Hans Fallada
Der Alpdruck
Hans Fallada

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Zwölftes Kapitel.
Die Genesung

In einem nördlichen Vorort Berlins sitzt ein Mann am Fenster einer kleinen Stube. Es ist Hochsommer, Juli; um es genau zu sagen, es ist der 5. Juli des Jahres 1946. Obwohl es erst morgens um die neunte Stunde ist, hat sich die Taufrische der Nacht ganz aus der Luft verloren. Es ist heiß, und es wird heute noch viel heißer werden, falls nicht etwa ein Gewitter doch einige Kühlung bringt.

Aber vorläufig sieht es am Himmel nicht nach Gewitter aus. Er strahlt von einem blendenden Sonnenglanz, ist völlig wolkenlos und nicht so sehr blau, sondern gleicht eher weißem, mattem Silber mit dem schwächsten Anflug von Bläue. Wenn der Mann von seinem Schreibwerk hochsieht und aus dem Fenster schaut – er tut das nicht selten, seine Schreiberei scheint ihn nicht sehr zu fesseln –, so muß er zuerst die Augen etwas zusammenkneifen, um die Blendung des Sommerhimmels zu mildern. Dann aber sieht er unter diesem hitzedunstenden Himmel etwas auch in einem Berliner Vorort Erfreuliches: grüne Baumkronen, Häusergiebel und rote Dächer, aber nicht eine Ruine. Nicht einmal auf ein frisch geflicktes Hausdach trifft sein Blick, auch die Fensterscheiben der Häuser scheinen sämtlich heil zu sein. Eine wahre Wohltat für die Augen in dieser Trümmerstadt!

Ja, der schreibende Mann sieht oft hoch von seiner Arbeit. Er sitzt da, den Federhalter in der Hand, bereit, sofort wieder anzufangen. Erst aber lauscht er auf die Stimmen im Hof. Es sind immer nur Frauenstimmen und fast stets junge Stimmen, die er hört, und sie reden alle in der abgeschliffenen, ein wenig wegwerfenden Art, wie es die echten Berliner tun. Wendungen wie: »In det Haus is mir det heut zu heiß!« oder: »Ick will Sie det mal erklären!« solche Wendungen sind nicht selten. Aber der Mann lächelt nicht darüber, er fühlt sich auch nicht das kleinste bißchen erhaben über eine so ungebildete, fehlerhafte Sprechweise. Er hat gelernt, daß er keine Ursache hat, sich über irgend etwas oder über irgend jemanden erhaben zu fühlen.

Obwohl die Stimmen jung klingen, und obwohl der Mann nur aufstehen und an das Fenster treten müßte, um einen Ausblick auf die Sprecherinnen zu gewinnen, tut er das doch nicht. Er weiß, es sind sehr Hübsche unter diesen Mädchen und Frauen, und sie sonnen sich dort in dem freiesten Zustand des Ausgezogenseins, aber er ist nicht neugierig, sondern er fühlt sich alt, sehr alt und müde. Im letzten Jahre ist sein Haar stark ergraut, aber ginge es danach, wie alt er sich fühlt, müßte es schneeweiß sein.

Oft hört der Mann auch einen andern Laut als dieses Frauengeschwätz bei seiner Schreiberei. Er setzt wieder die Feder ab und lauscht und horcht hinaus. Es ist ein sehr seltsamer Laut, den er da hört, er klingt halb wie das Gurren einer Taube, halb wie das Flöten einer – nicht ganz rein singenden – Amsel. Dieser seltsame, ihm in den ersten Wochen seines Aufenthaltes hier völlig unverständliche Laut wird von einem großen Hund hervorgebracht, halb Dobermann, halb Schäferhund, ein Tier, das von der Schießerei und den Flammen und dem irren Tumult bei der Eroberung Berlins wohl geisteskrank geworden ist, und das nun angekettet da unten irgendwo unter dem Grün der Bäume liegt, von einer schwachsinnigen Bewohnerin dieses Hauses Elsastraße 10 betreut. Am Abend macht Hermann, wie diese Schwachsinnige statt Hermine im ganzen Hause gerufen wird, den Hund los, und die Nacht über bewacht das Tier dann Elsastraße 10, und wehe dem Fremden, der es wagen würde, über den Zaun zu steigen! Der Hund würde ihn ohne weiteres zerfleischen, es ist ein wahnsinniger Hund, nichts könnte ihn zurückhalten, nicht einmal seine Betreuerin Hermann.

Es ist seltsam, daß dieser Hund, der aus seinen glücklicheren Tagen den nicht mehr zu ihm passenden Namen »Mucki« führt, daß dieser Hund in der Nacht bellen kann, während er am Tage, an der Kette nur wie ein Vogel flötet und gurrt. Nun, er hat den Krieg eben nicht gut überstanden, er ist innerlich verletzt, er klagt und ist zum Morden fähig, nützlich ist er nicht mehr. Der Mann denkt manchmal, wenn er diesen seltsamen Laut hört, wie vielen Menschen es wohl ähnlich geht wie diesem Mucki?

Ja, der Mann findet mancherlei Anlaß, von seiner Arbeit hochzusehen und so das mühselige Fortschreiben in seiner kritzeligen Handschrift für einige Minuten zu unterbrechen. So sieht er gerne auch einmal zu einer hart tickenden Wanduhr hinüber, um sie wegen der Zeit zu befragen, ob er denn noch immer nicht aufstehen und die Blätter zusammenlegen darf? Diese Wanduhr mit einem ausgeblaßten blauen Zifferblatt und einem messinggelben Pendel ist der einzige Einrichtungsgegenstand in der engen Stube, der über das Allernotwendigste hinausgeht. Ein Tisch, ein Stuhl, ein Bett, ein enger Wandschrank und ein alter, ganz verschossener Samtsessel, damit ist die Einrichtung dieser Stube erschöpft.

Doch nein, ein Gegenstand darf nicht vergessen werden, obwohl er meist unsichtbar bleibt. Es ist ein schwarzes Samtkissen, auf das mit Farben eine Art Gemälde aufgetragen ist. Auf diesem Gemälde ist ein dreigetürmtes Schloß zu sehen, mit lila Dächern und vielen Fenstern, die unten rot und oben gelb sind, während die Mauern des Schlosses aus dem unbemalten schwarzen Samt gebildet werden. Ein Turm trägt an langer Stange eine weiße Fahne, der zweite ein Kreuz, ebenfalls in Weiß, der dritte nur eine Art überlangen Spieß. Sonst sieht man auf diesem Gemälde noch Bäume mit weißen Stämmen und vielerlei Blattgrün, weiter Felsen in Rosa, Lila und Feuerrot, auch tauchen an einigen Stellen völlig unmotiviert weiße Geländer auf. Das Ganze wird von einem gelben, kreisrunden Himmelskörper überschwebt, der sowohl Mond wie Sonne sein kann.

