.«

»Bubi, sag doch, was ist los bei euch? Was ist geschehen bei euch? Gott, ich hätte ja wissen sollen, daß Vater nichts von Geldsachen versteht, ich hätte eher mal nachfragen müssen! Also sag, was ist da?«

»Eine Droschke, der olle niedergebrochene Schimmel, den du noch kennst, ein Mietshaus, mit Hypotheken so voll geknackt, daß die Mieten die Hypothekenzinsen nicht decken ...«

»Aber das Vermögen? Das Kapitalvermögen?!«

»Ich glaube, Vater hat zwanzig- oder fünfundzwanzigtausend Mark Kriegsanleihe. Wenn er sie noch hat.«

»Es ist unmöglich! Wo soll denn das Geld hin sein?«

»Weiß ich nicht! Wahrscheinlich hat Vater nie mehr gehabt. Er hatte eben sein gutes Einkommen.«

»Du mußt mir alles erzählen!« Jetzt war Erich wirklich aufgeregt. »Komm, begleit mich noch ein Stück, du erzählst mir alles im Wagen, kommen Sie, Fräulein, die Luft ist rein. Die ballern nur noch ein bißchen unter sich. Keine Widerrede, Bubi. Den Gefallen wirst du mir doch tun! Ich muß da wirklich Bescheid wissen. Ganz offen gesagt, ich habe mit einem Zuschuß von Vater gerechnet. Ich richte mich grade ein – sieh dir das mal an. Ich stelle dich auch meiner Freundin vor. Du wirst sehen ... Kommen Sie ruhig mit, Fräulein; kleine nette Französin, beißt nicht ... Zwanzigtausend Mark Kriegsanleihe, es ist doch unmöglich!«

Ja, Erich war wirklich aufgeregt. Er hatte noch zu telefonieren, anzuordnen. Der Wagen sollte an der dunklen Spreeseite des Reichstages halten. Dann klappte es nicht mit den Ausweisen, man mußte anscheinend Ausweise für alle erdenklichen Parteirichtungen bei sich haben, mit diesen Ausweisen gab es Schwierigkeiten ...

Aber kaum saßen sie im Wagen, der übrigens sehr neu und ganz nach Privatwagen aussah, da fing Erich schon wieder an: »Also, Heinz, ich rechne darauf, daß du mir offen Bescheid sagst. Mutter hat mir mal was davon geschrieben, daß Otto direkt vor seinem Tode noch geheiratet hat. Irgend so'ne bucklige Schneidersche, ich erinnere mich dunkel, sie bei uns gesehen zu haben ... Hat die vielleicht Vater gemolken? Bucklige sind oft verdammt geldgierig.«

»Nicht nur Bucklige ...«, antwortete Heinz boshaft.

 

13

Das Auto mit den Brüdern Hackendahl fährt durch das stille, fast dunkle Berlin, in dem nur da und dort der Lärm von Schüssen aufbrandet und rasch wieder abebbt, nach dem Westen, immer tiefer in den vornehmen, fast feudalen Westen hinein.

Fast zur gleichen Zeit schlägt ein anderes Auto die Straße nach Westen ein, nach dem feinen Westen, nach Zehlendorf, nach Schlachtensee, nach Dahlem, wiederum ein Auto, in dem ein Kind des Vaters Hackendahl, des eisernen Gustav, sitzt. Sitzt? Nein, steht!

Der vornehme, fast neue Wagen hat mancherlei Schwierigkeiten zu überwinden, ehe er an seinem Ziel anlangt, obwohl der künftige Sekretär eines Beinahe-schon-Ministers darinnensitzt. Oft wird der Wagen angehalten, nach Waffen durchsucht, es wird nach Ausweisen gefragt, oft muß Bruder Bubi den so dringend verlangten Bericht über die Vermögensumstände des Vaters unterbrechen ...

Das andere Auto, ein großer, grauer, vielfach geschundener Lastwagen, prunkt ganz offen mit seinen Waffen. Hinten wie vorn droht ein schußbereites Maschinengewehr. Die Gestalten, teils in Feldgrau, teils in Zivil sind alle schwer bewaffnet. Aber kein Posten tritt aus dem Straßendunkel und gibt mit der Laterne Signal, fragt nach Waffen und Ausweis. Ungehindert rollt und rattert der große Wagen dem Westen zu. Eine rote Fahne weht über ihm, zwischen den wilden Gestalten steht stumm, bleich und zitternd als einzige Frau: Eva Hackendahl!

   

Sie war fast wohlgemut, nach eiliger, verlegener Trennung vom Bruder und seiner Freundin, heimwärts gefahren. Der kleine Streit, von dem sie wenig genug verstanden hatte, hatte sie aufgemuntert ...

So einfach ist es ja doch nicht mit der guten Gertrud, hatte sie gedacht. Sie hat ihn ja fast rausgeschmissen! Jetzt aber raus mit dir! – so hat sie zu ihm gesagt. Ich komme eben doch immer noch am besten mit ihr aus – viel besser als dieser Bengel, der sich für so schlau hält.

Dieser Gedanke, allen überlegen zu sein, verkürzt ihr den weiten Weg in die Augsburger Straße. Sie ist fast vergnügt, als sie in ihr Zimmer tritt. Da nun freilich ist es auf der Stelle mit allem Vergnügtsein und aller Überlegenheit vorbei, denn in ihrem Zimmer brennt Licht, und in ihrem Bett, die Schiebermütze auf dem Kopf, die Zigarette im Maul, liegt er – Eugen, völlig angekleidet mit schmutzigen Schuhen, auf der schönen, mit rosa Seide unterlegten Spitzendecke ...

»Na, Evchen?« sagt er. »Uff Arbeet jewesen? Tüchtig – wo haste denn deinen Freier?«

»Eugen?« flüstert sie. »Bist du wieder da?«

»Na, nu laß doch den Freier rin!« antwortet er. »Laß doch den Herrn nich warten. – Oder haste vielleicht jar nich jearbeetet?«

»Ich hab nur mal eine Verwandte besucht, Eugen. Nur ganz schnell.«

»So? 'ne Verwandte? Verwandte haste ooch noch? Ha'ick dir nich hundertmal jesagt, ick bin deine Verwandtschaft?! Und sonst nischt?! – Komm her!«

Zögernd, angstvoll nähert sie sich ihm.

»Dalli! – Oder soll ick dir Beene machen?«

Sie steht jetzt neben dem Bett, mit Schrecken sieht sie seine Augen ganz nahe, diese Augen, die von Bosheit und Wut funkeln.

»Knie dir hin!«

Sie tut es.

»Aschenbecher!«

»Oh, bitte, bitte, Eugen, tu es nicht! Du verbrennst mir wieder meine Hand! Ich halte es nicht aus – ich muß schreien ...«

»So? Mußte schreien?! Willste schreien, wenn ick dir det verbiete?! Aschenbecher!«

Angstvoll, zitternd streckt sie ihm eine Hand hin.

»Eugen, lieber, liebster Eugen, bitte, tu es nicht! Ich habe auch Geld für dich gespart, ich habe ein Sparbuch angelegt für dich, bestimmt, ich bin so fleißig gewesen! Ich habe 468 Mark für dich gespart, Eugen, bitte, lieber Eugen ...«

»So«, sagt er. »Haste für mich gespart, für deinen Eugen? Is det ooch wahr?«

»Ganz gewiß ist es wahr! Ich kann dir's zeigen!«

»Zeig's, Dowe!«

Sie springt auf, sie läuft zu dem Schrank, sie will das Sparbuch unter der Wäsche vorholen ... Es liegt nicht da! Sie sucht – wo hat sie es denn hingelegt? Es muß doch hier sein ... Die anderen Mädchen? Nein, das tun die nicht ...

