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Der alte Gustav Hackendahl, der Vater – denn es gab ja auch einen jungen Gustav Hackendahl, den ältesten Sohn vom gefallenen Otto; der Alte hatte ihn freilich nie gesehen –, der alte Gustav Hackendahl fand es immer schwieriger, mit einem Pferde zwei Menschen zu ernähren, nämlich sich und seine Frau.
Früher, vor dem Kriege, konnte man mit einer Droschke sogar Kinder großziehen, wenn man sich nur ein bißchen Mühe gab, die richtigen Warteplätze aufsuchte und einen Gaul vor dem Wagen hatte, der den Leuten Vertrauen einflößte.
Aber wer setzte sich heute noch in eine Pferdedroschke? Liebespaare im Sommer und Angesoffene zu allen Jahreszeiten. Dann gab es noch eine gewisse Nachfrage nach Droschken, wenn Wahlen waren; dann fuhr man alte und kranke Leute, die eine vernünftige Abneigung gegen Autos hatten, zum Wahllokal.
Aber all das verschlug nichts, das Geschäft ging nicht mehr – in diesen Zeiten konnte ein Pferd nicht einmal mehr sich selbst ernähren, geschweige denn zwei alte Leute. Gustav Hackendahl gewöhnte es sich an, wenn er von seinen Fuhren durch die Kaiserallee heimwärts zuckelte, bei der Furagehandlung von Niemeyer erst einmal das Tagesfutter für den Rappen einzuhandeln, denn der Rappe ging vor. Als Hackendahl zum erstenmal für den Zentner Hafer, der vor dem Krieg sechs Mark gekostet hatte, sechshundert zahlen mußte, hatte er doch trotz all seiner Eisernheit gemeint, jetzt sei es mit der Welt am Ende. Nun zahlte er längst sechstausend Mark, und die Welt lief weiter nach dem Spruch: »Je öller, je döller!«
Bloß, daß Hackendahl schon längst nicht mehr den Hafer zentnerweise kaufte. »Und die mögen bei Niemeyern noch so sehr anjeben, Mutter, ick hole mir alle Taje meine zwölf Pfund Hafer! Zehn Pfund kriejt der Rappe, und zweie bleiben alle Tage zurück fürn Sonntag. Ick bin vorsichtig geworden!«
Aber alle Vorsicht half nichts. Oft mußte Hackendahl mit abgewendetem Kopf bei Niemeyer vorbeifahren, weil er kein Geld hatte, weil einen ganzen langen Tag kein Mensch eingestiegen war in die Droschke. Da stand denn der eiserne Gustav in der ehemaligen Tischlerwerkstatt bei seinem Gaul, hatte dem ein Futter zurechtgemanscht aus ein bißchen Heu und ein bißchen Streu und dachte an die alten Zeiten, da der Hafer alle Tage zentnerweise vom Boden geholt worden war, sein eigener Hafer von seinem eigenen Boden, und wie der Futtermeister Rabause (was aus dem wohl geworden war?) mit der vollen Futterschwinge durch den Stall gelaufen war.
»Jute Zeiten, Rappe, fette Zeiten – wie jut und fett, det merken wir alle erst heute. Du ooch, oller Dussel! Ick habe doch nischt – du kannst mir anstoßen mit deine Fresse, es fällt nischt raus!«
Nun gut, auf seine alten Tage lernte es der eiserne Gustav noch, sich in jede Situation zu schicken. Aber es machte keinen Spaß, weil es trotz aller Anstrengungen kein Vorwärts gab, sondern nur ein unaufhaltsames Zurück. Was verschlug es denn, wenn er ein paar Fuhren machte für Niemeyer, ihm Hafer, Heu und Stroh ausfuhr – es verschlug gar nichts! Mutter stand doch mit leeren Händen da.
Es war zum Lachen (da man ja nun einmal nicht weinen wollte), jetzt gab es genug Brot, und Butter dazu. Aber das Vier-Pfund-Brot kostete 20 000 Mark, und für das Pfund Butter hatte man 150 000 Mark auf den Ladentisch zu legen! So waren die Kerle, die jetzt das Regiment hatten: Erst nichts zu fressen und dann keinen Verdienst, sich was zu kaufen – solche Kerle waren das! Irgendwie machten sie's immer falsch.
Gustav Hackendahl, wenn er da bei seinem Rappen im Stall stand, grübelte hin und her, wie er es anders einrichten, ein bißchen mehr Geld verdienen könnte. Er schob den kalten Zigarrenstummel von einem Mundwinkel in den anderen. Es war wirklich ein Jammer, wie Mutter aussah, die Kleider schlotterten um die Frau, als hätte man sie einer Bohnenstange zum Vögelscheuchen angezogen. Mutter mußte endlich mal wieder ein bißchen Speck auf die Rippen kriegen, es war ein Elend mit diesem Hungern! Im Kriege war gewissermaßen noch eine gewisse Ordnung in der Hungerei gewesen, da hatten alle gehungert (oder es hatte doch wenigstens so ausgesehen), man hatte gesetzlich geregelt auf Karten gehungert. Man hatte sich gewissermaßen mit seinem Hunger einrichten können.
Aber jetzt wurde ganz regellos Kohldampf geschoben. In den Läden gab es Ware genug für den, der sie kaufen konnte. Das Volk aber lief an den glänzenden, an den überfüllten Läden vorbei, es sah lieber gar nicht erst hin, oder es sah auch gerade hin, rein aus Daffke – und dann fragte es sich, was es eigentlich ausgefressen hatte, daß es so hungern mußte. Mehr Sünden als die Fresser hatte es auch nicht auf dem Gewissen.
Aber Fragen half nicht viel, und die Umzugfuhren der kleinen Leute mit einem geliehenen Plattenwagen halfen auch nichts. Man rackerte sich einen halben Tag ab, und wenn es ans Zahlen ging, dann hieß es: »Heute paßt es nu grade nicht so besonders. Aber am Freitag, wenn Maxe mit der Lohntüte kommt ...«
Ja, Hundedreck! Wenn das Geld wirklich am Freitag fiel, da war es gerade noch ein Paar Schnürsenkel oder eine Schrippe wert! Mutter sagte wohl: »Geh doch mal zu den Kindern, Justav! Die Sophie und der Erich haben bestimmt ihr gutes Auskommen. Sie werden ihre alten Eltern doch nicht verhungern lassen wollen!«
Nein, darin war Gustav eisern, er ging nicht zu seinen Kindern, dann noch lieber auf die Wohlfahrt! Es war jetzt so, daß er richtig grinsen konnte, über sich, die Kinder und über die ganze Welt: Er, der ehemalige Wachtmeister von den Pasewalker Kürassieren, hatte fünf Kinder ohne Hungern großgekriegt. Aber diese Kinder, die alle mehr gelernt hatten als der Vater, kriegten zwei Eltern nicht satt! Darüber grinste er.
»Det is der Lauf der Welt, Mutter«, sagte er. »Und daran will ick lieber nischt ändern. Manchmal seh ick ja Erichen mit seim Auto am Zoo vorbeibrausen. Nur, er sieht mir nich. Und is ooch richtig von ihm. Denn wat soll det heeßen – ick hab bloß 'nen ollen vermotteten Kutschermantel, und er hat 'nen schnaften See-aal-pelz oder wie die Dinger heeßen – det jehört nich zusammen, det hat Jott nich jewollt. Nee, Mutter, sei zufrieden, det wir unsere Ruhe haben. Janz verhungert sind wir ja immer noch nich, und so wird et schon weiterjehn. Und Heinz kommt ja noch immer ...«
Jawohl, Heinz kam immer. Er kam regelmäßig einmal die Woche zum Abendessen, weil da der Vater zu Hause war, und redete mit den Eltern. Meistens von den alten Zeiten. Und er brachte seinen eigenen Anteil am Essen mit, wie es sich in diesen Zeiten bei Besuchen gehörte. Und sein Anteil war stets so bemessen, daß Mutter noch ein ganzes Mittagessen davon machen konnte. Was man ihm um so höher anrechnen mußte, als es ihm bestimmt auch nicht üppig ging. Mutter sah mit Bekümmernis, daß Heinz noch immer denselben Mantel trug, mit dem er vor nun fast vier Jahren von ihnen gegangen war.
Aber wenn sie ihn fragte, lachte er bloß. »Ich komm schon durch, Mutter, hab bloß keine Bange. Wir alten Leute halten es schon aus. Die Hauptsache, daß wir die Jungen großkriegen, Mutter.«
»Daß du dich auch noch mit den Bengels von der Gudde abgibst, Heinz!«
(Für Mutter blieb Ottos Frau immer die Gudde, obwohl sie ihr gewissermaßen doch einmal durch Übersendung von ein paar Bestecken verziehen hatte ...)
»Das sind großartige Bengels, Mutter, die laß man! Ohne die machte mir das ganze Leben keinen Spaß. So weiß man doch, wofür man schuftet ...«
»Pst! Der Vater!« mahnte die Mutter.
Aber mit dem Vater war das gar nicht mehr so schlimm. Er konnte schon gut ein Wort vertragen über die Bengel, seine Enkel. Ja, er konnte sogar schon ein Wort über sie reden, wenn es auch kein freundliches war.
»Und wirklich hat keener'n Buckel, Heinz? Du sohlst, ick wette, du sohlst! Und wenn man ooch den Buckel von außen nich sieht, innen steckt er – da freß ick'n Besen druff!«
»Dann freß man, Vater!« lächelte Heinz und erzählte geruhig weiter, die Mutter mochte mit den Augen plinken, soviel sie wollte.
Er war überhaupt sehr ruhig geworden und schwer zu erschüttern, der junge Heinz Hackendahl. Zweiundzwanzig Jahre alt – aber besonnen und gesetzt wie ein Alter.
»Ja, wie es mit dem Gelde wird, Vater, kann ich dir auch nicht sagen. Ich bin ja bloß ein kleiner Schreiber auf der Bank, wenn ich jetzt auch gottlob meine Lehrzeit hinter mir habe. Die Mark wird wohl weiter fallen und der Dollar weiter steigen, besonders jetzt, wo die Franzosen die Ruhr besetzen wollen ...«
Die Alten schwiegen beklommen. Schließlich fragte Vater Hackendahl: »Und von wat soll ick meinen Rappen füttern?«
Heinz Hackendahl dachte eine Weile nach. Er verstand wohl, daß der Rappe nur für jemand anders genannt wurde, für zwei andere. Dann sagte er: »Ich werde dir das nächste Mal Bescheid sagen, Vater. Vielleicht finde ich was.«
Beim nächsten Male aber traf er seinen Vater nicht an, und das war nicht so schlecht, denn er hatte für den Vater trotz aller Bemühungen nichts gefunden. Dafür hatte aber Vater selber was gefunden. Die Mutter war sehr bekümmert und in Sorge. »Du wirst sehen, Heinz, zum Schlusse kommt es bloß darauf raus, daß Vater wieder ins Saufen gerät, wie damals, als Otto gefallen war.«
Aber Heinz war zuversichtlich. »Das ist ganz recht von Vater, daß er das macht! Du sollst sehen, Mutter, da verdient er was; und er paßt auch dafür! Und mit dem Saufen hab bloß keine Angst – Vater ist viel zu stolz, um je ein Säufer zu werden.«
An einem guten Tag unter diesen schlimmen Tagen hatte Vater Hackendahl am Bahnhof Zoo einen langbeinigen Mann mit Pferdezähnen als Fahrgast gefunden, und dieser Mann, der die Füße sofort auf den Vordersitz der Droschke gepackt hatte, während er sich im Hintersitz rekelte, hatte vom eisernen Gustav verlangt, in der Stadt spazierengefahren zu werden. »Uie sagt Sie? Zewei Stunde, und um Zewölf an die Schlesische Bahnhof!«
Eine Märchenfuhre, eine Glückslast – ein wahrer Inflationssegen, ein Engländer, nein, wie sich dann herausstellte, ein Amerikaner, der Berlin auf der Durchreise zu besehen wünschte. Nun, er besah sich unter Hackendahls Führung Berlin gründlich, das heißt, er probierte Berlins Bier, Wein und Schnaps, sehr gründlich. Und wenn er zu Anfang noch amerikanisch wortkarg in die Lokale gestolpert war: »Just a moment, please«, so hatte ihn, je mehr sie in das Zentrum vorstießen, je weiter sie nach dem Osten kamen, der Geselligkeitstrieb erfaßt, und Vater Hackendahl mußte ihn auf jeder Expedition begleiten, ging es nun in die »Traube« oder in eine Gerold-Stube.
Ein toller Kerl mit einem schneeweißen Gesicht, das kein Alkohol färben konnte, mit einer Mähne feuerroter Haare darüber. Er hatte wohl drüben, in seinem trockengelegten Heimatlande, eine fast manische Vorliebe für Flaschen bekommen, nicht einmal für die kurzen Weiterfahrten in der Droschke mochte er ohne Flasche sein. Er steckte sie in seine Manteltaschen, er baute sie vor sich auf den Vordersitz, er betrachtete sie mit trunkenen, aber lächelnden Blicken und schüttelte sie zärtlich. Wenn sie dann gluckerten, lachte er.
Es war eine Glücksfuhre, aber eine schwierige Fuhre – ein Segen, daß wenigstens der Rappe keinen Geschmack für Alkohol hatte (sie versuchten, ihn mit Kognak zu tränken, aber der Rappe verzichtete).
Durch irgendein Wunder schaffte Hackendahl wirklich den Zwölfuhrzug auf dem Schlesischen Bahnhof. Aber der Amerikaner verlangte, daß »my friend Gustav« mit auf den Bahnsteig komme, und so wurden sie denn die Bahnhofstreppe hinaufgetragen, jeder von zwei Gepäckträgern, und sie waren gewaltig heiter und erheiterten noch gewaltiger.
Am Zuge freilich kam der Trennungsschmerz, sie lagen einander in den Armen, unter dem Zug hervor holte ein Gepäckträger den Lackpott Hackendahls. Ein zweiter hielt die Peitsche, die beiden anderen die Abschied nehmenden Freunde. Gustav Hackendahl wurde von Amerika eingeladen, doch ein kleines Stückchen mitzufahren, bis Warschau. Und ohne die Gepäckträger, die immer wieder auf den einsam wartenden Rappen verwiesen, hätte er es vielleicht getan. So bekam er denn zum Abschied eine Flasche Mampes bittere Tropfen geschenkt, aus der Manteltasche, und auch die Gepäckträger bekamen jeder eine Flasche – die sie dann freilich wieder hergeben mußten, weil das Abteil ohne Flaschen gar zu unwohnlich und einsam aussah.
Dafür verteilte Amerika sein ganzes deutsches Papiergeld, und Gustav bekam sogar einen echt amerikanischen Zehndollarschein. Nachdem der Stationsvorsteher zuerst wegen des Krakeels Krakeel gemacht hatte, war er schließlich so erheitert, daß er zwei Minuten zu spät das Abfahrtsignal gab. Dann fuhr der Zug wirklich los, zwei breitköpfige, braune Schuhe sahen trostlos aus einem Abteilfenster erster Klasse, gingen in die Ausfahrtskurve und entschwanden – der Grenze zu, Warschau zu, Moskau zu, jedenfalls ungezählten Schnäpsen zu.
Die Gepäckträger aber trugen den traurigen eisernen Gustav hinunter in seine Droschke, setzten ihn in die Ecke, deckten ihn warm zu, hingen dem Rappen den Futtersack um und hatten den ganzen Nachmittag ein wachsames Auge auf das Gefährt. Denn der Schlesische Bahnhof war damals eine ausgesprochene Rabengegend, und Raben wittern jeden Leichnam, besonders, wenn er einen echt amerikanischen Zehndollarschein in der Tasche trägt.
So aber erwachte Gustav Hackendahl, nach ungestörtem Schlaf, mit einem ausgeruhten, wenn auch noch ein wenig benommenen Kopf. Ja, es war eine richtige Inflationsfuhre gewesen, dachte er auf der Heimfahrt, eine Fuhre, wie sie sonst nur den dämlichen Autos blühte. Aber sie war nur ein Einzelfall, bestimmt, ein Einzelfall zu bleiben, und zehn Dollar reichten bei drei Fressern keine Ewigkeit. Nein, davon allein konnte Gustav nicht so vergnügt zumute sein, er schob die Zigarre (echt amerikanisch!) von einem Mundwinkel in den anderen und überlegte und grübelte, warum er eigentlich so vergnügt war.
Er erinnerte sich, er hatte eine Idee gehabt, und manchmal blitzte es in seinem Hirn ferne von der Idee – aber weiter kam er nicht. Wenn es blitzte, merkte er, es hing damit zusammen, daß er der eiserne Gustav war. Aber das war eigentlich bloßer Unsinn, denn alles hing damit zusammen, daß er der eiserne Gustav war, ohne ihn hörte alles auf. Soviel ihm bekannt war wenigstens. Wenn ich tot bin, sind alle tot, dachte er behaglich, denn das war ein sehr angenehmes Gefühl.
Der Rappe zuckelte gemächlich weiter. Lange Straße, Warschauer Brücke, über den Alexanderplatz. Durch die Königstraße zum Schloß. Eigentlich hatte der eiserne Gustav über die Linden und durch den Tiergarten heim gewollt, aber schließlich zog er dann doch an der linken Leine und fuhr »unten herum«. Er fuhr hin und her, Zickzack fuhr er, jetzt um die Ecke, und nun schon wieder um eine Ecke. Und je mehr Ecken der eiserne Gustav umfuhr, um so heller wurde es in seinem Kopf, und als er vor dem Kellerlokal in der Mittelstraße hielt, da wußte er wieder, was für eine blendende Idee er in all seiner Besoffenheit gehabt hatte, und er nickte dem Schild über dem Lokal liebevoll und einverstanden zu.
Auf dem Schilde aber stand zu lesen: »Zum groben Gustav«, und mit dem Lokal, in das Hackendahl hinabstieg, hatte es folgende Bewandtnis: Der Berliner, der bekanntlich ein sehr feinfühliges Geschöpf und äußerst leicht beleidigt ist – dieser selbe Berliner ist in einem gewissen Zustand von Angeheitertheit für Grobheiten besonders empfänglich. Er lechzt dann einfach danach, daß auf seiner Empfindlichkeit herumgetrampelt wird.
Nicht nur kleine Leute wie Angestellte und Gewerbetreibende, nein, die Spitzen der Geistigkeit und des Erwerbslebens waren schon vor Gustav Hackendahl die enge, dunkle Treppe in den Keller geturnt, bloß um sich grob kommen zu lassen. Wie so ein Wirklicher Geheimer Oberkammerrat selig aufseufzte, wenn ihm der grobe Gustav in seiner roten Weste mit den Begrüßungsworten entgegentrat: »Na, du oller Dussel, du hast woll heute mal wieder aus Versehen dein Jesicht in die Hosen und deinen Arsch in't Jesichte jesteckt, wat?« – das war gar nicht zu sagen.
Und außer kräftigster Grobheit gab es in diesem Lokal auch noch Holztische, und alles nannte sich du – und die Herrentoilette hieß die Ritterburg, die Damentoilette aber die Tropfsteingrotte, was die Phantasie der Herren anregte und die Damen nicht aus dem Kichern kommen ließ. Und dann gab es alle halben Stunden eine Führung durch die Schreckenskammer, und dort konnte man die Klistierspritze bewundern, mit der Konrad der Hartleibige in der Schlacht am Popocatepetl seine Feinde auseinandergesprengt hatte. Und eine echte Krokodilsträne. Und das Nachtgeschirr der Äbtissin Fringilla. Und den Nürnberger Trichter. Und eine Locke vom Haupte Karls des Kahlen (Pferdehaar). Und das Lämpchen der sieben törichten Jungfrauen (Küchenlampe). Und dem Zuge der Zeit entsprechend, die gerne über die eigenen Niederlagen spottete, die fette, weiße Männerhand, die nicht verdorren wollte ... Nicht zu reden von den erotischen Scherzen, die den Herren zu den neckischsten Bemerkungen Anlaß gaben. Denn es ist süß, die Maske des Wohlanstandes einmal fallen zu lassen und zu anderer Männer Frauen zu sprechen, als sei es die eigene ...
Derart also war das Lokal, in das an jenem Glücksnachmittag der eiserne Gustav hinabstolperte. Und wiederum hatte er Glück. Denn er traf den Wirt und Inhaber sogar an, den groben Gustav. Trotzdem das Lokal als ein Platz für angetrunkene Leute eigentlich ein Nachtlokal war.
Die beiden Gustavs, der grobe und der eiserne, setzten sich zusammen an einen Tisch. Der eiserne erzählte von seinem Amerikaner und winkte sachte mit dem Zehndollarschein. Der grobe aber hatte das Nachmittagsweh der Gastwirte, die trübe Stimmung der blauen Stunde gewissermaßen, und kam ins Klagen über die mannigfaltige Schleuderkonkurrenz in Grobheit. Die Inflation legte Grobheitslokale durch die ganze Innenstadt wie ein fleißiges Legehuhn Eier, und jeder mittlere Grobian schien sich berufen zu fühlen, seinen Gästen grob zu kommen.
Das war Wasser auf die Mühle Hackendahls. Aus einem gewöhnlichen Droschkenkutscher verwandelte er sich in den eisernen Gustav (von dem der grobe schon gehört zu haben meinte), und nicht lange, so reichten sich die beiden Gustavs die Hand über den Holztisch und besiegelten mit einem Händedruck ein aussichtsreiches Geschäft.
Das Abkommen der beiden aber war derart, daß der eiserne Gustav von abends bis in die Nacht an dem großen runden Tisch gleich am Eingang sitzen sollte, mit einer Molle und einem Korn, als richtiger Droschkenkutscher, mit Kutschermantel, Lackpott und Peitsche. Die Rolle als verbitterter, aus der Mode gekommener Droschkenkutscher sollte seine Rolle sein; er hatte den Gästen, die mit Autos ankamen, grob zu kommen wegen ihrer Autos, hatte sie zum Trinken zu bringen, sie zu unterhalten – kurz, er hatte ihrem stets etwas lahm geratenen Vergnügungsvermögen mit echt Berliner Humor auf die Beine zu helfen.
Dafür sollte Gustav Hackendahl sein Trinken frei haben (aber in aller Mäßigkeit) und zwei kräftige Mahlzeiten bekommen, eine, wenn er kam, eine, ehe er ging. Und von allem, was die Gäste an seinem großen runden Tisch verzehrten, sollte er zehn Prozent der Zeche bekommen. So besprochen zwischen dem groben und dem eisernen Gustav und durch Handschlag besiegelt.
Vor zehn Jahren noch, vor fünf Jahren noch hätte der eiserne Gustav verächtlich gelacht, hätte ihm einer angeboten, den Hanswurst betrunkener Gäste abzugeben – nun hatte er sich selber angeboten. Hackendahl hatte den Krieg erlebt; das Militär, das sein Stolz gewesen war, war nicht mehr; das Kaisertum, das seinen Halt abgegeben hatte, war kläglich zusammengebrochen; aus allen seinen fünf Kindern war nichts geworden, auf das er besonders stolz sein mußte.
Der eiserne Gustav hätte zusammenbrechen können. Oder noch härter werden. Er hatte etwas anderes getan: Er hatte zu lachen angefangen. Es war eine Zeitkrankheit. Vor dem Kriege hatte man den Menschen eingeredet (und sie hatten es geglaubt), daß der Mensch gut, hilfreich, edel, gläubig, fleißig, pflichttreu sei (und zu sein habe). Jetzt sagten sie: Der Mensch ist schlecht, mörderisch, verlogen, schweinisch, faul, gemein – und sie glaubten es wieder. Sie waren noch stolz darauf. Es machte ihnen Laune – freilich eine Katzenjammerlaune, ein Grinsen, als hätten sie Essig getrunken, eine Weltuntergangslaune (und der älteren Generation war ja tatsächlich ihre Welt untergegangen).
So sah sich Gustav Hackendahl auch gar nicht als der bezahlte Spaßmacher der anderen, nein, er wollte seinen Spaß an den Gästen haben. Er wollte sie in ihrer Betrunkenheit kitzeln, und wenn dann die Gemeinheit in ihnen hervorkam, dann würde er denken: Ick habe jar nischt Besonderet erlebt. Wie meine Kinder sind se alle. Alle uff dieselbe Brotschaufel abjebacken, alle die eene Seite roh und die andere vabrannt, und alle mit demselben Klitschstreifen mittenmang durch!
So hatte er es sich ausgedacht, als vom Alkohol des irischen Amerikaners seine Phantasie entzündet war. Und wenn er auch das meiste davon später wieder vergessen hatte, als bezahlter Spaßmacher fühlte sich der eiserne Gustav nie. Er grinste über den Spaß, den ihm die anderen machten. Er konnte gut und viel grinsen, denn das Geschäft ging besser als erwartet. Selten war der Tisch des Original-Berliner-Pferdedroschkenkutschers leer – und der eiserne Gustav wurde sogar eine Art Berühmtheit im Berliner Nachtleben, als er erst seinen Rappen dressiert hatte ...
Es stellte sich nämlich heraus, daß seine angetrunkenen Tischfreunde durchaus von ihm in das nächste Lokal gefahren werden wollten (der »Grobe Gustav« war ein Lauf-, kein Sitzlokal), und wenn er die Rolle des Droschkenkutschers weiterspielen wollte, so mußte er seine Freunde eben fahren. Damit aber war wieder der Wirt nicht einverstanden, denn eine halbe oder gar eine ganze Stunde blieb dann der große runde Tisch ohne seinen Hauptanziehungspunkt, und eine Stunde zählt viel in einem Lokal, das eigentlich nur sechs Stunden lang wirklichen Verkehr hat ...
Da hatte der eiserne Gustav wiederum eine Idee. Er dressierte den Rappen, und der Rappe ging von Stund an auf den Hüa-Ruf seines Herrn keinen Schritt vorwärts, sondern fing an, in seiner Gabel beängstigend rückwärts zu gehen wie ein Krebs und die Droschke gegen Bordschwelle und Laternenpfähle zu drängen. Je lauter der Kutscher »Hüa!« rief, je fester er mit der Peitsche knallte, um so ungebärdiger wurde der Rappe, bis er sich schließlich auf den Asphalt legte.
Es half den Gästen alles nichts, sie mußten aussteigen und sehen, auf andere Weise in das nächste Lokal zu kommen, was sie auch stets mit dem größten Vergnügen taten. Ja, meistens wurde der eiserne Gustav für die ihm entgangene Fuhre reichlich entschädigt. So war allen geholfen: dem Wirt, den Gästen, dem Kutscher – und es ist anzunehmen, daß auch der Rappe, der nur noch Blücher hieß, seinen Spaß an der Sache hatte.
Heinz hatte ganz recht, die Mutter zu trösten: In Trinkergefahr kam der eiserne Gustav trotz seiner nächtlichen stundenlangen Lokalsitzerei nicht. Und das Geschäft brachte wenigstens Geld ins Haus: ganz so schlottrig saßen schon nach kurzer Zeit der Mutter die Kleider nicht mehr auf dem Leib.
Und doch hatte Heinz unrecht: Für den eisernen Gustav war es doch gefährlich. Der Mann war einmal ein Mann gewesen, wohl mit einem engen Gesichtskreis, aber er war ein rechtlicher Mann gewesen, mit einem Ideal, nach dem er gelebt hatte. Vielleicht falsch, aber doch ohne Bruch, einem Ideal, das durch die Begriffe Arbeit, Ehrlichkeit, Pflicht erfüllt wurde.
Nun wurde er alle Tage immer mehr zu einem Spötter, einem Etwas, das nichts mehr zu tun hatte, als zu spotten. Gewiß, so gottverlassen war er nicht, daß er seine Pflichten völlig vernachlässigte. Er sorgte immer für die alte Mutter daheim. Die Stimmung mochte noch so munter sein, er stand alle halben Stunden auf und sah nach, ob der Rappe seine Decke auch noch richtig auf den Nieren liegen hatte, er fütterte und tränkte, wie es sich gehörte ...
Aber er tat das alles mehr aus Gewohnheit als aus Pflichtgefühl. Er hatte keine einzige Aufgabe in der Welt. Seine Welt war zerschlagen. Stück für Stück, nichts war heil geblieben. Vor zehn Jahren hätte er noch geschaudert vor einem solchen leeren Kneipen- und Spötterleben. Er hätte es gar nicht führen können, er wäre unfähig gewesen, seine Gäste zu unterhalten. Jetzt konnte er es.
Das gerade war es, was er und die anderen an ihm eisern nannten. Seine Beharrlichkeit, daß er zum Beispiel immer noch Pferdedroschke fuhr, trotzdem jeder Mensch einsehen mußte, die Zeit der Pferdedroschken war für ewig vorbei. Aber das hieß nicht eisern, das hieß alt; wenn er jünger gewesen wäre, hätte er längst hinter dem Steuer einer Autotaxe gesessen. Es schien auch eisern zu sein, daß er nie seinen Kindern nachlief, die Enkel nicht sehen wollte ... Aber auch das war nicht eisern, wiederum war es das Alter. Ein junger Mensch steht nach einem Sturz auf und versucht es von neuem, Gustav Hackendahl aber wollte nie wieder einen Menschen lieben. Eva dahin, Erich dahin ... Nie wieder!
Nein, das alles konnte man nicht eisern nennen.
Und doch war etwas in ihm, etwas Unverwüstliches, Lebenskraft –: Er zog den Nacken nicht ein, er klagte nie, er fraß die Suppe aus, wie er sie sich eingebrockt hatte, aber auch, wie andere sie ihm eingebrockt hatten. Ganz selbstverständlich. Ohne darüber nachzudenken ...
Eine große Kraft im Erdulden. Im selbstverständlich Erdulden. Ohne sich überhaupt klar zu sein, daß er litt.
Er wußte nichts davon. Natürlich gab es niemanden, der über ihn nachdachte, und er selbst wäre vor Wut blaurot geworden und hätte gebrüllt, hätte ihm einer erzählt, daß er nur eisern sei im Erdulden ...
Aber dann kam ein Abend, an dem auch diese letzte Fähigkeit ihn zu verlassen schien, an dem auch Erdulden unmöglich schien, an dem es in ihm ganz leer werden wollte ...
Es war dies auch für das deutsche Volk kein Abend aus dem Dutzend – es war auch für das deutsche Volk ein besonders schlimmer Abend, und es war in den letzten Jahren doch schlimme Tage mit schlimmen Abenden gewohnt worden. Es war der Abend des Tages, an dem der passive Widerstand an der Ruhr beschlossen worden war.
An dem Tag, da die Regierung Cuno diesen Befehl gab, verkündete sie einen Volkstrauertag. Sie rief das deutsche Volk zu einem Opfer auf, sie mahnte es, der Schwelgerei und der Üppigkeit zu entsagen – und weil man dem Erfolg der Mahnung mißtraute, wurde verfügt, daß alle Lokale um zehn Uhr abends zu schließen hätten.
Seit langem war die Innenstadt Berlins nicht so überfüllt gewesen wie an diesem Abend. Es war, als seien die Leute von einem Teufel des Widerspruchs besessen; gerade weil ihnen befohlen worden war, um zehn Uhr nach Haus zu gehen, wollten sie um zehn Uhr ausgehen. Das war eine Folge der Zeit, die hinter ihnen lag: Sie mißtrauten jeder Regierung, sie mißtrauten jeder Anordnung, sie hatten alles Vertrauen überhaupt verloren.
Die Last an diesem schlimmen Abend hatte die Polizei. Sie jagte die Leute aus einem Lokal, und schon standen sie im nächsten. Sie leerte das nächste Lokal, und unterdes hatte sich das erste wieder gefüllt; hinter herabgelassenen Rolljalousien, hinter verschlossenen Türen saßen die Gäste und freuten sich, der Regierung und der Polizei ein Schnippchen geschlagen zu haben.
An der Ruhr aber marschieren unterdes die französischen und belgischen Bataillone. Sie besetzen das Land, sie besetzen die Zechen und Gruben und Fabriken; sie besetzen auch die Banken, deren Gelder sie beschlagnahmen. Sie beschlagnahmen auch – mitten im kältesten Winter – die Kohlenlieferungen in das verhungert frierende Deutschland, und jeden, der ihren Anordnungen nicht gehorcht, setzen sie gefangen. Sie bringen in ein dichtbevölkertes Land äußerste Not und schlimmsten Tod – als der Ruhrkampf abgebrochen wird, hatte er 132 Menschen das Leben und Unzähligen die Freiheit gekostet; 150 000 Menschen sind aus ihrer Heimat ausgewiesen, und der Schaden der deutschen Wirtschaft wird auf vier Milliarden Goldmark geschätzt.
Berlin aber feiert – wir trauern, wenn es uns paßt, nicht, wenn es uns befohlen wird. Je schlechter es uns geht, um so mehr feiern wir, denn wenn es uns ganz schlecht geht, können wir nicht mehr feiern, denn dann sind wir tot!