Der Mann haßt dieses Kissen mit einem grimmigen Haß. Er verflucht es schon darum, weil es völlig unversehrt in all seiner stupiden Abscheulichkeit diesen Krieg überdauert hat, der so viel Schönes zerstörte. Er versteckt das Kissen, um es nicht ständig vor Augen zu haben, in den Tiefen seines Bettes oder im Wandschränkchen. Es wird aber immer wieder von der reinigenden Frau entdeckt, die es sofort gefällig auf dem verschossenen Samtsessel ausbreitet, sichtlich erfreut von diesem Werke bildnerischer Kunst. Der Mann könnte die Frau bitten, das Kissen zu lassen, wo es versteckt ist, aber das tut er auch nicht. Er spricht nie ein Wort zu dieser Frau, die ihn doch mit immer gleicher Freundlichkeit nach der Stubenreinigung auffordert: »Sie dürfen wieder arbeiten!« oder: »Sie dürfen jetzt Kaffee trinken.«

Übrigens kann man den Schreiber vielleicht nicht einmal sehr tadeln, weil er so oft in seiner Arbeit pausiert. Er schreibt eigentlich nur aus Pflichtgefühl, ohne Glauben und Elan, vielleicht auch darum, um sich und andern zu beweisen, daß er wieder sehr wohl imstande ist, einmal Begonnenes zu Ende zu führen. Diese vor etwa einem halben Jahre angefangene Arbeit schien ihm zuerst ein glückliches Unternehmen. Dann kamen Unterbrechungen, durch Streit, durch Krankheit, auch einfach durch die Unlust zu arbeiten, und je weiter sich der Zeitpunkt der Fertigstellung hinausschob, um so geringer wurde des Schreibers eigenes Interesse an der Schrift.

Immerhin ist an diesem 5. Juli die Situation doch ein wenig anders als geschildert. An diesem Morgen war der Mann aus seinem tiefen Nachtschlaf erwacht und hatte plötzlich gewußt, wie er sein Schreibschifflein aus dem Meer der Tatsachen endlich in einen friedlichen Hafen lenken sollte. Er konnte noch nicht mit Bestimmtheit sagen, ob dieser Hafen in zwei oder acht oder erst in zwölf Tagen erreicht sein würde, aber auch zwölf Tage konnten ihn jetzt nicht mehr schrecken, da er den sicheren Hafen wußte. Seine Unterbrechungen an diesem Tage stellten sich rein als üble Angewohnheit aus den Vortagen dar, sie waren kein bewußter Vorwand mehr, faul zu sein.

Der Mann wirft wieder einen Blick auf die Wanduhr mit dem verblaßt blauen Zifferblatt und stellt fest, daß er für diesen Vormittag mit dem Schreiben Schluß machen darf. Er legt sein Schreibgerät zusammen, verwahrt es in dem Wandschrank und ergreift einen Holzklotz, an dem ein Schlüssel hängt. Mit diesem Schlüssel und einigem Waschzeug geht er über einen Vorplatz auf eine Tür zu, an der ein gut lesbares Schild hängt: ›Für Go. und Lues verboten!‹

Der Mann will die Tür aufschließen, als er sieht, daß in ihr bereits ein Schlüssel steckt, auch an einem Holzklotz befestigt, das genaue Abbild des Gerätes, das er in der Hand hält. Er murmelt etwas von »unglaublicher Schweinerei« und will die Hand auf die Klinke legen, als die Tür von der andern Seite geöffnet wird und ein Mädchen oder eine junge Frau, in nichts als ein sehr kurzes Hemd gekleidet, an ihm sichtlich schlechten Gewissens vorbeidrängt und in einer nahen Zimmertür verschwindet.

Der Mann schaut ihr einen Augenblick nach, halb entschlossen, wegen der unbefugten Benutzung seiner Toilette kräftig Krach zu schlagen. Das Schild ist doch wahrhaftig deutlich genug! Aber er besinnt sich anders. Er hat noch nie, seit er in diesem Hause wohnt, geschimpft, er wird sich anders helfen. Er zieht den Schlüssel aus dem Schloß, betritt mit den beiden Schlüsseln den Toilettenraum und riegelt hinter sich zu.

Während er hier eine gründliche Waschung vornimmt, überlegt er, ob er sich wegen dieser empörenden Mißachtung der Verbotstafel bei Muttchen Trüller beschweren oder ob er einfacher diesen zweiten, nur für die Benutzung durch die Krankenschwestern bestimmten und fahrlässig steckengelassenen Schlüssel einziehen soll. Er entschließt sich für den zweiten Weg: Muttchen Trüller ist schon überlastet genug und auch die kräftigste Standpauke von ihr wird höchstens einen Tag Wirkung tun. Was aber die Kranken anbetrifft . . .

Ja, was diese Kranken selbst anbetrifft, die eigentlich meist überhaupt nicht krank sind, was also diese sechzig Frauen anbetrifft, mit denen er als einziger Mann dieses närrische Haus Elsastraße 10 bewohnt, so ist an die jede Ermahnung, Standpauke, Bitte, Verbot, verloren. Im Gegenteil, sie sind alle des besten bösen Willens voll, jedes Verbot zu übertreten und jede erdenkliche Schwierigkeit zu machen.

Als der Mann vor gut acht Wochen hier Einzug hielt und sich plötzlich zwischen sechzig meist jungen und hübschen Frauen untergebracht sah, hatte er eigentlich erwartet, daß ihn hier ein höchst unterhaltsames und auch lehrsames Leben erwarte. Nicht, daß er etwa Absichten auf diese Damen gehabt hätte, o nein, vor solchen Absichten bewahrte ihn schon die Art ihrer Erkrankungen, die sie – meist unter leichtem polizeilichem Druck – in dieses Haus gebracht hatten. Diese Krankheiten, deren Namen so unverschämt deutlich auf dem Verbotsschild an seiner Toilettentür genannt waren, hatten die Frauen sich draußen in der Stadt Berlin zugezogen, leichtsinnig, wissentlich oder – in seltenen Fällen – auch unwissentlich. Sie waren von Ärzten festgestellt und ihre Heilung in Gang geleitet.