Sie dreht sich um, sieht ihn weiß an ...

»Na?«

»Es ist nicht da, Eugen, hast du ...?«

»Wat?«

»Eugen, bitte, Eugen ...«

»Komm her ...!«

»Lieber Eugen ...«

»Her!«

Sie kommt wieder, sie kommt immer wieder, sie kniet, als er es befiehlt, sie tut alles, was er will, sie erträgt, was er ihr zufügt.

Eine Weile später ist er aufgestanden. Er beobachtet, wie sie sich nach seinen Anweisungen fertigmacht, sich das Haar aufsteckt.

»Zieh dir'n Mantel an. Nee, nich so'nen feinen. Wo haste denn den alten braunen? Wechjejeben? Haste wat wechzujeben von meine Sachen? Na, heute sollste noch wat erleben! Wat haste vor Jeld? Jib her. Is det allens? Wat haste sonst noch vor Sachen? Uhr? Ach, nee! 'n Armband haste ooch? Kieke da, wenn Vater nich zu Hause is! Steck allens in deine Handtasche – du kommst hier nich wieder her ...«

Sie geht stumm neben ihm die Treppe hinunter. Unten pfeift er nach einer Autotaxe. Sie fahren lange; irgendwo, in einer fast dunklen Straße halten sie. Er bezahlt den Chauffeur.

Sie stehen allein auf der Straße. Er faßt sie um den Arm. Er nähert sein Gesicht dem ihren. »Ick bring dir jetzt bei meine Freunde. Meine Freunde wollen ooch mal'n Spaß haben, det vastehste doch? Det macht dir doch nischt? Du bist doch kalt, du kaltet Luder!«

»Ja ...«

»Na, siehste, det sind alles Brandenburger Jungens wie ick, dufte Bengels. Det du mir nich blamierst, Dowe!«

»Nein, Eugen.«

»Und sonst – hältste de Fresse! Du kannst jar nich wenig jenug reden! Zum Reden wirste nich jebraucht! Da rin, Dowe!«

Und er stößt sie überraschend in einen dunklen Hausflur, daß sie fast fällt. Er geht ihr nach.

 

14

Diese Nacht bekommt etwas immer Unwirklicheres, Traumhafteres für den jungen Heinz Hackendahl. Sie haben die lange kalte Fahrt im Auto hinter sich; Bruder Erich ist endlich davon überzeugt, daß er vom Vater nichts zu erwarten, daß er sich dieses Mal kräftig verrechnet hat. Und sofort hat er sich aus einem vergleichsweise höflichen, interessierten Bruder in einen recht rücksichtslos gähnenden, fremden Herrn verwandelt, der ganz ungeniert brummt: »Eigentlich ein Blödsinn, daß ich euch jetzt in der Nacht bis Dahlem verschleppe! Wie wollt ihr wieder nach Haus kommen? Mein Chauffeur braucht auch Schlaf!«

Aber nun knirscht das Auto auf einer mit Kies bestreuten Rampe, und sie treten aus der dunklen, nebligen, von Schüssen durchlärmten Novembernacht auf eine große, strahlend erhellte Diele. In einem Backsteinkamin knattert ein Feuer von Buchenkloben, dicke Teppiche liegen auf dem Boden, von den Wänden grüßen Bilder, und: »Hier wohnst du?« fragt staunend Heinz den Erich.

Und: »Hier richte ich meine bescheidenen vier Pfähle ein!« grinst vergnügt der Erich, plötzlich ein ganz anderer, höchst aufgeräumter, vergnügter Mensch. Er haut dem Bruder auf die Schulter, daß der fast zusammenbricht, und ruft mit einer ihm sonst ganz fremden Selbstironie: »Und wie gut hätte Vater hier seine Millionen anlegen können, die er gar nicht hat! Und wie hätte ich sie ihm verzinst!«

Er lacht schallend, lacht sich selbst aus und wirft sich schon in einen Sessel vor dem Kamin. »Komm, Heinz, ein Schnäpschen! Gnädiges Fräulein, einen Likör! Ach, reden Sie nicht, einmal ist keinmal, sagte die Jungfrau, da bekam sie Drillinge.«

Wieder lacht er, er ist wie leicht berauscht. Es ist wohl die Trunkenheit dessen, der nie etwas besaß und der nun selig in Besitz schwärmt.

Aber gleich ist der Bruder wieder auf den Füßen, er ruft einen Uniformierten an, einen Feldgrauen, der mit unbewegtem Gesicht den Schnaps hinstellt, einschenkt: »Radtke, hören Sie, Radtke! Sagen Sie der gnädigen Frau, daß wir da sind, daß ich einen Wolfshunger habe und bald essen möchte. – Noch zwei Gedecke, Radtke!«

»Zu Befehl, Herr Leutnant!«

(Irma und Bubi tauschen einen blitzschnellen Blick miteinander: Also hier im stillen Heim gibt es doch noch einen Leutnant – draußen aber sind alle gleich, und wenn man ihnen die Gleichheit einprügeln muß!)

»Radtke! Hören Sie doch, Radtke! Es ist doch heute alles still geblieben hier draußen?«

»Nichts gesehen und gehört, Herr Leutnant!«

»Lassen Sie dem Chauffeur und dem Wachtmann sofort zu essen geben, Radtke, und dann wacht immer einer von Ihnen dreien umschichtig. Und daß die Waffen bereitliegen, Radtke!«

»Zu Befehl, Herr Leutnant!«

Radtke geht, und der Leutnant, der Sozialist, der kommende Staatssekretär, wirft sich wieder in den Sessel und erklärt: »In der letzten Nacht ist nämlich da und dort hier draußen in den Villen geplündert worden. Das nennt sich Razzia auf Hamsterer; es sind aber fast nur Fahnenflüchtige und Verbrecher, die gemerkt haben, daß es augenblicklich nicht klappt mit der Polizei ...«

»Das wäre freilich peinlich grade bei dir, Erich!« lacht Heinz. »Wo du doch den Sicherheitsdienst der Stadt Berlin hast ...!«

»Ich? Red doch keinen Stuß! Ach, wegen meines Zimmers im Reichstag? Na, Brüderchen, irgendwie muß das Kind doch einen Namen haben, irgendwie mußten sie mich doch einschmuggeln. Da könnte doch sonst jeder kommen und ein Zimmer verlangen!«

Er lacht. Und plötzlich – macht es nun der Schnaps? – finden Heinz und Irma das auch ganz witzig und lachen vergnügt mit.

Aber gleich springt Erich wieder auf. »Aber kommt jetzt, Kinder! Ich will euch doch noch schnell bis zum Essen meine schlichte Hütte zeigen. Die wird großartig! Meine ist allerdings übertrieben, vorläufig gehören mir nur die Rechnungen. Aber wir werden das Kind schon schaukeln, auch ohne Vater, wir haben ja bisher noch jedes Kind geschaukelt ...«

Mit strahlender Besitzerfreude geht er den beiden voraus, und alles müssen sie sich ansehen, nichts wird ausgelassen, weder die Besenkammer noch der grünglasierte Tonlöwe aus der Ming-Periode ... Und nur einmal verdüstert sich seine Stirn, als sie vom Fenster eines Zimmers im ersten Stock ein Lastauto vorbeirasen sehen, mit Maschinengewehren bespickt. Schattenhaft sieht man die Gestalten von Bewaffneten ...