Beim »Groben Gustav« hatten sie zuerst nicht gewußt, was sie tun, ob sie nicht doch lieber schließen sollten. Aber als es auf zehn Uhr ging, war das Lokal gut halbvoll; und so war ein Wirt in diesen Tagen der Geldentwertung nicht gesonnen, daß er Gäste, die durchaus noch trinken wollten, mit Drohungen auf die Straße gejagt hätte.
Also wurden alle Öffnungen lichtdicht verrammelt und ein paar Bengel ausgesandt, sich auf der Straße umzusehen, ob sie nicht auf dem dunklen Hinterweg über Hof und Keller das Lokal noch voll bekämen.
Gustav Hackendahl saß allein an seinem großen Rundtisch, es war noch zu früh für sein Geschäft. Dies war die Zeit der Liebespaare; wenn er durch das Lokal schaute, sah er sie da dünn gesät sitzen, möglichst in den dunklen Ecken, möglichst mit einem Tisch Abstand vom nächsten Paar.
Die erloschene Zigarre im Mundwinkel, führte er schläfrig mit dem Wirt eine kleine Unterhaltung über die Aussichten der Nacht, über das, was einem Wirt und was einem Droschkenkutscher passieren konnte, wenn die Polizei das Lokal aushob, und über die Frage, ob der Marschall Rückwärts, der Rappe Blücher, nicht als Verräter draußen auf der Straße stehe.
Aber allmählich, als es gegen elf Uhr ging, füllte sich das Lokal. Immer wieder öffnete sich die Tür hinten zu den Wirtschaftsräumen, zum Kohlenkeller – die von ihrem dunklen Weg verwirrten Gäste schauten erstaunt in das endlich erreichte Lokal. Dann wurde ihnen auf die Schulter geklopft. »Na, Dickerchen, biste ooch da? Deine Freundin Olga sitzt schon da hinten an de Säule. – Wat, ick soll det nich sagen, det is deine Frau? Na, Mensch, kannste einem nich'n bißchen mit de Oojen zuplieren, denn weeß ick doch jleich Paß Achtung! Na, nu is nischt mehr zu machen. Is ooch janz scheene, so'n kleiner Schwerenöter wie unser Dickerchen. Wat denkste, jnädje Frau, wat der hier manchmal anjibt, wenn er dir erzählt hat, er hat 'ne dringende jeschäftliche Verabredung. Aber dir ha'ick doch ooch schon mal jesehn, kleene Frau?! Haste nich mit dem dicken Kahlkopp dahinten jesessen und ihn immer uff de Jlatze jeküßt? Huch, muß Liebe schön sein!«
Die alten Scherze, das dankbar beifällige Gelächter der Gäste, deren nur noch sachte brennende eheliche Liebe ein wenig geschürt wurde. Dann das vernehmlich hörbare Schweigen, wenn die Weinkarte vorgelegt wurde ...
»'n kleiner Rheinwein? Nee, nu hab dir man nich so, heute jibt et hier nur Sekt. Wat denkste denn, Mensch, ick riskiere Lokalverbot un Kittchen, bloß det ick deinen Affen jetzt noch wat zu lutschen jebe! Hab dir bloß nich so, bei deine kleine Freundin haste dir doch ooch nich so ... Nu mach man, Mensch, der Dollar wartet nich uff dir ...«
Und plötzlich, ein neuer Schub Gäste war hereingekommen, das Signal für den eisernen Gustav, sich arbeitsfertig zu machen: »Kinder! Kinder! Nehmt de silbernen Messer vom Tisch! Jetzt kommen die ganz feinen Pinkel, wo nur mit's silberne Messer essen, wo man 'ne Bauchoperation zahlen muß, will man wieder an sein ehrliches Hab und Jut ...«
Gustav Hackendahl rückte sich behaglich zurecht auf seinem Stuhl. Eine Hand um den Stiel des Glases, in der anderen die Peitsche, den Lackpott in die Stirne gerückt und den Kopf tief auf der Brust, saß er da wie ein echter und rechter Droschkenkutscher, der in der Kneipenwärme ein bißchen eingenickt ist ...
Es war ihm wirklich nach Einnicken, wie durch eine Wand hörte er die Stimmen der neuangekommenen Gäste, der Kellner, des Wirtes ... Nun rief eine etwas fette Stimme: »Schampus? Natürlich, nur Schampus!« Etwas klatschte auf den Tisch. »Das Geld kann alle werden, das Geld soll alle werden! Wo das Geld herkommt, gibt's noch mehr! Da wird es nie alle, so oft man auch melkt – es leben die Dummen! Schampus!«
Und leiser: »Wirt, Mensch, sehen Sie, daß der olle Droschkenkutscher von unserem Tisch wegkommt! Der Kerl pennt ja – soll er seinen Rausch woanders ausschlafen! Und überhaupt, Droschkenkutscher kann ich nicht riechen, gegen Droschkenkutscher habe ich eine Aversion ...«
Der alte Hackendahl hatte längst begriffen, was das für eine Stimme war, wenn sie sich auch verändert hatte, wenn sie auch fett geworden war. Einen Augenblick dachte er daran, sich fortzustehlen. Aber feige war der alte Hackendahl nie gewesen, feige war er auch jetzt nicht. Er schob den Hut – Mutters Milchpott – aus der Stirne; quer über den Tisch sah er mit von der plötzlichen Helle blinzelnden Augen in das Gesicht seines Sohnes Erich ...
Der sah ihn an, starrte ihn an, plötzlich war alle Angetrunkenheit aus ihm gewichen ... Er starrte den alten Droschkenkutscher im fleckigen blauen Mantel an, mit dem gelbgrau gewordenen Barte, den trüben, geröteten Augen, mit den dick geschwollenen Tränensäcken darunter ... Starrte den alten Mann an, war blaß geworden, konnte nicht weiterreden, wollte aufstehen vom Tisch und kam doch nicht los von dem Blick des anderen, des Vaters, der ihn nicht frei ließ ...
Denn der Vater sah ihn an, quer über den Tisch fort, auf den die rotwestigen, hemdsärmeligen Kellner jetzt die Sektflaschen in ihren Kübeln stellten, quer über den Tisch weg starrte er mit großen kugligen Augen den Sohn an ... Sein Gesicht zuckte nicht, nichts verriet, daß der Vater den Sohn erkannte ...
Und sah durch das fette, weiße Gesicht mit den hoch gewordenen Schläfen, dem dünn gewordenen Haar, sah den Erich von ehemals, den Liebling, Hoffnung und Stolz, Liebenswürdigkeit und eine so leichte Hand ... Sah ihn, den frischen, klugen Bengel von ehemals, und er hatte ihn in den Kohlenkeller gesperrt, weil er vier Goldstücke verjubelt hatte bei Weibern ... Jetzt saß der Sohn vor den Augen des Vaters zwischen zwei Weibern, die eine hatte ihm den weißen Arm um die Schulter gelegt; es waren Lokalmädchen, der Alte sah es, aus irgendeiner Bar mitgeschleppt ...
Und all das wehte in einem Augenblick vorüber, in einem Augenblick – in einem Augenblick wehte bei Vater und Sohn die Vergangenheit vorüber, neun Jahre waren verflossen, seit sie sich zum letzten Male gesehen hatten, und nun sahen sie sich wieder. Es wehte vorbei, das Leben wirbelte, ein Herbstwind riß die letzten bunten Blätter von den Ästen. Es war alles vorbei, alles verwelkt und tot. Ja, es war ein Augenblick, in dem beide erkannten, alles war unwiederbringlich vorbei – und die Gäste hatten kaum das Verstummen des flotten Erich Hackendahl gemerkt.
Da knarrte der Alte schon los: »Na wat denn, junger Mann, wat denn? Wat haste denn mit de Droschkenkutscher?! Hast wohl frieher for Mutters Laubenjarten die Pferdeäppel von de Straße sammeln müssen, wat? Und hast davon 'nen Rochus uff de Droschkenkutscher? Na, laß man, Mensch, heute riechste dafür det Benzin von de Autos uff. Et is allens eene Wichse, bloß du merkst et nich!«
Zu antworten brauchte Erich nicht, denn seine Freunde lachten beifällig zu den Sticheleien des alten Kutschers, und die Mädchen aus der »Maxim-Bar«, die natürlich schon vom eisernen Gustav gehört hatten, beeilten sich, ihre Herren flüsternd über die wirkliche Stellung dieses Originals zu belehren. Dünn hatte nur der dunkle, bräunliche, sehr fette Herr gelächelt, der einzige aus der Gesellschaft, der noch leidlich nüchtern schien: Der alte Gönner und Freund von Erich wußte wahrscheinlich, daß die Antipathie Erichs gegen Droschkenkutscher nicht bloß eine betrunkene Laune war ...
Aber auch dem scharfsinnigen Anwalt, dem erfahrenen Reichstagsabgeordneten war das Zusammenschrecken Erichs entgangen. Auch er ahnte nicht, daß sich hier Vater und Sohn am Tisch gegenübersaßen; unverstanden von allen ging der Kampf zwischen den beiden weiter ...
Die Sektkelche waren vollgeschenkt, nach der lieben Gewohnheit der Inflationslokale hatten die Kellner zu den am Tisch geleerten Flaschen ein paar bereitgehaltene leere dazugemogelt, um die Schlußrechnung ein wenig zu ihren Gunsten zu erhöhen. In fünfundneunzig von hundert Fällen gelang der Nepp ...
Die Gläser klangen aneinander, die Mädchen lachten hell auf, während sie schon das Glas zum Munde führten, denn der untersetzte Herr im Smoking mit dem Einglas im Auge und den Schmissen auf dem Bulldoggengesicht hatte mit der Sektflasche gegen den Rand des Kühlers geklopft. Die Blüte des erfolgreichen geschäftlichen Berlin begann die Feier der Ruhrbesetzung, und der Herr im Smoking sprach: »Jenossen! Werte Damen! Hochverehrter Herr Droschkenkutscher! Auf das, was wir sind: nämlich jung!«
Sie tranken.
»Auf das, was wir lieben – nämlich das jute Leben mit allem, was dazugehört!« Und er kniff sein Mädchen in den weißen Nacken, daß es leise aufkreischte.
Sie tranken wiederum.
»Auf das, was wir wünschen – nämlich, daß die verdammte Rechtsregierung Cuno von der Ruhr die Ruhr kriegt und wir wieder drankommen! Und das recht bald!«
Sie tranken lachend, nur der Herr Anwalt lächelte dünn – er liebte so etwas in öffentlichen Lokalen nicht sehr.
»Und nun«, der Herr mit dem Monokel setzte sich, »geben Sie mal einen Schwank aus Ihrem Leben zum besten, verehrter Rosselenker. Sie müssen doch schon 'ne Masse erlebt haben!«
»Hab ick«, bestätigte Gustav Hackendahl. »Nur weeßte, wenn ick mit so jebildete Jenossen umjehe, mit Monokel, und det Jeld jleich uff den Tisch jeballert wie der junge Mann da, det alle Kellner jleich de Bleistifte spitzen, det se ooch jenuch uffschreiben – ick weeß nich, es friert mir jleich vor lauter Hochachtung die Schnauze in, und ick oller Dussel zerbreche mir bloß immer festeweg meine Birne, wieso ihr Brüder ewig die dicke Marie vadient, und ick habe for Muttern nich det Fett for de Stulle ...«
»Sauf nich so ville, olles Loch!«
»Wenn ick det so sehe«, sprach der alte Hackendahl und wies mit dem Finger auf den jungen Hackendahl, der mit unruhigen Augen mal auf den Vater sah und gleich wieder fortschaute ... »Det is doch noch'n junger Mensch, ick frage mir, wie macht der det? Natürlich, er is'n jebildeter junger Mann, aber mit de Bildung vadient man heute keen Jeld! Ick frage mir, wie macht so eener det? Ick wär doch längst im Kittchen!«
Erich preßte die Lippen fest aufeinander und versuchte, den Vater drohend anzusehen. Und wich sofort wieder dem Blick des Alten aus ...
Einige in der Tischrunde protestierten: »Nun halt mal die Luft an, Oller! Wir saufen hier nicht Zuckerwasser, um uns dämlich kommen zu lassen!«
»Der Olle ist bloß neidisch!«
»Nee, ick bin bloß dusselig!« sprach Hackendahl wieder. »Ick vasteh un vasteh det nich. Und ick möchte so jerne wat lernen ...«
»Das lernen Sie nie!« sprach der Herr mit dem Monokel. »Zu so was muß man geboren sein. Der Herr, von dem Sie sprechen, ist eben dazu geboren ...«
»Na ja, jeboren bin ick sicher nich dazu, sonst säß ick oller Mann nich als Hanswurst bei euch jungen Affen.« Beifälliges Gelächter. »Aber kapieren möcht ick et doch mal ...«
»Was wollen Sie denn eigentlich kapieren?«
»Na, wat det eigentlich is, 'ne Schiebung. Ick hör immer Schiebung. Aber ick versteh det nich. Wie macht man denn 'ne Schiebung? Ick zerbrech mir meinen Nischel, ick finde nischt zu schieben! Der junge Herr da, ick frage et mit aller Hochachtung, is det valleicht 'n Schieber?«
Und er wies mit dem Finger auf seinen Sohn Erich.
Jetzt waren alle (bis auf Erich Hackendahl) erheitert, auch die Mädchen grinsten. In Nepplokalen war es ein Ruhmestitel, ein Schieber zu sein. »Geld stinkt nicht«, dieser Satz war zur Zeit der erste und höchste Glaubensartikel vieler.
»Und ob der ein Schieber ist! Der ist sogar ein Großschieber!« sprach der Herr mit dem Monokel. »Der verschiebt Sie, und Sie merken das nicht mal!«
»Na also!« sprach Hackendahl. »Na, valleicht, mit de Zeit würde ick et doch erkennen, wenn ick verschoben worden bin. – Junger Mann«, nun wandte er sich direkt an den Sohn, »sei'n Se mal'n bißken nett zu'nem alten Mann. Erzählen Se mir mal, wie Se det machen, wie Se den Dowen det Jeld abknöppen ...«
»Ich ...«, fing Erich trotzig an. Und er griff zu seinem Glas. »Ich finde es langweilig hier. Wollen wir nicht sehen, daß wir irgendwo anders unterkommen?«
»Junger Mann! Jetzt kommen Se doch nich raus, hören Se nich, wie draußen de Polizei trillert? Det war doch peinlich, wenn Sie auf den Alex müßten. Mir machte det nischt, aber ick bin ooch bloß'n jewöhnlicher Droschkenkutscher ...«
»Hackendahl!« rief der Herr mit dem Monokel. »Tun wir dem alten Mann doch mal den Gefallen! Zeigen wir ihm mal, wie Geld gemacht wird! Ich habe sowieso was für Sie ...« Er griff in die Innentasche seines Smokings und brachte ein kleines, für einen so eleganten Herrn recht schmuddeliges Büchlein zum Vorschein. »Wo war es denn?« fragte er blätternd.
»Lassen Sie doch!« bat Erich Hackendahl ärgerlich. »Ich finde das alles so dumm ...«
»Bitte, bitte, sei doch nett, Süßer! Mach mal 'ne richtige Schiebung ...«
»Ein klein bißchen mehr Vorsicht vor den Ohren der Welt«, warnte leise und freundlich der Anwalt.
»Den Gefallen könnt ihr 'nem ollen Mann doch tun«, bat Hackendahl.
Und genauso hartnäckig wie der Alte sagte der Herr im Smoking: »Was ist denn dabei? Heute schieben doch alle! Der Mann auf der Toilette schiebt mit Koks, Mutter verschiebt die Tochter, die Tochter verschiebt im Warenhaus seidene Strümpfe – alle schieben sie! Und ich habe wirklich was für Sie, Hackendahl. Gebe vier Waggon Silesia, sechsunddreißig.«
»Ach, lassen Sie das doch jetzt, Bronte ...«
»Wat is denn Silesia ...?«
»Weiß ich nicht. Ich glaube, 'ne Kartoffel – man muß doch nicht wissen, was man verschiebt ... Also, Hackendahl!«
»Muß man det nich mal wissen? Großartig!« bewunderte der Alte bereitwillig.
»Lassen Sie mich!« rief Erich wütend. »Ich habe jetzt keine Lust!«
»Denn nicht!« sagte Bronte und wollte sein Notizbuch wegstecken. Doch ein kleiner, beweglicher Mann aus der Tischrunde rief: »Halt, Bronte! Bei Ihnen vier Silesia, sechsunddreißig? Bei mir zwei mit dreißig!«
»Bei Ihnen zwei Silesia mit dreißig, bei mir zwei mit sechsunddreißig!«
»Bei Ihnen zwei mit sechsunddreißig, bei mir zwei mit dreißig ein halb!«
»Bei Ihnen zwei mit dreißig ein halb – bei mir zwei mit fünfunddreißig ein halb!«
Über den Tisch fort, über Sektflaschen und Sektkelche weg warfen sie sich ihre mystischen Handelsformen zu. Alle starrten mit offenem Munde. Von den Nebentischen drehten sie sich um, mit lachenden Gesichtern – aber die Gesichter wurden ehrfürchtig ernst. Es war klar, es ging um Geschäft – und Geschäft war ein Gott ...!
»Ich möchte widerraten«, sagte der Anwalt, schwach lächelnd. Und zu Erich: »Sehr richtig von dir, mein Sohn ...«
»So macht man also Geld?« wunderte sich der alte Hackendahl.
»Bei Ihnen zwei Waggon zweiunddreißig ein viertel«, schrie der mit dem Monokel. »Bei mir zwei mit vierunddreißig ein halb ...«
Die Mädchen glotzten und lachten plötzlich albern auf.
Der alte Hackendahl war der einzige, der bei dieser Jobberei daran dachte, daß es hier nicht um mystisches Gequatsche, Schieben, Geldverdienen ging, sondern auch um Kartoffeln, die letzte Nahrungszuflucht der Armen. Kartoffeln, zu denen man zur Not bloß ein bißchen Salz brauchte, und die doch sättigten. Manchen Tag, ehe er Hausnarr beim groben Gustav wurde, hatte bei ihnen nur eine Schüssel Kartoffeln auf dem Tisch gestanden, und die Kartoffeln waren zu teuer gewesen ...
Hätte er nicht zufällig hier gesessen, würde Erich statt des kleinen Herrn das Geschäft gemacht haben, Erich, immerhin sein Sohn ... sein Liebling einmal ...
Die beiden grölten weiter, mit Spannung verfolgten die anderen den Kampf, bis auf ein halb (der Henker wußte, was für ein halb) hatten die Gegner sich genähert ...
Der Alte stand auf, er warf dem Sohn einen auffordernden Blick zu und ging langsam voraus zu den Toiletten ... Da stand er. Es war ein häßlicher, stinkender, verkommener Raum; das einzig Gute war das reine Wasser, das leise gluckernd durch die Becken lief. Aber es wurde auch gleich Jauche und Dreck, alles Saubere wurde in diesem Leben sofort zu Jauche und Dreck.
Er stand da, wartete, dann ging die Tür. Aber es war nicht der Sohn, es war ein anderer Gast.
Nein, Erich hatte sich nicht geändert, sein Haar war dünn, sein Gesicht war fett geworden – aber sonst hatte er sich nicht geändert. Immer hatte er versucht, sich vor dem Vater zu drücken. Schon als Kind, wenn er etwas ausgefressen hatte, war er heimlich ins Bett gegangen, hatte sich schlafend gestellt.
Das Wasser gluckerte und lief, der Vater wartete. Es war gut, daß er wußte, der Sohn konnte nicht fort. Der Ausgang war ihm versperrt, er konnte dem Vater nicht ausweichen ...
Schließlich ging der alte Hackendahl in das Lokal zurück. Er sah den Rücken des Sohnes, über fünf Tische fort, so hatte der Bengel schon die Schultern eingezogen, wenn er sich vor einer Ohrfeige fürchtete ...
Hackendahl tippte Erich auf die Schulter, er sagte: »Na, junger Mann, du wolltest mir doch wat erzählen?! Kommste nu oder sollen wir hier ...?«
Das Differenzgeschäft schien abgeschlossen, alles lachte, schwatzte und trank ... Keiner achtete auf die beiden. Fast keiner ...
Erich wandte dem Vater das Gesicht zu, auf zwanzig Zentimeter sahen sich die beiden in die Augen ...
Dann sagte Erich leise: »Es hat doch keinen Zweck mehr – Vater ...«
Der Vater sah ohne Blinzeln in das Auge des Sohnes. Er sah es, blau im ganzen mit bräunlichen und grünlichen Flecken, und er sah darüber, auf der Feuchte schwimmend, ein Stück des eigenen, alt gewordenen Gesichtes ... Das Auge des Sohnes schien so kalt, so leer ... Es war nichts darin, nicht Trauer, nicht Liebe, kein Bedauern. Gerade jetzt schwamm auf der Oberfläche das Bild des Vaters, aber der Sohn brauchte nur das Auge zu drehen, ein Sektglas anzuschauen, eine Hure – und des Vaters Bild war ausgelöscht, als sei es nie gewesen ...
Der Vater nahm sachte die Hand von des Sohnes Schulter. Rückwärts, immer den Blick im Auge des Sohnes (als solle sein Bild so lange noch wie möglich haften), ging er zur Tür.
Die Tür fiel zu, aufatmend griff der Sohn zum Glas, plötzlich mußte er lachen ... Nun war auch das vorbei. Nie mehr würde ihn der Alte belästigen ...
Erich lachte befreit auf und trank.
Der Vater Hackendahl war fortgegangen aus dem Kellerlokal des »Groben Gustav«. Er hatte nun schon so einiges erlebt mit seinen Kindern, aber dies noch nicht. Daß ein Sohn seinem Vater ins Gesicht sagte: »Es hat keinen Zweck mehr mit uns beiden!« – das hatte es noch nicht gegeben. Soweit waren sie nun also, sie verkrochen sich nicht nur feig vor dem Vater, was schon schlimm genug war, nein, sie sagten ihm ins Gesicht, daß sie ihn nicht mehr wollten!
Der eiserne Gustav konnte sich gut vorstellen, daß ein reich gewordener Sohn sich seines arm gewordenen Vaters schämte, das war jämmerlich, aber es war eine menschliche Jämmerlichkeit ... Erich aber hatte sich seines Vaters nicht bloß geschämt, nein, es war etwas viel Schlimmeres gewesen, der Vater ging ihn weniger an als das Frauenzimmer, bei dem er saß, als der Kellner, der ihm die leeren Sektflaschen unter den Tisch mogelte. Mit denen konnte er reden, mit dem Vater hatte er nicht mehr ein Sterbenswörtchen im ganzen Leben zu reden!
Das war unmenschlich! Das war Vatermord! So ein Stück hatten sie eine lange Zeit im Theater gespielt, der Vater erinnerte sich wohl, es an den Säulen gelesen zu haben, wenn er mit seiner Droschke am Halteplatz hielt. Und zu so einem Stück, zu einem so gemeinen Stück hatten sie die Erde gemacht – man mußte lachen vor lauter Jammer!
Der alte Gustav Hackendahl hat seinem Rappen Blücher die Pferdedecke abgenommen und hat gar nicht gemerkt in seinen Gedanken, daß der Rappe sich sehr erstaunt nach ihm umgesehen hat. Denn das ist der Rappe nicht gewöhnt, daß der Herr um diese Stunde allein auf den Bock steigt – wo bleiben die Gäste, mit denen man Krebs zu gehen hat? Aber der Kutscher steigt allein auf den Bock, er schnalzt mit der Zunge, und der Rappe zieht an ...
Die Straßen sind noch immer voll von Menschen, wenn es sich auch schon ein wenig gelichtet hat. Unermüdlich mahnen die Polizeipatrouillen die Leute weiterzugehen. Aber diese Leute sind eben Berliner, sie bleiben vor dem Schild eines jeden Nachtlokals stehen und starren. Die Schilder sind dunkel, die Nachtlokale sind geschlossen, nicht das geringste gibt es zu starren. Aber die Berliner hoffen und harren, daß irgendwas passiert.
Und nun passiert wirklich etwas. Als Gustav Hackendahl mit seiner Droschke die Friedrichstraße überqueren will und im Gedränge der Bummler eine Lücke sieht, in die er sich gut schieben kann, da sagt er in seinen tiefen Gedanken zum Rappen: »Hüa!«
Und der Rappe Blücher, der seine Lektion gelernt hat und dem seine Lektion Spaß macht, geht vorne ein wenig, aber mit Maßen hoch, um das Gewicht der nachdrückenden Droschke zu halten, und fängt nun an, rückwärts zu drücken, rückwärts zu schieben, Krebs zu gehen ...
Die Näherstehenden schreien auf und flüchten. Die Ferneren lachen und drängen hinzu. Die Autos tuten wütend. Der Kutscher hoch oben schwingt die Peitsche, klatscht mit der Leine auf die Hinterhand seines Gaules und schreit: »Los – los, vorwärts! Wat is dir? Los, sag ick!«
Aber der Rappe denkt nicht an »Los« und »Vorwärts«, er will sein Stückchen spielen, und gegen ein widerborstiges, rückwärts gehendes Pferd hat der Kutscher oben auf seiner Droschke einen schweren Stand. Er kann die Bremse anziehen, er kann mit der Peitsche hauen, aber wenn der Gaul rückwärts gehen will, kann er ihn nicht daran hindern.
Nun kommen auch noch die hilfsbereiten Berliner dazu. Sie wollen den Gaul beim Kopfe nehmen, und der Gaul, der dies wohl versteht, steigt vorne hoch, drückt mit aller Gewalt nach hinten – und bums! legt er sich nieder, mitten auf der Kreuzung Friedrichstraße und Leipziger Straße, im tollsten Verkehr, der sich in einer einzigen Minute unlösbar, scheint es, verknäult hat ...
»Du Aas!« spricht Hackendahl zu seinem ruhenden Roß. »Na warte, wenn ick dir erst unter vier Oojen habe!«
Aber dazu kommt es noch nicht. Ein paar zornige Polizisten bahnen sich den Weg durch die Menge, und einer, ein ganz junger, hat schon das dicke Notizbuch aus der Tasche gezogen und schreitet zur Amtshandlung, indem er wütend sagt: »Nun ist es aber zappenduster mit Ihnen! Wir haben schon lange ein Auge auf Sie gehabt, aber bisher haben wir es immer zugedrückt, weil wir gedacht haben, in diesen lausigen Zeiten soll jeder sehen, wie er seine paar Groschen verdient. Wir müssen ja auch nicht alles sehen bei einem alten Mann ...«
»Du Aas!« sagt der alte Hackendahl und knufft seinem Gaul in die Rippen. Denn der macht trotz Polizei und schaulüsterner Menge noch immer keine Anstalten aufzustehen. »Ick schinde dir die Haut lebendig von de Rippen ...«
»Aber daß Sie das nun hier im tollsten Verkehr mitten auf der Friedrichstraße anrichten – wer soll denn das wieder auseinanderkriegen?! Los, machen Sie, daß Sie Ihren Schinder wieder auf die Beine stellen – so'n oller Mann, ollster Droschkenkutscher von Berlin, und macht so'n Kokelores!«
Es ist doch was Gutes um ein bißchen Popularität. Der Wachtmeister war blutjung, sicher noch nicht lange im Dienst, recht unbenutzt und recht scharf ... Als er da herangestürzt war, kochend vor Wut über den Idioten, der ihnen ausgerechnet an diesem Abend solchen Bockmist anrichtete, da war er entschlossen gewesen, den Mann zur Wache zu schleppen, anzuzeigen wegen groben Unfugs, Transportgefährdung, weiß der Henker ...!
Aber je mehr er auf den alten Mann mit dem gelbgrauen Vollbart im abgeschabten Kutschermantel einschimpfte, der sich ohne allen Widerspruch um seinen Gaul mühte, um so mehr verlor sein Zorn an Hitze, um so klagender wurde seine Stimme ... Natürlich hatte er von dem alten Mann schon gehört, auf der Revierstube hatte er von ihm gehört und auch noch auf einer anderen Stelle. »Das ist der eiserne Gustav«, hatten die älteren Kollegen gezeigt und erzählt, wie der Mann vor dem Kriege über hundert Droschken habe laufen lassen, ein schwerreicher Mann, und wie er jetzt auf seiner letzten Droschke sitze, ein bettelarmer Mann. Etwas fast Ehrwürdiges, eine Reliquie, aus der Zeit vor dem Kriege herübergerettet, etwas zum Nachdenken über den Unbestand menschlicher Dinge ...
Und das Erbarmen, das sein Sohn nicht für ihn hatte, das hatte der kleine, scharfe Schutzmann, der ein richtiger Berliner aus Pankow war ... Denn die richtigen Berliner sind nur äußerlich schnoddrig und kaltschnäuzig – innen sind sie ganz anders. Der junge Polizist schimpfte noch immer und steckte dabei doch schon sein Notizbuch in die Tasche und half den Wagen schieben. Und als sie fünf Schritt weit geschoben hatten, da besann sich der auferstandene Blücher und ließ nicht nur schieben, sondern fing an zu ziehen, und die Berliner schrien hurra ...
»Hören Sie mal«, sagte der Polizist, als der Wagen in der Seitenstraße ordentlich ausgerichtet an der Bordschwelle hielt. »Hören Sie mal, das machen Sie aber nicht noch mal!«
»Den Zossen muß doch einer reineweg mit der Muffe jebufft haben«, sagte Gustav Hackendahl verdrießlich.
»Ach was! Das haben Sie dem Schinder beigebracht, das wissen wir doch alle. Aber nun ist Schluß damit, verstehen Sie? – Sie sind doch der eiserne Gustav?«
»Det bin ick, junger Mann. Aber so eisern is mir heute nacht jrade nich zumute.«
»Na, lassen Se man«, meinte der Polizist fast herzlich. »Es hat ja noch einmal gut gegangen. Von Ihnen habe ich schon viel gehört ...«
»Ja, wat de Leute sich so allens zusammenquasseln ...«
»Nicht bloß die Leute, von Ihren Enkeln habe ich das gehört. Ich wohne doch in demselben Haus, nur daß die zweiter Hof sind und ich erster. Ich sehe aber grade von meiner Küche in ihre Schlafstube ...«
»Nee, so wat!« sagte der alte Hackendahl und fing sachte an, sich zu wundern.
»Ja«, sagte der junge Schutzmann, »und andere Jungens, die wollen bloß immer Auto und Chauffeur spielen, aber Ihre Enkel – ausgeschlossen! Immer Pferdedroschke, immer Kutscher und Pferd, mal der Große vorne und mal der Kleine hinten ...«
»Es is nich die Möglichkeit!« sprach der alte Hackendahl.
»Na ja. Ich wollte Ihnen das bloß rasch erzählen, weil ich weiß, Sie verkehren mit die Leute nicht, aber es freut Sie vielleicht doch! Wo Ihnen das grade mit dem Zossen passiert ist. – Aber daß mir das nicht wieder vorkommt!«
Die letzten Worte waren wieder ganz dienstlich gesprochen, und nun ging der junge Polizist. Gustav Hackendahl aber zockelte mit dem Blücher sachte heimwärts, und wie sie in eine dunkle Seitenallee des Tiergartens kamen, da stieg er vom Bock, nahm die Zügel fest in die eine und die Peitsche schlagbereit in die andere Hand und rief »Hüa!«
Und als der Rappe nach gelernter Lektion nun rückwärts gehen wollte, gab er ihm Saures, noch und noch ... Denn das mußte der Rappe nun lernen: Mit dem Rückwärtsgehen war es vorbei, jetzt wurde nur noch vorwärts gegangen. Endgültig vorbei war es mit den Juxfuhren, die ja eigentlich auch bloß Nepp gewesen waren; es war aber auch vorbei mit dem großen, runden Holztisch im Keller – es hätte ihn gegraust, wieder als Spaßmacher an dem Tisch zu sitzen, an dem sein Sohn ihn verleugnet hatte.
Der Alte hatte seine Lektion gelernt, und der Rappe lernte auch rasch seine Lektion; man glaubt gar nicht, wie sehr manchmal ein paar Hiebe helfen können ...
Dann zuckelten die beiden gemeinsam nach Haus. Und wenn der eiserne Gustav nicht so müde und ausgepumpt gewesen wäre, hätte er sich doch ein bißchen gewundert, daß er kaum noch Zorn und Schmerz über den verlorenen Sohn empfand. Sondern nur manchmal ganz behaglich dachte: Spielen Pferdedroschke, i du Donner! Wollen nischt wissen von Autos. – Ob se wohl 'ne Peitsche haben – der Polype hat nischt jesagt von Peitsche ... Es sollte mir doch wundern!
Erich mußte noch viel trinken, ehe er sich wirklich frei fühlte. Der alte, bärtige Mann, der wie aus dem Grabe auferstanden an seinem Tisch gesessen hatte – er war ja immer noch in Erichs Leben gewesen, er wußte erst jetzt, wie sehr. Er hatte ihn nicht besucht, er war ihm aus dem Wege gegangen – aber er war doch dagewesen; in seiner Dahlemer Villa, im Büro der Innenstadt zwischen seinen Angestellten hatte der Erwachsene, der rasche, gewissenlose Geschäftemacher die Hand des alten Droschkenkutschers gefürchtet, wie ein kleines Kind hatte der große Sohn den Vater gefürchtet.