Aber diese Frauen hatten sich der Behandlung entzogen, sie waren beim Arzt an den festgesetzten Tagen nicht wieder erschienen, oder sie befolgten die Anordnungen der Ärzte nicht, so daß sie eine ständige Gefahr für jeden, der mit ihnen umging, darstellten. Da kam dann der sachte polizeiliche Druck, sie wurden an der Pforte dieses Hauses abgeliefert, das sie erst nach ihrer völligen Gesundung verlassen durften. Manche waren nicht einmal leicht aufzufinden, sie wußten, was ihnen bevorstand. Sie hatten ihr Quartier gewechselt, mit arglistiger Schläue entzogen sie sich ihrer Heilung, um schließlich doch bei irgendeiner Razzia aufgegriffen zu werden.

Nun ja, trotz alledem oder vielleicht gerade deswegen hatte der Mann gehofft, durch diese Damen einige Unterhaltung und Belehrung zu finden, bunte Lebensschicksale zu erfahren. Aber bald sah er ein, daß alle diese Mädchen hoffnungslos dumm und verlogen waren. Hörte man ihre Geschichten, so waren sie eigentlich alle durch die Arglist der Ärzte, der Gesundheitsämter, der Polizei in dieses Haus gekommen, und erst hier hatten sie sich angesteckt durch die gemeinen Weiber, mit denen sie in einem Saal liegen mußten!

Wenig Scharfsinn gehörte dazu, ihre Verlogenheit zu durchschauen, und was ihre Faulheit anging, so war sie einfach empörend! Obwohl sie, von den Tagen abgesehen, an denen sie ihre Spritzen bekamen oder einen »Tablettenstoß« machten, keineswegs bettlägerig krank waren, gab es viele unter ihnen, die in den ganzen acht oder zwölf Wochen, die ihre Behandlung dauerte, kaum je aus dem Bett aufstanden. Da lagen sie, jung und blühend, mit kräftigen Gliedern, aber verfault bis ins innerste Mark ihrer Knochen, zu keiner nützlichen Arbeit gewillt. So faul waren sie, daß die eine der andern, der vom »Tablettenstoß« übel geworden war, nicht einmal die Brechschale hinhielt. Sie sollte nur ruhig auf den Boden kotzen, dafür war die Schwester da, das wegzumachen. Dann wurde nach der Schwester geklingelt, und kam sie nicht gleich, so blieb der Dreck liegen. Unsauberkeit und Gestank störten sie nicht, aber jede kleinste Arbeit war ihnen verhaßt.

Für so was waren sie nicht hier auf der Welt, in der es einem hübschen jungen Mädchen so leicht gemacht ist, einen Mann auszunehmen wie eine fette Weihnachtsgans! Und sie erzählten sich prahlerisch von ihren Triumphen, von kühnen Griffen nach Brieftaschen, von ihrer magnetischen Anziehungskraft als Barfrauen, von ihrem ganzen vertanen, nutzlosen Dasein, das sie für um so ruhmreicher ansahen, je nutzloser es war. Und dann gingen sie hin und stahlen einander die Zigaretten, sie warfen die verordneten Medikamente aus dem Fenster oder in die Toiletten (denn sie waren zu »klug«, sich von diesen Ärzten vergiften zu lassen –!), und wenn ihre Angehörigen sie am Sonntag besuchten, waren sie voll von jämmerlichen Klagen, wie schlecht sie hier ernährt würden, wie sie doch hungern müßten –! Und laut allwöchentlicher Wiegung wurden sie immer fetter vor Faulheit und Verfressenheit!

Nein, die Erwartungen des Mannes hatten sich nicht erfüllt. Es war nichts Romantisches an diesen Frauen, kein versöhnender Schein fiel auf sie. Sicher war er nicht sehr geduldig mit ihnen. Es hatte eine große Aufregung unter ihnen gegeben, als dieser Mann in das Frauenhaus kam; sie waren ihm freundlich entgegengekommen, und in den ersten Wochen hatte es an Besucherinnen nicht gefehlt, die ihn unter allen möglichen Vorwänden auf seiner Stube aufgesucht hatten. Aber er hatte es rasch aufgegeben, mit ihnen zu plaudern. Es ärgerte ihn immer wieder, daß sie ihn für so dumm hielten, ihre Lügengeschichten zu glauben.

Und dann waren sie gierig. Er sah es ihren Blicken an, wie sie sein Essen musterten und mit dem eigenen verglichen. Gewiß, er genoß als Privatpatient des leitenden Arztes, der ihn aus Platzmangel nicht anders als in diesem Hause hatte unterbringen können, eine Sonderstellung, aber im allgemeinen bekam er nichts anderes zu essen als sie. Muttchen Trüller konnte nicht für einen allein kochen! Sie aber musterten die Größe seiner Brote, sie schätzten die Dicke des Aufstriches ab, und dann sagten sie: »Ja, wer so leben kann –!« Oder: »Mir kann es ja egal sein!«

Und dann wollten sie immer etwas von ihm: eine Zigarette oder Feuer für eine Zigarette oder ein Buch oder eine Zeitung oder Benzin für ihr Feuerzeug – sie trieben es so weit, daß er ihnen auch die einfachste Gefälligkeit abschlug.

Es kam ein Zwischenzustand, in dem sie ihn nicht mehr besuchten, ihm kaum die Tageszeit boten, und dann brach der offene Krieg gegen ihn aus. Eines Tages hatte ein betrunkener Kerl versucht, über das Gartengitter in das Haus einzudringen, und darauf hatte der Mann erklärt, das könne keinen wundernehmen, der beobachtet habe, wie sie vom Balkon ihrer Zimmer schamlos jeden vorübergehenden Mann anriefen oder verspotteten, nach der Gewohnheit der Dirnen, die sie ja meist auch waren. Da war ihre Empörung über diesen Lügner und Verräter riesengroß geworden. Nie hatte eine von ihnen auch nur ein einziges Wort vom Balkon gerufen, und als der Arzt trotzdem das Abschließen der Balkontüren anordnete, da schworen sie dem Mann, sie würden ihn eines Nachts verprügeln, daß kein Knochen in seinem Leibe heil bliebe!

Nun, sie hatten ihn nicht verprügelt. Sie hatten sogar das Schweigen, das in den ersten Wochen nach diesem Vorfall über ihn verhängt war, bald wieder aufgegeben. Sie waren in nichts beständig, auch in ihren Abneigungen nicht. Sie sprachen wieder mit ihm, dann und wann kam auch mal eine und bettelte um eine Zigarette, und wenn es keine Zigarette sein könne, um ein paar Kippen. Aber der Mann vergaß nicht so leicht, sie waren für ihn erledigt, für jetzt und immer, mochte er auch wenige Gerechte um so vieler Ungerechten willen verurteilen.