»Ob ich die Polizei anrufe? – Nee, lieber nicht die Finger verbrennen. Die Hauptsache, der Blitz schlägt nicht bei uns ein ... Und nun seht dieses Zimmer, schlicht, einfach, herb, männlich (ganz wie ich): kurz, romanisch. Romanisch hast du doch schon auf der Penne gehabt, Bubi? Oder hast du da grade gefehlt?«

   

Das Lastauto fährt nur noch ein paar Minuten, mäßigt dann stark seine Geschwindigkeit, zwei Mann springen ab, klettern wie die Katzen an Telefonmasten hoch: So, telefonieren können die nun nicht mehr ...

Das schmiedeeiserne Eingangstor wird einfach eingefahren. Die Haustür ist natürlich abgeschlossen und vielfach gesichert, aber mit so etwas halten wir uns doch nicht auf?!

»So ist's recht, Ede, Handgranate an die Türklinke gehängt und abgezogen. So ist's recht. Gleich werden wir das Ding haben! Eugen, gib deiner Nutte eins auf die Schnauze! Was hat das Weib zu schreien?! – Krach, bumm! Jawohl, offen, offen und herein! Jetzt fangen unsere Zeiten an ... Lustig ist das Räuberleben, faria, faria, fa! – Da haben wir ja die ganze Familie! Guten Abend, Herr Baron, Herr Graf, habe die Ehre, kleine Haussuchung im Auftrage des Herrn Reichskanzler Ebert. Es kann auch noch der Prinz Max sein – so genau kommt es darauf nicht an! Bitte bemühen Sie sich nicht mit dem Telefon, Herr Graf, die Post arbeitet so nachlässig. Die Frolleins vom Amt schlafen lieber ...«

»Also, meine Herrschaften, nun mal ein bißchen Ordnung in die Sache! Die Damen werden gebeten, sich gemeinsam in den Kohlenkeller zu begeben. Schrei nicht, du olles Aas, meine Nerven, huch! Wovon biste denn so fett, nur von gehamsterter Kriegsbutter, und unsere Kinder dürfen verrecken?! Ede, geh mit mit den Damen. Sieh, daß se den Kohlenkeller ooch richtig finden. Maxe, du gehst auch mit. Maxe, du paßt uff Ede auf, Ede, du paßt uff Maxe auf, daß ihr mir nich an den Weinkeller geht – Weinkeller is erst, wenn das Geschäftliche erledigt is ... Ab dafür!«

»Richtig, Eugen, deine Tränentute steckste auch vorläufig wohin unter Verschluß, erst die Arbeit, dann das Vergnügen! Komm aber gleich wieder, wir beide wollen den Herrn Kommerzienrat ein bißchen in die Mache nehmen, von wegen Geheimsafe und so, dem ängstigen wir noch das Herz aus dem Leibe ...«

»Glauben Sie nicht, Herr Baron? Ach, Sie haben 'ne Ahnung, unser Eugen ist ein tüchtiger Mann! Sie werden noch froh sein, wenn Se Geld genug im Hause haben, daß wir Laune kriegen. Haben Se det schon mal erlebt in Ihrem Leben, det Jefühl, wenn einer Ihnen ins Maul 'nen Pistolenlauf steckt, und einer steckt einen hinten rein, und denn drücken se beide a tempo los – und mitten in Ihrem Bauch macht et ›Klick!‹, und die beiden Kugeln sagen sich guten Tag?! Das lernen Sie jetzt gleich alles kennen, der Eugen kommt noch auf viel ulkigere Sachen, der ist unser kleiner Witzbold in der Westentasche ...«

»Na, Eugen, da biste ja! Ick rühme dir hier jrade dem Herrn Jrafen. Wird 'ne anjenehme Bekanntschaft werden. Immer feste, Herr Jraf, genieren Se sich bloß nich, scheißen Se sich feste in de Hosen, det rührt mir jar nich ... Früher hab ick immer Schiß jehabt, nu is det nich mehr als recht un billig, wenn ihr mal dran seid mit de Scheißerei!«

»Nu mal herhören, ihr anderen! Ihr rollt jetzt det Haus auf, Zimmer für Zimmer, laßt euch Zeit! Aber nischt, wat Platz wechnimmt, nur die feinen kleinen Sachen, Werte, meine Herren, Gold gab ich für Eisen – det werdet ihr hier schon bewahrheitet finden! Und nun, Herr Baron, wenn ick bitten darf, ganz kleine gemütliche Aussprache. Bitte, bemühen Se sich nich, ich weiß den Weg von alleine ... Det haben Se ooch nich jedacht, det der Elektriker heute früh, det war nämlich ich ... Na also, da kennen wir uns ja schon ... Eugen, stütze den Herrn mal mit deine Pistole ein bißchen im Rücken, dem fällt nämlich det Jehen sauer ...«

   

»Aber, Erich, wer ist denn das?! Erich, wo in aller Welt hast du den denn aufgegabelt?! Erich!«

»Gestatte, Tinette: Dies ist mein Bruder Heinz und Fräulein – ähemm! Ja, mein Kind, hier siehst du eben mal leibhaftig die Folgen der Hungerblockade vor dir ...«

»Es ist ja nicht möglich! Mein Gott, was für Gesichter! Wie sie mich anstarren! Nun, kommt doch einmal her – wie heißt du, 'einz? Henri, sehr wohl, ich verstehe, Erich. Henri, zeige dich mal, du bist also gewissermaßen mein Schwager?«

Sie lachte, Antoinette Hulin aus der Stadt Lille, lachte, lachte ...

Und Heinz stand wirklich sehr töricht da. Von seinem sonstigen Aussehen und unmöglichen Anzug ganz abgesehen, stand er auch noch unglaublich töricht und jungenhaft da und starrte dieses Mädchen, diese Frau mit weit aufgerissenen Augen an ... Er hatte so etwas noch nie gesehen, er hatte nicht geglaubt, daß es so etwas geben könnte ... Die grauen, verbrauchten Frauen der Kriegszeit und ihre jungen Mädchen, kaum entwickelt und schon verblühend, mit unreinem Teint, faltig, dürr, fahl ...

Und nun ein Gesicht, weiß und rosig, Lippen, ach, Lippen, und Zähne, ach, Zähne, schimmernd, und Haar, glänzend, wie mit Sternen geschmückt ... Ein tiefer Ausschnitt ... man wurde schwindlig, wenn man ihn nur sah ... Und das lebt, ist Mensch wie du, nichts Künstliches, Kunstwerk nicht, das ist Leben wie du – und lacht ...