Erich lachte erleichtert auf, wieder trank er.
Sein väterlicher Freund, der Anwalt, fragte über den lärmenden Tisch fort: »Nun, Erich, was ist dir ...?«
»Nichts!« lachte Erich und trank wieder. »Ich bin nur vergnügt.«
Der Dunkle nickte. »Und was war mit dem Kutscher?«
Erich beugte sich über den Tisch, mit dem Kopf deutete er auf den leer gewordenen Stuhl und flüsterte: »Das war mein Vater ...«
Der Anwalt zog mit einer Geste höflichen Erstaunens die dunklen, buschigen Augenbrauen hoch. »Interessant«, sagte er mit einem dünnen Lächeln. »Und ...?«
»Habe ihn geschlagen!« stieß Erich hervor. »Sonst werden die Kinder von ihren Eltern geschlagen, diesmal habe ich ...« Er hielt inne. Er schwächte es ab: »Bildlich natürlich.«
»Ich verstehe«, sagte der Freund und nickte langsam. »Ich verstehe dich vollkommen, Erich. Aber dir ist nichts Außergewöhnliches geglückt. Es gibt ein altes Sprichwort, daß die Kinder, solange sie klein sind, auf den Schoß ihrer Mütter treten, groß geworden aber auf ihr Herz ... Und Väter sind ja etwas Ähnliches wie Mütter, nicht wahr?«
Wieder nickte er. Durch den Nebel von Zigarettenrauch, der draußen vor den Augen war, und durch den Nebel von Alkohol, der drinnen hinter den Augen war, schien das nickende, lächelnde Gesicht des Freundes groß und schrecklich auf Erich zuzukommen ...
Aber dann geschah gar nichts Schreckliches, sondern der Anwalt sagte nur: »Wenn du also wider Erwarten Gewissensbisse haben solltest, Erich, du hast nur getan, was von hundert Kindern hundert tun ... Dein Wohl!«
Er hob grüßend den Sektkelch. Erich grüßte zurück, und beide tranken. Dann schien die Nacht sich aufzulösen in einen Wirbel von Rausch, Mädchen, schallenden Gelächtern ... Noch nie, schien es Erich, war er so glücklich und trunken mitgewirbelt im Taumel aller ...
Sie jubelten, sie lachten, sie kamen in Gang – oh, wie kamen sie in Gang, in dieser Nacht der Ruhrbesetzung! Sie hakten sich ineinander ein, es gab keine Musik in diesem Dreckskeller, aber sie machten sich selber ihre Musik. Schaukelnd, schunkelnd, saßen sie um den Tisch, und schallend sangen sie all die schönen, witzigen, frech-freien Lieder ihrer schönen Zeit: »Wir versaufen unser Oma ihr klein Häuschen ...« – »Wer hat denn den Käse zum Bahnhof gerollt ...« – »Wenn du nicht kannst, laß mich mal ...« – »Ausgerechnet Bananen!«
»Was will der dicke Wirt, der Rotwestige, der Grobian, der eiserne Gustav?! Für uns ist keiner eisern, wir zerdrücken euch mit der bloßen Faust! – Wir sollen nicht so laut sein, sonst hört uns noch die Polizei ...? Soll sie uns doch hören, wir sind über aller Polizei, väterlicher und staatlicher, wir sind gewesene, gegenwärtige, zukünftige Reichstagsabgeordnete des deutschen Volkes, einig in seinen Stämmen!«
»Ich soll den Mund halten, Herr Doktor? Natürlich halte ich den Mund! Ich mach Ihnen doch keine Schwierigkeiten. Natürlich sind wir keine Reichstagsabgeordneten! Sehe ich aus wie ein Abgeordneter? Noch habe ich keinen Bauch – oder fast keinen! Ich bin ein Schieber ...«
Und trunken stimmte Erich an: »Ich bin ein Schieber, kennt ihr meine Farben? Die Fahne weht mir schwarzrotgold voran! – Wenn mir die Waren alle auch verdarben – fünfzig Prozent verdien ich immer dran!«
Sie haben ihn heruntergezogen von seinem Stuhl, der Kellner steht mit Mokka da, der Mann mit dem Monokel hält die Hand über Erichs Mund ... »Seien Sie jetzt vernünftig, Hackendahl! Was ist denn bloß los mit Ihnen? So viel haben Sie doch gar nicht getrunken!«
Ja, was war los mit ihm? Es war nicht der Alkoholrausch, es war ein Siegesrausch. Er hatte sich selbst, seinem Vater, aller Welt bewiesen, daß man schlecht sein mußte, um zu siegen. Alles, was sie ihm früher erzählt hatten von Güte und Liebe, war erlogen. Schlecht mußte man sein in dieser Welt – und nur diese Welt gab es! Die Schlechten kamen voran, die Guten gingen zugrunde. Also war das Schlechte das eigentlich Gute, und nur die Bonzen und die dicken Geldsäcke hatten für das dumme Volk den Satz erfunden, daß man gut sein müsse: auf daß es ihnen lange schlecht gehe auf Erden!
Triumphierend sah er den väterlichen Freund an. Er stieß die Hand vom Munde weg und rief: »Schlecht muß man sein – das ist das Geheimnis!«
»Nur schlecht reicht auch nicht«, lächelte der andere. »Die Zuchthäuser sind voll von Leuten, die an diesen Satz geglaubt haben. Man muß auch klug sein, Erich!« Ohne sich umzusehen, deutete er mit dem Kopf nach der Hintertür. »Da – die Zauberwirkungen deines wirklich ziemlich geschmacklosen Sanges!«
Langsam drehte Erich den Kopf. Er sah nach der Tür – nach der Tür, durch die der Vater fortgegangen war. Jetzt stand dort Polizei. Bleich, untertänig verbeugte sich der gar nicht mehr grobe Gustav vor denen.
Was hat die Polizei hier zu tun? fing es langsam in Erich zu denken an. Die Polizei kann mir gar nichts wollen ... Mir wird die Polizei nie was wollen können, ich bin ihnen zu schlau. Schlecht und schlau, ganz wie er gesagt hat ...
»Trink mal den Mokka«, sagte der Anwalt, und Erich trank ihn. Die anderen Tischgenossen standen abseits. Sie sahen einmal nach der Polizei hin, einmal nach Erich und seinem Freunde ...
»Mit seinem verdammten Gegröle hat er uns das angerichtet«, hörte er Bronte sagen.
»Wenn man es überlegt«, meinte ein anderer, »grade als Abgeordneter, am Trauertag ...«
»Natürlich – wir sind schließlich nur Privatleute ...«
»Die Freunde in der Not ...«, lächelte der Abgeordnete. »Immerhin wäre es mir wirklich peinlich, diesen uniformierten Herren meinen Ausweis zeigen zu müssen. Trotz all unserer Bemühungen ist die Polizei noch immer von Reaktion durchsetzt ... Ich könnte mich morgen im ›Lokal-Anzeiger‹ wiederfinden ...«
»Ich könnte mich ohrfeigen!« rief Erich. »Ich bin ja so dämlich gewesen, ich verstehe mich selbst nicht mehr ...«
Es sind nur drei Mann, überlegte der Abgeordnete und musterte die Lage. Einer hat die Tür zum Ausgang zu bewachen, einer die Toiletten ... Nur einer sieht die Papiere der Gäste durch und schreibt auf. Es geht langsam, wir kommen zuletzt dran, wir haben Zeit ...
Erich überlegte, was er alles geredet, er wußte es nicht mehr. Hatte er vor dem ganzen Lokal ein Differenzgeschäft mit Bronte abgeschlossen?
Habe ich ...? wollte er den Anwalt fragen.
Aber der achtete nicht auf ihn. »Man könnte es versuchen«, murmelte er. Dann: »Höre einmal, Erich, mein kluger Sohn. Kannst du dich vielleicht erinnern, ob in deinem Mantel oder Hut irgend etwas ist, Briefe, Schneidermarke, was eindeutig auf dich hinweist?«
»Nein, ich glaube nicht«, sagte Erich nachdenklich.
»In diesem Falle könnten wir nämlich versuchen, unter Preisgabe von Mantel und Hut auszureißen, zu türmen, sagt meine Kundschaft.«
»Es ist nichts im Mantel oder Hut, nur die Schneidermarke. Und meinem Schneider kann ich morgen früh einen Wink geben ...«
»Also gut, versuchen wir es. Beobachte jetzt das Lokal. Sage mir vor allem, was die Polizei tut ...«
»Bronte redet grade auf den beim Eingang ein, der an der Toilette hält einen Betrunkenen fest ...«
»Schön – schön«, sagte die gleichmütige, freundliche, sanfte Stimme. Leise knackte ein Schlüssel im Schloß. »Unser Tisch steht ja direkt an der Tür zur Straße«, erklärte der Anwalt. »Der Wirt hat den Schlüssel um zehn einfach im Schloß umgedreht. Eben habe ich wieder aufgeschlossen. Bitte schildere mir die Lage im Lokal. Unterhalte dich mit mir ...«
»Es wird eine Rolljalousie vor der Tür sein«, meinte Erich. »Das Lokal ist mit sich beschäftigt, sie achten nicht auf uns.«
»Das ist die eine Chance gegen uns«, gab der Anwalt zu und arbeitete, scheinbar behaglich auf seinem Holzstuhl sitzend, hinter Erichs Rücken an der Tür. Ein kalter Luftzug strich gegen Erichs Fuß.
»Die zweite Chance gegen uns ist, daß ein Posten vor der Tür steht. Die dritte Chance gegen uns ist, daß wir auf der Straße sofort festgenommen werden, weil wir in der Kälte ohne Mantel und Hut sind. Die vierte Chance gegen uns ist, daß wir fortkommen und Bronte oder ein andrer verrät uns. Aber nein, diese Chance ist klein, sie werden nur eine Geldstrafe bekommen, und mit einem Abgeordneten verdirbt es niemand gern.«
»Die erste Chance«, sagte Erich eifrig, »ist weggefallen. Es ist keine Jalousie vor der Tür. Und die zweite ist klein geworden. Ein Posten hätte schon den Lichtschein durch den Türspalt sehen müssen ...«
»Er kann mit dem Gesicht zur Straße stehen! Nun, jedenfalls versuchen wir unser Glück. Denke daran, es geht eine Kellertreppe hinauf, sechs, sieben Stufen. Und wenn wir getrennt werden sollten, Erich – nimm nicht Rücksicht auf mich und mein faules Fett. Jeder für sich allein und Gott für uns alle!«
Sie saßen still und beobachteten das Lokal, den günstigsten Zeitpunkt abzuwarten. Einmal griff Erich nach dem Sektglas, aber der Freund legte ruhig die Hand über die seine und sagte: »Jetzt besser nicht.«
Dann, ein wenig später: »Ich glaube, wir gehen jetzt, Erich. Geh du voran.«
Ohne Eile öffnete er die Tür. Erich sprang in das Dunkel, die Kellerstufen hinauf. Die Straße war voller Menschen, einige Gesichter wandten sich ihm zu aber er sah keine Uniform.
Langsam kam der Anwalt die Treppe hinauf. Er hängte sich bei Erich ein. »Sie können uns nicht sofort nach, ich habe die Tür von außen abgeschlossen. So, und nun wollen wir sehen, daß wir rasch eine Taxe kriegen. Unser sommerliches Kostüm erregt Aufsehen.«
Als sie im Auto saßen, brachen beide in ein schallendes Gelächter aus. Beide hatten das Gefühl von Schülern, die ihren Lehrer überaus listig hereingelegt haben.
»Nein, nein!« rief der Abgeordnete schließlich. »Wenn wir erst wieder am Ruder sind, muß ich doch mit dem Genossen Severing ein ernstes Wort über die Maßnahmen seiner Polizei reden. Den Posten auf der Straße zu vergessen! – Jetzt verstehe ich auch, warum unsere feindlichen Brüder, die Kommunisten, immer so auf die Polizei schimpfen!«
Erich lachte aus einem anderen Grunde. »Und zu denken, daß ich nicht einmal den Sekt bezahlt habe! Die haben doch in der Aufregung ganz vergessen zu kassieren! Zwanzig Flaschen Sekt oder dreißig, weiß es der Geier! Und dann der Mokka!«
Er konnte gar nicht zur Ruhe kommen, so sehr freute ihn die ungewollte Zechprellerei ...
»Bei Mokka fällt mir ein ...«, sagte der Abgeordnete. »Ich denke, wir gehen jetzt zu mir und trinken in aller Gemütlichkeit einen und plaudern. Ich habe sowieso noch etwas mit dir zu besprechen ...«
»Daraus kann nichts werden, Herr Doktor! Jetzt ist mir weder nach Mokka noch nach Besprechungen zumute! Ich will ausgehen, nun grade! Verbieten lasse ich mir nichts ...«
»Ich möchte aber wirklich nicht noch einmal ...«, begann der Anwalt.
»Ach, machen Sie doch keine Geschichten, Sie sollen sehen, wie fidel wir noch werden!« unterbrach ihn Erich. Und wieder begann er zu lachen. Nach der glücklich bestandenen doppelten Gefahr erfüllte ihn eine lärmende, rechthaberische Lustigkeit. Es war klar, daß er ein Sohn des Glücks war – in allen Lagen blieb es ihm treu.
Der Anwalt hatte unterdes mit dem Chauffeur beraten und sagte nun: »Wenn du also durchaus willst, Erich ...«
»Natürlich will ich!« rief Erich. »Heute nacht gehe ich überhaupt nicht schlafen! Nun grade nicht!«
»Also schön!« entschied der Anwalt. »Der Fahrer meint, im alten Westen haben noch eine ganze Menge Lokale auf. Die Wirte stehen sich dort besonders gut mit der Polizei, du verstehst.« Und er machte die Bewegung des Geldzählens. Er seufzte erheitert und resigniert: »Zustände haben wir bei uns, mein Junge, Zustände ...!«
»Im Grunde«, sagte Erich lachend, »gefallen Ihnen diese Zustände nicht schlecht, Herr Doktor! In Wirklichkeit schaudern Sie vor Entbehrungen und finden das Leben so, wie Sie es führen, ganz nett!«
»Es ist etwas Wahres daran«, gab der Abgeordnete behaglich seufzend zu. »Nun, gehen wir jetzt rauf zu mir, Erich. Wir wollen sehen, ob wir etwas Passendes für dich finden ...«
Gemeinsam gingen sie in die Wohnung des Anwalts, und hier wurden unter vielem, eigentlich recht unbegründetem Lachen Mäntel und Hüte für Erich probiert.
Aber es wurden nicht nur Mäntel probiert, sondern auch Schnäpschen. Und diese Schnäpse hatten es wohl gemacht, daß Erich etwas ungewöhnlich gekleidet mit dem Anwalt wieder die Treppe hinunterstieg: Er trug einen zwar kurzen, aber viel zu weiten Sportpelz des Freundes. Dazu einen steifen schwarzen Hut, den er, da auch viel zu weit, tief in den Nacken gesetzt hatte.
Dann fuhren sie durch die nächtlichen Straßen aus der hellen Innenstadt in dunklere Viertel. Es war jetzt schon nach zwölf, die Straßen hatten sich geleert, die Lokale lagen dunkel. Nur manchmal drangen ein paar Töne zu ihnen, die Takte eines Jazz – hinter verschlossenen Läden tanzte und trank Berlin sich dem Abgrund, dem Katzenjammer näher ...
»Hoffentlich weiß der Chauffeur ein nettes Lokal«, sagte Erich halblaut.
»Wenn er nicht weiß, weiß ich ...«, antwortete der Anwalt. – Und wieder schwiegen sie, rauchten und konnten es eigentlich beide kaum erwarten, daß neue Mädchengesichter ihnen entgegensahen, neuer Alkohol für sie in Gläser geschüttet wurde.
Das Auto hielt vor einem Lokal, dessen Wirt sich mit der Polizei sehr gut stehen mußte, denn alle Fenster waren hell erleuchtet. Die Musik klang über die Straße, und die Tür, auf deren Klinke Erich die Hand legte, war nicht verschlossen.
»Hier ist's richtig!« rief Erich erfreut.
Die Melone im Nacken, den Gehpelz weit geöffnet, hielt er seinen Einzug. Sachte, den Kopf etwas in den Schultern (denn wer konnte wissen, wen alles man in solch einem Lokal traf?!), folgte ihm auf leisen Füßen der Abgeordnete.
Das Lokal war ziemlich voll, sehr verraucht und ganz alkoholisiert. Alles war überstreut mit Konfetti, bunte Papierschlangen hingen überall, sie krochen über den Teppich und raschelten leise, wenn der Fuß auf sie trat.
»Nett, was?« fragte Erich, der stehengeblieben war, den Anwalt.
Auf dem schmalen Gang zwischen den Tischen tanzte ein Mädchen. Es war schön frisiert, sehr schön gemalt – und völlig nackt. Sie tanzte zu den Tönen der Geige, die der Primgeiger schmalzig strich, irgendein verlangendes Gebiege und Gewoge, mit fest geschlossenen Augen – und ein hinsterbendes Lächeln lag auf ihrem Gesicht.
»Hübscher Körper, was?« fragte Erich. »Noch blutjung ...«
Er legte seine Hand auf die Schulter des Anwalts und stützte sich auf ihn, er starrte, wie die anderen starrten. Starrte auf das hundertfach Gesehene, das an jeder Ecke Käufliche, das in Ekel, in Überdruß, in Hoffnungslosigkeit gleichgültig Weggeworfene, und dachte dabei: Herrgott, vor vier Jahren, als ich die kleine Dingsda bei mir in Dahlem nackt tanzen ließ, habe ich noch alle Dienstboten aus dem Hause geschickt, weil ich wunder dachte, was das war! Und heute geschieht es schon in einem öffentlichen Lokal, und es scheint allen ganz selbstverständlich. Wir haben es weit gebracht; aber das ist nicht meine Sache, ich bin kein Abgeordneter ...
Und er warf einen Blick auf den Anwalt.
Aber der Anwalt achtete jetzt nicht auf ihn. Er verhandelte mit der Blumenfrau, er kaufte ihr für einen unerhörten Betrag den ganzen Korb voller Rivieraveilchen ab und fing an, nach dem nackten tanzenden Mädchen mit den Sträußen zu werfen. Das Mädchen lächelte geschmeichelt und doch ängstlich, denn der Anwalt war kein geschickter Werfer, und der bei einer Mischung von Mädchenhändler und Impresario mühsam eingepaukte Tanz geriet in Verwirrung, wenn sie im Gesicht getroffen wurde ...
»Lassen Sie mich auch!« sagte Erich und griff in den Korb. »Ich treffe besser!«
»Das sind meine Veilchen!« rief der Anwalt, ungewohnt ärgerlich. »Laß die Pfoten davon!«
Das mit aller Überredung Erichs und einem hohen Geldgeschenk an den Tisch der beiden Herren geholte, so reizvoll jugendliche Mädchen – jetzt im Privatleben in einen Kimono gehüllt, nur im Dienst erlaubte ihr der strenge Wirt Nacktheit –, diese Schöne also erwies sich als ein Reinfall. Zu offen zeigte sie ihr mangelndes Interesse an der Person ihrer beiden Kavaliere, ihre Geldgier.
»Wat bildet ihr Affen euch in, warum ich so nackich vor euch tanze? Euertwegen? Det ick nich lächere! Aber ick habe fünf kleene Jeschwister zu Haus.«
»Und deine Mutter liegt auf dem Krankenbett und dein armer, aber unehrlicher Vater ist auf dem Felde der Ehre gefallen ...«, spottete Erich wütend. »Das kennen wir alles! Kannst du uns nicht mal etwas anderes erzählen, meine Süße ...?«
»Und is doch wahr! Ihr denkt, det kann nich wahr sind, weil euch die Nutten schon damit anjesohlt haben. Und is doch wahr ...«
»Und den Leutnant, der dich verführt hat und der dich hat heiraten wollen, der aber zu schnell gefallen ist, den darfst du auch nicht vergessen ...«
»Laß doch sein, Erich«, sagte der Anwalt geärgert. »Sei bloß nicht so streitsüchtig. Du trinkst schon wieder zu hastig.«
Das Mädchen sah mit raschen, bösen Augen vom einen zum anderen.
»Ich lasse mich nicht gerne ansohlen und neppen!« rief Erich. »Und wenn ich bloß so was höre von fünf hungernden Geschwistern ...«
»Aber es gibt hungernde Kinder«, sagte der Anwalt begütigend. »Sogar ziemlich viele. Ich weiß das, ich habe neulich eine Statistik darüber lesen müssen ...«
»Dickerchen«, sagte das Mädchen zum Anwalt und schmiegte sich an ihn. »Sei einmal ehrlich, tanze ich sehr schlecht?«
»Warum willst du das denn wissen?«
»Ich möchte es eben wissen. Die Herren sagen mir alle nich die Wahrheit, weil ich nackich bin. Und der Krukow, das is der, der mir den Tanz gelernt hat ...«
»Gelehrt, gelehrt, meine Süße!«
»Das sage ich ja – so doof! Der sagt, ick tanze wie'ne besoffene Kuh ...«
»Na also, Kindchen«, entschloß sich der Anwalt. »Wenn du es wirklich wissen willst: Du hast einen hübschen Körper und bist jung und nackt. Wenn du ein Kleid anhättest, würde kein Mann den Kopf nach deiner Tanzerei drehen.«
»Na also!« rief das Mädchen sehr zufrieden. »Det hab ick mir doch immer jedacht! Hier sind welche, die quasseln mir dusslich, ick soll Tänzerin werden, und ick soll mir ausbilden lassen, auf ihre Kosten, als ihre Freundin, versteht sich. Aber ick habe schon immer jedacht: So doof, die wollen dir nur in Detwat ausbilden – und sonst Neese! Nee, denn lieber noch das nackige Gehopse, und sobald det wieder funkt mit anständijem Jeld, rin in irgendeen Jeschäft! Ick bin früher beim Schlachter jewesen, un denn 'nen anständijen Mann jeheiratet, nich immer so'ne Lebejreise wie hier!«
»Verdammt noch mal!« fing Erich an, kam aber gottlob nicht mehr dazu, auseinanderzusetzen, was er über eine solche Gegenleistung für sein gutes Geld dachte.
Denn das Lokal verlangte stürmisch nach seinem nackten Mädchen. Die Herren, die schon müde wurden vom vielen Alkohol, wollten wieder ein bißchen Pfeffer für ihre Stimmung. Und die Damen widersprachen nicht, denn angeregte Herren sind zahlungswilliger als schläfrige. Es ging auch alles ganz schnell. Die Tänzerin hatte keine weiteren Schwierigkeiten mit ihrem Kostüm, der Primgeiger hatte Schmalz genug in seiner Geige und:
»Es ist doch komisch«, sagte Erich halb widerwillig. »Ich weiß doch nun, was das für eine langweilige Gans ist ... Aber sobald sie da im vollen Licht vor aller Augen nackt herumhopst, und alle starren sie so hingerissen an, finde ich sie doch wieder ganz nett ...«
»Eine alte Sache«, meinte der Anwalt gähnend. »Was die anderen hübsch finden, finden wir auch hübsch. Und was die anderen haben wollen, möchten wir durchaus für uns. – Übrigens, Erich, was ich dich schon den ganzen Abend fragen wollte: Ist dir der Name Eugen Bast ein Begriff ...?«
»Nee, ich glaube nicht«, sagte Erich zögernd. »Aber ich habe freilich mit so viel Leuten geschäftlich zu tun ...« Und mit leiser Besorgnis: »Ist das jemand, der reingerasselt ist, und ich habe mit ihm zu tun?«
»Reingerasselt ist er!« bestätigte der Anwalt. »Und er möchte gerne, daß ich seine Verteidigung übernehme. Und mit dir zu tun hat er auch ...«
»Na, nun sagen Sie doch schon!« rief Erich gereizt. »Was soll denn diese Geheimnistuerei?! Eugen Bast – keine Ahnung! Oder war das der mit der Seide aus Italien? Nein, der hieß Becker. – Übrigens rechne ich bestimmt darauf, daß Sie meine Verteidigung übernehmen, wenn wirklich mal was nicht klappt.«
»Erich! Erich!« sagte der Anwalt seufzend. »Und du hast mir immer geschworen, alle deine Geschäfte seien in Ordnung. Als ich dich 1914 kennenlernte, habe ich wirklich geglaubt, es würde etwas anderes aus dir werden als ein Schieber!«
»Jawohl«, rief Erich wütend. »Sie haben geglaubt, ich würde Ihrer dusseligen Sozialdemokratie auf den Leim kriechen! So dumm! Sie sind ja selber heute soviel Sozialdemokrat – wie ... wie ...«
»Sagen wir wie Wilhelm der Zweite«, ergänzte der Anwalt. »Der hatte auch immer eine hoffnungslose und unerwiderte Liebe für die Sozialdemokraten. – Nun, reden wir nicht davon. Wir sind leider beide ein wenig anders geworden, als wir gedacht haben. Solange man in der Opposition ist, scheint alles leicht, aber wenn man erst ...«
»Ich will endlich wissen, wer Eugen Bast ist!«
»Eugen Bast«, sagte der Anwalt bereitwillig, »ist ein drei- oder viermal mit Gefängnis und Zuchthaus vorbestrafter junger Mann, der sich zur Zeit unter der Beschuldigung des Bandendiebstahls, des Einbruchdiebstahls, der Erpressung, der Zuhälterei und einiger Kleinigkeiten mehr im Untersuchungsgefängnis Moabit aufhält.«
»Ausgeschlossen!« sagte Erich erleichtert. »Mit dem Mann habe ich bestimmt nichts zu tun. Auf so dumme Weise verdiene ich mein Geld nicht.«
»Außerdem ist Eugen Bast blind – was mir eigentlich der einzige Milderungsgrund für seine Richter scheint, denn sonst ist er ein völliger Schuft.«
»Blind! Nein, Herr Doktor, wenn der Mann Ihnen was von mir erzählt hat, ich habe ihn bestimmt nie gesehen ...«
»Er ist blind geschossen worden, Erich, und zwar von deiner Schwester.«
»Eva! Ich habe immer gewußt, die wird uns allen noch Schwierigkeiten machen!«
»Eva, richtig, Eva Hackendahl«, sagte der Anwalt. »Sie ist die Freundin dieses Eugen Bast, und sie scheint ihn in einem Anfall von Eifersucht blindgeschossen zu haben.«
»Verfluchte Scheiße!« knurrte Erich wütend. »Aber ich lasse mich da nicht reinziehen! Was geht mich Eva an?! Ich habe sie seit Jahren nicht gesehen! Ich verweigere jede Aussage! – Ich muß schon sagen«, rief er erbittert, »Sie haben eine feine Kundschaft!«
»Jeder nach seinen Fähigkeiten, mein lieber Erich«, lächelte der Anwalt. »Übrigens hattest du mich eben erst um deine Verteidigung gebeten.«
»Tun Sie mir einen Gefallen, Herr Doktor«, bat Erich. »Lehnen Sie die Verteidigung von dem Kerl ab!«
Der Anwalt schüttelte den Kopf. »Unklug, Erich. Der Knabe hat Geld, oder seine Freunde haben Geld, was auf dasselbe herauskommt, und so geht er einfach zu einem anderen Anwalt. Besser behalten wir die Sache in der Hand.«
»Ich will damit nichts zu tun haben!«
»Und wirst sicher hineingezogen, wenn ein anderer Anwalt sie in die Finger bekommt. Dieser Knabe Bast hat sich so einiges von deiner Schwester erzählen lassen. Er weiß zum Beispiel, daß du viel Geld verdienst, und er behauptet, du hättest früher geklaut. Verzeih, Erich, bitte tobe nicht. Ich wiederhole dir nur, was Herr Bast sich ausgedacht hat. – Wenn Klauen nämlich bei euch, wie Bast behauptet, in der Familie liegt, so hat er deine Schwester nicht erst anstiften müssen, du verstehst. Vielleicht hat sie dann sogar ihn verführt ...«
»Ich werde einfach verreisen«, sagte Erich wütend. »Im Ausland kann ich eine Weile auch ganz gut leben. Sie geben mir ab und zu Tips, und ich handle in London die Mark auf Baisse ... Nein, in Brüssel«, rief er erleichtert. »Brüssel kenne ich, Brüssel ist für mich das Richtige. Ich beteilige Sie natürlich ...«
»Sehr freundlich, Erich. Immerhin muß überlegt werden wie weit sich ein deutscher Parlamentarier in Baisse-Spekulationen der Mark einlassen kann. – Und vor allen muß dieser Prozeß überlegt werden. Wird er groß aufgezogen, wie es dieser Herr Bast aus einer gewissen Berufseitelkeit haben will, so ist er ein gefundenes Fressen für unsere liebe Presse. Alle Strafgesetzreformer und Menschenfreunde werden Tränen über den armen blinden Mann fließen machen und den Namen Hackendahl diskreditieren.«
»Eva war ein ganz harmloses Mädchen!«
»Nach der Lesart von Herrn Bast ist sie ein Vamp. Sie hat ihn zu all seinen Straftaten angestiftet, ihre schrankenlose Genußgier, ihre Vergnügungssucht ...«
Der Anwalt sah durch das tobende, randalierende, betrunkene Lokal ...
»... Es gibt noch andere Beispiele von Genußsucht in dieser Familie ...«
»Lassen Sie doch diese Frotzeleien!« rief Erich wütend.
»Du hast recht, Erich. – Aber entscheidend ist, daß deine Schwester alles zugibt. Sie hat ihn angestiftet. Sie hat Geld von ihm verlangt. Sie hat völlig grundlos auf ihn geschossen ...«
»Das gibt sie alles zu?« rief Erich verblüfft. »Ja, ist sie denn verrückt? Das kostet doch ...«
Der Anwalt nickte. »Sechs, acht Jahre Zuchthaus ...«
»Und sie ist wirklich so?« Erich konnte sich das nicht vorstellen, Eva als abgefeimte Verbrecherin, Eva als Vamp. »Nein, das stimmt nicht«, sagte er.
»Es stimmt auch nicht«, sagte der Anwalt. »Sie lügt alles. Sie ist seine Hörige – du verstehst.«
»So ist es richtig!« sagte der Lieblingssohn seines Vaters. »Die rechte Tochter des alten Hackendahl! Sie haben den Alten ja heute abend gesehen, jeden freien Willen hat er aus uns herausgebrüllt und – geprügelt – er ist schuld! – Nein, ich will mit der Sache nichts zu tun haben, ich gehe nach Brüssel ...«
»Ich soll beide verteidigen«, erklärte der Anwalt, »den Kerl und deine Schwester. Und er möchte, daß ich die Verteidigung so führe, daß er entlastet, deine Schwester aber belastet wird, er als der Verführte, sie als die Anstifterin erscheint, er wenig, sie hoch bestraft wird.«
»Das liegt doch in Ihrer Hand!« rief Erich ärgerlich. »Wenn Eva ihm hörig ist, kann man sie kaum verantwortlich machen.«
»Eben«, sagte der Anwalt lächelnd. »Dann aber wird Herr Eugen Bast auspacken, deine ganze Familie hineinziehen, dich vor allem durch die Verhandlung schleppen, so daß ...«
»So daß, wenn wir Ruhe haben wollen, Eva hoch bestraft werden muß?«
»Richtig, mein Sohn Erich.«
»Etwas wie eine kleine Erpressung?«
»Du verstehst ausgezeichnet, Erich.«
»Wünscht Herr Bast vielleicht auch die Übernahme Ihres Honorars durch mich?«
»Herrn Bast ist bekannt, daß wir befreundet sind und daß du viel Geld verdienst. Wie gesagt: rundum ein Schuft!«
Der Anwalt sah Erich lächelnd an. Erich schwieg verdrossen, er trieb mit einem Strohhalm die Kohlensäure aus seinem Sekt, brannte sich eine Zigarette an – und schwieg.
»Nun ...?« fragte der Anwalt schließlich geduldig.
»Ja so!« sagte Erich zusammenfahrend.
Er antwortete aber noch nicht, sondern sah nach dem Mittelgang, wo die kleine Nackte jetzt kindisch mit einem Teddybär dalberte.
»Sie sieht wirklich sehr nett aus«, meinte er schließlich mißvergnügt.
»Richtig«, sprach der Anwalt. »Der seltene Fall, daß eine Sache einmal nackt netter aussieht als bekleidet. – Und wie denkst du dir die Regelung unserer Sache?«
»Ach, machen Sie das ganz ... Sie wissen doch schon, Herr Doktor ...«
»Ich darf also mit einem bekannten Romantitel sagen: ›Arme kleine Eva‹?«
»Jeder ist sich selbst der Nächste.«
»Versteht sich!« stimmte der Anwalt bei.