Der Mann ist längst mit dem Waschen fertig geworden, er hat sein Zimmer ein bißchen aufgeräumt und die beiden Toilettenschlüssel im Wandschrank eingeschlossen. Er grinst ein wenig, wenn er daran denkt, mit welchem Eifer Schwester Emma und Schwester Gertrud nach diesem Schlüssel suchen werden!

Nun zieht er trotz der heiß strahlenden Sonne einen Mantel an: er scheut sich, seinen fleckigen, zerdrückten Anzug auf den Straßen sehen zu lassen. Er geht die Treppe hinunter und wendet sich der Küche zu. In der Küche ist Muttchen Trüller dabei, mit ihren Trabanten für rund achtzig Hausinsassen das Mittagessen vorzubereiten. Sie ist dunkelrot im Gesicht, ihr kräftiger, immer von einer gelblichen oder lila Spitzenrüsche bedeckter Brustkasten arbeitet gewaltig, die schweren Kochtöpfe werden federleicht in ihrer Hand, sie arbeitet, daß der Schweiß in kleinen hellen Perlen auf ihrer Stirn steht, aber ihre Laune ist vortrefflich.

Sie lächelt strahlend, als sie des Mannes ansichtig wird, und sagt: »Nun, Herr Doll, so früh wollen Sie ausrücken? Sie wollen sich doch abmelden?«

»Ja, ich will mich abmelden, Muttchen Trüller, freie Bahn dem Gesunden –! Und wenn der Lastzug heute wirklich kommt, werde ich nicht einmal zum Mittagessen zurück sein. Hoffentlich kommt er.«

»Ich will's Ihnen wünschen. Aber daß Sie kein Mittagessen haben sollen, ist natürlich Unsinn. Ich bin froh über die zwanzig Pfund, die ich Ihnen rangepäppelt habe! Wenn Sie bis drei Uhr nicht zurück sind, schicke ich Ihnen Essen. Und für Ihre Familie gleich mit!«

»Ach, tun Sie doch so was nicht, Muttchen Trüller!« sagt der Mann. Und leiser, damit es die andern nicht hören: »Sie wissen doch, ich stecke bei Ihnen schon zu tief in der Kreide. Wer weiß, wann ich alle meine Schulden bezahlen kann!« Und er seufzt tief auf.

»In einem halben Jahr werden Sie alles bezahlt haben!« verkündet Muttchen Trüller strahlend. »Wenn ich so einen Mann wie Sie sehe: wieder gesund, voller Kräfte, braucht sich bloß hinzusetzen und loszuarbeiten und verdient Geld wie Heu – und dann seufzen an solch schönem Sommertag!«

Unter diesen gutartig scheltenden Worten hatte sie Doll bis an die Tür des Hauses gebracht, zu jener Schwelle, die von den Frauen und Mädchen, die hier wohnten, erst nach der völligen Gesundung überschritten werden durfte. »Also alles Gute, Herr Doll –! Vielleicht kommt der Lastzug heute wirklich. Und – Sie wissen ja – wenn Sie was hören sollten, geben Sie mir sofort Bescheid.«

»Aber versteht sich doch von selbst, Muttchen Trüller«, antwortet Doll und geht auf die Straße, in die strahlende Sonne hinaus.

›So ist sie!‹ sagt er zu sich im Weitergehen, ›und so wird sie auch bleiben. Nie wird sie vergessen, jeden, der aus ihrem Hause geht, daran zu erinnern, daß er sofort Nachricht gibt, wenn er etwas hört. Es mag die Rede gewesen sein von was immer, zum Schluß denkt sie an diese Mahnung.‹

Eigentlich denkt sie immer daran, auch wenn von ganz andern Dingen die Rede ist. Im Untergrund ihres Seins arbeitet unablässig die Sorge um den verlorenen Sohn, der Gedanke an ihn, die Liebe zu ihm. Sie, die Leiterin und Besitzerin dieses etwas närrischen Krankenhauses an der Elsastraße, ein Frauenhaus unter Weibsregiment, sie denkt immer nur an den Sohn, empfindet sich nie anders als seine Treuhänderin. Fünfviertel Jahr ist sie nun ohne Nachricht von ihm, seit den Kämpfen um Berlin ist Erdmann verschwunden. Vielleicht geriet er in Kriegsgefangenschaft, vielleicht liegt er irgendwo an den Straßen dieser ungeheuren Ruinenwüste, von einer verirrten Kugel getroffen, von einer stürzenden Mauer erschlagen, unter Trümmern begraben. Längst schon, fünfviertel Jahre bereits.

Aber die Mutter wartet auf ihn, und sie wird immer weiter warten, wenn es denn sein muß, Jahr um Jahr. Und mit ihr warten viele Mütter und Frauen auf die Söhne, die Männer, auf die Geliebten, die vielleicht nie zurückkehren werden. Unterdes ist diese hannöversche Bauerntochter, die sich aus eigener Kraft hochgearbeitet hat, unermüdlich tätig. Sie hält ihre stets auf Unfug sinnenden Patientinnen stramm an der Strippe, sie arbeitet Tag und Nacht, sie hat für jeden ein freundliches Wort, sie nimmt an allen Kümmernissen teil und sucht jedem zu helfen. Sie hat wirklich keine Zeit, Depressionen zu haben und arbeitsunlustig zu sein. Sie ist in all ihrer Schlichtheit ein Vorbild.

Doch nie vergißt sie, jedem Fortgehenden zu sagen: »Wenn Sie was hören, nämlich von meinem Sohne Erdmann, so geben Sie mir gleich Nachricht.«

Die Welt draußen, ausgenommen die allernächsten Straßen, in denen ihre Kaufleute wohnen, ist eine ferne, fremde Welt für Muttchen Trüller, die immer in ihrem kleinen Krankenhaus sitzt, stets mit den allerdringendsten Sorgen um des Leibes Nahrung und Notdurft beschäftigt. Fünf langsame Gehminuten von diesem Hause ab beginnt die große, ferne Welt für sie, in der sich alle Tage Wunder begeben können. Wo man den verlorenen Sohn Erdmann gewissermaßen auf der Straße trifft und zu ihm sagt: »Du, höre mal, Erdmann, jetzt wird es aber Zeit, daß du dich mal wieder bei deiner Mutter sehen läßt. Sie wartet seit fünfviertel Jahren jede Sekunde im Wachen und Schlafen auf dich. Sie wohnt immer noch Elsastraße 10.«

Nicht, als ob der Sohn Erdmann solch ein Mensch wäre, den man erst mahnen muß, zu seiner Mutter zu gehen. Im Gegenteil! Der Erdmann hätte sich schon ohne Mahnung bei der Mutter gemeldet.