»Erich, wie er mich anstarrt! Hast du denn noch nie eine schöne Frau gesehen? Komm doch näher, Henri, küß mir die Hand. Das tut man bei uns zu Hause, tut man das bei euch nicht? Nein, nicht so, Henri, fi donc, du darfst doch nicht die Hand der Dame unter deinen Mund zerren! Nein, bücke dich, immer noch tiefer, ja, bücke den Nacken, das schadet nichts, vor einer schönen Frau darf ein Mann sogar knien – nicht wahr, Erich?«

»Und dies ist Heinzens Freundin, Tinette. Fräulein – ähemm ...«

»Quaas heiße ich.«

»Kaas – ein unmöglicher Name. Oh, Erich, jetzt verstehe ich, warum ich durchaus mit dir nach Berlin sollte – das nennt man also in Berlin eine Freundin! – Jawohl, wir kommen, Radtke. – Nein, Erich, heute muß Henri neben mir sitzen, ich will ihn füttern. Der arme Junge, er hat sich bestimmt noch nie in seinem Leben satt gegessen! Was ißt du gerne, Henri? Ißt du Suppe gern? Pfui nein, iß keine Suppe, von Suppe bekommt man bloß einen Bauch ... Warte, bis das Fleisch kommt ...«

»Es ist ja entzückend, Tinette, wie du dich Heinzens annimmst. Du verwöhnst ihn gradezu ...«

»Aber ich habe noch nie so einen Jungen gesehen! Er ist unmöglich! Oh, Henri, du hast ja nicht einmal Manschetten! Henri, ein Herr trägt doch Manschetten! Und deine Fingernägel ...«

Heinz wurde glühend rot. Dann: »Ich bin kein Herr. Ich bin bloß ein Schüler! Und Manschetten habe ich nicht – mein Vater ist bloß ein Droschkenkutscher!«

Er mußte es sagen. Es war gemein gegen Erich, aber gerade wegen Erich mußte er es sagen!

»Was ist dein Vater, Henri? Sag es noch einmal! Droschkenkutscher? Aber dein Vater ist doch auch Erichs Vater, wie ...?«

»Natürlich«, brummte Heinz.

»Oh, Erich! Erich!!« Sie brach in ein schallendes Gelächter aus. »Was bist du für ein Aufschneider, Erich! Ich habe immer gewußt, daß du ein Aufschneider bist. Aber daß du so ein Aufschneider bist ...!«

»Gestatte, Tinette ...«

»Pfui, Erich, unterbrich mich doch nicht! Mir hat er erzählt, sein Vater hat einen Stall, einen Rennstall denke ich doch, ein unermeßliches Vermögen ... Ich wundere mich alle Tage, daß dieser sagenhafte Vater nicht aufgesucht wird ... Ich mache mir Gedanken, du bist nicht fein genug, Tinette, sage ich mir, du hast früher in einem Tingeltangel getanzt ... du bist nicht fein genug für den Herrn – Droschkenkutscher!«

Und sie brach wieder in ein klingendes, übermütiges Gelächter aus.

»Tinette! Tinette! Höre bitte mit diesem albernen Gelächter auf! Laß dir sagen, Tinette ...«

»Er will wieder aufschneiden! Erich! Erich! Droschkenkutscher ...!!«

»Tinette, hör doch! Heinz wird bestätigen, daß ich erst vor einer halben Stunde erfahren habe, daß mein Vater völlig verarmt ist. Bestätige es, Heinz ...«

»Das ist wahr. Erich hat gedacht ...«

»Und der Stall? Der Rennstall?! Oh, Erich, Aufschneider!«

»Verzeih, Tinette, den Rennstall hast du dir eingebildet. Ich habe immer nur von einem Stall erzählt; und als ich ins Feld ging, hatte Vater dreißig Pferde. Stimmt das, Heinz?«

»Das ist richtig.«

»Dreißig Pferde! Dreißig Fiakerpferde! Aber Henri ist süß, Henri sagt gleich: ›Mein Vater ist Droschkenkutscher!‹ Als wenn man einen Mann wegen seines Vaters liebte! Erich, Dummer, zieh doch kein Gesicht mehr! Erich, Erich, ich muß ja so lachen, wer wird nun deine Rechnungen bezahlen ...?«

Sie sah sich um, sah durch das Eßzimmer, in dem Silber und Kristall blitzten, sah ihre Gäste mit freudeglänzenden Augen an, und plötzlich warf sie ihre Arme, ihre schönen, weißen, nackten Arme, dem Erich um den Hals. »Mein armer Erich! Mein armer Ehrgeiziger! Macht es dir viel Kummer, daß dein Vater verarmt ist? Paß auf, Erich, ich werde alle Lieferanten abfangen, du sollst gar keine Sorgen haben. Ich werde sie alle mit meinem Lächeln bezaubern, du sollst nie etwas von einer Rechnung hören!«

Sie sah, ihren Kopf an Erichs Kopf gelehnt, mit bezaubernder Schelmerei zu Heinz hinüber, nein, zu Henri ...

»Du sollst schrecklich viel werden, mein Erich, etwas ganz Großes, vor dem alle den Hut ziehen, und wenn du bei den Soldaten vorübergehst, so präsentieren sie: Da kommt der Erich! – Schrecklich viel sollst du werden, Minister oder noch was über dem Minister; keiner soll mehr merken, daß du nichts bist wie ein kleiner, dummer Junge ...«

Sie wiegte ihn ein, sie sang ihn ein, und dabei sah sie Heinz an, sah ihn an, mit diesem betörenden Schimmer in den Augen: als sei er ein Lieferant, dem die Rechnung abgelistet werden mußte, damit der große Bruder seine Ruhe hatte ...

Irma freilich kratzte höchst verächtlich mit ihrer Gabel auf dem Teller: Sie fand solche Weiber einfach gräßlich!

Aber sie war völlig in der Minderheit, keiner dachte auch nur an sie ...

   

Der Mann, sei es nun Ede, Maxe oder Orje, stand schwerfällig auf, sagte: »Na, denn will ick den nächsten schicken!«

Er machte taumelnd ein paar Schritte zur Tür, stieß an einen Stuhl und schlug lang hin.

»Wat denn? Wat denn? Wer bufft denn hier? Is det hier Mode, 'nen Menschen hinzubuffen?!« brabbelte er noch und schlief schon, völlig betrunken ...

Eva lag bewegungslos, sie horchte auf den Lärm im Hause, Schimpfen, betrunkenes Geschrei. Dann war einen Augenblick alles still, sie hörte die Weiber im Keller unten weinen und jammern. Unmutig verzog sie ihr Gesicht, sie lauschte wieder in das Haus: Eine Diele knarrte, der Betrunkene schnarchte laut. Mit einer mechanischen Bewegung strich sie den Rock über die Knie, sie richtete sich halb auf, stützte den Kopf in die Hand ...

Lange lag sie so, sie dachte kaum an etwas, sie fühlte nur, fühlte, daß es Zeit war, endlich Zeit war ...

Langsam steht sie dann auf, sie sieht sich um, bemerkt ihren Mantel, den Hut. Sie macht sich fertig, alles still, rasch, ohne viel Nachdenken. An der Tür muß sie über den betrunkenen Schläfer fortsteigen, sie tut es, ohne zu zögern, aber dann hält sie inne und sieht auf ihn zurück.

Etwas wie Erkennen kommt in ihr verwüstetes, aufgeschwollenes Gesicht, ein Funke von Verstand. Sie bückt sich und durchsucht mit raschen, geschickten Händen die Taschen des Mannes. Sie kann das – oft hat sie die Taschen betrunkener Männer durchsucht. Aus der einen Tasche zieht sie eine dicke, goldene Uhr, aber sie läßt sie wieder in die Tasche zurückgleiten: Ihre Vorsicht ist größer als ihre Geldgier ...

Die Pistole, die sie in der anderen Tasche findet, behält sie. Sie trägt sie offen in der Hand, als sie das Zimmer verläßt. Sie hat keine Ahnung, ob das Ding geladen ist, wie man damit schießt, aber sie nimmt die Pistole mit, während sie die goldene Uhr zurückläßt. Ihre Rachsucht ist stärker als ihre Geldgier ...