»Und da sie selbst es so will ...«
»Richtig, ganz richtig!«
»Sechs Jahre Zuchthaus – vielleicht rufen die doch eine Änderung bei ihr hervor?«
»Unzweifelhaft – zum Schlimmeren!«
»Warum spotten Sie?!« rief Erich wütend. »Sie haben mir den ganzen Abend verdorben! Ich war glänzender Stimmung! Was geht mich meine Schwester mit ihrem Luden an! Ich will vorwärtskommen ... Ich will nicht, daß man hier in Berlin hinter meinem Rücken zwinkert und flüstert! Ich will nicht durch die Drecksblätter geschleppt werden! Ich bin nicht verantwortlich für meine Schwester!«
»Gewiß!« stimmte der Anwalt höflich zu. »Ich erinnere mich, daß der alte Jehova einmal eine ähnliche Antwort von Kain bekam, als er Abel suchte.«
»Ich habe meine Schwester nicht erschlagen!« rief Erich wütend. »Soll die zehn Jahre ins Zuchthaus kommen! Zwanzig! Das wird ihr nur guttun, und man wird Ruhe vor ihr haben!«
»Schön, schön«, sagte der Anwalt. »Ich habe jetzt eine klare Marschorder – und habe dich noch viel besser kennengelernt, lieber Erich! Im übrigen schlage ich vor«, sagte er, als Erich schon wieder zornig losbrechen wollte, »daß wir unser Lokal wechseln. Ich weiß hier ganz in der Nähe etwas, wohin ich manchmal studienhalber gehe. – Ober, bitte zahlen!«
Es schneite bei schwachem Frost sachte, als die beiden auf die Straße traten.
»Nein, kein Auto«, sagte der Anwalt. »Es sind nur ein paar Schritte. Die frische Luft wird uns guttun. Wir haben beide viel zuviel getrunken!«
»Ich kann noch ganz gut gradegehen«, sagte Erich trotzig.
Aber der Anwalt antwortete nicht, und so gingen die beiden schweigend nebeneinanderher, jeder mit seinen trüben, vom Alkohol gereizten Wünschen beschäftigt. Über die Eisenbogen der Bülowstraße glitt nur noch selten ein Hochbahnzug, sonst war alles still. Kaum brannte noch in einem Fenster der grauen, toten Häuser Licht ...
Plötzlich blieb Erich stehen, überraschend faßte er den Anwalt vorn an der Brust und fragte zornig: »Warum reizen Sie mich eigentlich so?! Warum zwingen Sie mich immer wieder, mich vor Ihnen nackt auszuziehen?! Manchmal denke ich, Sie sind nie mein Freund gewesen ... Sie haben mich auf diesen Weg gebracht, erinnern Sie sich noch an mein Zimmer in Lille ...? Zu jeder neuen Schamlosigkeit haben Sie mich ermutigt! – Warum? frage ich mich. Warum? Warum haben Sie mich eben so lange gepeinigt, bis ich es Ihnen ins Gesicht gesagt habe, daß ich aus reiner Selbstsucht will, daß meine Schwester möglichst hoch bestraft wird?! Sie hatten es doch schon vorher verstanden! Ist das Freundschaft, oder sind Sie mein Feind ...?!«
Er hatte immer leiser, doch stets erregter gesprochen und hielt den Anwalt noch immer an der Brust gepackt, als wolle er mit ihm kämpfen. Jetzt löste der die klammernden Hände von sich ab, rückte den Mantel zurecht und sagte friedlich: »Du hast wirklich zu viel getrunken. Gehen wir doch weiter ...«
Wütend wollte Erich widersprechen und zwang sich, denn der Anwalt sagte: »Es sind nur noch ein paar Schritte. Es ist wirklich ein ganz nettes Lokal. Ich weiß nicht, Erich, ob du derart Lokale schon kennst. Wie gesagt, ich gehe manchmal dahin, öfter. Ich habe auch meine kleinen Liebhabereien ...« Er lächelte dünn. »Du hast mich eben an dein Zimmer in Lille erinnert ... Doch ja, ich weiß noch alles, du warst ein ganz frischgebackener Leutnant und trugst seidene Oberhemden ... Gott, wie lange das her ist! Ja, es ist ein Homosexuellenlokal, in das wir gehen ...«
»Ich gehe in kein schwules Lokal!« sagte Erich fast schreiend, »ich bin nicht homo ...«
Der Anwalt antwortete erst einmal nicht; er war damit beschäftigt, ein Lied zu summen, das zur Zeit durch ganz Berlin lief: »Wir, Gott sei Dank, sind anders als die anderen.« Er summte es recht stolz und triumphierend.
»Was nun dich betrifft, mein lieber Erich«, sagte er dann sanft, »so bist du einerseits ein Experiment von mir, andererseits eine Hoffnung. Als Hoffnung – nun, du wirst zugeben, daß ich viele Male väterlich für dich gesorgt habe. Daß du dies angenehme und sorgenlose Leben, das du jetzt führst, in erster Linie meinen Bemühungen verdankst ...«
Der Anwalt redete ölig und sanft daher. Eine rasende Wut erfüllte Erich, und doch hielt ihn etwas zurück, dieser Wut nachzugeben; er wollte erst hören, ob der Anwalt sich wirklich einbildete, daß er, Erich – nein, unmöglich!
Der Ältere sagte bekümmert: »Du hast mir in deiner augenblicklichen Gereiztheit vorgeworfen, ich hätte dich auf diesen Weg verlockt, woraus zu schließen wäre, daß er dir nicht gefällt. Aber, lieber Erich, ich muß doch sagen, bisher hast du diesen Weg eigentlich immer recht angenehm gefunden. Ja, es ist noch keine halbe Stunde her, daß du mir Vorschläge für eine Markspekulation in Brüssel gemacht hast, die doch sehr danach aussahen, als wünschtest du, weiterzugehen auf diesem verruchten Wege ...«
Der Anwalt! dachte Erich erbittert. Der verdammte Rechtsverdreher! Aus allem dreht er einen Strick ...
»Nun«, fuhr der Freund immer sanfter und bekümmerter fort, »ich sage ja nicht nein! Man wird darüber sprechen, es wird sich auch ein Weg finden lassen, auf dem ich dich rasch genug in die hiesigen Absichten einweihe. Denn die Mark wird zwar fallen, sehr tief fallen, aber eines Tages wird sie zu fallen aufhören. Dieser Tag könnte ein düsterer Tag für dich werden ohne mich, mein Erich ...«
Der Anwalt blieb schnaufend stehen. Der Schnee behinderte seinen Gang, seinen Blick. Er nahm die Brille von der Nase, trocknete sie sorgfältig und sagte, langsamer weitergehend: »Aber ein so kluger und so – selbstsüchtiger Mann wie du, Erich, wird nicht daran zweifeln, daß auch andere selbstsüchtig sind. Zum Beispiel ich. Du wirst eine Rechnung begleichen müssen; ich habe recht lange damit gewartet, das wirst du zugeben, und ich zweifle nicht, daß du prompt zahlen wirst ...«
»Ich habe Ihnen schon gesagt«, antwortete Erich Hackendahl mürrisch, »daß ich Sie an dem Markgeschäft beteiligen will. Sonst ...«
»Du bist ein Affe, Erich!« sagte der Anwalt friedlich. »Ich verdiene auch ohne dich mehr Geld, als den Genossen lieb ist. – Nein, die Rechnung ... Ich habe dir schon gesagt, wohin wir gehen ...«
»Ich bin nicht homo ...«, wiederholte Erich hartnäckig.
»Es kommt manchmal vor, habe ich gehört, daß man eine Rechnung nicht grade gerne bezahlt«, lächelte der Anwalt. »Trotzdem bezahlt man sie – unlustig. Unlustig.«
Er lächelte wieder und sah Erich durch seine runden Brillengläser aufmerksam an. Dann: »Du bist ein Experiment, ich sagte es schon. Mein Experiment. Als ich dich kennenlernte, du erinnerst dich doch noch, du hattest bei Vater und Schwester eigenmächtige Anleihen gemacht ...«
»Ich will von diesem Dreck nichts mehr hören!« schrie Erich fast. »Ich habe alles zurückgezahlt!«
»Von meinem Gelde, richtig. Wie ich es sage. Du standest auf der Kippe, aber es schien mir ein Feuer in dir zu brennen – in mir war es damals schon im Erlöschen –, ein Glaube an dich, an die anderen, an das Gute, was weiß ich, und ich liebte dich wegen dieses Feuers ...«
»Ich sollte der SPD beitreten, was?!« höhnte Erich wütend. »Sie glaubten schon nicht mehr an die Partei, sondern nutzten sie nur aus, aber ich sollte der Dumme sein, wie?«
»Ich gab dir alle Chancen«, fuhr der Anwalt unbeirrt fort, »dich, sagen wir, auf die hellere Seite hinüberzuretten. Aber unaufhaltsam drängtest du nach der dunklen.«
»Drängten Sie mich ...!«
»Doch nicht, Erich. Wer hat sich aus dem Schützengraben gleich in die Etappe verkrochen?«
»Und wer hat mich in Lille dahin gebracht, ein wenig – Miesmacherei zu treiben ...?!«
»Richtig! Als ich dann sah, daß gar kein Feuer in dir brannte, sondern nur ein Trieb zu Faulheit und fauler Geschäftemacherei und faulem Genuß, da habe ich sehen wollen, wie weit du gehen würdest. Ob wenigstens irgendeine Ecke in dir wäre, die noch etwas taugte, ein Winkel, dir selbst unbekannt ... Eine kleine Hoffnung ...«
»Adieu, Herr Doktor!« sagte Erich, aber er ging nicht.
»Ich habe mich hochgekrebst in der Partei«, sagte der Anwalt nachdenklich, ohne auf ihn zu achten. »Ich habe noch die schweren Jahre mitgemacht, als es ein Verbrechen war, Sozialdemokrat zu sein. Wir sind ganz hübsch verfolgt worden, damals, aber das hat uns nicht beirrt. Damals habe ich noch an das Gute im Menschen geglaubt, an eine bessere Zukunft, daß es vorwärtsginge, langsam vorwärts mit der menschlichen Gesellschaft ...«
»Für solch einen Schwärmer sind Sie ganz hübsch fett geworden, Herr Doktor!« schimpfte Erich höhnisch.
»Ach, Erich, was bist du doch für ein Dummkopf! Für einen so schlauen Kerl, wie du bist, bist du wirklich zu dumm. Davon erzähle ich dir ja grade, von meinem Fettwerden, von dem Verlust meiner Illusionen«, davon, daß ich heute nur noch glaube: Der Mensch ist schlecht. Du warst mein letzter Versuch, mein letztes Fünkchen Glaube. Aber leider, mein Erich, bist du ein völliger Versager gewesen, von der ersten Stunde an.« Der Anwalt seufzte. »Wenn ein Schuldner«, sagte er dann fast geschäftsmäßig, »nicht in bar zahlen kann, so hält man sich an die, wie wir Juristen sagen, an die Sachwerte ...« Er schwieg.
Erich sah ihn an, düster schweigend, die Zähne scharf auf die Unterlippe gesetzt. Sie standen vor einem Café, einem dunklen Café; aber es war doch wohl ihr Ziel, der Anwalt ging nicht weiter.
»Du mußt zugeben«, begann er wieder, dem Schweigenden sanft zuredend, »daß ich dich sehr lange geschont habe, verschont mit meinen Wünschen. Es gab ja immerhin noch die leise Möglichkeit, daß irgend etwas – Anständiges in dir steckte. Eine sehr entfernte Möglichkeit. Aber seit heute abend ... Sieh es ein, Erich, was kann es dir schon ausmachen? Du kannst mir auch einmal einen Gefallen tun ...«
Erich sah gespannt in das Gesicht, das jetzt bittend aussah, bittend und schwammig. Plötzlich sagte er feindlich: »Ihre Backen wackeln ja, Herr Doktor! Sind Sie wirklich so aufgeregt ...? Glauben Sie wirklich, daß ich das tue ...?«
Der Anwalt schien nichts gehört zu haben. Er sagte ungerührt: »Ich nehme dir deine Schwester ab und diesen Lumpen Bast. Du wirst deine Ruhe haben, eine sehr lange Zeit. Ich mache dich zu einem reichen Mann, Erich, es ist wirklich nur eine Kleinigkeit, ein Vorurteil ... Komm, Erich!«
Und er hängte sich bei ihm ein, wollte ihn zum Café ziehen, streichelte fieberhaft seine Hand. »Erich, bitte ... einmal! Ich habe so lange gewartet ...«
»Lassen Sie mich los!« schrie Erich und machte sich frei vom Anwalt. »Fassen Sie mich nicht an! Das möchten Sie wohl, mich auch da noch bedrecken!« Er sah ihn voll Haß an. »Ich werde es nie tun, nie!«
Aber für den andern galt das alles nicht. Er sah nur die Beute, die Beute, die sich ihm entziehen wollte, auf die er so lange gewartet. »Erich!« rief er und faßte nach seiner Hand, klammerte sich an sie, hielt sie fest, Erich mochte reißen, so stark er konnte. Und nun bückte er sich, wollte seine Lippen auf diese Hand pressen, Erich fühlte sie schon ...
Einen Augenblick zögerte er. Dann überwand er die Hemmung und gab dem Anwalt einen starken Schlag auf den gesenkten Kopf. Der wankte, wollte sich halten – aber nun fiel der starke Mann rücklings auf das Pflaster, in den Schnee, mit einem kläglichen Aufstöhnen ...
Warum gehe ich nicht? dachte Erich und starrte auf den Liegenden. Das hätte ich nicht tun sollen, ich bin betrunken ... Er kann mir schrecklich schaden ... Nun ist es zu spät ... Ich gehe lieber ...
Und blieb doch stehen, starrte auf den Liegenden.
Der bewegte sich, richtete sich stöhnend halb auf, sah um sich.
»Du, Erich?« fragte er. »Bin ich gefallen ...? Hilf mir doch!«
Mechanisch reichte ihm Erich die Hand, half ihm hoch.
Der Anwalt stand, wischte an dem Schnee auf seinem Mantel, faßte nach den Augen. »Ich muß meine Brille verloren haben. Willst du einmal nachsehen, Erich? Vielleicht ist sie heil geblieben?«
Sie war heil geblieben, Erich fand sie, gab sie dem Abgeordneten.
»Und wenn du mir nun noch ein Auto holen wolltest, Erich? Gleich hier um die Ecke stehen welche.«
Auch das Auto wurde besorgt. Schwerfällig stieg der Anwalt ein. Er setzte sich zurecht. Zögernd stand Erich in der Tür, sollte er nicht mitfahren ...? Er wartete. Aber der Anwalt sagte nichts.
»Es tut mir sehr leid, Herr Doktor«, fing Erich leise an.
»Gute Nacht«, sagte der Anwalt und gähnte. »Man sollte wirklich nicht soviel trinken. Auf der Straße hinzufallen! Gute Nacht, Erich!«
»Gute Nacht, Herr Doktor!«
Und das Auto fuhr an, fort in die Nacht.
Ein ununterbrochener Strom von Menschen zog durch das riesige Untersuchungsgefängnis in Berlin-Moabit. Vor zehn Jahren war Gefängnis noch eine Schande gewesen, heute, 1923, sagten die Menschen: »Da kann man nichts machen. Wer Pech hat, fällt aus't Bette ...«
Im Kriege hatte es damit angefangen. Jeder, fast jeder hatte Butter auf Schleichwegen gekauft, sich Kartoffeln auf Hamsterfahrten besorgt. Viele fanden es nicht schön, aber irgendwie schienen die Gesetze nicht mehr zum täglichen Leben zu passen – sie waren ja auch meist vor dem Krieg gemacht worden. Wenn ein hungriger Arbeitsloser stehlen ging, fanden sie, war das etwas anderes, wie wenn jemand vor dem Kriege stehlen ging. Da hatte es keiner nötig.
Die Ehrlichkeit war dem Menschen auch viel schwerer gemacht, weil er überall die Unehrlichkeit sich breitmachen sah. Der Schieber, im Kriege geboren und im Kriege verachtet und gehaßt, war eine volkstümliche Figur geworden. Der bleiche, fette Mann mit der Aktentasche im großen Auto wurde nicht mehr so verachtet wie beneidet. Das Wort Schiebung wurde modern, und nicht nur das Wort.
»Ja«, sagten die Leute, »wir wissen ja gar nicht, ob bloß die Schieber schieben? Das mit der Inflation – da sollen nun die Schieber an der Börse schuld sein. Warum verbietet dann die Regierung nicht einfach die Börse? Alles Schiebung! Die oben stecken hinter der Inflation, die wollen die Kriegsanleihen loswerden – unsere Spargelder wollen sie schlucken, alle Woche betrügen sie uns um unseren Lohn!«
So redeten die Leute, nie fühlten sie sich in dieser Zeit mit ihren Regierungen verbunden. Ob das nun Regierung Scheidemann hieß oder Kabinett Hermann Müller, ob Fehrenbach, Wirth, Bauer oder Cuno – es waren immer die oben, nicht zu ihnen gehörig. »Die wollen bloß ihren Schnitt machen, und uns legen sie rein«, so dachten sie, so sprachen sie.
Der Arbeiter, der in der Fabrik schuftete, konnte keine komplizierten Erwägungen über den Vertrag von Versailles, Reparationen, Valuta, Ruhrbesetzung anstellen – aber er konnte gut begreifen, daß sein Wochenlohn, so hoch die Summe auch lauten mochte, nur ein Fünftel oder ein Zehntel seines Friedenslohnes wert war. Ja, da hatten sie gut reden: »Wir haben den Krieg eben verloren und müssen ihn bezahlen.« – Der Arbeiter sagte: »Als wie icke?! Und die Schieber und die Kriegsgewinnler und die fetten Bonzen ...?!«
Und dann, was hieß das schon, ein bißchen stehlen, betrügen, unterschlagen ...?! Es gab in dieser Zeit viel grausigere Verbrechen, Verbrechen, über die in den Zeitungen wochenlang geschrieben wurde. Wirkliche Verbrechen, Morde, Massenmorde, Menschen, die Menschen schlachteten, sie zu Wurst verarbeiteten und dann diese Wurst verkauften ...
Zu Anfang fanden sie es noch grausig, aber sie stumpften ab. Schließlich kamen die ganz Schamlosen und machten einen Schlager selbst hieraus, und bald sangen sie überall, auf den Kontors und auf den Straßen, junge Mädel und Lebegreise auf den Tanzdielen: »Warte, warte nur ein Weilchen – Bald kommt Haarmann auch zu dir – Mit dem kleinen Hackebeilchen ...«
Was Wunder, daß die Gefängnisse sich füllten! Diese Maschine arbeitete weiter; stockend, ächzend, krachend mahlte sie Zehntausende von Schicksalen durch, Paragraph Soundsoviel, Strafe Dieunddie – erledigt, weiter! Ob du dich schuldig fühlst, ob ich dich schuldig glaube – der Paragraph ist verletzt, das allein entscheidet!
Untersuchungsgefängnis Moabit! Zellengefängnis Moabit! Hunderte von Zellen, und jede Zelle vierfach, sechsfach belegt! Ein Gewimmel, ein Tohuwabohu von Schicksalen, von Sprachen. Alle Altersklassen, alle Stände, alle Berufe. Abgehetzte Beamte, erliegende Schreiber. Besuchszimmer, die nie still wurden von Geschrei, Weinen, Vorwürfen, Zänkereien ... Protokollschreiber, Gutachter, Kriminalbeamte, Untersuchungsrichter, Staatsanwaltsgehilfen und Staatsanwälte, Erste Staatsanwälte und Oberstaatsanwälte – weiter, weiter, wir haben für dich nicht viel Zeit, sieben Minuten, ich habe heute noch siebzehn Vernehmungen, zwei Termine. – »Wollen Sie nun gestehen oder nicht? Mir ist es gleich. Dann bleiben Sie eben noch eine Weile hier und überlegen sich die Sache!«
»Zelle 23, Hackendahl, Besuch für Hackendahl! Darf Zelle 23, Hackendahl, Besuch haben?« – »Wer ist es? Der Bruder? Ist es bestimmt auch der Bruder? Es ist eine dicke Sache – hat Zelle 23, Hackendahl, eigentlich schon gestanden? Besteht noch Verdunklungsgefahr? – Fragen Sie beim Untersuchungsrichter an!« – »Der Untersuchungsrichter läßt sagen, er wäre verstorben, er müßte endlich einmal vier Stunden in Ruhe schlafen.« – »Verstehe ich, ich verstehe alles, nur wie wir je hier durchkommen sollen, das verstehe ich nicht. – Also gut, hier ist die Besuchserlaubnis für Zelle 23, Eva Hackendahl, Besuch des Bruders, sagen wir fünf Minuten, zur Sache darf nicht gesprochen werden. Sagen Sie dem Aufsichtsbeamten, daß nicht zur Sache gesprochen wird.«
»Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß kein Wort zu der Sache, wegen der Sie sich in Untersuchungshaft befinden, gesagt werden darf. Auch keine Andeutungen. Beim ersten Wort Entzug der Besuchserlaubnis.«
»Ich möchte gar keinen Besuch haben ... Wer ist denn da?«
»Also los, machen Sie keine Geschichten. Jetzt ist schon Besuchserlaubnis erteilt. Los, los!«
»Wer ist denn da?«
»Ich glaube, Ihr Bruder ...«
»Eva ...«
»Heinz, Bubi ...«
Stille, Schweigen, Ansehen ...
(Es darf zur Sache nicht gesprochen werden.)
»Wie geht es dir ...?«
»Danke, jetzt geht es mir besser.«
Der Beamte hebt den Kopf. Soll das eine Anspielung sein? »Kann ich etwas für dich tun?«
»Nein, danke, ich habe alles.«
»Brauchst du vielleicht Geld, Eva? Ich würde sehen ... Ich arbeite jetzt auf einer Bank ...«
»Nein, danke. Ich brauche nichts.«
Stille, Schweigen.
Beide zermartern sich den Kopf, worüber sie sprechen sollen. Zur Sache darf nicht gesprochen werden, und es gibt doch nur die Sache, über die man zu sprechen hat! Wie ist plötzlich das Leben leer geworden! In diesem kahlen, abgetretenen Besuchszimmer, mit einer Holzbarriere in der Mitte und einem Beamten, der gelangweilt nach der Uhr sieht, ob die fünf Minuten noch nicht um sind – hier gibt es plötzlich nur noch die Sache! Alle anderen menschlichen Beziehungen haben sich verflüchtigt – es gibt sie nicht mehr, leer! Es gibt nur noch die Sache, über die nicht gesprochen werden darf ...
»Ich wohne jetzt schon seit vier Jahren bei Tutti. Ich weiß nicht, ob du das gehört hast.«
»Ja – nein, ich hatte noch nichts davon gehört. Ich bin lange nicht aus dem Haus gekommen, viele Monate nicht ...«
(Der Beamte hebt den Kopf, sieht scharf nach den beiden hin und klopft mahnend mit dem Bleistift auf das Pult. Er ist nicht einmal ein Pedant, hier ist alles möglich, die Mitteilung der Untersuchungsgefangenen, daß sie viele Monate nicht aus dem Hause gekommen ist, kann ein Wink an den Bruder für ein Alibi sein.)
Wieder friert das Reden ein, sie sehen sich an. Alte, bekannte Gesichter, Geschwistergesichter, so fremd geworden, so fremde, ferne Schicksale. – Was haben wir uns noch zu sagen?
»Tuttis Jungen sind groß geworden, du weißt doch, daß sie zwei Jungen hat? Otto ist jetzt sechs und Gustav elf, es sind famose Jungen. Sie machen uns viel Freude.«
»Das kann ich mir denken.« Und dann, zaghaft: »Woher weißt du ...?«
Er versteht sofort. »Ich wurde zum Revier bestellt – wegen einer Aussage.«
Der Beamte klopft sehr mahnend.
Doch sie: »Wissen die Eltern ...?«
»Vorigen Sonnabend wußten sie noch nichts. Soll ich mal zu ihnen gehen?«
»Ja, bitte. – Sage ihnen ... sage ihnen – nein, sage ihnen nichts.«
Wieder Schweigen – ach, wenn diese endlosen fünf Minuten doch erst vorüber wären! Ich habe ihr ja auch nicht helfen können, als sie draußen war. Was soll ich hier helfen?
»Möchtest du vielleicht, daß ich dir was zu essen besorge? Keks? Obst? Oder willst du ein paar Zigaretten?«
»Nein, danke. Ich brauche nichts.«
Der Beamte steht auf. »Besuchszeit vorbei!«
Ganz schnell: »Auf Wiedersehen, Eva, Kopf hoch!«
»Adieu, Heinz.«
»Ach Gott, Eva – ich Schafskopf, hast du denn einen Verteidiger?«
»Sie müssen jetzt gehen, die Besuchszeit ist vorbei.«
»Ja, ich habe einen. Kümmere dich um nichts! Und komm nie wieder! Besuch mich nie wieder – auch später nicht!«
»Sie sollen jetzt gehen, hören Sie doch!«
Eva, fast schreiend: »Sage den Eltern, daß ich tot bin, längst gestorben – es ist nichts mehr von ihrer Eva da ...«
»Schluß! – Immer in der letzten Minute kriegt ihr das Quasseln. – Hören Sie mal, wenn Sie noch einmal zu quasseln anfangen, sobald ich gesagt habe ›Besuch vorbei‹, dann melde ich das, und Sie kriegen überhaupt keinen Besuch mehr!«
»Ich wollte ja gar keinen Besuch haben, ich habe es Ihnen doch gleich gesagt!«
»Dann hätten Sie doch den Mund gehalten! Aber zu schreien anfangen, wenn die Zeit vorbei ist, das bringt ihr alle fertig ... Ach, reden Sie nicht mehr, rein in die Zelle!«
Ein Gefängnis ist ein komplizierter Bau, dutzendfach gesichert, mit Schlössern, Mauern, Riegeln und Gittern. Ein komplizierter Apparat ist es, mit Beamten, die die Gefangenen beaufsichtigen, und mit Oberbeamten, die die Beamten beaufsichtigen. Mit Stechuhren und regelmäßigen Kontrollen und überraschenden Kontrollen, mit Briefprüfungsstellen und mit Gefangenen, von denen die anderen Gefangenen bespitzelt werden ...
Ein Netz, fein ausgesonnen, Masche an Masche geknüpft, nichts kann durchschlüpfen. Auch liegt der Frauenflügel isoliert von dem Männergefängnis – und doch waren keine vierundzwanzig Stunden seit der Verhaftung von Eugen Bast und Eva Hackendahl vergangen, da hatte eine Essen tragende Gefangene der Eva schon einen Zettel in die Hand gedrückt, einen Kassiber, die erste Mahnung des blinden Herrn an seine Sklavin: »Auch im Gefängnis bist du nicht frei ...«
Sie war diesen ersten Tag auf und ab gegangen in der Zelle, hin und her, von einer Wand zur anderen, von der Tür zum Fenster, um die Mitgefangenen herum, als sehe sie sie nicht ... Sie konnte es tun, sie genoß Achtung, sie war eine Schwere. Immerzu rasselte die Tür: »Hackendahl zur Vernehmung.«
Die anderen konnten drei Tage lauern, kein Untersuchungsrichter fragte nach ihnen. Nach ihr wurde immerzu gefragt.
Eine Sache muß nur sehr gut oder sehr böse sein: schon imponiert sie den Dummen! Eva imponierte ihnen. »Was mag sie bloß ausgefressen haben?« berieten sie. »Sie sieht gar nicht so aus.«
»Doofkopp! Grade die nich so aussehen, das sind die Schlimmsten! Ick hab mal 'ne Jiftmörderin jesehen, die sah aus wie meine Jroßmutter ...«
»Kein Wunder, wenn deine Großmutter dir ähnlich ist ...!«
Eva ging auf und ab, sie nahm die Achtung der anderen hin, wie sie das Gefängnis hinnahm: Es war draußen, ferne, belanglos. Drinnen lebte sie immer noch die Jahre in der Stube bei Eugen Bast, da es nichts für sie gab als nur den Blinden. Sie hatte Heinz die Wahrheit gesagt: Sie war in den letzten Jahren kaum auf die Straße gekommen. Er hatte sie wie eine Gefangene gehalten. Er war ein richtiger Erwerbsblinder geworden, er bettelte, aber er nahm auch Stühle zum Flechten an. Diese Stühle flocht freilich nicht er, die hatte sie zu flechten. Aber sie waren ein guter Vorwand, in fremde Wohnungen zu kommen, Diebesgelegenheiten für seine Freunde zu erspähen. Der blinde arme Mann, von einem kleinen Jungen geführt, kam nie in Verdacht, er war so schlau, der Eugen Bast!
Es waren unendlich lange, eintönige Jahre gewesen, ein Tag wie der andere. Es waren freilich nicht so schlimme Jahre gewesen wie die ersten, als sie sich erst an seine Herrschaft hatte gewöhnen müssen, als sie noch an Freiheit und Flucht dachte.
Für so etwas hatte sie längst die Kraft nicht mehr. Sie war stumpf geworden, sie nahm alles hin. Wenn er sie schlug, nun, so weinte sie eben; solange er sie an den Haaren riß (was ihr besonders schmerzhaft war, viel schmerzhafter als Schläge), schrie sie – aber schließlich hörte er mit dem Schlagen und Reißen auch wieder auf.
Gerade diese Stumpfheit aber war es, die den Eugen Bast immer von neuem gegen sie aufbrachte. Er war doch erfinderisch. Keiner konnte ihm ein gewisses Genie im Erfinden von Quälereien absprechen, aber bei ihr verfing nichts mehr. Längst hätte er diese langweilige Zicke fortgejagt, aber sie war ja so nützlich! So jung, wie er gewesen, war ja auch Eugen Bast nicht mehr. Seit er blind geworden war, nicht mehr in der Welt herumstreifen konnte – seitdem war er bequemer geworden, dicker. Er liebte Ordnung, Sauberkeit, gutes Essen. Dafür sorgte sie, und sie kostete ihn nicht mehr als das bißchen Essen. Dazu war sie zuverlässig und verschwiegen, sie schnatterte nicht; wortlos, protestlos, blinder als der Blinde, machte sie alles mit.
Eugen Bast konnte nicht mehr selbst auf Einbrüche ausgehen, Mädchen auf der Straße laufen lassen. Zuerst hatte er darüber gewütet, aber bald hatte er begriffen, daß der verborgene Hintermann sehr viel besser fährt als der, der die Kastanien aus dem Feuer holt. Der Blinde baldowerte die Gelegenheiten aus und beanspruchte dafür ein groß Teil der Beute. Er wurde erst ein Hehler, dann ein Finanzmann der Diebe, die nie Geld hatten. Eugen Bast hatte welches, er hatte ein Bankkonto, er hatte auch einen Safe mit höchst wertbeständigen Edelvaluten ...
Er wurde ein großer Mann, der Eugen Bast, er wurde ein noch viel größerer Mann! Als die »Jungens« ihm einmal statt der erwarteten Wertpapiere einen Packen Briefe gebracht hatten, tobte er freilich über solch unentschuldbares Versehen und kürzte ihren Anteil strafweise recht beträchtlich. Später ließ er sich dann von Eva die Briefe vorlesen, zum Zeitvertreib. Er lag auf dem Bett und verdaute, und sie kniete neben dem Bett auf einer Bürste und las vor. So hatte er alle Genüsse, die er sich wünschte ...
Unter Briefen hatte sich Eugen Bast bis dahin wenig vorstellen können – was Menschen sich auf vier, acht Brief Seiten zu schreiben hatten, ging über sein Verständnis. Aber man wird alt wie 'ne Kuh und lernt immer noch zu. Eugen Bast erfuhr, daß höchst erbaulich war anzuhören, was da eine Sie einem Er auf vier Briefseiten schrieb.
Regelmäßig fing die Sie schwärmerisch und blöd mit Liebe und Sehnsucht an. Aber kaum war man auf der zweiten Seite, kamen schon kleine neckische Erinnerungen, süße Unanständigkeiten – von dieser Sie konnte ein Er schon in Gang gebracht werden! Eugen Bast, der die Sie doch nie gesehen hatte, kam über ihren erotischen Späßen selber ins Feuer!
Die Eva ließ er freilich vorlesen, bis sie von ihrer Bürste kippte. Dann lag er lange still in der Nacht, rauchte Zigaretten und dachte angestrengt nach. Es war eine erbauliche Lektüre, kein Zweifel, aber Eugen Bast kam mit seinem anschlägigen Köpfchen bald darauf, daß aus den Briefen viel mehr herauszuholen war ...
Es waren sehr kostbare englische Stühle gewesen, die Eugen Bast in jenem Hause zu flechten bekommen hatte, mit einem besonderen bräunlichen Rohr, das Eugen für diesen Auftrag extra hatte besorgen müssen. Und es war ein sehr leichtsinniger Hausherr gewesen, der gedacht hatte, blinde Leute sind blind, und der darum ganz unbesorgt aus seinem von der Tapete verdeckten Safe einen Geldschein genommen hatte, eben als Anzahlung auf den Rohrkauf. Aber wenn Blinde nicht sehen können, so ist ihr Gehör um so besser, und der Herr wäre sehr überrascht gewesen, wenn ihm Eugen Bast die Lage seines kleinen Geheimfaches auf zehn Zentimeter genau beschrieben hätte.