Aber die Welt da draußen, dieses ungeheuer große, verworrene Berlin, ist so wunderlich, so voll von Wundern! Der Besucher kann jemanden treffen, der vom Sohne gehört, der ihn vielleicht irgendwo gesehen hat. Er kann Nachrichten gehört haben über die Heimlassung von Kriegsgefangenen, die erstaunlichsten und unglaubhaftesten Gerüchte – Muttchen Trüller ist für alles empfänglich. Ihr starkes Herz fängt nicht so leicht zu flattern an, sie ist nicht gleich entmutigt. Ihrem Hoffen genügt schon die Geschichte von einem Heimkehrer, der ganz unvermutet kam.

Sie wartet und hofft. Und mit ihr warten und hoffen Hunderte, Tausende von Frauen, niemand spricht von ihnen. Im Kriege waren sie gut genug, ihre Söhne und Männer herzugeben und dann still deren Arbeitsplatz einzunehmen. Jetzt warten sie wieder still, jede an ihrem Fleck arbeitend. Nur daß sie dem Fortgehenden sagen: »Und wenn Sie etwas hören, nicht wahr –?«

Gutes, tüchtiges, unverwüstliches Muttchen Trüller, Mutter des Volkes, ewige Mutter, ewig Gläubige, unverzagt Wartende, stets Helfende –!

Der Mann in den schäbigen, zerknitterten, fleckigen Kleidern unter dem hellen Sommermantel, der auch nicht gerade mehr frisch ist, ging während solcher Gedanken an mancher Kneipe vorüber, in denen meist, wie er sehr gut weiß, Zigaretten schwarz zu kaufen sind. Ihn gelüstet es sehr nach Rauchen, aber er bezwingt sich. Teure amerikanische Zigaretten zu elf Mark das Stück kommen im Hause Doll schon längst nicht mehr in Frage – das hat er seiner jungen Frau sehr richtig prophezeit. Aber auch »billige« deutsche Zigaretten zu fünf Mark werden im besten Falle auch nur mit einem Stück pro Tag bewilligt; eine deutsche Zigarette nach dem Abendessen, die Lungen mit ihrem Rauch genußsüchtig gefüllt – und dann wieder alle für 24 Stunden –!

Alle –? O nein, Dolls rauchen, sie werden immer rauchen. Auch jetzt trägt Doll die Tasche voll etwas Rauchbarem! Sie sammeln die Rosenblätter aus Muttchen Trüllers Garten, und nicht etwa nur die abgefallenen, nein, auch voll erblühte sammeln und trocknen sie! Sie entscheiden: »Diese Rose würde doch in den nächsten Stunden ihre Blätter fallen lassen!«, und dann pflücken sie sie, stopfen Dolls Taschen mit den Blättern, und aus seiner Stube machen sie eine Trockenanstalt. Diese Stube duftet ständig nach Rosen. Sie haben auch schon Kirschblätter geraucht und in schlimmsten Zeiten einen schrecklich schmeckenden Blutreinigungstee, aus dem sie die Wacholderbeeren und die »Strünke« heraussuchten.

Ja, so genügsam sind sie geworden, auch die junge Frau, die nie in ihrem Leben verzichten lernen wollte! Sie besaßen dermaleinstens ein Auto, jedes für sich eines, und Geld, und was man sich für Geld kaufen kann; solche Dinge, die guten Güter dieser Erde waren kein Problem für sie. Nun ist die Lehre, daß sie ein besiegtes Volk sind, ihnen in Fleisch und Blut übergegangen. Sie lachen über ihren stinkenden »Tabak«, sie verdecken wohl noch ihre fleckige Kleidung, aber sie schämen sich nicht mehr. Was ist da zu wollen –?! Wir sind ein besiegtes Volk, wir haben einen totalen Krieg verloren, wir sind total zu Bettlern geworden.

Übrigens ist dieser Vorstadt, durch die Doll jetzt geht, nicht viel von Krieg anzumerken. Ab und an ein zerschlagenes Dach, auch eine ganze Häuserruine, aber im allgemeinen sieht alles heil und zwischen dem vielen Sommergrün nicht gar zu verkommen aus. Nur die Menschen auf den Straßen: allen hätte man zwanzig Pfund Gewicht mehr und fünfzig Falten im Gesicht weniger gewünscht. Es gibt unter ihnen noch eine unvorstellbare Armut, Lumpen statt Kleidern, Schuhe, immer wieder zerrissen und geflickt und zusammengebunden, die über alle Landstraßen Europas geschleppt worden zu sein scheinen.

Eine ganze Weile geht vor Doll ein junges Mädchen, sie besitzt nichts von jener Anmut, die die Jugend auch der Reizlosesten verleiht, sie geht schwer auf ihren blutigen, schwärenden, schmutzigen Beinen, als schleppe sie sich nur noch. Ihr Kleid ist wohl aus einem Paar glatter Mehlsäcke angefertigt. Als die Trägerin es sich anfertigte, hatte sie, obwohl schon im Elend, doch noch ein wenig Hoffnung, sie brachte ein paar ärmlich gestickte Zierkanten an und setzte ein weißes Krägelchen auf: ich bin jung, ihr dürft mich schon mal ansehen, auch wenn ich nur ein Kleid aus Sackleinen trage!

Aber das alles ist längst verdrückt und so beschmutzt, daß der weiße Kragen fast schwarz aussieht, jedenfalls nicht heller als das Sackleinen. Sie hat auf ihrem langen Wege alle Hoffnung verloren, sich längst aufgegeben. – ›Diese Leute, die da mit mir auf der Straße gehen‹, denkt Doll, ›kann man überhaupt in zwei Gruppen einteilen: die einen, die nichts mehr hoffen können, und die andern, die nichts mehr zu hoffen wagen.‹

Aber sie alle, die einen wie die andern, schleppen irgend etwas: jämmerliches, von den Bäumen gebrochenes Reisig, zerplatzte Koffer, deren Inhalt man nicht kennenzulernen begehrt, vollgepfropfte Handtaschen, geheimnisvolle Aktentaschen, deren Schlösser längst entzwei sind, so oft wurden sie überfüllt, und die jetzt von einem Strick gehalten werden.

›Wir gehen ja doch zugrunde‹, denken die einen. ›Aber vorher lasset uns noch einmal essen! Ach, essen, daß man von guten Dingen wirklich satt ist, daß die Zufriedenheit durch einen strömt zusammen mit dem hellen Blut, das endlich ein wenig anständige Nährstoffe erhalten hat!‹

›Wir müssen Kräfte sammeln für unsere tägliche Arbeit, damit wir diese Zeit heil überstehen!‹, das steht in den Mienen der andern geschrieben. Aber alle sind sie vom Kriege gezeichnet und allen ist ein Zug der Vorsicht zu eigen, ein Vorbehalt: vielleicht geschieht auch mit uns plötzlich etwas Schreckliches – wie gut, dann haben wir wenigstens gehofft! Doll selbst ist ein gemäßigter Pessimist: er glaubt nicht daran, daß er persönlich zugrunde gehen wird, auch seine Familie nicht, aber er gesteht der Zukunft jede Möglichkeit zu, so unangenehm wie nur denkbar zu werden.