Draußen beugt sie sich über das Geländer und blickt auf die Diele hinab. Alle Lampen brennen, aber nur ein einzelner Mann sitzt auf der Diele. Er sitzt auf dem Teppich, neben einem niedrigen Couchtisch. Auf dem Tisch stehen Flaschen, eine Zigarrenkiste. Nein, es ist nicht Eugen.

Sie steigt die breite Treppe zur Diele hinunter, immer die Pistole in der Hand; trotzdem sie über dicke Läufer geht, knarren die Holzstufen ein wenig. Der Mann unten wendet den Kopf langsam nach ihr und hebt mit betrunken zitternder Hand die Waffe, die neben ihm auf dem Teppich lag. Dann kommt Erkennen in seinen Blick ...

»Ach, du bist det, Mächen ... Ick dachte schon ... Wir hauen gleich ab, die Jungens nehmen bloß noch'n Ooje voll Schlaf ... Det war'n bißken ville vor uns, vorjestern noch Zet und heute so'n Heiho! Aber nun hauen wir jleich ab ...«

Er sieht sie noch einmal an. »Wat willste denn mit dem Kracher, Mächen? Lech det Dings bloß wech, dir tut doch keener nischt! So'n hübschet Mächen, komm doch mal her zu deinem Aujust ...«

Aber sie geht weiter, geht über den kleinen Vorplatz und tritt durch die zertrümmerte Tür ins Freie. Direkt vor ihr steht das Lastauto, unbeleuchtet, verlassen, der Lauf des einen Maschinengewehrs scheint grade auf sie gerichtet ...

»Ist da jemand?« fragt sie halblaut.

Aber niemand antwortet, niemand ist da. Sie haben Lärm gemacht, sie haben eine Tür mit einer Handgranate gesprengt, noch immer schreien die Frauen im Keller um Hilfe – aber keiner ist gekommen. Es ist schlimme Zeit, es war ein Krieg. Die Menschen sind so eigensüchtig geworden, sie haben immer nur daran gedacht, wie sie satt wurden, wie sie durchkamen. Jetzt ist eine Revolution ausgebrochen, sie sprechen von Frieden und sitzen in ihren Häusern und sind froh, wenn das Unglück nicht bei ihnen anklopft. Sie haben keinen Mut, nach dem Nachbarn zu sehen ... Hilf dir selbst ...

Sie könnte jetzt hinausgehen in die Nacht, fliehen, keiner hielte sie. Aber sie ist zu oft so geflohen, zum Kanal, zur Schwägerin – sie ist doch immer wieder bei ihm angelangt ...

So dreht sie sich um, sie geht wieder zurück in das Haus.

Der Mann auf der Diele ist jetzt auch eingeschlafen; sie geht leise an ihm vorüber, sie geht durch Zimmer um Zimmer. Sie sieht die Verwüstungen, die heruntergerissenen Vorhänge, die Betrunkenen, die alles beschmutzt haben, die schnarchen wie Tiere. Männer wie die Tiere, alle wie die Tiere ...

Sie geht immer weiter, sie hält sich nicht auf, sie sucht. Sie steigt wieder in den ersten Stock empor, umsonst. Sie klettert auf den Boden, nichts ...

Sie steigt hinunter, sie geht immer schneller, ihr Herz klopft, sie muß ihn ja finden. Sie kommt in den Keller, näher hört sie das Geschrei der Frauen, aber sie hält inne ...

Sie hat eine Stimme gehört, eine böse, höhnische Stimme, seine Stimme ...

Sie zittert, sie hat es ja gewußt, oh, wie sie es gewußt hat, daß er, als einziger von allen, sich nicht betrinkt! Er bleibt nüchtern, er trinkt nie – er ist so böse, daß er nicht einmal das braucht: ein kurzes Vergessen seiner eigenen Bosheit!

Langsam, vorsichtig, völlig lautlos schiebt sie sich über den Gang näher. Sie tritt an die halb offene Tür, sie späht in den Raum, eine Rollkammer oder so etwas ...

Oh, natürlich, sie kennt doch Eugen! Er trinkt keinen Alkohol, aber eines von den Weibern hat er sich aus dem Kohlenkeller geholt, ein Mädchen, fast noch ein Kind ...

Es liegt wie leblos in seinem Arm, weiß, mit geschlossenen Augen, und er spricht immer weiter zu ihm, mit seiner bösen, falschen Stimme: »Nu, Kleene – ick tu dir ja nischt – ick bin ja dein Eugen, dein süßer, lieber Eugen ... Sag: Eugen ... Sag einmal Eugen zu mir ... Ick schwör dir, ick laß dir dann jehn. Nu, sag doch!«

»Eugen ...«

»Siehste, wie de det lernst! Du wirstet noch hundertmal sagen. Ick bin und bleibe ja dein Eugen. Und nu mußte mir noch wat sagen, meine Süße, meine Kleene, sach deinem Eugen, sach ihm janz leise: Haste schon ...? Sach doch!«

Und mit seinem plötzlichen Übergang in Wut: »Aber lüg nicht, lüg mir nich an, ick schwöre dir, ick rieche det ...!«

Dem Mädchen, dem verlorenen Mädchen unter der Tür, ist, als sähe sie sich selbst dort in jenem Arm, als höre sie wieder zum erstenmal diese böse, falsche Stimme, die so verzaubern kann; als stünde sie erst am Anfang des Weges ...

Plötzlich faßt sie eine namenlose Angst, um sich, um die andere, um das Leben, ihr Leben, den Sinn alles Lebens, was weiß sie! Plötzlich schreit sie: »Eugen!«

Der Mann fährt zusammen, er ist sofort auf dem Sprunge; er läßt das Mädchen einfach fallen, macht einen Satz auf sie zu ...

Und sie drückt ab, sie schießt direkt in das böse, falsche, dunkle Gesicht, das so groß auf sie zukommt ... Ein Strom von Feuer, ein ohrenbetäubender Krach ...

Und schon hat sie die Pistole fallen gelassen, sie läuft los, läuft, ohne sich umzusehen, treppauf, über die Diele fort, aus dem Haus. Mit der Schulter rennt sie gegen das Lastauto. Sie fällt hin, aber gleich steht sie wieder auf, und sie läuft, läuft ... immer weiter in die Nacht hinein, in das Dunkle, in das Schwarze ...

Und dabei weiß sie, was sie getan hat, daß sie nie wieder die schlimme, falsche Stimme hören wird, nie wieder in die bösen hellen Augen sehen kann. Daß alles vorbei ist und daß sie doch, doch weiterleben muß!

   

»Ich hau ab! Kommst du nun endlich, Heinz?« fragt Irma.

Sie fragt es absichtlich recht gewöhnlich, sie ist böse und gereizt. Sie hat keine Lust, die feine Dame zu spielen wie das rosige Marzipanschwein da.

Aber niemand achtet auf Irma. Heinz ist plötzlich in einer streitsüchtigen Stimmung, vielleicht durch den Alkohol.

»Und du nennst dich Sozialist?!« ruft er dem Bruder spöttisch zu. »Hier dicke Klubsessel und dicke Zigarren ...«

»Und dicke Weiber«, murmelt Irma, aber niemand achtet auf sie.