Der Mann schien, nach Stühlen und Safe zu urteilen, wohlhabend, übrigens ein verheirateter Mann, ein Mann mit Kindern, und aus den Briefen ließ sich ohne weiteres schließen, daß die Schreiberin auch eine wohlhabende verheiratete Frau war ...
Es war ein glänzendes Geschäft für einen blinden Mann, eine Sache, die von selber lief: Die Jungen schafften die Briefe heran, ohne ihren Wert zu ahnen (es war komisch, aber beinahe in jedem dritten Geldschrank steckten solche Briefe), Eva schrieb die ersten zarten Andeutungen, und der arme blinde Bettler machte bloß den Boten, den unwissenden Boten (»Ich soll hier ein Päckchen abholen für Herrn – Lehmann, Sie wissen schon!«).
Ach, wie der Eugen Bast aufging. Übrigens hieß er natürlich schon längst nicht mehr Eugen Bast, sondern Walter Schmidt oder Hermann Schulze, mit ausgezeichneten Papieren, Kriegsblinder und Rentenempfänger, alles in bester Ordnung, bitte schön, Herr Oberwachtmeister! Ja, er ging auf, er mästete sich an seiner eigenen Bosheit; lange, lange konnte er in der Finsternis, in der er tagaus, nachtein lebte, über die Briefe nachdenken, seine Erpressungsbriefe, und wie er die quälen wollte und konnte, die Frauen und die Männer, wie er ihnen keine Ruhe ließ, Geld herausholte aus dieser ehebrecherischen Korrespondenz, viel Geld, mit Drohungen, Bitten, Lügen ... aus dem Dunkel her ...
Er würde nie wieder einen Menschen bekommen wie Eva. Ohne Frage, ohne Klage, ohne Auflehnung tat sie, was er befahl. Sie würde ihn nie verraten – sie war so sehr sein, daß sie jeden Befehl auf der Stelle, ohne Wimperzucken befolgte. Sie war in diesen Jahren nie eine Minute aus seinem Bann gekommen, sie hatte sich bei keinem anderen Menschen je aussprechen können (er schloß die Wohnung sorgfältig ab, wenn er ging), sie hatte nichts mehr im Kopf als ihn! Das saß ihr im Kopf, ob nah, ob fern, wie es in ihr saß, was er ihr drei Jahre lang Tag für Tag in allen Variationen, mit Vorwürfen, Klagen, Spott, Drohungen wiederholt hatte, daß sie es war, die ihn blind und häßlich geschossen hatte! Daß sie es wieder gutzumachen hatte, daß sie es nie wieder gutmachen könnte ...
Auch der schlaueste Ganove kann jeden Tag hereinfallen! Und wenn der Ganove noch so klug rechnet, alles bedenkt, wenn er ganz unverdächtig ist – das Leben rechnet anders, es kommt immer aus einer anderen Ecke. Natürlich fiel auch Eugen Bast herein, er fiel herein, als er nicht im geringsten im Verdacht war, er fiel herein, ohne daß die Polizei eine Ahnung hatte, wer er war, er fiel herein, ohne daß irgendeine seiner recht zahlreichen Straftaten den Grund dazu abgab – er fiel unberechenbar herein, um tausend Ecken! Das Leben selbst legte ihn herein – mit einem Wohnungswechsel!
Und nicht etwa, daß Basts die Wohnung gewechselt hätten, sondern der Hauswirt Mazeike gewann endlich den Prozeß beim Mieteinigungsamt gegen den böswillig nicht zahlenden Mieter Dörnbrack. Das Wohlfahrtsamt wies der Familie Dörnbrack irgendeine Barackenwohnung zu, die ehemals Dörnbracksche Wohnung wurde frei.
Eugen Bast merkte von alldem nichts. Er kannte den Hauswirt nicht, er kannte Dörnbracks nicht, er lernte auch den neuen Mieter nicht kennen, einen gewissen Querkuleit. Und doch war es Querkuleit, der ihn hereinlegt ...
Bast wohnte in einem der Riesenmietshäuser des Ostens, in denen Tausende von Wohnungen zu sein scheinen. In solch einer überfüllten Menschenwabe ließ sich für Eugen Bast hausen. Er ging unter, verschwand, er war ohne Interesse. Er war der blinde Bettler – manche aus dem Haus hatten ihn in der Friedrichstraße stehen sehen, ein Junge holte und brachte ihn. Er sollte mit einem Frauenzimmer wohnen, aber das bekam man nie zu Gesicht, wahrscheinlich sah es noch schlimmer aus als er!
Fertig, untergegangen, eingereiht – es gab so viele Tragödien in diesem Hause, Kinder wurden geboren, geprügelt, Frauen hatten ihre Kräche, heute war der besoffen, morgen dieser krank. Es war kein angenehmes Haus (außer für Eugen Bast). Es war ein Haus aus dem armen Dutzend – in einer Elendszeit. Die Jungverheirateten Querkuleits hätten sicher ein angenehmeres vorgezogen, aber es waren die Zeiten, da leere Wohnungen nicht existent waren. Querkuleit, ein junger Beamter vom Wohnungsamt, hatte zugeschnappt, vollkommen in Ordnung, einwandfrei, er stand auf der Liste, ein bißchen Fürsprache – jedenfalls hatte er keine Wahl gehabt.
Da saßen die beiden jungen Leute nun in diesem überfüllten Haus, sie hatten sich wirklich gerne (auch so etwas gab es in diesem seltsamen, alpdruckartigen Jahre 1923) und versuchten, ihr Leben für sich zu leben. Es schien schwer, denn das Haus griff in ihr Leben ein; wo Eugen Bast wortlos, blind vorüberging, da sagte Frau Querkuleit: »Na, Kleiner, was brüllst du, wer hat denn dir auf den Schlips getreten?«
Und der junge Querkuleit war nach einem Vierteljahr in mindestens sechs Hausfehden verwickelt, wegen des Aborts, wegen des Mülls, wegen der Waschküche, weil Frau Schmidt zu Frau Schulze gesagt hatte: »Olle Sau«, weil er zu Frau Dobrin gesagt hatte, aus Müllers Wohnung käme immer solcher Mief ...
Kurz, Querkuleits waren ahnungslose junge Leute, sie meinten, die Menschen sollten einander das Leben nicht durchaus noch schwerer machen, als es schon war. Worauf sofort das ganze Haus es darauf anlegte, Querkuleits das Leben so schwer wie möglich zu machen.
Aber sie waren jung. Es mußte schon hart kommen, ehe sie nachgaben. Mit Erbitterung fochten sie für Gerechtigkeit und Anstand in einer Welt, in der Ungerechtigkeit und Betrug Trumpf waren. Sie hatten keinesfalls genug an ihren sechs Hausfehden. Frau Querkuleit, die ja eigentlich als Frau die Lebensklügere von beiden hätte sein müssen, sagte immer wieder: »Hör mal, jetzt weint sie.« Oder: »Hörst du, jetzt schlägt er sie.« – »Du, wach auf, eben ist sie hingefallen! Jetzt schreit sie!«
Querkuleit war abends todmüde, er schlief sofort fest ein. Aber Frau Querkuleit hatte einen etwas dünnen Schlaf; wenn sie auf ein Geräusch einen Tick hatte, wachte sie davon auf. Und auf diese Geräusche aus der Unterwohnung hatte sie bald einen Tick. Sie gingen ihr wider das Gefühl. Sie wachte auf, Nacht für Nacht, und hörte eine Frau weinen, wimmern, auch einmal schreien. Sie meinte, das Geräusch von Schlägen zu hören. Aber nie hörte sie die Stimme des Mannes, die doch zu all diesen Geräuschen gehören mußte – das war besonders unheimlich.
Sie weckte ihren Querkuleit, er mußte es auch hören. Sie war glücklich, aber es war ein Stachel in ihrem Glück, daß eine andere so unglücklich war. Querkuleit war zuerst dagegen, aus dem tiefsten Nachtschlaf geweckt zu werden wegen des Weinens einer Frau. Auch ein für Gerechtigkeit entflammter Mensch liebt seinen Schlaf. Aber mit der Zeit erwachte der Kampfgeist in ihm.
Es war seine Frau, die ihn darauf aufmerksam machte, daß man nie ein Geräusch von dem Mann hörte, nie ein Wort. Kein Schelten, kein Ruf drang zu ihnen – immer nur die Frau. Das war seltsam. Es war nicht schwer herauszubekommen, wer in der Wohnung unter ihnen wohnte, ein blinder, entstellter Mann, der betteln ging und Rohrstühle flocht. Vielleicht ein bedauernswerter Mann. Stumm? Nein, stumm war er nicht. Querkuleit hatte ihn einmal ein paar Worte zu dem führenden Jungen sagen hören. Stummheit erklärte nicht, daß man nie einen Laut von dem Mann hörte.
Und es war wiederum seltsam: In der Nacht hörte man nur die Frau, am Tage sah man nur den Mann. Querkuleits paßten auf, sie befragten die Nachbarn – nein, die Frau war nicht sichtbar. Keiner konnte sagen, wie sie aussah.
»Es ist rätselhaft!« sagte Frau Querkuleit.
»Da muß ich hinterkommen!« sagte Querkuleit.
Oh, was man für Träume spinnen kann in solch einem Haus der tausend Schicksale, wenn man noch jung und das Leben neu ist! Wenn man daran glaubt, daß man einen Platz auszufüllen hat in der Welt. Wenn man sich noch nicht eingewöhnt hat auf diesem Erdball aus Widersprüchen, wenn noch ein Glanz in einem lebt vom unbekannten Dunkel, aus dem man kommt! Querkuleits sahen viele Tage in das vernarbte, ledrige, maskenhafte Gesicht des Blinden, sie horchten viele Nächte auf das Weinen und Schreien.
Sie waren kleine Leute, sie wußten, daß oft Frauen von ihren Männern geschlagen werden. Sie fanden es gemein, aber es hatte doch irgendwie etwas Menschliches. Was um den Blinden witterte, war unmenschlich. Sie sprachen lange darüber, aber immer blieb es unmenschlich. Und was unmenschlich war, mußte geändert werden ...
Schließlich ging Querkuleit auf die Polizeiwache und sprach von seinen Bedenken.
Aber der Reviervorsteher schüttelte den Kopf. »Sehen Sie mal, junger Mann, wir Polizei blamieren uns nicht gern. Eine Frau, die allnächtlich mißhandelt wird und die doch nie den Versuch macht, sich mit der Außenwelt in Verbindung zu setzen – nein!«
»Aber sie kann doch«, begann Querkuleit und wurde rot.
»Nun, was denn?« fragte der Reviervorsteher ganz freundlich. »Wahrscheinlich fesselt er sie den ganzen Tag, wie? Daß sie nicht einmal gegen die Wand klopfen kann? Nein, nein. Sie haben zuviel Phantasie.« Er sah den Kartothekzettel an. »Und übrigens sind die schon über drei Jahre dort gemeldet – wilde Ehe zweifelsohne, aber dagegen schreiten wir schon lange nicht mehr ein.«
»Aber man kann doch nicht ...!« rief Querkuleit verzweifelt.
»Natürlich kann man. Sie werden's auch noch lernen, junger Mann. Es ist ein ganz guter Spruch: ›Was dich nicht brennt, das blase nicht!‹«
»Das ist ein ganz feiger Spruch!« rief Querkuleit empört. »Wenn man nur da blasen sollte, wo man sich selber verbrannt hat – die Welt käme weit!«
»Ist ziemlich weit gekommen in letzter Zeit, was?« Der Reviervorsteher betrachtete den jungen Eiferer mit wohlwollendem Lächeln. Dann wurde er dienstlich. »Wir bedauern, auf Ihre Anzeige nicht einschreiten zu können.« Er sah den Jüngling an. »Natürlich, wenn Sie melden könnten, die Frau hat um Hilfe gebeten ...«
Sehr nachdenklich ging Querkuleit nach Haus. Er berichtete seiner Frau. Er nahm den Reviervorsteher in Schutz, aber sie schalt auf ihn: »Am liebsten hätte die Polizei immer erst etwas Totes liegen, ehe sie sich rührte!« Die machten es sich bequem!
»Also, jetzt weckst du mich nicht mehr!« sagte er energisch. »Es ist ganz zwecklos, und ich brauche meinen Schlaf auch. Die Streitereien auf dem Wohnungsamt sind bald nicht mehr zu ertragen ...«
Aber wahrscheinlich heißt man nicht ohne Grund Querkuleit. Es ließ ihm keine Ruhe. Nun wachte er von selbst auf in der Nacht, lag still, daß seine Frau nichts merkte, fühlte, daß sie auch wach war, und lauschte. Beide lauschten auf das Weinen in der Nacht. Es war sehr schwer, wieder in Schlaf zu kommen, es war sehr schwer, sich damit abzufinden, daß die Welt so ungeordnet weitergehen sollte ... Wenn man jung ist, läßt man nicht gerne ungelöste Aufgaben hinter sich ...
Nein, er versuchte nicht, sich mit der Frau in Verbindung zu setzen. Er hatte eine Ahnung, das herrliche Ahnungsvermögen der Jugend, ein heller Leitstern, man muß nur an ihn glauben. Er hatte die Ahnung, er müsse in dieser Sache durchaus unter eigener Verantwortung handeln ...
Schließlich, als es ihn zu sehr quälte, ging er, ohne seiner Frau etwas zu sagen, auf die Wache und gab an, seit vier oder fünf Tagen klopfe es alle Tage gegen die und die Tür, es werde um Hilfe gebeten ...
Er hatte eine Zeit abgepaßt, da der Reviervorsteher nicht da war. Aber obwohl er keinem argwöhnischen Beamten gegenüberstand, log er sich fast fest. Warum die Frau nicht auch andere Nachbarn gerufen habe? Woher sie ihn kenne? Was sie als Grund der Mißhandlung angegeben habe? Ob sie wegen Freiheitsberaubung geklagt habe? Warum sie denn nicht aus dem Fenster rufe? Es gehe doch fast alle Tage einer von der Polizei über den Hof!
Es ist den Idealisten nicht leicht gemacht, auf dieser Erde ihrem Ideal gemäß zu leben. Aus dem Lügengewirr, in dem Querkuleit zu versinken drohte, rettete er sich in eine trotzige Haltung. »Soundso, ich bin eben um Hilfe gebeten worden. Ich melde das, tun Sie, was Sie wollen!«
Der Beamte entschloß sich. Er hatte den jungen Mann noch einmal darauf aufmerksam gemacht, welch unangenehme Folgen eine falsche Anzeige für ihn haben könnte, aber als Querkuleit festblieb, beorderte er einen Polizisten, zu der Wohnung mitzugehen und nachzusehen.
Dann standen Querkuleit und der Polizist vor der Tür. Sie hatten geklingelt, und sie klingelten wieder, aber nichts rührte sich. Querkuleit schlug vor, einen Schlosser zu holen.
Der Polizist schüttelte den Kopf. »Darf ich nicht!«
»Aber die Frau ist bestimmt in der Wohnung!«
»Warum meldet sie sich dann nicht?«
»Grade, daß sie sich nicht meldet, ist doch ein Zeichen ...«
»Jedenfalls haben wir kein Recht, die Tür aufzubrechen.«
Es war ein älterer Beamter, ein Mann mit einem eisgrauen Schnauzbart, ein Mann ohne jeden Eifer, ein abgestumpfter Mann, fand Querkuleit. Der Mann drückte noch einmal auf den Klingelknopf, und als wieder nichts erfolgte, sagte er den Spruch, den alle sagen, die es bequem haben wollen: »Da kann man nichts machen!«
Und er schickte sich an, die Treppe hinunterzusteigen.
In diesem Augenblick kam Eugen Bast die Treppe herauf. Der Blinde tastete sich, die Hand auf dem Geländer, die Stufen aufwärts. Wie schon oft, hatte er den Jungen am Eingang der Treppe fortgeschickt, er kannte ja jede Stufe, und er zog sich nicht gerne Spione in die Wohnung ...
Die beiden hörten ihn kommen, hörten das sachte, vorsichtige Trapp-trapp auf der Treppe. Fast deutlicher noch hörten sie das trockene Schlürfen der Hand auf dem Geländer. Sie sahen ihn an, aber er sah sie nicht, er hörte sie auch nicht ...
Denn als er da heraufkam, mit dem schrecklichen, narbigen Gesicht, einem fahl gewordenen, feldgrauen Mantel, blind, finster, da hatte Querkuleit unwillkürlich zum Schweigen mahnend seine Hand auf den Arm des Polizisten gelegt, und der hatte ihn sofort verstanden ...
Der Blinde sah sie nicht, er hörte sie nicht, aber er ahnte sie. Er hob den Kopf, es war, als wittere er, als wolle er sie riechen, er fragte: »Wer is'n da?«
Wieder die Hand auf dem Arm des Polizisten. Regungslose Stille.
»Da is doch eener!«
Nichts.
Diese falsche, flehende Stimme! »Ick bin 'n armer, blinder Bettler! Macht doch keenen Quatsch mit 'nem blinden Mann! Ihr!«
Nichts.
Der Mann stand jetzt oben auf dem Treppenabsatz, im vollen Licht des Fensters. Er hatte sein abstoßendes Gesicht gegen sie erhoben, er stand kaum einen Meter von ihnen entfernt. Das Gesicht mit geöffnetem Munde war ihnen ganz nahe; es war unfaßbar, daß er sie nicht sah ... Man mußte wissen, daß er nicht sehen konnte, aber auch dann blieb es eigentlich unfaßbar ...
Der Polizist sah den Mann an. Nein, er kannte ihn nicht. Aber es war vielleicht etwas im Klang der Stimme: Wer viel mit Lügnern zu tun hat, spürt, wer ein Lügner ist. Es war aber vielleicht auch etwas in der ganzen Haltung des Mannes, etwas Unwägbares, dem Polizisten kaum Bewußtes: Ein blinder Bettler wäre nur hilflos und ängstlich gewesen, aber in diesem war etwas Angespanntes, argwöhnisch Wachsames ...
(Querkuleit aber hatte jetzt vor dem nahen, schrecklichen Gesicht einfach Angst ...)
Bettelnd: »Sagt doch, Jungens, wer is'n da? Ick merk doch, da sind welche ... Wat wollt ihr denn?«
Und nun bewies der Polizist, daß er nicht alt und abgestumpft war, nein, er hatte eine Eingebung. Er griff in die tiefe Tasche seines Mantels. Mit fest geschlossener Hand, daß es nicht zu früh klapperte, holte er etwas vor ...
So leise er es getan hatte, der Blinde hatte das Streifen der Haut am Stoff gehört. Er faßte den Stock ... Mit einer überraschend scharfen, bösen Stimme sagte er: »Wenn de jetzt nich sagst, wat de willst, hau ick!«
(Querkuleit verstand, warum er nie in der Nacht die Stimme dieses Mannes gehört hatte: Selbst jetzt, im höchsten Zorn, flüsterte sie nur.)
Der Wachtmeister öffnete die Hand und ließ die Handschellen klingeln ...
»Polypen!« schrie Eugen Bast. »Mir vahaften!«
Und sein Stock traf den Polizisten so zielsicher, mit der Spitze in den Bauch, daß der Mann aufschreiend niederstürzte. Schon aber glitt Eugen Bast die Treppe hinunter, traumhaft sicher, mit einer Schnelligkeit ... Querkuleit, der doch sehen konnte, vermochte ihm nicht zu folgen.
Der Polizist oben, der vor Schmerzen nicht hoch konnte, tat eines: Er trillerte mit der Pfeife ...
(Jetzt durfte er es: Denn wer so auf das Klingeln von Handschellen reagiert, ist kein unbestrafter Kriegsverletzter, sondern – nun, das würde man alles noch feststellen.)
Das Trillern der Polizeipfeife brachte das Haus in Aufruhr. »Haltet ihn!« schrie Querkuleit.
Überall stieß der blinde Mann plötzlich auf Hindernisse. Er versuchte auszuweichen, sich durchzudrängen, verwirrte sich, verlor die Richtung, stolperte, fiel – und da war auch Querkuleit schon da.
Der Blinde lag, er machte keine Anstalten mehr zu fliehen.
»Wat wollt ihr denn?« sagte er klagend, »'n armer, blinder Bettler! Ick hab nischt ausjefressen! Ihr habt mir man bloß so'nen Schrecken injejagt!«
Aber jetzt wieder den Harmlosen zu spielen, dafür war es zu spät. Der Polizist hatte seinen Stoß weg, und der war für einen harmlosen Bettler ein wenig zu zielsicher und bösartig gewesen. Er hatte die Reaktion des Mannes gesehen, als die Handschellen klingelten, der Polizist wußte, was er wußte, und alles andere war nur eine Sache geduldiger, sorgsamer Ermittlungen ... Denn auch die besten falschen Papiere sind nur so lange gut, als ihr Inhaber nicht in Verdacht ist ...
Das sah der kluge Eugen Bast auch bald ein ... Zugeben, was unbedingt zugegeben werden muß, was sie dir dreifach bewiesen haben, alles andere aber leugnen. Und sich entlasten – aber die Kuh, die Eva belasten, sie nicht einen Augenblick aus der Zange lassen ...
So war der Kassiber gekommen, ein seltsamer Kassiber, keine Weisungen für die Aussage. Sondern ein Kassiber mit den schlichten Worten: »Ick pfeife, und du kniest ...«
Sie geht auf und ab in der Zelle. Sie ist so lange abwesend gewesen, Vernehmung und Besuch des Bruders ... Sie denkt weder an die Vernehmung, noch an den Bruder, noch an ihr künftiges Schicksal; unruhig denkt sie: Hat er gepfiffen, während ich nicht in der Zelle war?
Sie ist so tief in der Hörigkeit, daß ihr gar nicht einfällt, wie gleichgültig es ist, ob er gepfiffen hat: Er kann die Wirkung seines Pfiffes ja nicht beobachten! Daß sie wirklich frei von ihm ist. Nein, so etwas kann ihr nicht mehr einfallen, Freiheit kann ihr nicht mehr einfallen, sie wartet. Sie quält sich.
Sie sitzt gerade beim Essen, als er über die Höhe hin durch das Fenster zu ihr kommt: der scharfe Ludenpfiff!
Sie legt den Löffel in die Schüssel, sie geht in die Ecke, und sie kniet nieder. Sie achtet gar nicht auf die anderen; was sie denken oder sagen können, berührt sie nicht mehr. Sie kniet nieder, erlöst, fast glücklich: Sie ist wieder in der Hand des Herrn und Meisters, sein Geschöpf. Nur sein.
Sie kniet.
Leicht war Heinz der Weg zum Vater nicht geworden. Er fand, es war allgemach genug, was ihm aufgeladen war, daß er nun auch das von der Schwester erzählen mußte – nein, es war nicht leicht ...
Der Vater saß am Tisch, er schnitzelte an einem Stock und hörte wortlos die Klagen der Mutter an, daß es mit der Nachtarbeit vorbei war ... Sie barmte, wie schönes Geld das eingebracht hätte, wie sie endlich wieder einmal sorglos hätten leben können, und nun – einfach vorbei! »Aber Vater erzählt mir ja nie, warum er etwas tut!«
Der Vater sagte nur: »Narrenspossen!«
Die Mutter bezog es auf sich und klagte weinerlich weiter. Heinz aber verstand, daß der Vater seine Tätigkeit im groben Keller damit meinte. Er war unruhig, er wäre gerne zu Worte gekommen. Nicht zum ersten Male fand er, die Mutter jammre zuviel, und der Vater sei eigentlich geduldiger, als man denke. Die Mutter hatte natürlich vergessen, wie sehr sie zu Anfang geklagt hatte, der Vater werde sich das Saufen angewöhnen. Der Vater hatte es bestimmt nicht vergessen, aber mit keinem Wort erinnerte er Mutter daran. Vernünftig war das von Vater, und geduldig.
Endlich machte die Mutter eine Pause, und der Sohn konnte von Eva berichten.
»Das habe ich längst erwartet!« klagte die Mutter. Der Vater sah den Sohn mit seinen großen Augen an, nickte, sagte aber weiter nichts. Nach einer Weile stand er auf, ging im Zimmer hin und her und befahl schließlich der Mutter: »Geh und koch uns einen Kaffee.«
Die Mutter ging langsam und weinend, sie weinte so leicht und mühelos, man sah es nicht gerne. Genauso weinte sie über jedes kleine Mißgeschick, einen angebrannten Milchreis etwa.
Der Vater blieb vor Heinz stehen. »Wie sieht sie aus?« fragte er.
»Sie hat sich sehr verändert. Sie sieht alt aus und ohne Leben.«
»Ist das noch immer derselbe Kerl wie früher? – Bast, so hieß er wohl. Eugen Bast?«
»Ja.«
»Dann kann man nichts tun. Ich habe ihn einmal gesehen.«
»Ich habe ihn auch einmal gesehen«, sagte Heinz. Er schloß die Augen, und der blinde Mann, der sich seine grausigen Narben küssen ließ, stand wieder vor ihm. Schrecklich! »Hast du ihn gesehen, als er schon blind war ...?«
»Blind? Ist er jetzt blind ...? Das ist eine Strafe Gottes!«
»Eva hat ihn blind geschossen.«
»Eva? Dann kann man ihr vielleicht doch noch helfen?«
»Nein – seitdem gar nicht mehr. Sie hat keine Kraft, ihm zu widerstehen.«
»Ja«, sagte der Alte. »Nein – haste recht. – Wirste manchmal nach ihr sehen?«
»Ja.«
»Gut. – Und ich werde auch vernommen?«
»Sicher.«
»Was soll ich denen denn sagen ...?«
»Alles, wie es ist!«
»Wie es ist!« Der eiserne Gustav lachte. »Det wird schwer sind, Bubi. – Denn det weeß ick nich, wie et is. Wieso det allens is, mit meine Kinder. Wieso is det eigentlich so, Bubi? Is dir nich manchmal bange, du wirst ooch so?«
»Nein, Vater, mir ist nicht mehr bange. Gar nicht. Ich hatte mal Angst ...«
»Siehste!«
»Ich denke manchmal, mit den Geschwistern ist es bloß so geworden, weil sie soviel älter sind als ich. Sie haben alles zu fühlen gekriegt, nicht nur wie ich bloß die Inflation. Vom Kriege weiß ich doch eigentlich wenig und vom Frieden kaum etwas ... Die Friedenszeit vor dem Kriege, die war ganz besonders schlimm, Vater!«
»Ach, redt nich! Die Friedenszeit war janz jut, 'ne joldene Zeit war det!«
»Aber es stimmte alles nicht, Vater! Es sah nach Gold aus, aber es war bloß Vergoldung. Es war nicht echt, es ging gleich ab, als es gebraucht wurde.«
»Bei mir is nischt abjejangen.«
Heinz hätte widersprechen können. Er dachte an den Wohlstand des Vaters, der »abgegangen« war. Er dachte an die Kindesliebe, die man nicht befehlen kann, die auch abgegangen war. Er dachte an das Eiserne im Vater, das immer weicher wurde, das immer weniger da war, je häufiger er sich darauf berief ... Aber es hatte keinen Zweck ...
»Also ich seh denn mal nach Eva«, sagte er.
Der Vater war noch in Gedanken. Er sagte: »Früher war es leichter fürn ollen Mann, sich zurechtzufinden – aber jetzt ... nischt nich!«
Er sah die Schnitzerei auf dem Tisch an. Sein Blick wurde lebendiger. »Jedenfalls, ick tu nur noch, wat mir paßt. Ick richte mir nach jar nischt mehr, nich nach Jesetzen, nich nach meinen Kindern, nich nach, wat der Paster predigt – ich richte mir nur noch nach mir ... Heinz, wat wird det?«
Und er hielt den Stock hoch.
»Ich weiß nicht, Vater. Soll's 'ne Peitsche werden? Aber dafür ist es zu kurz ...«
»Jetzt wartest du noch fünf Minuten«, sagte der Vater herrisch, ganz wie er früher gesprochen hatte. »Ick mach noch 'ne Zwinge dran und eenen Riemen ... Is et wahr, det se am liebsten Pferdedroschke spielen?«
»Doch!« sagte Heinz, der verstand. »Möchtest du den Jungen die Peitsche nicht selber bringen, Vater? Es sind wirklich nette Jungen!«
»Du genierst dir woll, mit 'ner Kinderpeitsche uff de Straße zu jehn?! – Ick mach zwei Knoten rin – det Knallen wirste wohl noch können?«
»Ich glaube, du zeigst ihnen das besser, Vater ...«
»Quatsch! Eenmal is jenug! Eenmal rinjefallen, is jenug! Un ick bin jleich viermal rinjefallen! Du bist janz brauchbar, Heinz, dir rechne ick nich ...«
»Es sind wirklich nette Jungens, Vater, ich würde sie mir doch einmal ansehen!«
»Wo ick dir doch sage, von wejen rinjefallen! Nee, is nich!«
»Es wäre wirklich richtiger, wenn du sie brächtest. Es würde dir Spaß machen.«
»Ick hab nischt zu tun mit die Kinder von der Gudde!«
»Aber sie heißt schon lange wie du und ich, Vater! Sie heißt Hackendahl.«
»Wie se de Kinder jekriegt hat, is se'ne Gudde jewesen.«
»Ich versteh nicht, Vater, daß du plötzlich so fein bist. Bei uns ist es doch nicht wie bei Pasters.«
»Otto war'n Schlappjeh, und sie is'n Buckel! Nee, ick will die Kinder nich sehn. Wenn ick mein Herz an wat hängen will, denn jeh ick zu meim Rappen!«
»Otto war nur bei dir schlapp ...«
»Da soll ick woll dran schuld sind?!«
»Im Felde, draußen, ist er nie schlapp gewesen, und daß du jemandem vorwirfst, daß er keinen graden Rücken hat, so bist du doch sonst nicht, Vater!«
»Buckel sind alle falsch!« sagte der Alte hartnäckig.
»Unsinn, Vater! Ebensogut kannst du sagen, alle Rothaarigen taugen nichts.«
»Tun se ooch nich! Judas hatte ooch rote Haare! Vielleicht hat er ooch'n Buckel jehabt, und man weiß et bloß nich mehr ...«
»Wer in so schweren Zeiten seine Jungens allein hoch bringt!«
»Ick versteh immer alleine! Wat machst du denn da?«
Heinz wurde brennend rot. Daß er rot wurde, machte ihn nur noch wütender. Übrigens war der Vater jetzt auch in Fahrt.
»Nich, det ick meene, du kramst mit der Gudde ...«
»Ach, halt den Mund, Vater! Du willst einfach nicht!«
»Zu deinem Vater sagste: Halt den Mund?!«
»Wenn du nicht willst, brauchst du den Jungen auch keine Peitsche zu machen!«
»Nimmste nu die Peitsche oder nimmste se nich?«
Er hielt ihm die Peitsche hin.
Heinz nahm sie nicht. »Bring du sie man selber hin. Sieh dir die Jungen selber an. Schlappjeh und Judas – so redest du also von deinen Kindern!«
»Die Gudde is nich mein Kind!«
»'n Abend, Vater.«
»'n Abend, Bubi! – Mit mir mußte nich wütend tun, ick bin'n oller Mann, und ick war immer eisern. Wat ick nich will, da sabbelt mich keener rum!«
»'n Abend, Vater.«
»'n Abend, Heinz! – Heinz! Heinz! Ick stell de Peitsche hier in de Ecke bei'n Ofen – wenn de dich ausgetückscht hast, kannste se ja denn mal mitnehmen.«
»Ich rühr die Peitsche nie an.«
»Dickkopp! Man soll nie nie sagen!«
»Wer hier wohl der Dickkopp ist?!«
»Na, du doch!«
»Nein, du, Vater!«
»Wer nimmt denn die Peitsche nich, icke oder du?«
»Wer will sie denn nicht hintragen? Du oder ich?«
Sie standen sich halb hitzig, halb spöttisch gegenüber. Sie waren beide in Zorn, aber sie waren nicht ganz in Zorn. Sie mochten einander zu gern, um richtig wütend aufeinander zu werden.
Die Mutter kam herein mit dem Kaffee. »Was streitet ihr denn schon wieder?« rief sie kläglich. »Ich hab so'nen schönen Kaffee gekocht – und ihr streitet!«
»Wir streiten gar nicht! Aber ich muß jetzt fort. Tjüs, Mutter!«
»Ach Gott, und der schöne Kaffee ...«
»Trink ihn doch mit Vater! Ich muß fort ...«
»Weeßte denn, ob ick jetzt Kaffee trinken will?! Jrade will ick nich! Ick jeh in'n Stall bei'n Rappen. Der verbietet mir wenigstens nich das Maul!«
»Ach Gott doch, Bubi! Wie kannst du das auch tun, Vatern den Mund verbieten!«
Aber Frau Hackendahl war schon allein. Die beiden Verstrittenen trampelten miteinander die Treppe hinunter. Auf dem Hof blieben sie stehen und sahen einander an. Heinz fing an zu grinsen, und der Vater fing an zu feixen.