Nun biegt er von einer Hauptstraße in eine stille, grüne Villenstraße ein. Aber er kann nicht ohne weiteres hineingehen in diese Straße – da ist ein Schlagbaum, rot-weiß geringelt, und ein Schilderhaus, rot-weiße Schrägbalken, und an dem Schilderhaus stehen ein russischer Posten und ein deutscher Polizist Wache, daß niemand Unbefugtes in diesen Bezirk, in dem eigentlich nur Offiziere der Besatzungsmacht wohnen, eindringt. Doll hat zwar die erforderlichen Ausweispapiere, er darf ohne weiteres passieren, aber er geht darum doch nicht gerne durch diese Sperre: alles, was ihn zu nahe an Krieg und Militär erinnert, ist ihm unangenehm. Es soll vorbei sein, für immer, mit allen diesen Geschichten, nicht nur hier, nein, auf der ganzen Welt! So könnte man etwa das ungeduldige Gefühl ausdrücken, das ihn angesichts dieses rot-weißen Schilderhauses erfaßt.

Dabei weiß er gut, daß diese Gefühle dumm sind. Das alles muß noch sein, die Welt, und vor allem seine Landsleute, sind noch nicht reif für ein Leben ohne ständige Aufsicht, ohne die Drohung der Gewalt. Zu lange war der Geist entthront. Zumal seine lieben Landsleute würden wohl einer dem andern den Schädel einschlagen, ließe man sie ohne Aufsicht!

Nun hat Doll nur noch zwanzig Schritte zu gehen bis zu einer hübschen, gelblich getönten Villa, die mit ihren Beeten davor, in denen jetzt freilich Kartoffeln wachsen, mit ihren heilen Fenstern und ihren Stores einen recht gepflegten Eindruck macht. Diese Villa ist nicht sein heutiges Tagesziel, das liegt noch drei, vier Minuten weiter, aber er hat sich nun einmal fest vorgenommen, in sie beim Fortgehen einmal rasch hineinzusehen. Denn in ihr wohnt ein Mann, der ihm im letzten schweren Jahr sehr viel geholfen hat, ein Mann, den er viele Male enttäuscht hat und der sich doch immer gleichmäßig gütig und hilfsbereit erwies. Ein guter, getreuer Freund, ein uneigennütziger – ein seltenes Geschenk des Lebens schon in normalen Zeiten, und wie das erst heute –!

Doll hat diesen Mann in den letzten Monaten sträflich vernachlässigt, er hat getan, als existiere dieser Mann, der sich noch immer um ihn Sorgen macht, nicht mehr auf dieser Welt. Mit keinem Zeichen hat er sich bei ihm gemeldet. Es ist die höchste Zeit, sich einmal wieder bei ihm sehen zu lassen –!

Aber obwohl dem so ist, widersteht Doll kaum der Versuchung, eine Straßenecke und noch eine weiter zu laufen, um zu sehen, ob der Lastzug aus der Kleinstadt nicht vielleicht doch schon angekommen ist. Wenn der Lastzug da ist, muß er beim Abladen und Einrichten helfen. Dann entfällt dieser Besuch –!

Er steht zögernd da, und dann gibt er sich innerlich einen Stoß: nein, jetzt gibt es keine Drückebergerei mehr, Lastzug hin und Lastzug her! Er drückt auf den Klingelknopf, einen Augenblick später schnarrt das Gartentor. Er drückt es auf, geht durch den Vorgarten und sagt zu dem Mädchen: »Ist Herr Granzow wohl zu sprechen?« Und da er lange nicht mehr hier war, setzt er erklärend hinzu: »Doll.«

»Ich weiß doch!« sagt das Mädchen ein bißchen gekränkt und verschwindet in das Innere des Hauses.

Doll braucht nicht lange zu warten. Er hat es nicht nötig, dem Mädchen bis in das Zimmer des Dichters zu folgen, ängstlich über die Schwelle zu treten, nach der Miene des Besuchten zu spähen. Wie so oft wird es ihm leicht gemacht, leichter wohl, als er verdient . . .

Auf der Schwelle seines Hauses erscheint in dunkler Hose und blütenweißem Hemd Granzow, wie er von der Arbeit kommt, in der einen Hand die Feder, in der andern eine Zigarette. Und wie einstmals ruft er: »Doll –! Großartig, daß du dich einmal wieder bei mir sehen läßt! Du bist also wieder gesund –? Wohnst du schon ganz drüben –? Du erwartest Alma, die einen Lastzug mit deinen Sachen bringt –? Noch einmal: großartig! Ich sage dir, du kommst in Gang, du kommst sogar großartig in Gang! – Aber tritt doch ein, bleib nicht hier in der Hitze stehen. Sicher rauchst du! Hier, nimm! Da ist Feuer! Aber setze dich doch! Also: nun erzähle: wie geht es dir? Was macht ihr alle –?«

So kommt die Unterhaltung in Gang, kein Wort des Vorwurfs, kein Gedanke überhaupt daran. Nur Güte, Interesse, Hilfsbereitschaft. Und natürlich kommt dann der Moment, wo sich Granzow vorlehnt und leise und behutsam fragt (als wolle er etwas leicht Verletzliches nicht beschädigen): »Und was macht die Arbeit –? Hast du sie wiederaufgenommen –? Kommst du voran –?«

»Ach, Granzow . . .!« antwortet Doll, etwas verlegen. »Ja, ich habe wieder mit Arbeiten angefangen. Ich schreibe jeden Tag mein Pensum, aber du verstehst: eben nur mein Pensum, weil es mein Pensum ist. Wie ein Junge, der seine Schularbeiten macht. Der letzte Schwung, der Elan, das wirklich Schöne, die Eingebung fehlen. Und die Tagesarbeit – diese Kurzgeschichten für die Zeitungen, bloß um Geld heranzuschaffen . . . Doch ja, manchmal macht es mir sogar wieder Spaß. Aber ich komme nicht voran. Diese endlose Schuldenlast aus unserer schlimmsten Zeit –! Das tägliche Leben frißt alles auf. Und nun jetzt wieder dieser Transport vom Lande, der kostet doch auch Tausende!« Er sieht Granzow zweifelnd an.