»... aber wenn ich dich frage, was du eigentlich für die Arbeiter tun willst, dann weißt du keine Antwort.«

»Mein lieber Junge«, näselt Erich mit unendlich überlegener Stimme, »ich könnte dir ja sagen, daß dich meine Privatverhältnisse einen Dreck angehen! Aber soviel Logik müßte doch selbst ein Pennälerhirn besitzen, um zu kapieren, daß ich für die Arbeiter etwas tun kann – auch wenn ich nicht grade Kohldampf schiebe! Ja«, rief er begeistert von seinen eigenen Worten, denn auch er hatte kräftig getrunken, »muß ich denn hungern, wenn ich andere vom Hunger befreien will?!«

»Bubi, komm!« rief Irma jetzt bittend. »Wir müssen doch nach Haus!«

»Ja, viel besser kann ich für die anderen etwas tun, wenn ich zuerst was für mich tue! Denn erst mal muß ich leistungsfähig sein, und solche Umgebung«, er warf einen zärtlichen Blick um sich, »macht mich eben leistungsfähig.«

»Nach deiner Lehre wären also Millionäre die besten Sozialisten!« rief Heinz wütend.

»Oh, Henri, Henri, du bist himmlisch!« rief Tinette und warf sich lachend auf das Sofa. »Der reine Parzival – aus dem Märchen ...«

»Da ist sogar was dran an dem, was du sagst«, meinte Erich lachend. »Vielleicht gehört eine gewisse Sorglosigkeit dazu, um wirklich sozial zu handeln! Wenn man immer daran denken muß, wie man selber satt wird, kann man nicht an die anderen denken, das ist doch klar wie Kloßbrühe ...«

»Erlaube mal ...«

»Heinz, ich gehe jetzt!«

»Erlaube du mal! Natürlich setze ich voraus, daß so ein wohlhabender Mann auch wirklich weiß, wie armen Leuten zumute ist, daß er also selbst einmal arm war!«

»Und du denkst, du weißt das?«

»Vergiß bitte nicht, Bubi, daß mein Vater ein einfacher Droschkenkutscher ist!«

»Hast du den Dreh? Hast du endlich den Dreh?! Oh, was bist du für ein Schwein, Erich! Ich sehe dich ja schon rumlaufen, Erich, und allen Arbeitern erzählen, daß dein Vater Droschkenkutscher ist! Soll ich dir nicht noch Vaters Adresse geben, daß die Arbeiter sich überzeugen können, du lügst nicht?! Sonst brauchst du ja die Adresse nicht, ich weiß jetzt schon, in den nächsten hundert Jahren bekommt Vater dich nicht zu sehen. Es sei denn, du brauchst seine Kriegsanleihe doch noch ...«

»Die beiden feindlichen Brüder, Henri und Erich! Jetzt bist du wieder dran, Erich!« – »Bubi, bitte, lieber Heinz ...«

»Du machst dich reichlich mausig, Kleiner, aber dir nehme ich es nicht übel. Jawohl, mein Sohn, ich gebe zu: Ich bin Egoist, ich bin Egoist von reinstem Wasser. Ich habe meine Lehre aus diesem Kriege gezogen, ich bin im Schützengraben gewesen ...«

»Drei Tage!«

»Drei Wochen. Mindestens! Jedenfalls länger als du. Und ich sage, wer nicht an sich selbst denkt, der ist einfach dumm! Dem gehört es gar nicht besser als eine Kugel vor den Kopf ...«

»Ich kriege das Kotzen, wenn ich dich reden höre. Speiübel wird mir von dir ...«

»Du wirst dich auch noch ändern. Kleiner! Du wirst auch noch an dich selbst denken. Ich war auch einmal Idealist, Altruist ...«

»Wohl, als du Vater Geld aus dem Schreibtisch klautest?«

»Nun aber raus! Willst du machen, daß du aus meinem Hause kommst!«

Sie standen sich zornrot gegenüber.

Irma riß an Bubis Jackenärmel. »Bitte, Heinz, komm jetzt!«

Aber Tinette sprang von ihrer Couch auf. Sie lief zu den beiden, sie faßte jeden um den Hals. Da stand sie zwischen ihnen, jeder wollte sich frei machen von ihrem Arm und wehrte sich doch nur schwach ...

»Ach, ihr dummen Jungen! Ihr seid doch nicht die aus der Bibel, wie heißt ihr, doch nicht Kain und Abel! Auf der Stelle vertragt ihr euch! Das ist ja alles Unsinn, wegen so etwas zankt man sich doch nicht! Wegen einer Frau zankt man sich, kann man sich sogar umbringen – aber er will dir doch deine Tinette nicht wegnehmen, Erich! Er hat doch selber eine Freundin – ja, wo ist sie denn? Nun ist sie grade im falschen Moment weggelaufen, grade, als du ihr einen Kuß geben solltest, Henri! – Das sind doch alles bloß Weltanschauungen, Gefasel! Du bist eben ein riesengroßer Egoist, Erich, und du bist ein grausamer Idealist, Henri! Und was weiter? Fertig!«

Sie sah die beiden lachend an. Heinz wollte gehen, er wollte seiner kleinen Freundin Irma nachgehen, sicher stand sie noch vor der Tür – oh, wie gemein war er! Aber da war dieser Arm um seinen Hals, und wenn auch alles falsch war, was sie sagte, denn es konnte ja gar nicht stimmen, trotzdem es ganz einleuchtend klang – oder wie? Aber da war dieser Arm um seinen Hals!

»Und nun trinken wir alle noch einen Versöhnungsschnaps, und dann gehen wir schlafen. Du schläfst natürlich oben im Fremdenzimmer, Henri, und morgen früh frühstücken wir alle zusammen. Ich werde deinetwegen schrecklich zeitig aufstehen, Henri. – Und deine kleine Freundin ist furchtbar dumm, daß sie fortgelaufen ist. Aber hab keine Angst, ich mache aus ihr noch eine richtige Frau. Bringe sie nur recht oft hierher, und du kommst noch viel öfter! Wir werden uns immer freuen, nicht wahr, Erich, und wir werden aus ihm einen Menschen machen, einen ungeheuren Idealisten, und aus dir, Erich, wird der größte Egoist ...«

»Wenn du uns nur endlich unseren Schnaps geben wolltest!« knurrte Erich. »Ich bin wirklich schon so sehr Egoist, daß ich sogar in deinem Arm an Schnaps denken muß, Tinette.«

 

15

Der Mann, der alte Mann, der eiserne Mann war aufgewacht in der Nacht.

War es der Schimmel gewesen, der ihn geweckt hatte?

Der alte Mann saß aufrecht im Bett, er lauschte auf die Geräusche des Hauses – mit vielen Geräuschen durchschlief die überfüllte Menschenwabe ihre Nacht. Er wollte weghorchen von diesen Geräuschen. Eben war er noch selbst im Schlaf gewesen, nun suchte er den Schlaf der anderen von sich abzuhalten ... Hatte ihn denn nicht der Schimmel geweckt?

War es nicht die Halfterkette gewesen, die gerasselt hatte? Hatte nicht der Huf beharrlich gegen den Stallboden geklopft, den Herrn zu rufen?

Hackendahl lauschte. Direkt unter ihm stand der Schimmel, in der ehemaligen Tischlerwerkstatt, fünf Steinstufen hoch über dem kleinen Hof. Die Hobelbank stand noch hochkant an die Wand gelehnt – wenn der Schimmel mit dem Schwanz nach Fliegen schlug, streifte er gegen ihr Holz. Aber jetzt im November gab es kaum noch Fliegen ...