»Na, haste dir det nu überlecht mit de Peitsche? Hol se man noch runter!«
Heinz lachte. »Das möchtest du, Vater! Immer deinen Dickkopp durchsetzen!«
»Na, und du?«
»Ich will dir was sagen: Wenn du mir die Peitsche runterholst, will ich sie den Jungen von ihrem Großvater schenken!«
Der Alte schluckte, als hätte er etwas zu Scharfes in die Kehle bekommen. »Du wirst doch'n ollen Mann nich die Treppen loofen lassen? Denn komm lieber mit ruff und trink Mutters Kaffee! Freut sich die Frau!«
»Du holst mir die Peitsche runter, oder sie bleibt hier!«
»Bleibt se ebent hier!«
»Na, denn 'n Abend, Vater!«
»'n Abend, Heinz.«
Heinz war schon unter dem Torweg, da rief der Alte:
»Bubi!«
»Was denn noch?«
»Warte! Ick schmeiß se dir runter, aus'm Fenster! Biste nu zufrieden?«
Heinz überlegte, ob er nun zufrieden sein konnte. »Meinethalben«, sagte er dann. Aber als der Vater im Treppeneingang verschwand, mußte er ihm doch noch einmal nachrufen: »Oller Dickkopp!«
Diesmal antwortete der Vater erst, als er aus dem Fenster sah. »Da haste se, Dickkopp!« rief er. »Paß uff, det se nich in'n Dreck fällt, jetzt is se noch schön weiß.«
Der Sohn fing sie. »Na, denn, Vater!«
»Na, denn, Bubi! – Und en Dickkopp bin ich übrigens jar nich, aber eisern, det bin ick!«
»Das bildest du dir nur ein, Vater, daß du eisern bist – du bist ein ganz gewöhnlicher Dickkopp!«
»So wie du? Nee, ick bin eisern!«
Und damit warf der Alte die Fenster zu, daß sie klirrten, um doch wenigstens das letzte Wort zu haben.
Wie immer, wenn er bei den Eltern gewesen war, ging Heinz nicht den direkten Weg zur Bahn, sondern er machte den Umweg an dem kleinen Papierwarengeschäft von Frau Quaas vorbei. Da stand er immer eine Weile und verfolgte die Entwicklung der Zeit im Schaufenster; augenblicklich waren Schlagerpostkarten, teils süßlich, teils unanständig, die große Mode. In den Laden selbst aber ging er nicht mehr, die Witwe Quaas belästigte er nie wieder, seit er einen Brief bekommen hatte: »Ich will Dich nie mehr sehen. Aber daß Du Mutter auch quälst, finde ich einfach gemein von Dir. Deine Irma.«
Seit diesem Brief also stand er nur vor dem Laden, sah sich das Schaufenster an und wartete etwa fünf Minuten. Nie länger, dann war es genug, dann ging er.
Manchmal dachte er wohl: Es ist ja blöd, daß ich hier immer noch hergehe! Ich würde Irma gar nicht wiedererkennen! Damals war sie doch bloß ein Hering.
Aber trotz dieser Überlegung ging er immer wieder zu dem Laden. Er versuchte sich sogar vorzustellen, wie Irma jetzt aussehen würde – das war keine unangenehme Beschäftigung, man konnte gut fünf Minuten damit zubringen!
Heute warf Heinz Hackendahl nur einen flüchtigen Blick in das Schaufenster. Seit seinem letzten Besuch gab es nur eine neue Ansichtspostkartenserie, diesmal Süßlichkeit und Gemeinheit gemischt. Die Bilder süß, der Text – zeitgemäß:
»Ich hab das Fräulein Len baden sehn.
Das war schön!
Da kann man Waden sehn, rund und schön
Im Wasser stehn!
Und wenn ungeschickt sie sich bückt ...«
Den letzten Reim, die sechste Karte, hatte die Witwe Quaas nicht ins Fenster gehängt – es war ihr wohl zu hart geworden!
Heinz dreht sich um, sieht die leere Straße auf und ab und fängt an, mit seinem Peitschchen zu spielen. Es ist ein feines Peitschchen, was der Vater da zurechtgemacht hat – schwipp, mit einer richtigen Peitschenschmitze und einem Neusilbergriff, bei dem das Messing schon etwas durchschimmert.
Heinz hat lange keine Peitsche mehr in der Hand gehabt, und dies Ding soll er in einer Stunde seinen Neffen vorführen – er ist wirklich neugierig, ob er noch knallen kann? Also versucht er es, die Straße ist leer, und außerdem ist ihm egal, was die Leute denken! Vielleicht ist es ihm aber doch nicht ganz egal, denn sein erster Versuch fällt etwas matt aus: Das Peitschchen gab nur einen schwachen, hinsterbenden Laut von sich ...
Stirnrunzelnd schaut er sich nach dem Ladenfenster mit dem badenden Fräulein Len um. Aber er ist völlig unbeobachtet – seine Niederlage hat keine Zeugen gehabt. So hebt er noch einmal die Peitsche und schwippt richtig los, das gibt einen Knall wie einen Pistolenschuß!
Und als habe er nur darauf gelauert, fährt ein Mädchenkopf aus der Ladentür und schreit zornig: »Du bist wohl ganz verrückt geworden?!! Willst du gleich machen, daß du hier wegkommst?!! Du bildest dir wohl ein ...«
»Irma!« sagt Heinz ganz verblüfft. »Hör doch mal, Irma ...«
»Ach was! Mit uns ist es aus, du dämlicher Bengel! Ich habe es dir ja geschrieben!«
Damit fällt die Ladentür krachend zu, Heinz hört die jämmerliche Klingel aufgeregt losbimmeln. Und nun hört er auch den Schlüssel im Schloß ...
Mit einem Satz ist er an der Tür, aber wenn man den Schlüssel schon hat schließen hören, ist es natürlich zu spät, auf die Klinke zu drücken.
»Irma!« ruft Heinz flehentlich das mit Ansichtspostkarten vollgehängte Türglas an. »Irma! Mach doch auf! Ich will dir ja bloß erklären ...« Kaum hat er nach fünf Jahren Irma zum ersten Male wiedergesehen, hat es schon ein neues Mißverständnis gegeben!
»Irma!« fleht er noch einmal und starrt wütend die Kitschpostkarten an.
Eine weiße Hand schiebt die Karten auseinander, sie hängt ein Schild zwischen sie. Es ist ein gedrucktes Schild, wie es der Laden für die Bedürfnisse seiner Kundschaft vorrätig hält. Die Hand hängt das Schild hin, rückt es zurecht, verschwindet. Heinz liest das Schild:
Er starrt blöde. Dann überkommt ihn das Lächerliche der Situation. Er hier draußen, sie drinnen im Laden, wahrscheinlich durch irgendeine Lücke nach ihm spähend und sich köstlich über sein dämliches Gesicht amüsierend.
Er dreht sich um, faßt die Peitsche, knallt herausfordernd dreimal hintereinander und geht schnell, ohne sich umzusehen, zur Bahn.
Gottlob, denkt er, daß Vater mir die Peitsche gegeben hat. Wenn ich die Peitsche nicht gehabt hätte! Na, warte nur ...!
Eine tiefe, eine unnatürliche, eine fast beängstigende Stille herrscht in der Küche bei Gertrud Hackendahl, geborener Gudde. Fast ohne sich zu bewegen, saß der elfjährige Gustav unter der Lampe und las in seinem Schullesebuch. Ab und an warf er einen raschen Blick zur Mutter, die nähend ihm gegenüber am Tisch saß. Und sofort kehrte sein Blick in das Buch zurück. Er las weiter, nur bemüht, nicht die Aufmerksamkeit der Mutter auf sich zu ziehen ...
Und nicht anders tat es der sechsjährige Otto. Wie oft, wenn er seine bunten Bauklötzer auf der Diele vor dem Herd neu geordnet hatte, war er im Begriff zu rufen: »Mutter! Kiek, die schöne Puffbahn!« Oder: »Mutter, hat 'ne Zicke auch 'nen Schwanz?« – Aber selbst er, der noch so leicht vergaß, verschluckte das Wort schon im Entstehen, sah zur Mutter hin und schwieg.
An anderen Tagen hätte Gertrud Hackendahl solch ängstliches Schweigen nie geduldet. Bestimmt war sie für Parieren – wer in solcher Mißgestalt unter Kindern lebt, muß von Anfang an darauf sehen, daß Einordnung nicht einreißt, sonst ist es mit seiner Autorität für immer vorbei. Aber es ist ein großer Unterschied zwischen Gehorchen und Kriechen. An anderen Tagen hätte Gertrud dieses vorsichtige Schielen, diese unnatürliche Geräuschlosigkeit der Kinder sofort gemerkt, und sie hätte ihr nicht gefallen. Heute aber ...
Heute aber dachte sie überhaupt nicht an die Kinder. Sie saß da und nähte, eine tiefe Falte zwischen den Augenbrauen, die dünnen Lippen fest aufeinandergepreßt. Sie war ganz allein mit sich, so einsam hatte sie sich nie wieder gefühlt, seit die Nachricht von Ottos Tode sie erreicht hatte. Nein, heute tat es vielleicht noch weher, weil sie so häßlich getäuscht worden war! Otto hatte sie nie getäuscht. Otto war immer offen und ehrlich gewesen, niemals hinterlistig!
Sie näht los auf den Stoff, als nähe sie mit glühender Nadel. Sie versucht, sich wieder die Freude zurückzurufen, die sie empfand, als der Postbote ihr heute morgen den Einschreibebrief brachte, den Brief mit der Kunde, daß sie geerbt hatte, daß sie Hausbesitzerin geworden war auf der Heimatinsel Hiddensee. Haus und Boot und Land und Stall daheim, am Meere, wo die Luft nie stille steht wie hier in der Öde der Häuserwirrnis, wo sie bei jedem Atemzug kräftig nach salziger Weite schmeckt.
Ein Traum über Erwarten in Erfüllung gegangen, eine Zufallserbschaft, von irgendeinem alten Onkel, den sie kaum je gesehen. »Mangels letztwilliger Verfügung des Erblassers als nächste bekannte Anerbin ...«
Traum Wahrheit geworden – und eine Fülle von Gesichten, von neuen Träumen auf sie einstürmend: wann sie fahren wird, erst einmal, um sich alles anzusehen. Wie sie es einrichten wird mit dem Boot, mit dem Netzanteil. Wem sie das Land verpachten wird – natürlich nur bis Gustav groß genug ist, alles selbst in die Hand zu nehmen! Wie sie mit den Leuten schnacken wird – ach, wie hat sie sich seit Jahren danach gesehnt, das heimatliche Platt zu sprechen! Sie hat nie das Berlinische gemocht – noch im Munde des Mannes noch in der eigenen Kinder Mund ist es eine fremde Sprache für sie geblieben. Otto wird schnell umlernen – Gustav werden sie erst tüchtig in der Schule verspotten, diese Inselkinder sind ein rauhes Geschlecht!
Tausend Gedanken und Überlegungen – wie es im Haus aussehen wird? Sie ist sicher in dem Haus gewesen, aber sie kann sich nicht daran erinnern. Sie versucht es, einen Augenblick hat sie das dunkle Dämmern einer mit Backstein ausgelegten Diele vor sich, der weiße Sand, mit dem sie bestreut ist, knirscht unter ihren Füßen, der große gemauerte Herd mit dem offenen Schornstein darüber, durch den man am hellen Mittag die Sterne am Himmel sehen konnte, ein nie völlig aufgeklärtes Wunder der Kinderzeit – aber es ist ja ihr Elternhaus, an das sie denkt! Dort tickt im dunklen Gehäuse die Wanduhr, auf deren Zifferblatt Blumen gemalt sind – aber nicht ihr Elternhaus hat sie geerbt.
Sie sieht auf die Küchenuhr, ein häßliches Ding mit einem Zifferblatt aus Steingut. Plötzlich hält sie es nicht mehr aus. Heinz muß sofort von dieser Erbschaft erfahren, er muß davon noch vor den Kindern wissen.
Sie nimmt ihren Mantel, verschließt die Wohnung, gibt den Schlüssel bei der Nachbarin für die Kinder ab und macht sich auf den Weg. Es ist ein sehr weiter Weg für eine so schwächliche Frau, wie sie ist, es ist auch ein schwieriger Weg. Die Steinplatten sind glatt vom Schnee, und mit der Streupflicht nehmen es die Hauswirte nicht so genau, viel wichtigere Pflichten werden in diesen Tagen vernachlässigt. – »Na, denn Hals- und Beinbruch!« sagt der Berliner lachend, wenn sich wieder jemand auf das Pflaster setzt ...
Sie darf das Fallen nicht riskieren, sie ist überzeugt, bei ihr würde es wirklich mindestens ein Beinbruch. Sie geht ängstlich und vorsichtig. Einmal schaut sie sehnsüchtig nach der elektrischen Bahn, aber eine noch gar nicht sichere Erbschaft darf nicht leichtsinnig machen. Hin- und Rückfahrt kosten einen halben Tagelohn – nein, unmöglich.
Sie geht mit gerunzelter Stirn ihren Weg, sehr mit ihm beschäftigt, aber auch sehr mit ihrem Besuch auf der Bank beschäftigt. Sie läßt Heinz ungern herausbitten, sie weiß, das wird nicht gerne gesehen. Aber heute muß einmal eine Ausnahme gemacht werden, sie muß ihn sprechen!
Endlich ist sie in der Eingangshalle des Bankgebäudes und trägt dem Herrn Portier ihre Bitte vor, Herrn Hackendahl für einen Augenblick herunterzurufen, Herrn Heinz Hackendahl von der statistischen Abteilung.
Der Portier ist sehr beschäftigt damit, Bleistifthäkchen hinter einer Reihe von Namen zu machen. Aber endlich entschließt er sich, sieht sie an und fragt: »Wer sind Se denn?«
»Ich bin seine Schwägerin«, erklärt Gertrud Hackendahl. »Herr Hackendahl wohnt bei uns.«
Der Portier tut noch immer weiter nichts, als Häkchen hinter Namen zu setzen. Als er die Seite erledigt hat, setzt er noch ein Häkchen hinter das Häkchen.
Nachdem wieder genug Zeit vergangen ist, der Bittstellerin begreiflich zu machen, eine wie wichtige Person der Portier im Direktionsgebäude einer Bank ist und eine wie unwichtige Person die Bittstellerin, fragt der Portier: »Was soll er denn?«
Gertrud ist sich vollkommen klar darüber, daß der Portier sie ein bißchen auf eigene Rechnung schikaniert. Vielleicht hat er auch einen Privathaß auf Heinz, oder vielleicht mag er Buckel nicht leiden. Jedenfalls will sie Heinz sprechen, und so sagt sie: »Eine eilige Familiensache.«
Der Portier knifft die Liste sorgfältig zusammen, legt sie in ein Fach, nimmt dann den Klemmer von der Nase, putzt ihn, setzt ihn wieder auf, sieht Gertrud durchbohrend an und sagt: »Herr Hackendahl ist nicht im Hause.«
Und nimmt die eben fortgelegte Liste wiederum aus dem Fach.
Einen Augenblick ist Gertrud vollkommen verwirrt. Sie hat es nie anders gewußt, als daß Heinz seine ganze Arbeitszeit in diesem Hause in einem bestimmten Zimmer absitzt, mit etwas beschäftigt, was sich Statistik nennt – und nun ist er nicht im Haus!
»Ach bitte ...!« sagt sie zu dem Portier.
Der wendet den Blick von der Liste und sieht sie durch den Klemmer an.
»Darf ich hier wohl warten?«
»Von mir aus!« sagt der Portier und sieht zu, wie sie sich in einen Sessel der Halle setzt, den Blick auf die Eingangstür gerichtet, um Heinz gleich anzusprechen, wenn er zurückkommt. Der Portier hat erst drei oder vier andere Besucher abzufertigen, bei einigen ist er sehr höflich, während er zu einem kleinen, verfroren aussehenden Boten noch unhöflicher als zu ihr ist ...
Dann hat er wieder Zeit, er sieht also zu ihr hinüber und ruft: »Sie da!«
Sie schreckt zusammen, springt auf und geht zu ihm: »Bitte schön?«
»Haben Sie denn auch Zeit zu warten?« fragt er.
»Wird es sehr lange dauern?« fragt sie.
Er scheint scharf nachzudenken. Dann sagt er: »Bis übermorgen früh!« Und ehe sie noch etwas antworten kann: »Herr Hackendahl hat sich nämlich drei Tage Urlaub genommen.« Schließlich, um sie ganz zu zerschmettern: »Das müßten Sie doch eigentlich wissen, wenn er bei Ihnen wohnt, was?«
Sie ist fest davon überzeugt, daß sie schikaniert wird, er will bloß die Verwandte in Familiensachen abwimmeln, die der Bank gehörige Arbeitszeit unversehrt erhalten. Oder es liegt ein Irrtum vor ...
Aber der Portier, der ihr ja nun seine Macht und Herrlichkeit genugsam bewiesen hat, wird plötzlich menschlich, als er ihre Aufregung sieht. Er holt die Urlaubsliste hervor, und da sieht sie denn, daß Heinz Hackendahl tatsächlich bereits gestern in Urlaub war, heute in Urlaub ist, morgen in Urlaub sein wird – und er hat ihr nichts davon gesagt!
Sie hat sich von dem plötzlich sehr interessierten Portier losgemacht und ist nach Haus gefahren. Sie hat es so eilig, sie ist überzeugt, die Aufklärung sitzt zu Haus! Aber zu Hause ist nichts ...!
Später sind dann die Kinder gekommen, sie haben gegessen und haben ihre Erlebnisse erzählt, und trotzdem sie immer nur mit Ja und Nein und So geantwortet hat, haben sie erst gar nicht gemerkt, daß die Mutter heute nicht da war für sie. Bis sie schließlich gereizt rief: »Seid doch endlich still und laßt mich zufrieden! Tut was!«
Nun saß sie ungestört und konnte wieder grübeln. Die große Freude vom Morgen war fort. Schon als sie zu Heinz ging, war sie nicht mehr heil und ganz, diese Freude; sie hatte daran gedacht, daß sie sich von dem Schwager, dem einzigen Freunde, würde trennen müssen.
Aber sie war ja schon getrennt gewesen von ihm, er war nicht mehr ihr Freund gewesen, sie hat es bloß nicht gewußt! Sie hatte geglaubt, sie hätten alles gemeinsam, sie wenigstens hatte ihm nichts verborgen. Aber bei ihm war es eben doch anders gewesen, er hatte sie hintergangen. Wenn sie nicht zufällig zur Bank gekommen wäre – vielleicht war so etwas schon öfter geschehen, und sie hatte es bloß nicht gemerkt!
Der Gedanke an die Erbschaft kehrt zurück – und plötzlich begrüßt sie ihn als Erlösung. Jawohl, das heißt Trennung von Heinz, aber es ist gut, daß es auf so selbstverständlichem Wege zur Trennung kommt! Sie könnte jetzt nie wieder mit ihm zusammen leben – wenn das Mißtrauen erst einmal aufgeweckt ist, schläft es nie wieder ein!
Nein, damit ist es vorbei ...
Sie versucht, sich das Leben vorzustellen auf dem Inselhof, das Leben mit Kindern, Tieren, Wind, Wasser ... Aber es ist so leer ... Sie ist so gewöhnt an ihn, etwas Helles, Verläßliches ... das er erst bei ihr geworden war. Damals, im Sommer 19, als er zu ihr zog, war er noch gehetzt gewesen, unruhig, ohne Ziel ...
Dann war er fester geworden, er hatte eine Aufgabe gefunden: gemeinsam mit ihr die Kinder satt zu bekommen, mit dem dürftigsten, oft wertlos gewordenen Einkommen. Geduldige Arbeit, Tag für Tag, Arbeit ohne Ruhm und Dank, um der Arbeit willen allein, vielleicht um der Zukunft willen, die nicht er, die nicht sie, die keiner kannte ...
Sie erinnerte sich nicht, daß er je mutlos geworden wäre, je nachgelassen hätte, an kein Mißlingen erinnerte sie sich ...
Ach, Heinz! dachte sie ...
Und plötzlich überkam sie wie ein dichter, alles einhüllender Nebel die Trauer, jene Trauer, die jeder Mensch immer von neuem erfährt, die Trauer, daß ein Mensch sich von uns löst. Unwiederbringlich rinnt das Leben durch unsere Hände, was wir eben noch hielten, schon ist es vorüber.
Unwiederbringlich!
»Mutter weint«, flüstern die Kinder, und der kleine Otto ist diesmal der Mutigere und ist eher bei ihr. Sie hält die Kinder und drückt sie an sich. Das Leben fließt, verrinnt. Auch ihr werdet euch einmal von mir trennen und fort sein – unwiederbringlich!
Sie sieht nicht hoch, als er hereinkommt. Er pfeift vergnügt vor sich hin, schon draußen auf dem Flur. Die Kinder stürzen zu ihm; sie ist froh, daß sie mit seinem Essen zu tun hat, daß sie nichts mit ihm reden muß ... Genau die Zeit, zu der er sonst von der Bank kam, abgepaßt auf fünf Minuten genau; wie quälend dieses Leben manchmal ist, man verliert allen Mut, sich aufzulehnen, erträgt auch das Widrige, einfach aus Überdruß!
»Mutti hat geweint, Heinz!« Und: »Er hat uns 'ne Peitsche mitgebracht, Mutti!«
Kindertrauer und Kinderfreude durcheinander, aber die Trauer ist schon fast vergessen, die Peitsche ist da, nun wird Mutti sich doch auch freuen? Der Ältere, Gustav, wirft einen Blick auf die Mutter ...
»Mutti hat geweint, Heinz«, sagt er noch einmal, mit Nachdruck. Und nun, da er seine Pflicht getan, die Tränen der Großen dem Trost der Großen überlassen hat, widmet er sich mit dem Bruder ganz der Untersuchung der Peitsche ...
»Nanu?« fragt Heinz. »Du hast geweint? Was war denn, Tutti?«
»Nichts. Wirklich nichts. Geht auf den Vorplatz, Gustav, Ottchen, hier könnt ihr nicht mit der Peitsche hauen. – Nein, bleibt doch hier ...!« Ihr ist eingefallen, daß es besser ist, die Kinder hier zu haben. Aber schon findet sie es feige, sich hinter den Kindern zu verstecken, und sie sagt gereizt: »Also geht schon raus! Ihr schlagt mir hier was kaputt! Und daß ihr mir nicht knallt!«
»Halt!« sagt Heinz zu den Kindern, die abziehen wollen.
»Von wem kommt die Peitsche?«
»Das kann man nicht raten«, erklärt Otto.
»Laß die Kinder schon gehen, dein Essen wird kalt.«
»Einen Augenblick, Tutti. Du wirst dich auch freuen. Also von wem? Versucht mal.«
»Wenn du von der Bank kommst ...«
»Kommste denn nicht von der Bank, Heinz?«
»Wenn ich dir das sage, ist's zu leicht.«
»Heinz, dein Essen wird kalt ...«
»Was ist denn das für 'ne Peitsche? Sieh sie dir doch mal an, Gustav!«
»Ja, Heinz ...«
»Aus einem Laden!«
»Eben nicht, Otto. Sieh sie an, Gustav!«
»Ich weiß! Ich weiß!«
»Ick weeß ooch ...«
»Auch, nicht ooch. Ottchen. Die Suppe ...«
»Was weißt du also ...?«
»Vom Großvater!«
»Jawohl, die hat der älteste Droschkenkutscher von Berlin für euch gemacht, extra für euch! Der eiserne Gustav ...«
»Kommt er bald mal? Ich will Droschke fahren!«
»Immer gleich noch was! Raus! Freut euch über die Peitsche. Nachher nimmst du Putzzeug, Gustav, und putzt den Griff ein bißchen. Großvater hatte keine Zeit mehr dazu. Also los, raus!«
»Gibst du uns nachher einen Lappen zum Putzen, Mutti?«
»Gibt sie! Raus! – Was ist, Tutti?«
»Nichts. Bestimmt nichts. – Bitte, iß jetzt.«
»Aber ich sehe doch, du hast was! Bist du böse auf mich?«
»Du sollst jetzt nur essen!«
»Also bist du böse auf mich. Warum?«
»Bitte, iß, Heinz!«
»Nicht, ehe du gesagt hast ...«
»Nichts, nichts sage ich! Du sollst essen! Hörst du nicht?!«
»Aber was in aller Welt ist denn los, Tutti?« fragt er ganz verblüfft. Er hat schon Frauenlaunen kennengelernt, bei den Kolleginnen auf der Bank, bei Irma – am meisten bei Tinette. Und er müßte eigentlich aus der Erfahrung wissen, daß eine Frau in diesem Nichts-Sage-Zustand störrischer als ein Maulesel ist, daß alles Fragen und Drängen sie nur widerspenstiger macht. Aber nein, er erklärt mit Entschiedenheit: »Ich esse nicht eher einen Bissen, bis du mir gesagt hast, was los ist, Tutti.«
Und sie ganz flammend: »Ißt du jetzt, oder soll ich wegräumen?«
Bittend: »Tutti, sag doch, was los ist!«
»Also jetzt räume ich ab!«
Fast hilfeflehend sieht sie ihn an. Hierzu hat es nie kommen sollen. Sie fühlt: Sie macht es ganz falsch. Wenn er doch wenigstens essen würde! Er muß doch sein Essen haben! Das Abräumen könnte er ihr doch ersparen!
Aber nein, er erspart ihr nichts. Gar nichts. »Bitte! Räume ab, ich habe keine Lust mehr zu essen.«
Und sie räumt ab, den Tod im Herzen. Von der Arbeit heimgekommen, nein, eben nicht von der Arbeit heimgekommen, aber ohne Essen – und nicht essen, es ist zum Verzweifeln! Und dabei ist noch kein Wort von dem gesprochen, was sie ihm wirklich vorzuwerfen hat; tatsächlich sind sie über »nichts« in Streit geraten; wie soll das erst werden, wenn sie von seinen Lügen redet ...?!
Immerhin stellt sie das Essen nicht ganz fort, sie stellt es so, daß sie es sofort griffbereit hat. Sie hofft, daß er doch noch essen wird ... Ordnung ist, daß man nicht ungegessen ins Bett geht, es sind noch vier Stunden bis zur Schlafenszeit, er muß in dieser Zeit noch essen! Wie einem ungezogenen Kinde möchte sie ihm das Essen einlöffeln ...!
Das ungezogene Kind wuselt in der Küche herum, faßt dies und jenes an und stellt es gleich wieder fort. Sieht auf dem Schuhschränkchen nach Briefen – es sind aber keine da, denn den einen Brief hat sie von ihrem Weg zur Bank noch immer im Täschchen. Sichtlich ist Heinz auch unentschlossen, was tun. Sie fühlt, er würde beim ersten guten Wort einlenken. Aber sie ist ebenso unfähig wie er, dieses erste gute Wort zu sagen.
Schließlich entschwindet er in die Stube, wo er mit den Jungen schläft (sie schläft in der Küche), und sie hört ihn dort mit Wasser plätschern. Sie setzt sich mit ihrer Näharbeit an den Tisch, unglaublich unglücklich, eigentlich noch viel unglücklicher als am Vormittag, da sie seinen Betrug erfuhr ... Denn jetzt, wo sie ihn wiedergesehen hat, ist sie fast schon davon überzeugt, daß alles anders zusammenhängt. Er hat ja gesagt, die Peitsche ist vom Großvater. Also kommt er vom Großvater. Also hätte sie ihn nur zu fragen brauchen, wieso um diese Zeit vom Großvater und nicht von der Bank – aber sie hat eben nicht gefragt! Und nun ist alles verfahren!
Er hätte mir vorher Bescheid sagen müssen, beharrt es verbissen in ihr. Ich mag auch nicht immer alles aus ihm herausfragen! Wobei sie wenigstens noch so gesund im Geiste ist, immer und alles und auch das Herausfragen als leichte Übertreibungen zu empfinden.
In den nächsten zehn Minuten passiert Heinz mehrfach, eilig wie die Feuerwehr, die Küche. Er zirkuliert zwischen Stube und Flur – draußen auf dem Flur ist seine Stimme von einer betonten Unbekümmertheit, er bringt das Putzen in Gang, drinnen in Stube und Küche ist er stimmlos. Einmal wäre sie beinahe losgebrochen, als er ihren Flickkorb nach einem Putzlappen durchwühlt und natürlich nach Männerart das einzige nicht entbehrliche Stück nimmt: einen Flicken für Gustavs Hose.
Aber sie bezähmt sich. Wenn er nicht ißt, soll er auch ruhig Gustavs Hosenflicken verderben! Sie kann ja dann zusehen, woher sie einen neuen kriegt! Recht so – nur immer weiter so!
Sie ist jetzt einfach eine ganz unerhörte Dulderin, und ihr Schweigen wird so deutlich, daß es fast hörbar ist ...
Vielleicht empfindet das auch Heinz. Denn er gibt seine brandeiligen Gänge auf, eine Weile hört sie ihn noch mit den Kindern flüstern, so aufdringlich flüstern, betonte Sanftheit, »stört die Mutti nicht, der Armen geht's nicht gut« – und dann flüstern nur die Kinder.
Sie traut dem Frieden nicht recht. Aber als sie, nach einer weiteren Viertelstunde, sich nach ihm umsieht, muß sie feststellen, daß der junge Heinz gegangen ist, nicht etwa bloß zu dem auf halber Treppe gelegenen Klo, sondern völlig gegangen, mit Mantel und Hut.
Die Kinder spielen mit der Peitsche. Sie hat sich in eine Droschke verwandelt, der eine faßt das Stielende, der andere die Schnur an, mühelos werden sie auf Anruf Pferd und Kutscher. Genauso mühelos, wie sich Mutti und Heinz aus besten Freunden in grimmige Feinde verwandelt haben!
Denn das sind sie nun – Gertrud weiß es nicht anders. Daß er sie nicht nur mit seinem Urlaub betrogen hat, daß er nicht nur sein Essen verweigerte, nein, daß er jetzt auch noch ohne Abschiedsgruß aus dem Hause gelaufen ist – zu einer Zeit, wo er nie fortgeht, das setzt seinem Verhalten die Krone auf! Sie wird nie wieder ein Wort mit ihm reden – und wenn er sie anspricht, dann wird sie ihm Bescheid geben, sie wird ihm sagen, was sie von ihm denkt!
In den nächsten drei Viertelstunden näht sie alles, was sie von ihm denkt, in das Kleid von Elfriede Fischer hinein – diese Nähte halten, aber jeder Stich müßte eigentlich später Fräulein Elfriede Fischer wie mit tausend Nadeln stechen!
Dann muß sie den Kindern ihr Abendessen geben, was gegen alle Gewohnheit fast wortlos geschieht, und nun bringt der Große den Kleinen ins Bett. Sie hört die Kinder in der Stube schnattern, der Großvater ist ihr interessantes Gesprächsthema. Der Großvater, der eine Peitsche geschickt hat und sich einbildet, damit ist alles in Ordnung ... Der Großvater, dessen Dickschädel Heinz geerbt hat. O Gott, sie wird bei den Kindern noch viel mehr aufpassen, daß sie nicht so dickschädelig werden. Trotzerei ist ein Fluch! Rechthaberei auch! Wie er immer wieder rechthaberisch gesagt hat: »Ich esse meine Suppe nicht!« – genau wie der Suppenkaspar, nicht auszuhalten! Unerträglich!
Jetzt kommt der Große zurück in die Küche, um wie allabendlich vor seinem Schlafengehen noch eine Stunde zu lesen. Gerade meint Tutti, den Heinz auf der Treppe zu hören, und sie hätte ihn gerne bei seiner Rückkunft allein gehabt. Also wird Gustav zurückgeschickt, er hat natürlich vergessen, dem Kleinen die Nägel zu schneiden.
Gustav versichert hartnäckig, daß heute nicht der wöchentliche Nägelschneidetag sei, sondern erst morgen. Aber solche Rechthaberei und Dickköpfigkeit macht sie ganz zornig: »Auf der Stelle gehst du und schneidest ihm die Nägel! Du hast zu tun, was ich dir sage, Rechthaberei ist sehr häßlich!«
Es war aber gar nicht Heinz auf der Treppe gewesen, und so hatte Gustav umsonst den Schauer aus der mütterlichen Gewitterwolke ertragen müssen. Erst hätte sie sich ohrfeigen mögen, dann aber tröstete sie sich: Es ist ihm nur gut, wenn er gehorchen lernt, auch dann, wenn er den Sinn des Befehls nicht versteht!