Der hat mit dem alten aufrichtigen Interesse diese Klagelitanei angehört. »Ach, deine Schulden!« sagt er jetzt. »Ich habe davon gehört. Man sagt auch, daß du anfängst, deine Bücher zu verkaufen. Das solltest du nicht tun, Doll! Ihr habt jetzt genug verkauft. Schon viel zuviel. Macht Schluß damit!«

»Aber was soll ich denn tun –?!« ruft Doll verzweifelt. »Das klingt sehr schön: mach Schluß mit der Verkauferei! Ich täte es liebend gerne. Du weißt, wie sehr ich an meinen Büchern hänge. Fünfzehn Jahre habe ich gebraucht, sie zusammenzubringen. Jede Mark, die übrigblieb, habe ich da reingesteckt! Aber ich muß jetzt einfach verkaufen. Diese Schulden fangen an, sehr unangenehm zu werden!«

»Ich versteh! Ich versteh!« sagt Granzow beruhigend. »Aber ich würde die Bücher trotzdem nicht verkaufen. Warum sprichst du nicht einmal mit einem Verleger ein offenes Wort –?«

»Aber bei dem Mertens stehe ich doch schon so in der Kreide!«

»Das wird schon nicht so schlimm sein, Doll«, meint Granzow. »Der Mertens ist doch ein vernünftiger Mann. Sprich mit ihm, mehr als Nein kann er schließlich doch nicht sagen, und dann ist deine Lage nicht anders als jetzt. Aber er wird nicht Nein sagen. Vielleicht, sehr möglich wartet er nur auf eine Frage von dir. Oder soll ich mit Mertens reden –?«

»Um Gottes willen, nein!« ruft Doll erschrocken aus. »Du sollst doch nicht alles Unangenehme für mich erledigen, Granzow! Nein, wenn einer mit Mertens redet, so bin ich es!«

»Du wirst also mit Mertens reden –?«

»Wahrscheinlich. Ziemlich sicher. Lächle nicht so skeptisch. Wirklich, ich werde es wohl tun.«

»Und wenn du es nicht tust, so werde ich es für dich tun. Jedenfalls: Bücher und Sachen werden nicht mehr verkauft, Doll! Entschuldige, daß ich dir da reinrede. Aber der andere Weg ist wirklich besser.«

»Gut«, sagt Doll, jetzt fest entschlossen. »Ich werde also mit Mertens reden. Du kannst dir das nicht vorstellen, Granzow, wie es sein würde, alle diese Sorgen mit einem Schlag loszuwerden! Ich habe früher nie Schulden gehabt, es ist einfach ekelhaft!«

»Und dann wirst du auch richtig frei arbeiten können«, fährt Granzow fort. »Du wirst sehen, eines Tages schreibst du doch noch das Buch, auf das alle warten! Sicher, ganz bestimmt, und großartig machst du das!«

Und er bleibt dabei, so zweiflerisch Doll auch den Kopf bewegt. Dann sprechen sie von Granzows Reise nach Süddeutschland. Ja, sie erzählen einander, sie plaudern, sie sind die alten neuen Freunde geblieben, wenn auch Enttäuschungen bereitet wurden. Sie haben nicht viel Gemeinsames, aber dieses eine vereinigt sie immer wieder: der Glaube, daß sie arbeiten müssen, für sich und für dieses Volk. Und sie hängen an ihrer Arbeit, alles dreht sich bei ihnen um diese Arbeit, die ihnen nie Tagewerk wird.

Doll steht wieder auf der Straße, noch eine »Aktive« von Granzow rauchend. Er geht um zwei Ecken und steht jetzt am Eingang der kleinen Villenstraße, in der er selbst wohnt. Nein, kein Lastzug steht vor seinem Haus. Es war gut, daß er den Besuch bei Granzow ohne vorheriges Nachschauen gemacht hat, daß er sich einen inneren Ruck gab – sonst müßte er sich jetzt schämen wegen seiner Drückebergerei.

Nun geht er langsam auf das Haus zu, er schließt auf, tritt ein. Die Kinder wohnen jetzt hier allein, betreut von einer alten Aufwartung, aber im Augenblick sind sie in ihren Schulen: alles ist öde und leer. Schlimmer als das: alles ist liederlich und verkommen, unsauber oder staubig. Niemand nimmt sich in Liebe dieses Hauses, das ein Heim sein könnte, an. Im Zimmer des kleinen Mädchens ist jetzt, da es auf Mittag zugeht, das Bett noch nicht gemacht. Wäschestücke, saubere und schmutzige, liegen auf den Möbeln und der Erde. Ein überdimensionaler Teddybär, groß wie ein sechsjähriges Kind, hockt in der Ecke und sieht den Besucher mit seinen braunen Augen blöd an.

Der steht unschlüssig vor dem weit offenen Kleiderschrank: soll er versuchen, ein bißchen Ordnung zu schaffen –? Aber mit einem Seufzer gibt er es auf, ehe er noch begonnen. Ordnung das wäre nicht, die paar Wäschestücke zu dem Tohuwabohu im Schranke zu stopfen. Ordnung, das hieße, diesen Schrank erst einmal von innen und außen gründlich zu säubern, wie alle Möbelstücke, und dann das ganze Zimmer zu scheuern, die Scheiben zu putzen . . .

Wie gesagt: er zuckt die Achseln. Was hätte solche Ordnung für einen Sinn, da niemand im Hause ist, der ein Interesse daran hat, sie aufrechtzuerhalten –?! Um wenigstens etwas zu tun, öffnet er die Fenster . . .

Dann steigt er die Treppe in den Oberstock hinauf. Das Zimmer des Jungen ist abgeschlossen – recht so! Der Sohn hält es selbst in Ordnung – soll ihm auch keiner darin herumwuseln!

In dem ehelichen Schlafzimmer sieht es noch immer so aus wie vor einer Woche, als Alma in die Kleinstadt fuhr. Das Bett liegt, wie sie aus ihm gestiegen, auf dem Boden verstreut ein paar Zeitungen, ein unsauberer Aschenbecher, aus dem alle Kippen entfernt, aber ihr Papier liegen gelassen ist, ein benutzter Waschtisch, und auch hier Wäsche und Kleidung auf den Möbeln und am Boden, der Schrank weit offen gähnend!

Es ist leicht, auf die alte Zugeherin zu schimpfen, daß sie nichts tut. Aber die paar Stunden, die sie am Tage kommt, gehen mit dem Einholen der Lebensmittel, mit dem Anstehen, mit dem Essenkochen fast ganz drauf. Nein, es liegt nicht an der Aufwartung, es liegt . . .