Einen Augenblick überlegte der eiserne Gustav, was eigentlich bei der Übernahme wegen dieser Hobelbank vereinbart wurde. Gehörte sie ihm oder den Erben des verstorbenen Tischlermeisters Strunk? Die Kinder auf dem Hof dieses Hauses Wexstraße Nummer dieunddie, diese verhungerten, kaltschnäuzigen Kinder singen:

»Strunk, der Dussel, hing sich uff.
Erst die Pleite, denn der Suff,
Eene, zweie, dreie, vier –
Fängste mir, denn haste mir ...«

Aber Hackendahl will nicht an den Tischlermeister Strunk denken, Gustav Hackendahl will an seinen Schimmel denken. Der Schimmel hat ihn geweckt. Der Mann Strunk hatte sich schon vier Wochen vor ihrem Einzug aufgehängt, in dieser Wohnung übrigens, draußen am Gasrohr auf dem kleinen Flur. Mit den Stiefelhacken hatte er die Gasuhr verbeult – es war noch immer dieselbe Gasuhr, man sah es. Dieselbe Gasuhr, dieselbe Wohnung, dieselbe Werkstatt, dasselbe Mietshaus, derselbe Wirt, dieselbe Pleite, derselbe Suff, dasselbe Gasrohr ...

Ick sitze auch zu ville in den Destillen. Als ick noch Geld hatte, ging ick selten, aber nu ...!

Es ist ein Dreck, wie die Gedanken durcheinanderlaufen. Die Nacht ist zum Schlafen da, wie's Mutter macht, nicht zum Denken. Hätte der Schimmel, dieses Mistvieh, ihn bloß nicht geweckt! Aber nu: Eene, zweie, dreie, vier – fängste mir, denn haste mir!

Mit dem Schimmel fing der Reinfall an, mit dem Wettrennen damals, von der Stunde ging alles schief! Und dies Aas, das ihn um die beste Kundschaft gebracht hatte, stellte sich jetzt noch hin, rasselte mit der Kette, klopfte mit dem Huf, als hätte er was zu verlangen – nischt hat er zu verlangen!

Wer hat was von ihm zu verlangen?

Otto ...? Otto ist tot, der hat 'ne Witwe mit zwei Kindern, der hat seinen Willen gekriegt, ohne Vatern! Nischt zu verlangen, ab dafür!

Hat der Schimmel nicht immer sein Futter gekriegt, mehr Futter, besseres Futter, als er je verdient hat? Schnauze, gib Ruhe, Aas!

Und Eva? Die war mal ein gutes Mädchen, ein hübsches Mädchen gewesen, aber sie hatte es mit den Männern! Hatte der Vater nicht gewarnt? Habe ich mich nicht selber in den Puff gesetzt und ihrem Kerl keine geballert, sondern ihr gut zugeredet? Weg, Mädchen, eine Nutte kann keines Mannes Tochter sein, weil sie aller Väter Liebste ist. Ick kann nischt dafür – ab damit!

Und Erich? Erich ist ein schnieker Leutnant, mit Kordhose für hundertfünfzig, aber an Vater und Mutter schreibt er nicht. Und wer nicht will, der hat schon, da kann man nichts machen. Erledigt!

Sophie? Oberschwester geworden und stark beschäftigt. »Wir haben da einen Verwundeten im Lazarett, ohne Eltern und Anhang – da tätet Ihr einen wirklichen Liebesdienst, wenn Ihr dem vereinsamten Herrn mal ein Paketchen mit ein paar liebevollen Worten schicktet ...«

Oh, du kalte Zicke! Aber daß es vereinsamte Eltern ohne alle liebevollen Kinderworte gibt – auf den Trichter bist du noch nicht geraten! Nun, das Paket wird Mutter schon geschickt haben, und die liebevollen Worte auch – und mehr willst du doch nicht? Gehe heim in Frieden! Abmeldung folgt!

Und Heinz ...? Bubi ...?

Der Vater in seinem kalten Zorn macht sich nichts mehr vor, nicht der Schimmel hat ihn geweckt, i wo, der Schinder ist froh, wenn er seine Ruhe hat! Der Vater ist aufgewacht, weil es dreie ist, und der Herr Sohn ist noch nicht zu Haus! Er muß sagen, in letzter Zeit hat er am meisten von Bubi gehalten. Bubi war kein Blender wie Erich, aber auch kein Versager wie Otto. Aber wenn man um zwei von Mathese redete und um sechs zurück sein sollte, wenn man also log, den Vater anlog, so war man eben doch nicht anständig, sondern erledigt. Es war nichts los mit einem. Anständig ist anständig, Lüge ist Lüge und – eisern ist eisern.

Der alte Hackendahl sitzt noch eine Weile im Dunkeln. Er denkt weder an den Schimmel noch an Strunk, er macht sich klar, daß alles stimmt, fein mit Ei, sie haben alle gekriegt, was sie wollten – und nun ist Schluß! Heute haben sie ihm ein Scheißdings durch die Tür gesteckt, die »Rote Fahne« statt des »Berliner Lokal-Anzeigers«. Aber wenn man seinen »Lokal-Anzeiger« haben will, mag man keine »Rote Fahne« sehen, man will nicht statt Kindern Schmarotzer. Eine Weile läßt man sich betrügen, gewissermaßen mit sehenden Augen, aber wenn dann Schluß ist, ist Schluß. Mann bleibt Mann. Vater muß nicht sein.

Plötzlich brennt er das Licht an, Mutter fährt in ihrem Bett hoch. »Was ist denn, Vater?«

»Det will ick dir sagen, Mutter, ick habe über den Schimmel nachjedacht ...«

»Ist denn Heinz schon zu Hause? Ich hab ihn gar nicht gehört.«

»Nee, is nich. Ick werde den Schimmel morjen zum Roßschlächter bringen. Bei die Fleischpreise kriegt man noch was, und vor die Droschke is er bloß'n Jammer, und ick mach'n überhaupt nich mehr sehen, so von früher her und so ...«

»Und denn läßte dir beim Kauf fünf Pfund von dem Schieren aus der Keule geben. Das können die gut machen, und Heinz und dir war ein bißchen Fleisch auch mal wieder gut.«

»Wat Heinz juttut, det weeß ick von alleene, bloß es intressiert mir nich mehr. – Und denn sehe ick, det ick mir'nen Braunen oder 'nen Fuchs vor de Droschke koofe. Bloß keenen Schimmel – ick bin schon lange gegen Schimmel.«

»Das mach, Vater, das ist eine gute Idee, dann macht dir das Fahren auch wieder Spaß!«

»Spaß?! Na ja, valleicht. Man is ja nich bloß Vater – man is ja ooch Mensch!«

»Wie meinste denn das, Vater?«

»Na, laß man, davon reden wa ooch noch. – Und denn mach ick noch wat, Mutter. Ick habe mir det so ausjejrübelt. Dann jeh ick zu dem Bayer, weeßte, Mutter, zu dem Parfümfritzen, der de erste Hypothek von disset Haus hat, und denn sage ick ihm: ›Nehmen Se den janzen Laden, so wie er steht und jeht. Ick will nischt dafür und Sie wollen nischt dafür, det Se mir den Laden abnehmen.‹ Und fertig!«

»Ich weiß ja nicht, Vater, denn haben wir gar nischt mehr.«

»Und wat haben wir jetzt von det Haus? Die Sorjen, det de Mieten reinkommen un det de Zinsen bezahlt werden. Nee, jetzt will ick mal 'ne Weile ohne Sorjen leben ...«

»Na ja, Vater, wie du meinst. Ich rede dir nicht rein in deine Geldgeschäfte, das weißte ja ... Und wir behalten ja auch die Anleihen ...«