Aber die Ohrfeigenstimmung überwog. Sie kam Heinz insofern zugute, als sie ihm einen kleinen Schritt entgegen tat. Sie nahm aus dem Handtäschchen den Erbschaftsbrief und legte ihn sichtbar auf das Schuhschränkchen. Das gab einen Anknüpfungspunkt. Und wenn er aus bloßem Trotz nicht darauf einging, dann gab sie ihn verloren – für immer und ewig!
Kurz vor sieben kam Heinz, die Backen frisch gerötet von der Kälte, völlig harmlos tuend. Eifrig unterhielt er sich mit dem Neffen erst über die Peitsche, dann über die Ruhrbesetzung, die auch die englischen Kronjuristen jetzt für ungesetzlich erklärt hatten. Die Mark war daraufhin etwas kräftiger gekommen ...
Und, über den Tisch weg: »Ich habe noch schnell eingekauft, was zu kriegen war. Wir auf der Bank denken nämlich, die Franzosen geben doch nicht nach. Da wird die Mark wieder fallen. Zwei Zentner Briketts sind auch im Keller.«
»Danke«, sagte sie. »Die Briketts hätten schon noch gereicht ...«
Und sie hätte sich wiederum ohrfeigen mögen, denn erstens stimmte ihre Behauptung nicht, und zweitens konnte sie den Kriegszustand nur verschlimmern. Bei dieser Glätte zwei Zentner Briketts aus der Kohlenhandlung in den Keller zu schleppen, war allerhand Leistung!
Heinz reagierte bloß mit einem erstaunten Achselzucken auf diesen Dank, holte sich ein Buch aus der Stube (wobei er ganz unnötig lange mit Ottchen flüsterte, der doch schon längst schlafen sollte), setzte sich an den Tisch und fing an zu lesen.
Stille herrschte – durch nichts unterbrochen, bis es halb acht wurde. Um halb acht klappte Gustav sein Buch zu, sagte gute Nacht und verschwand. Zwei Minuten später stand Gertrud auf, ging an das Schuhschränkchen, im Angesicht des allerdings lesenden Heinz, knitterte, da er nicht hochsehen wollte, herausfordernd mit dem Schreiben des Amtsgerichts in Bergen und verschwand dann, unter Zurücklassung des Briefes, um sich nebenan davon zu überzeugen, daß der Bengel sich auch ordentlich wusch.
Ihr erster Blick, als sie zehn Minuten später in die Küche zurückkam, galt dem Schwager, der zweite dem Brief. Der Schwager las wie vorher, der Brief lag auch wie vorher.
Mit einem Gefühl der Vernichtung setzte sie sich an ihre Näherei. Bis zum Schlafengehen lagen noch zwei Stunden vor ihnen, aber sie war fest überzeugt, nach so viel Entgegenkommen war sie jetzt nicht mehr fähig, auch nur ein Wort über die Lippen zu bringen. Verstritten sollten sie schlafen gehen! Und warum verstritten? Wegen nichts! (Sie war jetzt völlig davon überzeugt, daß alles »nichts« gewesen war.) Und er hatte zwei Zentner Briketts in den Keller geschleppt! Und an Kokosfett hatte er auch gedacht! Es war ein Jammer!
Viertelstunde um Viertelstunde verstrich in völligem Schweigen. Sie hatte das Gesicht des Lesenden nahe vor sich, ab und zu knisterte die Buchseite. Er tat nicht etwa nur so, als ob er las, er las wirklich! Etwa alle halben Stunden stand er auf und ging hinaus auf den Treppenflur. Er tat es auch heute nicht anders, er rauchte nie in der Küche, zum Rauchen ging er ins Treppenhaus, damit sie nicht in der verqualmten Küche schlafen mußte! Das war eigentlich rücksichtsvoll, aber heute war es nicht rücksichtsvoll, sondern bloß Angewohnheit. Sie war – beinahe – fest davon überzeugt, daß er, wäre er nur daraufgekommen, heute gerade ihr zum Ärger in der Küche rauchen würde!
Als es neun vorbei war, wurde ihr immer angstvoller zumute. Nur noch fünfundzwanzig Minuten! Sie war noch nie mit einer solchen Last auf der Seele schlafen gegangen, und sie mußte sich noch mit ihm aussprechen! Aber er war völlig verbockt!
Zehn Minuten vor halb zehn ging Heinz ein letztes Mal auf die Treppe, um wie immer seine Schlußzigarette zu rauchen. In der Zeit, die er draußen war, überwand sie sich, heroisch: Sie gab noch einmal nach! Sie nahm den Brief vom Schuhschränkchen und legte ihn mitten auf den Tisch. Nach weiteren zwei Minuten rückte sie den Brief näher an sein Buch, eine Minute später ganz nahe an sein Buch – und wäre er noch etwas später hereingekommen, hätte sie ihren Opfermut so weit getrieben, ihn auf das Buch zu legen!
Er kam aber schon herein. »Also denn gute Nacht, Tutti«, sagte er irgendwohin und nahm sein Buch auf. Er stutzte, als er den Brief sah. (Er stutzte ganz echt, hatte ihn also wirklich noch nicht angesehen! Es war unglaublich!) Er las die Aufschrift, den Absender – sagte noch einmal: »Also denn gute Nacht!« und ging zur Stubentür.
»Heinz!« rief sie wie eine Ertrinkende.
»Was denn ...?« fragte er ziemlich mürrisch.
»Der Brief!« Sie wies auf ihn.
»Ja? Was ist denn?«
»Lies ihn doch bitte, bitte, Heinz!«
Er sah sie an, und plötzlich, als er sie da so stehen sah, ein Häufchen Unglück, kummervoll, halb weinend, plötzlich fing er an zu lachen, aus vollem Halse zu lachen ...
»Tutti! Tutti!« rief er lachend. »Was ist denn heute bloß mit dir los?! Du muckscht mit mir, du tückscht mit mir, du gibst mir auch mein Essen nicht, du sagst kein Sterbenswort zu mir – du bist mich doch nicht krank?!«
Und als sie ihn da so stehen sah, groß und lachend und jung und frisch, da überfiel es sie plötzlich, da begriff sie in einer Sekunde, warum sie sich heute vormittag so sehr über seinen »Betrug« aufgeregt hatte, warum sie mit ihm gestritten und geschmollt hatte – begriff, fühlte, daß sie ihn liebte. Daß der jüngere Mann den älteren überlebt hatte, richtig überlebt, daß nichts mehr von Otto in ihr geblieben war.
Und im gleichen Augenblick, da sie ihre Liebe erkannte, erkannte sie auch, daß er nie, nie etwas davon merken dürfte. Sie sah sich wie in einem Spiegel, den Kopf, der mit den Jahren immer schärfer, immer vogelhafter geworden war, den Buckel ... Und sie erinnerte sich, daß er zehn Jahre jünger war als sie ...
Und da dies alles durch sie ging, eine ungeheure Woge von Glück und Trauer, die alles in ihr überflutete, da war sie doch auch schon wieder die Schwägerin Tutti, die er kannte. Sie preßte noch einmal die Lippen fest aufeinander, und dann sagte sie: »Du hast wahrhaftig recht, mich auszulachen, Heinz. Ich bin heute rein verdreht. Es muß die Aufregung gewesen sein, erst die Aufregung wegen der Erbschaft, und dann die Aufregung, als du nicht auf der Bank warst, sondern in Urlaub. Wieso hast du eigentlich Urlaub genommen?«
Während sie aber noch so sprach, fühlte sie, wie die Woge in ihr sank und sank, es war vorbei damit. Es war ein Augenblick gewesen, noch einmal, ehe ihr Leben hinabstieg, hatte es sie hochgehoben wie auf einen hohen Berg, und sie hatte alle Schätze der Liebe, des Glücks und der Trauer sehen und eine flüchtige Sekunde fühlen können. Da aber war ihre Lebensmitte überschritten, sie sank zurück in das kleinere tägliche Leben aus Pflicht und Verzicht ... Und es war nicht einmal schwer ...
Noch lange saßen die beiden und erzählten einander, von Irma und dem viertels bekehrten Großvater, von dem weißen Hause auf der Insel Hiddensee, von der unseligen Eva, der zu helfen sich Heinz hatte beurlauben lassen und die doch keine Hilfe wollte ... Von seinem so kläglich mißlungenen Versuch, ihr die Aufregungen um Eva zu ersparen. »Denn die Stärkste bist du auch nicht, Tutti, und manchmal kriege ich Angst, wenn ich dich in der Nacht so husten höre.«
»Ich habe schon immer gehustet, Heinz, und bei uns daheim sagt man: ›Wer lange hustet, lebt lange.‹«
»Ja, bei euch daheim«, sagte er. »Und wer macht mir hier mein Bett? Ach, Tutti, es wird mir verdammt schwerfallen, wieder in einer möblierten Bude und ohne unsere Jungen.«
»Nun«, sagte sie und konnte sogar lächeln, »ich glaube nicht, daß Irma gerne in einem möblierten Zimmer wohnen möchte, und eigene Jungen sind immer noch besser als ›unsere Jungen‹ ...«
Da sah sie ihn rot werden, so rot, wie ein junger Mann im Jahre 1923 bei einer solchen Bemerkung eigentlich gar nicht werden durfte, und beinahe freute sie sich schon, als er aufstand und sagte: »Red bloß keinen Quatsch, Tutti! Ausgerechnet Irma! Vergiß nicht: wegen Familientrauer geschlossen!«
»Lügner! Wegen einer Familienfeier!«
»Na, so eine Feier wäre doch wie Trauer ...«
In den zwei Wochen, die Erich Hackendahl zum Abbruch seiner Beziehungen in Berlin brauchte, überlegte er immer wieder, ob er den »väterlichen Freund« anrufen solle oder nicht. Je mehr Zeit verging, um so nebuloser und betrunkener erschien jene Nacht der Volkstrauer über den Ruhreinbruch, und betrunkene Sachen darf man nicht wichtig nehmen. Er war betrunken gewesen, der andere war betrunken gewesen, alle waren sie betrunken gewesen, und da unter Trunkenheit bekanntlich das Gedächtnis leidet, brauchte man überhaupt nicht mehr zu wissen, was tatsächlich vorgefallen war. Er jedenfalls hatte nur höchst nebelhafte Vorstellungen von dem Abend.
Oft hatte er den Hörer schon in der Hand und legte ihn still zurück, wenn das Amt sich meldete, oder verlangte eine andere Nummer ... Trotz mangelnder Erinnerung hatte die Väterlichkeit einen Riß bekommen, die Freundschaft war beschädigt ...
Um so eifriger war er damit beschäftigt, all seinen Besitz in Geld zu verwandeln, und zwar in wertbeständiges. Mit der Villa in Zehlendorf hatte er Glück, er verkaufte sie, mit Drum und Dran und Drin, an einen valutastarken Ausländer, der mit einem an der Londoner Börse erworbenen Vermögen halb Berlin aufzukaufen gedachte. Er hatte noch besonderes Glück, denn die beiden Herren waren sich einig, daß Vater Staat oder, exakter gesagt, das Finanzamt möglichst gering an dem Geschäft beteiligt wurde. So machten sie eine kleine Schiebung: Erich wurde Besitzer einer norwegischen Kronen-Forderung an ein Amsterdamer Haus, und der Ausländer zahlte pro forma auf einen weit zurückdatierten Kaufvertrag ein paar Millionen Papiermark.
Ähnlich glückliche Geschäfte gelangen beim Verkauf seiner Firma, bei der Eintreibung seiner Forderungen, beim Abstoßen seines Autos – und am Vorabend seiner Abreise konnte Erich sagen: »Alles, was ich besitze, ist draußen ...«
Zufrieden ging er in seinem Hotelzimmer auf und ab, freute sich, daß er die Reste seiner lumpigen Papiermark noch in einem Pelz, einer goldenen Uhr und einem Brillantring hatte anlegen können, und überlegte, ob die Herren Zollbeamten ihm mit seiner durchweg nagelneuen Ausstattung Schwierigkeiten machen würden oder nicht.
Wozu aber hat man Beziehungen? Erich griff zum Telefon, nannte die Geheimnummer des Reichstagsabgeordneten, und eine halbe Minute später klang die alte sanfte, ein wenig spöttische Stimme an sein Ohr ...
»Tag, Erich. – Ich wollte dich auch schon anrufen. – Ja, natürlich, es war ein bißchen zuviel geworden. – Die Kerls pantschen einem aber auch ein Gesöff zurecht. – Ganz richtig, ich hatte tagelang – wie eine Vergiftung. – Richtig, richtig, ich kann mich kaum noch erinnern ... Ganz dunkel, wir müssen dann noch weitergegangen sein ... Mein Arzt meinte, Methylalkohol könnte solch eine Wirkung haben. – Und dabei kostet der Sekt zehn Dollar, toll! – So, wirklich? Nein, das ist ja großartig – wirklich? Und tatsächlich Brüssel? – Wieso eigentlich Brüssel? Liegt dir besonders daran? Nicht besonders, du hast da keine besonderen Beziehungen? – Nur vom Kriege her, ja, natürlich, verstehe, verstehe ... Warte mal, Erich, hast du'ne halbe Stunde Zeit? – Ich hätte dir da eventuell einen Vorschlag zu machen. – Großartig! In deinem Hotel? Gut, ausgezeichnet! Also, ich bin in einer halben Stunde in deiner Hotelbar. – Auf Wiedersehen, alter Junge. War vernünftig von dir, daß du mich noch angerufen hast ...«
Lächelnd hatte Erich wieder angehängt ... Alles in bester Butter, dieser alte Fuchs, mangelndes Erinnerungsvermögen, Sekt mit Methylalkohol – nun gut! Die Hauptsache, er kam! Sie müßten nicht Sie sein, Herr Doktor, wenn Sie nicht auch ganz gern ein paar Pfunde, Dollars, norwegische Kronen verdienten!
Dann also fand die denkwürdige Unterredung in der kleinen gemütlichen Hotelbar statt. Noch nie war der Anwalt so väterlich freundlich gewesen, noch nie Erich so sohnhaft folgsam. Da saßen sie, ein nicht unvermögender, junger, unternehmungslustiger Kaufmann, am Vorabend seiner Abreise, gewillt, sein Glück in der weiten Welt zu suchen, und der erfahrene Reichstagsabgeordnete, väterlich bereit, ein letztes Mal seinem Schützling mit Rat und Tat beizustehen.
Was den Rat anging, so war der Abgeordnete entschieden gegen Brüssel. Brüssel war als Devisenbörse zweitrangig. In der Stadt Amsterdam aber begaben sich große Dinge, dort wurden ungeheure Schlachten um die Mark geschlagen. »Und die Mark, darin waren wir uns ja einig, wird dein Hauptbetätigungsfeld sein. Was die Mark anlangt, könnte ich dir unter einem ganz einfachen Schlüssel, den wir noch verabreden werden, regelmäßig Weisungen zukommen lassen.«
Der Kellner brachte die bestellten Cobbler. Der Abgeordnete sagte mit leicht erhobener Stimme: »Die Stützung der Mark wird ja deine Aufgabe sein, lieber Erich!«
Beide Herren lächelten fein und rührten gedankenvoll in ihren Gläsern.
»Nein«, sagte der Anwalt noch einmal, »du kannst dir natürlich Brüssel ansehen. Aber Amsterdam wird das Richtige für dich sein, schon wegen des noch immer sehr lebhaften Deutschenhasses in Brüssel. Für Amsterdam könnte ich dir auch eine warme Empfehlung an einen Freund, den Bankier Roest, mitgeben ...«
Der Umsatz an Getränken hielt sich diesmal in durchaus mäßigen Grenzen, doch übergab der Abgeordnete seinem jungen Freunde ein Paketchen zur Mitnahme nach Amsterdam, seine Beteiligung am Geschäft. »Für diesen Betrag gehe ich mit dir; du kannst über ihn verfügen, nach meinen Tips ...«
Es war kein kleiner Betrag, aber der Anwalt blieb sanft und bescheiden. »Nimm mich eben mit bei deinen Geschäften, wenn es dir gut scheint ... Nein, schon gut, eine einfache Quittung, ich habe sie bereits vorbereitet ... Als Darlehen, das ist das einfachste ... Was wir wegen Geschäfts- und Gewinnbeteiligung vereinbart haben, bleibt mündlich zwischen uns. Ich verlasse mich eben ganz auf dich ... Wie du damit über die Grenze kommst ...? Warte, warte ...« Er versank in Nachdenken. Dann: »Verschiebe deine Reise noch um einen Tag, ich denke, es wird sich einrichten lassen, daß du als Sonderkurier des Auswärtigen Amtes reist – du verstehst: Diplomatengepäck.«
Wieder lächelten beide.
»Ich möchte diese Quittung aber doch erst absenden, wenn ich mit dem Geld über die Grenze bin«, sprach Erich bescheiden, aber fest.
»Wie du willst, lieber Erich, ganz wie du denkst. Du sollst keine Gefahr laufen. Ich verlasse mich ganz auf dich. Schließlich – du wirst meine Informationen über die Mark gebrauchen. Wir sind aufeinander angewiesen, nicht wahr?«
Diesmal sahen sie beide ernst aus, jeder dachte nach, schließlich nickte jeder. Ernst.
Dann verbreitete sich der Abgeordnete über die Aussichten des Ruhrwiderstandes und der Regierung Cuno. Die Regierung Cuno hatte seine Billigung nicht. »Sie wird fallen – was soll heute eine Regierung gegen die stärkste Partei, die Sozialdemokratie? Sie muß fallen!«
»Und der Ruhrwiderstand ...?«
»Hat man einen Krieg verloren, darf man sich nicht zieren. Die Franzosen haben so viel verlangt, und wir haben ja und amen gesagt, da hätte man auch hierin nachgeben sollen! Auch der Ruhrwiderstand wird fallen!«
Was aber am stärksten fallen werde, das sei die Mark. Wie der Dollar heute stehe? Auf 42 000! Nein, er werde noch stehen auf 42 Millionen, auf 42 Milliarden – die Mark werde ins Bodenlose gewirtschaftet werden, mit der Mark sei es vorbei! Es handele sich nur darum, zu wissen, wann es mit ihr vorbei sei, wann man »fest« werden könne. »Ich werde dir telegrafieren, Erich! – Du wirst sehen ...!«
Drei Tage später reiste Erich als diplomatischer Sonderkurier nach Brüssel ab. Es freute ihn ausnehmend, daß das Reich die Kosten dieser seiner Fahrt gegen die Mark bestritt. –
Es war ein trüber, grauer Februartag, als Erich in Amsterdam eintraf. Die Stadt mißfiel ihm, sie schien ihm eng, düster, überfüllt, lärmend. Die Grachten lagen tot, stinkend und neblig da. Auch das Büro des Bankiers Roest mißfiel ihm, drei enge, lichtlose, schmutzige Stuben im dritten Stock eines engen, schmutzigen, lichtlosen Hauses. Drei-, viermal ging er vergeblich, ehe Herr Roest ihn empfing.
Herr Roest war ein langer, bleicher, zappeliger Mann mit einer goldgefaßten Brille. Er bat seinen Besucher nicht, Platz zu nehmen. Er lief auf und ab, wobei er sich immer wieder das Gesicht mit einem großen, bunten Taschentuch abtrocknete ...
»Wen schickt er mir da?« murmelte er. »Lauter Schnorrers! Ich habe keinen Platz auf meinem Büro! Nur noch Schnorrers gibt's in Deutschland! – Gott, haben Se gehört, der belgische Franken is fest gewesen?! Wie Eisen, Ihnen gesagt! Und ich liege mit einer Million in der Baisse!«
Herr Roest starrte seinen Besucher entgeistert an, aber er sah ihn nicht. Er verbreitete sich noch länger, unter ständigem Abtrocknen des Gesichtes, über die Hinterlist der belgischen Regierung, die ein Fallen des belgischen Franken habe erwarten lassen, ihn aber heimlich stütze!
»Lauter Verbrecher! Die Kränke sollen se kriegen! Und ich liege mit einer Million in der Baisse!«
Schließlich besann sich Herr Roest wieder auf Besucher und Brief. »Was wollen Se?« fragte er argwöhnisch. »Alle wollen se was von mir. Und wer gibt mir?«
Er entschloß sich zum Lesen des Briefes und wurde milder. »So? Auf de Börse wollen Se gehn? In Devisen wollen Se machen? Da sind Se richtig – ich werd sorgen für Se, als wären Se mein Sohn, wie für mich selbst will ich sorgen! Die Mark, die Mark, was wolln Se mit de Mark? Da verbrennen Se sich die Finger, wer kann wissen, was wird mit de Mark? Der Poincaré – er ruiniert se! Was hat der Mann davon?! Nischt hat er davon! Wenn er noch was davon hätte – aber bloß so! Nee? Mit wieviel wollen Se reinsteigen ins Geschäft?«
Erich Hackendahl murmelte etwas von fünfzigtausend Dollar, er wolle es sich noch überlegen, ein bißchen herumhorchen ... Herr Roest gefiel ihm nicht, mit seinen schmutzigen, abgebissenen Nägeln, seiner Art zu klagen und zu schimpfen, dem seidenen Taschentuch ...
»Gehn Se, junger Mann! Fragen Se! Fragen Se nach Bankier Roest – Se werden hören! Was werden Se hören? Gott, ich liege schief, ich liege schief mit einer Million Brüssel!« Er besann sich, streckte dem Besucher eine schweißige, dürre Hand hin. »Se werden hören. Se werden wiederkommen! Gott, was für ein unerfahrener Nebbich, denkt, er kann behalten das Geld in seiner Hand und machen große Geschäfte. Er wird sehen ...!«
Erich Hackendahl sah, er sah die Stadt im Taumel. Das heißt, er sah gar nicht die Stadt. Er hatte vorgehabt, in das Rijks-Museum zu gehen und sich die Rembrandts anzusehen. Der Binnenländer wollte sich den Hafen anschauen, den Überseeverkehr – er sah nie etwas davon. Er saß herum in den Hallen der Luxushotels, in den Bars der Stadt, in den Cafés, wo die Börsianer saßen. Er kam in die Stuben der Börsenmakler, saß mit anderen Kunden um die Tische und starrte fieberisch gespannt die Glastafeln an, auf denen Zahlen leuchteten, die Notierungen, verloschen, wieder aufleuchteten ...
Wo er ging und stand, hörte er nur noch Worte wie Golddevise, in die Baisse gehen, fixen, Brief und Geld, Arbitrage, Gulden, Franken, Dollar, Pfund – er hörte nichts anderes mehr. Es mochte sein, daß das holländische Volk ein anderes Leben führte. Manchmal, wenn er um vier Uhr morgens aus einer Bar ins Hotel ging, sah er die Fischer auf ihrem Weg zum Hafen, sah ihre braunen, lederartig gegerbten Gesichter mit den merkwürdig hellen Augen. Und flüchtig kam ihm zum Bewußtsein, daß diese Leute zur Arbeit gingen, zu richtiger Handarbeit, daß sie ihr Leben für einen Gulden wagten, während nahebei, hinter den Mauern der Börse, jeden Tag Zehntausende, Hunderttausende, Millionen von Gulden zu gewinnen (und zu verlieren) waren.
Aber das glitt vorüber, es haftete nicht. Es hatte nichts mit ihm zu tun. Er war empört gewesen, daß der Bankier Roest ihn als Schnorrer und Nebbich empfangen hatte, aber er sah bald, daß er in dieser Stadt, die in einem Millionentaumel lebte, wirklich ein Nebbich war. Der Bankier Roest mit seinen drei armseligen, verdreckten Zimmern lag mit fünfzig Millionen Gulden Engagements auf dem Markt.
Andere Leute, neben denen er früher in einem Café nicht hätte sitzen mögen, so ungepflegt sahen sie aus, hatten noch viel größere Geschäfte laufen. Jetzt mochte er neben ihnen sitzen, er drängte sich an sie, er lauschte andächtig ihren Worten, wenn sie, mürrisch in ihrem Kaffee rührend, sagten: »Ich hab'n Gefiehl, ich hab geträumt von eine schwarze Katz mit weiße Fleck. Ich hab'n Gefiehl, der Dollar wird kommen morgen flau ...«
Dann sah er diese Gestalten in ihre englischen oder italienischen Luxusautos steigen und abbrausen im Hundertkilometertempo nach Scheveningen oder Spaa ...
Ein brennender Neid erfüllte ihn. In Berlin war er sich mit seinem Vermögen von gut einer halben Million wie ein reicher Mann vorgekommen, hier sah er ein, daß er nichts hatte. Es gab hier Leute, und er sprach mit ihnen, die den zwanzigfachen Betrag seines Vermögens in einer halben Stunde verloren und lachten. »Ich werd nich betteln gehn – wiederholen werd ich mir mein Geld«, sagten sie lachend. Und sie holten es sich wirklich wieder.
Erich Hackendahl beneidete sie und verachtete sie. Er beneidete sie um ihre Nase für den Markt, ihre Nerven, den tollkühnen, bedenkenlosen Mut, mit dem sie fast stündlich ihre ganze Existenz, all ihr Hab und Gut wagten, er beneidete sie noch um ihre flauen Gefühle ... Und er verachtete sie tief für ihre Unfähigkeit, mit dem gewonnenen Gelde etwas anzufangen, rechtzeitig, wenn sie »wirklich reich« waren, auszusteigen, den Aufregungen der Börse zu entfliehen und ein Leben zu führen, wie er es sich schön dachte.
Dunkel dämmerte es ihm wohl, daß diese Leute ganz anders waren wie er, daß sie nicht einmal Geschäfte machten, um reich zu werden, sondern um Geschäfte zu machen. Im Grunde waren sie Spieler – und wie alle Spieler waren sie ohne Hemmungen, ohne Bedenken, nur weiterspielen wollten sie. Er aber wollte reich werden, um reich zu leben. Er wollte sich schöne Dinge kaufen können, mit schönen Frauen leben, schöne Reisen machen. Seine ganze Jugend hindurch hatte er die Luft über einem Stall gerochen, er schauderte, wenn er daran dachte. Nie wieder arm sein, dachte er, sich nie wieder um Geld sorgen müssen!
Vorsichtig fing er an, mit seinem Geld zu operieren. Er hinterlegte bei zwei, drei Maklern Beträge als Sicherheit und fing an, Kauf- und Verkaufsaufträge zu geben. Er war sehr ängstlich, er verlor nie das Gefühl, daß der Boden unsicher war, auf den er trat. Bankier Roest (den er übrigens auch mit seiner Kundschaft beehrte) hatte ihn in den ersten fünf Minuten richtig beurteilt: Am liebsten hätte er sein Geld fest in der Hand behalten, er wollte ohne Einsatz spielen!
»Er wird erleben, der Nebbich!« lächelte Herr Roest bei sich und beriet den Kunden vorsichtig und behutsam. Er wußte, man muß die Vögel erst füttern, ehe man das Netz über ihnen zusammenziehen kann.
Das ganze Frühjahr hindurch lag die Mark bedauerlich fest, ja, sie erholte sich sogar um fünfzig Prozent. Erich, der allein in der Markspekulation mehr zu wissen glaubte als die anderen, kam zu keinen Umsätzen. Unablässig, den ganzen März und April hindurch, lauteten die Telegramme aus Berlin: »Doras Befinden unverändert. Vater.« Unablässig blieb diese Cuno-Regierung dabei, die Mark zu stützen; die Baissiers erlitten kläglich Schiffbruch oder lagen schief.
Ein paarmal wagte sich der ungeduldig werdende Erich an Franken-Spekulationen. Aber der Franken war unberechenbar. Erich gewann ein paar tausend Franken, blieb im Geschäft und verlor fünfzehntausend ... Mitte Mai war er seinem Ziele ferner als Anfang Februar. Im ganzen gesehen hatte er Geld verloren, dazu war das Leben in Amsterdam sündenteuer.
Um diese Zeit hatte Erich bereits die Gewohnheiten der Börsianer angenommen. Das Zimmer seines Hotels sah ihn nur ein paar Morgen- und Vormittagsstunden. Die ganze übrige Tageszeit trieb er sich bei den Banken und Maklern herum, lauschte auf ihr Jargongeschwätz, fieberte den gekabelten Anfangskursen New Yorks entgegen (auch wenn er nicht beteiligt war) und versaß die Nächte in Cafés und Bars. Gegen seinen ursprünglichen Vorsatz hatte er sich keine feste Freundin genommen. Er begnügte sich mit den gelegentlich in einer Bar gefundenen Genüssen. Er war jetzt sechsundzwanzig Jahre alt und merkte schon, daß die Frauen an Reiz für ihn verloren – sie waren ihm nicht mehr wichtig. Viel wichtiger war ihm sehr gutes Essen, gute Weine (aber nicht im Übermaß). Er wurde rasch dick und noch rascher körperlich faul.
Aber innerlich war er unruhiger als je, nur ein Gedanke hielt ihn besessen: Geld! Er wollte sein Geld wiederhaben, und er wollte den zwanzigfachen Betrag dazuverdienen. Daran dachte er unaufhörlich, darüber grübelte er die vielen Stunden nach, die er vor einem Kaffee saß, die erloschene Zigarre im Mund, warm von der Verdauungswärme.
Er machte tausend Pläne – aber wenn ihm einer ganz sicher schien, schauderte er im letzten Augenblick vor dem Risiko zurück. Er schauderte vor der Armut zurück, er hatte einmal das geschmeckt, was er für Armut hielt, bei seinen Eltern, nie wieder! Er mußte sein Geld festhalten. Sein letzter Ausweg blieb immer der Freund in Berlin – wobei er nie ganz vergaß, daß dieser Freund vielleicht gar kein Freund mehr war, obwohl er ihm eine recht erhebliche Summe Geldes anvertraut hatte. Aber das konnte Falle gewesen sein.
Im ersten Drittel Mai wurde ihm, als er gegen fünf Uhr morgens in seinem Hotel anlangte, gesagt, ein Herr warte bereits seit dem Abend auf ihn. Aus der Miene des Nachtportiers sah er, daß der Herr nichts Besonderes sein könne. Der Besucher, den er dann aus tiefem Schlaf in einem Sessel wachrütteln mußte, sah denn auch nicht nach viel aus: ein junger Bursche, mäßig gekleidet und schlecht genährt, wie all diese Kerle, die jetzt aus Deutschland kamen und Amsterdam überschwemmten.
Der Bengel behauptete, vom Freund des Herrn aus Berlin zu kommen und seine Botschaft nur unter vier Augen überbringen zu können. Erich Hackendahl nahm den Mann mit auf sein Zimmer. Dort entledigte sich der Bursche ohne ein weiteres Wort seiner Jacke und holte aus deren Futter einen vielfach zusammengefalteten Zettel, den er Erich hinhielt ...
Erich nahm den Zettel zögernd, faltete ihn auseinander und las in Maschinenschrift die Botschaft, daß die Reichsbank in drei oder vier Tagen die Stützungsaktion der Mark aufgeben würde und daß Erich mit allem, was er habe, in die Baisse gehen solle. »Jetzt kommt es, wie ich gesagt habe.«
Erich gab dem Burschen einen Zehnguldenschein und versprach ihm noch weitere hundert, wenn der Zettel ihm Glück bringen würde. Er solle in einer Woche wieder nachfragen ...
In dieser Nacht schlief Erich nicht. Immer wieder überlegte er, was er tun sollte. Konnte dies nicht der Augenblick sein, in dem der Freund sich rächen wollte? Nichts auf der Börse hatte bisher auf einen Marksturz schließen lassen. Die Mark war in den letzten vier Wochen langsam gefallen, aber sie stand immer noch höher, als sie Ende Januar gestanden hatte. Wenn er, wie die Weisung lautete, mit allem, was er hatte, in die Baisse ging, und die Mark blieb fest, der Freund hatte ihn hereingelegt – er schauderte.
Der Ausweg, auf den er schließlich kam, war recht bezeichnend für Erich. Er selbst wartete erst einmal ab, legte aber das ihm vom Freunde anvertraute Geld in einem Baisse-Engagement der Mark an. Roest riet dringend ab: »Die Deutschen halten durch an der Ruhr! Die Mark is wie Eisen!« rief der Bankier. Aber Erich war auch wie Eisen – und wagte das Geld des Freundes.
Zwei Wochen später verfluchte er sich. Die Stützungsaktion war aufgegeben, die Mark war gefallen. Er hatte mit dem Gelde des Freundes fünfzigtausend verdient, aber er hätte eine halbe Million verdienen können! Der Freund war wirklich Freund gewesen – und er Esel hatte ihm mißtraut! Wenig Trost war ihm die beflissene Achtung, die ihm Herr Roest zollte: »Hat er mehr gewußt, der junge Goi, als die ganze Börse in Amsterdam! Hätt er mir gegeben einen Wink, ich hätt ihn mitgenommen – wir stünden da – so!!!«
Und Herr Roest trocknete sein schweißtriefendes Gesicht mit einem seidenen Taschentuch.
Aber von diesem Tage an kam doch Leben in Erichs Geschäfte. Die Telegramme aus Berlin meldeten eine ständige Verschlechterung von Doras Befinden. Und Erich mißtraute ihnen nicht mehr, mißtraute nicht weiter dem Freunde, dagegen mißtraute er kräftig der eigenen Zaghaftigkeit. Es kam nur noch darauf an, abzuschätzen, wie rasch die Mark fiel – und auch darüber gab es Botschaften aus Berlin, meistens durch Telegramme, oft durch Boten ...
Ende Juli war Erich Millionär – aber das war nichts, eine Million, Roest lag jetzt mit fünfzehn auf der Börse! Im August, als die Regierung Cuno gestürzt und durch das Kabinett Dr. Stresemann ersetzt wurde, als wieder freundliche Töne gegenüber Frankreich laut wurden und der Dollar von einer auf zehn Millionen Mark stieg – hatte Erich fünf Millionen Goldmark voll!
Aber es hatte Nerven gekostet! Er schlief nur noch mit Schlafmitteln, mochte überhaupt nicht mehr zu Fuß gehen, ungern sprechen. Er saß zwei Stunden beim Essen und sprach den Börsenjargon vollendet. Die Makler begegneten ihm achtungsvoll, die Bankiers fragten ihn kameradschaftlich nach seiner Ansicht über Devise Oslo ... Sein Kopfhaar wurde sehr dünn ...
Aber all dies war nur ein Anfang – der Taumel begann erst. Im September wurde der passive Widerstand an der Ruhr abgebrochen, in drei Wochen stieg der Dollar von 20 auf 160 Millionen Mark! Erich wußte nicht mehr, wieviel er besaß, der Hauptteil seines Vermögens steckte in Engagements, ständig änderten sich die Kurse. Manchmal raffte er sich auf und rechnete, aber er verwirrte sich, die endlosen Zahlenkolonnen ermüdeten ihn, er gab es auf ...
»Nun mache ich aber Schluß ...«, schwor er sich. »Nur noch ...«
Erich Hackendahl war immer ein Baissier gewesen; er hatte sein Vermögen dadurch verdient, daß er an den Fall der Mark glaubte, an den Untergang der deutschen Währung, Deutschlands. »Nie wieder nach Deutschland«, sagte er oft. Und alle gaben ihm recht.
Aber er wußte, einmal mußte die Mark fest werden, irgendwie würde sie stabilisiert werden. Es wurde schon viel von einer Goldwährung, ja, von einer Roggenwährung gemunkelt. Während die Mark den ganzen Oktober durch weiter fiel, in die Milliarden hinein, machte sich schon Unsicherheit bemerkbar. »Wann wird se stille stehn? Wird man rechtzeitig aussteigen?«
Erich dachte hundertmal daran. Er hatte das Aufgeben der Stützungsaktion vorher gewußt und hatte keinen Mut gehabt. Jetzt war die Partei des Freundes wieder an der Regierung beteiligt, er würde seinen Tip bekommen – und dieses Mal wollte er alles wagen! Wagen? Es war kein Wagnis. Der Freund war ein Freund, jeder Tip von ihm war goldrichtig gewesen. Ein einziges Mal wollte Erich mit der Mark in die Hausse gehen – dann wollte er sich zurückziehen! Er hatte sogar vor, mit dem Freunde anständig abzurechnen, er sollte zufrieden sein.
Im letzten Drittel Oktober wurden die Gerüchte, die Unsicherheit um die Mark immer größer. In Berlin war eine Rentenbank gegründet, wie würde man die Mark stabilisieren? Erich entschloß sich, einen Boten an den Freund zu senden. Er fand einen deutschen Kellner, der wegen Heimwehs nach Deutschland zurückkehren wollte (eine tolle Idee!), bezahlte ihm das Reisegeld und sandte ihn mit einem Zettel nach Berlin.
Am 1. November bekam er durch Boten den Bescheid, daß die Mark bei einem Dollarstand von 420 Milliarden stabilisiert werden würde. Der Dollar stand auf 130 Milliarden. Einen Tag, noch einen zweiten zögerte Erich ... Dann, als am dritten der Dollar mit 420 Milliarden notiert wurde, entschloß er sich, unter Verfluchung seiner eigenen Feigheit, und legte sich mit allem, was er hatte, auf 420 Milliarden fest. Ging, Baissier, der er war, zum ersten Male in die Hausse.
»Gott soll Sie bewahren!« rief Roest. »Wie Sie rangehen! Ihr Geschrei werde ich hören, morgen!«
Herr Roest irrte sich, der 4. November kam und ging, und die Mark blieb fest. Erich triumphierte und zitterte doch noch. Am 5. wurde Herr Roest zweifelhaft. »Soll er recht gehabt haben, der junge Goi?! Er is mir empfohlen worden von Berlin! Soll man noch einsteigen? Noch is Zeit ... Nei, nei, nei, ich steig nich ein, ich glaub nich an de Daitschen ...«
Und er trocknete sich verzweifelt das Gesicht.
Auch am 6. November war die Mark aus Eisen, 420 Milliarden, darauf hielt sie sich. Erich berechnete seinen Gewinn, sein Vermögen. Wenn er eine halbe Million Goldmark für den Berliner Berater abzweigte, blieben ihm immer noch 23 Millionen Mark.
»Ich hab's geschafft!« sagte Erich und schlief erleichtert ein.
Aber schon nach wenigen Stunden weckte ihn das Klingeln des Telefons. »Wo sind Se? Was schlafen Se?!« rief Herr Roest am Apparat. »Die Mark hat eröffnet schwach, der Dollar kommt mit 510, und der Mensch schlaft! Kaputt sind Se!«
Ganz leise legte Erich den Hörer auf den Apparat zurück. Er stand nicht auf, er blieb liegen in seinem Bett, ein Gefühl der Schwäche saß ihm in seinem Leib. Ich bin geschlagen, sagte er sich. Er hat mich reingelegt ...
Und doch konnte er es noch nicht glauben. Alle diese Monate in einer gnadenlosen Hölle gelebt. Und wofür? Um alles zu verlieren! Es war unmöglich! Er rief einen Makler an, der Dollar kam schon mit 590 ...!
»Kommen Se, sehen Se – die Mark wird hingemacht. Das ist eine Devise, die Mark – man kann sich erkränken!«
Aber er kam nicht, er rettete nicht. Er lag im Bett, sein weißes Fett zitterte, er hatte Angst ... Er hatte genauso Angst wie damals im Schützengraben ... Einmal dachte er: War ich damals mit ihm ins Café gegangen – wie stünde ich jetzt da!
Doch das verging wieder, andere Gedanken kamen, er erinnerte sich, daß er gestern noch, vor zwölf Stunden noch, geglaubt hatte, er hätte es geschafft – dreiundzwanzig Millionen! Ihm fiel ein, was er hatte kriechen, gaunern und sich selbst verleugnen müssen, ehe er die ersten zwanzigtausend zusammengebracht hatte. Das werde ich nicht noch einmal fertigbringen, dachte er verzweifelt. Aber was dann ...?
Für einen Mann wie ihn, für einen Mann, der gewesen war, was er gewesen war, war es unmöglich, in das Nichts zurückzukehren, in die Armut, in ein Angestellten-Dasein etwa. Was nun ...?
Zweimal meldete er ein Telefongespräch nach Berlin an und zog es wieder zurück.
Der Bankier Roest beschwor ihn, zu kommen, zu retten, was noch zu retten war. Es wäre tatsächlich noch etwas zu retten gewesen, der Dollar war mit 630 Milliarden notiert, einen Teil seines Geldes hätte er sich wiederholen können.
Er zog sich an und ging aus. Nein, diesmal fuhr er nicht, er ging zu Fuß, und er ging zu keinem Makler oder Bankier, er ging zu Fuß hinaus zum Rijks-Museum. Er wollte sich wenigstens noch die Rembrandts ansehen. Aber dieser 7. November, fast auf den Tag genau der Fünfjahrestag des Waffenstillstandes, war kein Glückstag für ihn: Das Museum war schon geschlossen. Ich werde morgen wiederkommen, dachte er. Die Rembrandts wenigstens will ich gesehen haben ...
Auf dem Rückwege zu seinem Hotel kam ihm eine Erleuchtung. Er schlug sich mit der flachen Hand vor den Kopf. Es war doch klar, hinter dieser ganzen Baisse steckte die deutsche Regierung! Sie wollte ihre Mark billig zurückkaufen, dann würde sie doch mit 420 stabilisieren! Und hatte ein Milliardengeschäft auf dem Rücken der Weltbörsen gemacht!
Wie sein Vater sagte er: »Ich bleibe eisern! Ich liege schief, bis die Mark auf 420 geht! Eisern!«
Sechs Tage lang, vom 7. bis zum 12. November, harrte er aus, der Dollar blieb in diesen Tagen unverrückt auf 630 Milliarden! Er erhoffte immer weiter eine Stabilisierung auf 420, der Freund hatte es ihm geschrieben. Da seine Hinterlegungen seine Verluste deckten, ließen ihn die Makler in Ruhe. Nur Bankier Roest sagte: »Se sollen so eisern sein, wie die Mark eisern ist! Ein verlorener Mensch sind Se!«
Am 13. November wurde der Dollar mit 840 Milliarden notiert, genau mit dem Doppelten des Kurses, auf den Hackendahl gerechnet hatte. An diesem Tage wurde die Rechnung Erich Hackendahl von den Maklern glattgestellt, seine Hinterlegungen wurden zur Deckung seiner Verluste von ihnen eingezogen. Er lief von einem zum anderen, er bat sie, nur noch einen einzigen Tag zu warten, er schwöre es, die Mark werde mit 420 stabilisiert.
Sie zuckten die Achseln, lachten ... Roest sagte: »Gewinnen möchten se alle, diese kleinen Nebbichs, aber verlieren ... Herr Hackendahl, seien Se'n Mann, Se haben noch ä schönes Auto, ä Brillantring, keine Familie – ich hab schon schlimmer dagestanden als Sie!«
Immer wieder meldete Erich ein Telefongespräch nach Berlin an – erst gegen Abend bekam er den Freund am Apparat zu fassen. Aber schon am Klang der Stimme erriet er, daß nichts mehr zu hoffen blieb.
Schön, daß Erich einmal anrufe ... Wie es ihm gehe? Warum er so lange nichts habe von sich hören lassen? Was er denn in Amsterdam mache? – Ah! Die Geschäfte gingen schlecht? Soso, die Geschäfte gingen schlecht! Betrüblich – für Erich! Was das solle? Geschrieben? Telegrafiert? Aber was das denn für Scherze seien? Erich werde doch nicht auf irgendeinen Spaßvogel hereingefallen sein? Dafür sei er bestimmt viel zu klug! – Nein, bitte nicht diese Töne, aller Freundschaft ungeachtet! Briefe? Telegramme? – »Einen Augenblick, bitte, Erich ...«
»Hier spricht der Bürovorsteher. Jawohl. Herr Justizrat hat mich eben beauftragt, einer eventuell in Frage kommenden Zeugenschaft wegen, Ihre Beschwerde entgegenzunehmen. Sie wollen Briefe und Telegramme von Herrn Justizrat erhalten haben? – Herr Justizrat bittet mich, Ihnen mitzuteilen, daß er Ihnen niemals ein Wort geschrieben oder telegrafiert hat. Sein Name ist also mißbraucht worden – ach, die Briefe waren ungezeichnet? Aber was bringt Sie zu der Annahme ...?«
Aussichtslos. Erich hing ab.
Eine ganze Nacht lang beschäftigte ihn der Gedanke an Selbstmord. Aber keine Methode schien ihm sicher genug und schmerzlos genug. Sicherheit und Schmerzlosigkeit mußten vereint sein. Und etwas den Wünschen Erichs Entsprechendes gab es da nicht.
Die Auflösung seines Amsterdamer Hausstandes ging wesentlich schneller als die des Berliners. Er hatte nur sein Auto zu verkaufen. Soviel Geld er in Amsterdam auch zeitweilig besessen hatte, außer dem Auto hatte er nichts angeschafft. Diesmal brauchte er sich nicht vor dem Zoll zu fürchten: Wenn er auch noch recht gut ausgestattet war, neu wirkten seine Sachen nicht mehr.
Mit drei Koffern, einem Herrenpelz, einem Brillantring und einer goldenen Uhr fuhr Erich Hackendahl wieder ab von Amsterdam – und mit einem glühenden Haß gegen den ehemaligen Freund im Herzen.
Es war der 16. November 1923, der Dollar notierte auf 2 520 000 000 000 Mark. Die Frage, auf welchem Kurs die Mark stabilisiert werden würde, war immer noch unbeantwortet.
Das Wetter war grau, neblig, feuchtkalt, genau wie am Tage seiner Ankunft.
Erst als Erich Hackendahl im D-Zug nach Köln saß, fiel ihm ein, daß er nun doch nicht dazu gekommen war, die Rembrandts anzusehen. Er hatte das Gefühl, daß er das nie würde nachholen können.
Um dieselbe Zeit etwa, da Erich Hackendahl in seine Heimatstadt Berlin zurückkehrte, traf auch Heinz Hackendahl, von einer kürzeren Reise kommend, wieder in Berlin ein. Er hatte seine Schwägerin Gertrud mit den beiden Jungen nach der Insel Hiddensee gebracht.
Während Erich Schlachten um Millionen geschlagen hatte, um Goldmillionen, und besiegt worden war, hatte Heinz mit Papiermillionen gekämpft; es wurde, trotz Tuttis unermüdlicher Hilfe, immer unmöglicher, das Brot für vier Münder heranzuschaffen – dieses Brot, das, anders als im Kriege, jetzt in allen Bäckerläden bereitlag, man mußte nur Geld haben, es zu kaufen.
Als schließlich eine Besichtigungsreise nach Hiddensee nicht ungünstig verlaufen war, als mit Kartoffeln in der Miete, einer Kuh im Stall, drei Schweinen im Koben die Ernährung der ewig hungrigen Jungen sichergestellt schien, war die Übersiedlung erfolgt.
Am Abend vor seiner Abreise hatten Tutti und er noch am Strande auf einem Fischerboot gesessen: Die Jungen, müde vom Tollen in der ungewohnten Meeresluft, schliefen längst.
»Ach, das tut gut«, sagte Tutti, zusammenschauernd im Wind.
»Ein bißchen kühl, was?« fragte Heinz.
»Aber es ist sauberer Wind, und es ist saubere Kühle!« rief Tutti, glücklich, wieder daheim zu sein.
»Das sicher! Du wirst aber mächtig auf Gustav aufpassen müssen, der bekommt zu leicht was im Hals!«
»Ach, hier wird man doch nicht richtig krank. Auf dieser Insel ist noch nie ein Doktor reich geworden.«
»Du mußt aufpassen, sage ich dir, Tutti«, rief Heinz energischer.
»Selbstverständlich«, antwortete sie. »Ich denke doch nie an etwas anderes als an die Kinder, Heinz.«
Sie hatte natürlich recht, es war Unsinn, sie zu erinnern. Sie hatte nie an etwas anderes gedacht als an die Kinder. Er sagte: »Wenn ihr nur noch ein halbes Jahr in Berlin geblieben wäret, Tutti, hätte ich erreicht, daß Vater sich die Kinder angesehen hätte.«
»Es ist nicht so wichtig, Heinz.«
»Nicht für dich und nicht für die Kinder«, gab er zu.
»Aber für Vater wäre es vielleicht wichtig gewesen. Vater hat überhaupt keine Freude mehr.«
Eine Weile schwiegen beide. Es war nun fast ganz dunkel geworden, nur über dem rauschenden Wasser lag es wie eine neblige Helle, und dann kam in sehr kurzen Zeitabständen der blendendweiße Lichtblitz des Leuchtturms auf Arkona und der mehr rötliche, ruhige Schein des Turmes Bahöft.
Beide dachten an den alten Mann, der sich an einem schlimmen Tage tapfer gehalten hatte, sehr tapfer ...
»Wirst du manchmal nach Eva sehen?« fragte Gertrud Hackendahl.
»Selbstverständlich. Sooft es geht.«
»Ich werde ihr schreiben von hier. Auch ein Paket schicken, wenn wir geschlachtet haben.«
»Ich werde nachfragen, ob das sein darf. Die haben da Bestimmungen ...«
»Wir werden kurz vor Weihnachten schlachten; zu Weihnachten darf es bestimmt sein!«
»Das ist nicht sicher. Du mußt immer denken: Zuchthaus! Zuchthaus ist das Strengste, was es gibt!«
Wieder schwiegen sie.
Schließlich sagte Gertrud gedankenvoll: »Zwei Jahre – wenn man hier draußen ist, kommt es einem nicht so viel vor. Aber drinnen muß es einem wie eine Ewigkeit sein.«
»Ohne Vater wären es fünf oder sechs geworden.«
»Du weißt ja, Heinz, ich mag Vater nicht, schon wegen Otto. Ich kann nie vergessen, wie er zu Otto war ... Aber wie er dastand vor Gericht, und die anderen haben immer alle Schuld auf Eva geschoben, und sie hat zu allem bloß ja gesagt – wie Vater da aufgestanden ist: ›Das Mädel war gut, bloß schwach, der Kerl aber ist nur schlecht ...‹ Und wie der Anwalt gegen ihn anging, da war er richtig eisern, Heinz!«
»Das war er. Und wie er zu dem Anwalt gesagt hat: ›Wenn das Mädel wirklich so schlecht wäre, würde sie nicht zu allem ja sagen, was Sie von ihr wollen. Sie nimmt den schlechten Kerl in Schutz, der aber will sie nur in den Dreck reißen ...‹«
»Von da an haben sie sich in acht genommen.«
»Vater hat's geschafft, daß sie den Bast am höchsten verdonnert haben, nicht die Eva ...«
»Ja«, sagte Tutti. »Der hat nun seine acht Jahre weg ... Ob sie dann wirklich frei ist von ihm, wenn er rauskommt?«
»O Gott!« rief Heinz. »Acht Jahre! Wer kann so weit voraus denken! In acht Jahren haben wir 1931, was wird da sein?!«
»Hoffentlich wird's da ein bißchen besser sein.«
»Ja. Wenn wenigstens das Geld in Ordnung käme. Du weißt gar nicht, wie verrückt schon alle bei uns auf der Bank sind. An den Schaltern sind sie verrückt, bei den Effekten sind sie verrückt, bei den Devisen sind sie am verrücktesten – aber noch verrückter sind sie im Direktorium!«
»Es muß ja nun bald Ordnung kommen«, meinte Tutti tröstend. »So geht es nicht mehr weiter.«
»Ja, und was dann? Dann hat kein Mensch Geld mehr! Die meisten haben doch alles verloren!«
»Du meinst wegen der Banken?«
»Auch!«
»Ach, die Banken werden doch immer zu tun haben, Heinz. Und du wirst immer Arbeit haben – so tüchtig wie du bist, Heinz!«
Er lächelte schwach im Dunkeln.
»Du hast es jetzt doch auch leichter, Heinz! Wo du uns los bist!«
»Natürlich. Nur, du weißt ja ...«
»Die Wohnung behältst du unter allen Umständen, Heinz!« sagte sie eifrig. »Gib bloß die Wohnung nicht auf! Du hast es nötig, in ein möbliertes Zimmer zu ziehen ...!«
»Nein, nein«, sagte er. »Die behalte ich schon wegen deiner Möbel ...«
»Quatsch, das sind jetzt deine Möbel, Heinz. Und die Möbel sind auch egal. Die Hauptsache ist, ihr habt eine Wohnung ...«
»Aber sie will doch nicht, Tutti! Sie will partout nicht.«
»Sie wird schon nachgeben.«
»Nein, nein. Sie hat Angst. Sie hat richtige Angst, ich laufe ihr wieder weg ...«
»So ein Unsinn! Du läufst keinem Menschen weg! Mir bist du auch nicht weggelaufen ...«
»Ihr bin ich aber doch mal weggelaufen ...«
»Ach was! Damals warst du noch ein Junge ...«
»Für sie nicht. Für Irma nicht.«
Wieder schwiegen sie.
Dann sagte Tutti, plötzlich aufstehend: »Es ist wirklich kalt. Komm, Heinz, laufen wir noch ein Stück am Strand. Und das sage ich dir: daß du mir die Wohnung nicht aufgibst! Wenn du die Wohnung hast, bist du eine richtige Partie, und das wird sie auch einsehen!«
Und nun war er wieder daheim in seiner Wohnung. Er ging hin und her, heizte, öffnete das Fenster, ließ ein bißchen von der trüben, feuchten Luft herein, legte die Betten aus, überlegte, wie er die Möbel stellen sollte; die Kinderbetten konnten auf den Boden ...
Die Sachen der Kinder hingen nicht mehr an der Wand, die Schränke und Fächer waren meist leer. Darum hallte es so, wenn er hin und her ging. Es hallte leer wider, alles war leer geworden, nicht nur die Fächer, nicht nur die Wohnung, sein Leben war leer geworden ...
Die Jungen würden sich schon eingewöhnen auf der Insel, und für Tutti war es wirklich Heimkommen gewesen. Aber er würde sich nie eingewöhnen in der leeren Wohnung. Er dachte daran, wie es sein würde von jetzt an, wenn er nach Haus kam von der Bank: Niemand erwartete ihn in der Wohnung. Er würde heizen müssen, aufräumen, kochen – und alles bloß für sich allein!
Er dachte daran, wie ihm das geholfen hatte in all den schrecklichen Jahren, die hinter ihm lagen, daß er für jemanden zu sorgen gehabt hatte, gleich für drei! Das hatte ihm über Tinette fortgeholfen, das hatte es ihm aber auch leichter gemacht, unversehrt durch die Schreckensjahre der Inflation zu kommen. Er hatte immer vom einen Tag auf den nächsten sorgen müssen, kleine Ziele hatte es gegeben: ein neuer Anzug für Gustav, die Bestrahlungen für Otto, der Zahnarzt für Tutti ... Das waren seine Extratouren gewesen, neben den täglichen Pflichttouren: Miete, Brot, Gasmann ... Anfang der Zwanzig hatte er schon Familienvater sein müssen: Oft war das schwer gewesen. Er hatte nicht wie andere in Cafés gehen können, auf Tanzdielen tanzen, in Kinos sitzen. Schwer war es oft gewesen, aber immer gut!
Wie oft hatten seine Kollegen über ihn gelacht. »Du bist ja doof auf beiden Backen, Hackendahl! Sich mit zwei Gören zu behängen – wozu ist denn die Wohlfahrt da?!«
Ja, sicher war er doof, der ganze Heinz Hackendahl war doof – für diese Menschen. Aber er überdauerte sie in all seiner sturen Doofheit, überdauerte sie mit ihren kleinen schalen Genüssen. Er hatte etwas in sich und um sich, eine Aufgabe ...
»Wenn wir man durchkommen«, sagten sie, »wie wir durchkommen, ist ja egal.« Aber es war keineswegs egal, das Wie, bei Tanzmädchen und Kokain kam man eben nicht durch, bei zwei Gören kam man durch. Professor Degener, ein weithin unbekannter Mann, hatte richtig geraten, als er geraten hatte: »Die kleine Aufgabe, Hackendahl. Die Zelle in Ordnung bringen; ohne die gesunde Zelle kann der ganze Körper nicht in Ordnung sein!«
Richtig der Mann! Bravo der Mann! Man mußte wieder einmal nach ihm sehen. Vielleicht wußte er noch so ein Wahrsprüchlein für jemanden, der in seiner leeren, kalten Wohnung steht, wieder einmal ohne Aufgabe ... Heinz Hackendahl weiß mehr von sich, als er mit siebzehn Jahren gewußt hat: Er weiß, daß er kein großes Licht ist. Er ist ein Handwerker, aber das traut er sich immer noch zu, daß er seinen Platz ordentlich ausfüllen kann. Nur, er möchte gerne wissen, wo denn der ist, der Platz?! Die Aufgabe?! Man will doch nicht bloß mit Ach und Weh über diese Erde gekrochen und satt geworden sein; über den Himmel und Gott mag man denken, wie man will, aber etwas mehr als eine Milbe glaubt man doch zu sein. Oder wie ...?!
Heinz Hackendahl klopft wütend los auf sein Bett. Er hat sich in Brand gedacht, es ist völlig ausgeschlossen, daß sein Lebenszweck der ist, auf die Bank zu gehen und eine erstklassige Statistik über die Entwicklung der Ausfuhr in der Elektroindustrie (unter besonderer Berücksichtigung der im Ausland von deutschen Kräften montierten Anlagen) zu machen und dann abends nach Haus zu schleichen und seine Bude in Ordnung zu bringen. Weit entfernt hiervon!
Heinz Hackendahl hat es plötzlich eilig, weder schließt er die Ofentür noch das Fenster, auch die Betten werden nicht gemacht. Dafür setzt er den Hut auf, zieht den Mantel an und stürmt los, stürmt durch die Stadt, denkt nicht daran zu fahren. Ungeduld kann man sich nicht abfahren, Ungeduld muß man sich aus dem Leibe laufen ...
Das Ergebnis ist, daß er noch ungeduldiger in den Laden der Witwe Quaas stürmt. »Quaasin, machen Sie keine Wippchen! Ich muß die Irma auf der Stelle sprechen!«
Und schon, ehe die noch viel jämmerlicher gewordene Quaas auch nur einen Wehlaut hat von sich geben können, ist er über den Ladentisch fort und in der Stube.
»Irma, entschuldige, ich habe es wahnsinnig eilig ... Wann wollen wir heiraten?«
»Du bist wohl ganz verrückt geworden, Heinz! Dich heirate ich bestimmt nie!«
»Ich sage dir doch, ich habe es eilig ...! Warte mal, die Ringe muß ich hier in der Tasche haben – warte doch ...! Auf dem Standesamt war ich auch schon, deine Mutter hat mir die Papiere gegeben, würde dir Mittwoch passen ...?«
»Ich habe nie ...!« klagt Frau Quaas los, aber ihr Stimmchen verhallt unbeachtet.
»Blödsinnig!« sagt Irma. »Völlig blödsinnig geworden! Wie alt sind Sie, Jüngling?«
»Bitte, Irma, also nu los! Laß doch diese alberne Ziererei!«
»Das verbitte ich mir! Ich ziere mich gar nicht ...«
»Natürlich zierst du dich!«
»Nein!«
»Doch!«
»Nein!«
»Und wer hat damals mit der Küsserei angefangen?«
»Eine Ohrfeige hab ich dir damals runtergehauen, und ich möchte gleich wieder ...«
»Bitte!«
»Wie ...?«
»Bitte! Du wolltest mir doch eine kleben? Los! Aber dann komm mit!«
»Wohin soll ich denn mitkommen?«
»Aber das sage ich dir doch schon zum zehntenmal: unsere Wohnung ansehen!«
»Nun hat er auch schon 'ne Wohnung!«
»Wenn du mich heiraten willst, muß ich doch 'ne Wohnung haben. Das ist bloß logisch!«
»Ich will dich doch gar nicht heiraten!«
»Natürlich willst du! Nu fang doch nicht noch mal mit dem Quatsch an!«
»Ich will nicht!«
»Aber du kannst doch nicht mehr zurück. Wir hängen doch schon auf dem Standesamt!«
»Das ist deine Sache, wie du das rückgängig machst!«
»Ich will es ja gar nicht rückgängig machen!«
»Aber ich!«
»Na, siehst du!«
»Was sehe ich ...?«
»Daß wir einig sind!«
»So blöd!«
»Na, natürlich!« sagt er und grinst. »Was denn sonst?«
»Du denkst, du kannst mich reinlegen. Mich nie! Als Jugendfreund, das hab ich dir damals schon gesagt, meinethalben. Aber als Mann – nie!«
»Irma! Irmchen!! Irmgard!!! Ich habe es dir doch selbst angeboten – also bitte!«
»Was denn?«
»Die Ohrfeige! Du willst mir doch 'ne Ohrfeige hauen! Also bitte!«
»Ich denke gar nicht daran!«
»Du leidest an einer versetzten Ohrfeige! Bitte, hau sie mir endlich – für die ganze Vergangenheit! Bitte! Irma!«
»Ich denke nicht daran – und von der Vergangenheit schweig lieber stille!«
»Gerne – wenn du mir die Ohrfeige gibst! Andere geben sich einen Verlobungskuß, wir geben uns eine Verlobungsohrfeige. Den Kuß haben wir schon hinter uns.«
»Die Ohrfeige auch!«
»Gott, bist du ein hartnäckiges Mädchen! Du willst dich also gar nicht überrumpeln lassen?«
»Von dir nie!«
»Auch gut! Dann muß ich dir eben Bedenkzeit lassen!« Er schnüffelte kummervoll, zog sich einen Stuhl an den Tisch und setzte sich neben sie.
»Erlaube mal!« rief sie empört. »Willst du dich etwa hier häuslich niederlassen?«
»Ich dachte so. Bis du dir die Sache überlegt hast!«
»Du bist doch zu ...! Ach was, mach dir nichts draus, Mutter. Tu einfach, als ob er nicht da wäre! Es wird ihm schon zu dumm werden!«
»Ich habe ihm wirklich nicht die Papiere gegeben, Irmchen!« jammerte Frau Quaas los. »Ich habe eben nachgesehen, sie sind alle noch da. Er hat gelogen ...«
»Natürlich hat er gelogen. Reg dich bloß nicht auf, Mutter. Ein ganz gemeiner Lügner ist er!«
Keine Reaktion des Beschimpften.
»Und mit den Ringen, das ist natürlich auch gelogen. Er hat gar keine! Alles gelogen!«
Keine Antwort.
Sehr verächtlich: »Und natürlich hat er auch keine Wohnung – der ist froh, wenn er sein möbliertes Zimmer bezahlen kann!«
»Dies nun doch nicht!« sagte Heinz kühl. »Das mit der Wohnung ist wirklich wahr! – O Gott!« Er sprang entsetzt auf. »Nun habe ich doch wahrhaftig den Gasherd brennen lassen, und der Topf mit Milch steht drauf ...!«
Er lief zur Tür. Sie sahen ihn schreckenvoll an, gedenkend der überkochenden, verbrennenden, stinkenden Milch.
Er kehrte bleich, aber entschlossen um. »Ganz egal«, sagte er finster. »Laß se stinken, laß die Feuerwehr kommen. Ich gehe nicht eher, als bis ich aus diesem Schreckenszustand heraus bin. Ich muß endlich eine definitive Antwort haben!«
Er setzte sich wieder neben sie.
»Ich heirate dich nie!« schrie sie ihm in die Ohren. »Da hast du deine definitive Antwort!«
»Bitte, lieber Heinz, Ihre Milch ...« Frau Quaas war völlig verzagt.
»Ich sage es ja«, sagte er kopfnickend. »Sie ist sich noch nicht klar. Sie muß Bedenkzeit haben ...«
»Bitte, Heinz, die Milch ...«
»Gehst du jetzt, Heinz, oder gehst du nicht?!« Jetzt war es bei ihr zu Ende mit der Geduld. Zornflammend stand sie vor ihm.
»Wenn du es dir in Ruhe überlegen wolltest«, bat er ängstlich. »Du bist jetzt so erregt, Irma ...«
»Du sollst machen, daß du zu deiner Milch kommst! Du regst Mutter bloß auf!«
»Es ist nur ein halber Liter«, sagte er entschuldigend. »Bis ich hin bin, ist sie längst ausgekocht. Ich warte doch lieber hier.«
»Du sollst unter allen Umständen gehen!«
»Und dann«, sagte er reuig, »finde ich Lügen häßlich. Ich habe nämlich gar keine Milch auf dem Gas, Irma! Und das Gas brennt auch nicht, sondern ...«
Batsch! Da hatte er seine Ohrfeige. Batsch! Batsch! Batsch! Drei mehr, als vereinbart!
»Da! Da! Da! Du elender Lügner, uns so zu quälen! Nichts als quälen kannst du!«
Aber er hielt sie schon im Arm. »Ach, Irma«, sagte er, »Gott sei Dank, daß du mich endlich geohrfeigt hast! Das hat dir doch fünf Jahre auf der Seele gebrannt ...«
»Laß mich los!« sagte sie schwach. »Du sollst mich loslassen! Ich mag dich nicht noch mal schlagen ...«
»Nein, jetzt möchtest du mich ...«
Sie machte verzweifelte Anstrengungen, sich zu befreien. Dann rief sie ungeduldig: »Mutter, hörst du denn nicht, daß jemand im Laden ist! Sieh doch im Laden nach!«
Und kaum hatte sich die Tür hinter der verschüchterten alten Frau geschlossen, die überhaupt nicht verstand, was eigentlich los war, die weder ihren Laden noch das Geld, noch ihre Tochter, noch die Sache mit der Milch auf dem Gas, noch die ganze Welt verstand – kaum also waren die beiden allein, da sagte Irma: »Hör zu, Heinz. Einmal habe ich dir – das durchgelassen. Aber nie wieder, verstehst du! Nie wieder! So was von Angst und Not will ich nicht noch einmal erleben! Verstanden!«
»Jawohl!«
»Gut – und so ist es denn für ewig vergeben und vergessen. Jetzt darfst du mir einen Kuß geben, Heinz!«