»Nee, Mutter, det will ick dem Bayer ooch noch sagen: Wat ick von de Anleihen behalte nach dem Pferdekoof, det soll er ooch in den Handel rin haben. Und davon muß er uns beide – und den Zossen dazu, vasteht sich – für Lebzeiten gratis und franko hier wohnen lassen ... Denn bin ick ooch die Sorje los ...«

»Vater, dann haben wir ja gar nichts mehr, bloß die paar Groschen, die du von der Fahrerei nach Hause bringst!«

»Nee, Mutter, denn ham wir jar nischt mehr! Det is et ja grade, wat ick will!«

Die alte schwere Frau in ihrem Bette wurde ganz aufgeregt. Rasch sah sie zu ihrem Mann hinüber und sagte dann: »Das mach, wie du willst, Vater. Denn daran mußte ja gedacht haben, daß Heinz noch nicht seine Prüfung gemacht hat, und dann das lange Studium ... Von den paar Groschen, die die Droschke bringt, ist das nicht zu machen ... Und dann kommt Erich heim und ist auch noch nichts. Und was mit Sophie los ist, wissen wir auch nicht ...«

»Nee, det wissen wir nich, Mutter, da haste recht. Wat mit unsern Kindern los ist, det wissen wir nich!«

Ein langes Schweigen entstand, bang bei ihr, fast trotzig bei ihm. Aber dann fing er doch wieder an zu sprechen. Er sagte: »Haste det Scheißblatt jesehen, Mutter, wat se uns durch de Tür jestochen haben?«

»Ja, Vater? Ist es deswegen, daß du so böse bist?«

»Ick bin nich böse, Mutter. Haste det jelesen, det unser Kaiser, auf den wir die Treue jeschworen haben, nach Holland jemacht ist? Stell dir det vor, seine Soldaten, vier Jahre jekämpft, und sein Volk, vier Jahre jehungert – und jetzt, wo de Sache schiefjeht, husch ins Körbchen! Willem der Jetürmte – so schreiben se von ihm. Im Salonwagen – schreiben se.«

»Und nun, Vater? Und nun? Nu willst du auch von allem weg, von Kindern und Geld? Wie Wilhelm?«

»Nee, Mutter, beruhige dir man! Ick türme doch nich!« Seine dicke Hand kam in das andere Bett hinüber und legte sich beruhigend auf ihre. »Ick bin eisern, det weeßte doch, ick bleibe bei meine Droschke. Bloß, Mutter, ick will dir ja nich weh tun, bloß, ick finde, unsere Kinder sind von uns jetürmt. Imma nur dann an Vatern un Muttern denken, wenn man wat haben will – nee, det macht mir keinen Spaß mehr, det mach ick nich mehr mit.«

»Aber, Vater, das ist doch immer so gewesen, die Jungen ziehen von den Alten! Und wenn sie flügge sind, dann fliegen sie aus dem Nest und kennen die Alten nicht mehr. Das kannst du doch nicht anders verlangen, Vater!«

»Man soll den Menschen ooch nich mit dem Tier vajleichen, Mutter, det weeßte doch! Ick habe jelernt, det ein Kind seine Eltern achten, lieben und vaehren soll. Ick weeß nich, Mutter, es mag ja woll an mir liejen: Mir hat keins von meine Kinder jeliebt ...«

»Sage das nicht, Vater. Der Heinz ...«

»Siehste, Mutter, einen von deinen fünfen weißte bloß, und der wird ooch nich anders als die andern ... Nee, Mutter, det liecht nich an de Eltern un det liecht nich an de Kinder – un det hat ooch nich an de Soldaten jelejen. Die haben ihre Pflicht jetan – und ihr oberster Kriegsherr is doch jetürmt. Sondern et liecht an de Zeit. Und wenn et daran liecht, denn können wir es ooch nich ändern. Denn müssen wir eben sehen, wo wir bleiben ... Ick will noch'n bißken Spaß haben, ick will wieder'n netten Gaul vor de Droschke fahren, und denn'n bißken durch'n Tierjarten, mit 'ne jute Fuhre, und überall die Krokusse aus'm Rasen – jelb und blau und weiß. Aber nich immer denken müssen: Heute mußte Erichn zurechtstoßen. Und der Heinz is ooch nich zur rechten Zeit nach Hause jekommen ...«

»Ist es darum, Vater, weil der Heinz noch nicht zu Hause ist?«

»Wie kann et darum sind, Mutter?! Ick habe es dir doch erklärt, aber eins kommt zum andern, un wenn't einmal alle is, hilft kein Piepen! Un nu, Mutter, wo haste denn den Schraps?«

»Den Schraps? Welchen meinste denn, Vater?«

»Den Schraps von unsere Kinder doch!«

»Den Schraps von den Kindern? Der liegt im Vertiko. Unten links. Aber, Vater ...«

Sie verstummte. Und sah ohne Wort mit großen, etwas ängstlichen Augen zu, wie der Alte aus dem Bett stieg und an das Vertiko ging und anfing auszuräumen, was sich da so von den Kindern angehäuft hatte: Zeugnismappen und Hefte und Schulbücher, eine Gymnasiastenmütze von Erich, die ersten Schulbücher vom ersten Kind, von der Sophie ..., ein halbleerer Tuschkasten, Klassenbilder ...

Sie sah stumm zu und erst, als ihr Mann die Ofentür aufmachte und anfing, den ganzen »Schraps«, das Zusammengeschrapte, das Zusammengekratzte, ins Feuerloch zu stecken, erst da sagte sie schwach: »Ach, Vater ...«

Er sah hinüber zu ihr, unter den buschigen Brauen vor mit seinen runden, großen Augen, und sagte: »Gräm dir nich, Mutter – es is doch so!«

Er brannte mit einem Streichholz all das Papierzeug an, sah, ob es auch ordentlich in Flammen geriet, und klappte dann die innere Ofentür zu ...

Und nun, als er wieder ins Bett zurückkam, gab er ihr die Hand, sah sie an und sagte: »Ick möcht noch, det du wieder Justav zu mir sagst, Mutter. Justav is soweit ein janz ordentlicher Name, und ick möchte nun wieder als Justav leben. Vater is mir ziemlich vorbeijelungen ...«

»Ach, Vater ...!«

»Justav!«

»Justav, mein ich ...«

»Und det kann ick dir sagen, mit det Jeloofe in de Destille und mit det janze Lotterleben, mal nich fahren und mal fahren, wie de Laune is, det hört nu uff, Muttern! Einmal, weil wir's nich mehr dazu haben, denn nu sind wir wieder arme Leute, und denn, es macht ooch keenen Spaß. Nee, wir zwei Ollen alleene – wir wolln noch'n bißken nett leben, wie janz zuerst. Nee, noch besser, weil wir nu wissen, wir können keene Kinder mehr kriejen, die auf uns rumtrampeln.«

»Ach, Vater, daß du das dem Heinz so übelgenommen hast, daß er heute nacht nicht nach Haus gekommen ist!«

»Eenmal bin ick nich Vater, sondern Justav. Aber det werde ick dir die nächsten Wochen wohl tausendmal sagen müssen. Aber ick tu's, in so wat bin ick eisern! Und denn, wat heißt hier übelnehmen? Wenn der Schimmel nich mehr ziehen will, denn muß er in die Wurst, un wenn det Kind nich mehr Kind sein will, denn muß et det bleibenlassen, darin bin ick ooch eisern ...«

»Ach, Vater ...«

»Justav heeßt det nu!«

 


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