Wieder, wie schon unten im Kinderzimmer, zuckt Doll mit den Achseln, aber hier nimmt er sich nicht einmal die Mühe, die Fenster zu öffnen. Er geht hinüber in jenen andern Raum, der einmal sein Arbeitszimmer werden sollte. Dann kam einiges dazwischen, aber dieses helle Zimmer soll noch immer sein Arbeitszimmer werden . . .

Er setzt sich in den Schreibtischsessel und sieht sich um. Ein paar eilige aufs Geratewohl an die Wand gestellte Bücherbretter, nur halb gefüllt. Der Schreibtisch ist noch immer in der Mitte des Zimmers, wie ihn die Umzugsleute dorthin stellten. Der Kopfteil eines großen Bücherschrankes steht wie ein zweiter Tisch auf der Erde und ist, wie der Schreibtisch, mit Büchern beladen, mit jenen Büchern, die als unverkäuflich zurückblieben. Dolls Blick fällt auf eine große chinesische Deckelvase, die, ein Prachtstück in Purpur, Grün, Blau, auf einer schwarzen Säule in der Zimmerecke steht.

Doll hebt grüßend zu ihr die Hand. Diese Vase ist das einzige Wertstück, das sie aus einem halben Weltuntergang gerettet haben. Als letzter Rest mancher Kostbarkeiten ist sie ihnen geblieben, eigentlich unverständlich, warum, wahrscheinlich nur, weil sie zu schlaff und energielos waren, sie in einen Antiquitätenladen in den Berliner Westen zu schleppen. Sonst ist eigentlich alles fort, an dem früher einmal ihr Herz hing, ja, auch Almas Herz, und was übrig blieb, ist mehr eine Höhle als ein Haus, ein Unterschlupf, in dem man ißt und schläft, in dem man aber nicht wohnt, kein Heim.

Und war doch schon einmal nahe daran gewesen, ein Heim zu sein. Damals, nach jener ersten Rücksprache mit Granzow, als ihm so unerwartet und so viel geholfen wurde, als sie aus dem halbzerstörten Zimmer mit dem ewig zirpenden Zellophanfenster in dieses Haus ziehen konnten, von der zweifelhaften Schulz, der Schauspielerin Gwenda, all den mißbrauchten Ärzten fort; damals, als es nicht an Zuspruch, Lebensmitteln und Feuerung fehlte, damals als Doll die Verbindung mit dem Verleger Mertens aufnahm, für Zeitungen schrieb, einen Roman begann – damals hatten sie sich auch mit Eifer daran gemacht, ein Heim einzurichten. Damals hatte dieses Haus schon ganz menschlich ausgesehen . . .

Wie war es denn gekommen, daß alles zurückging, daß kaum Gewonnenes schon wieder in Verlust geriet? Doll auf seinem Schreibtischsessel, in der staubigen Höhle, sieht nachdenklich auf die sonnenflimmernde Straße hinaus . . .

Vielleicht war der erste Rückschlag gekommen, als Alma in die Kleinstadt gefahren war, die notwendigsten Sachen zu holen; als sie entdeckten, daß sie ausgeraubt und ausgeplündert, daß sie arme Leute geworden waren. Oh, sie hatten ihre Rache an dem verhaßten Bürgermeister genommen, diese Kleinstädter; während er abwesend war, hatten sie ihm nicht einen Strumpf oder Schuh gelassen, auch kein Hemd, keinen Anzug, kein Kleid für die junge Frau – nur die ältesten, schäbigsten Fetzen hatten sie hängen lassen. Er hatte es noch einmal, und diesmal am eigenen Leibe, erlebt, wie verwildert und verkommen dieses Volk war: Plündern und Stehlen sahen sie als ihr gutes Recht an, hatte ihnen doch der Krieg so vieles genommen! Wer sollte ihnen da verwehren, sich selbst zu helfen?! Auf den nie durchgeführten Satz »Gemeinnutz geht vor Eigennutz« war der andere gefolgt: »Hilf dir selbst – und mit allen Mitteln!«

Und nun erst recht bei einem so verhaßten Manne wie diesem ehemaligen Bürgermeister –! Sie hatten ihm seine Rede heimgezahlt, damals vom Balkon der Kommandantur, als er mit den Nazis unter ihnen abrechnete. Sie hatten seine Verhöre nicht vergessen, die Haussuchungen, die Beschlagnahmungen, jede verweigerte Bitte war ihm als Verbrechen angerechnet worden!

Nun gut, Dolls hatten sich darüber getröstet. Sie hatten zueinander gesagt: »Was hätten wir noch, wenn eine Bombe hineingeschlagen wäre –?! Dann besäßen wir gar nichts mehr! So haben wir doch wenigstens noch die Möbel, soweit die Herzchen sie nicht verfeuert haben, und einen Teil der Teppiche und unversehrt fast deine Bücher!«

Sie hatten sich getröstet, sie hatten das Heim einzurichten begonnen, er hatte seine Arbeit wieder aufgenommen – aber vielleicht war doch eine Verletzung in ihnen zurückgeblieben? Nichts mehr von dem alten Schwung, kein Feuer mehr – ‹Ich werde alt›, dachte Doll oft. Nicht, daß er den verlorenen Werten nachtrauerte: was einmal für Geld gekauft ist, kann wieder für Geld gekauft werden. Und nicht, daß es ihn sehr verdrossen hätte, daß er nur noch zwei Paar alte Socken, hundertfach gestopft, besaß, und nur noch einen Anzug, der recht schäbig aussah.

Nein, das störte ihn kaum. Aber vielleicht störte ihn die Erfahrung, daß immer weiter, wie in den vergangenen zwölf Jahren, das Schlechte triumphierte, daß alles eigentlich immer minderwertiger wurde. Es schien keine Besserungsmöglichkeit mehr für dieses Volk zu geben. Er hatte oft das Gefühl, unter dem Druck der Entbehrungen wurden sie nur noch nazistischer. Wie oft hörte er die Worte: »Ja, unter dem Führer gab es dies und jenes viel reichlicher –!« Ihnen allen, und vielen darunter, die früher keine Nazis gewesen waren, schien plötzlich die Zeit unter der Hitler-Tyrannei wie eine gelobte, wie eine gute Zeit. Die Schrecken des Krieges mit seinen Bombennächten, die in Blut und Tod gesandten Männer und Söhne, die Schändung Unschuldiger – all das war schon wieder vergessen. Sie rechneten nur, daß sie früher ein wenig mehr Brot oder Fleisch bekommen hatten. Sie schienen unverbesserlich, manchmal war es fast unerträglich, unter ihnen zu leben; zum ersten Male dachte Doll – jetzt nach dem Kriege! – ernstlich an Emigration.

Aber das alles war noch kein Grund, wieder so tief in die Apathie zu verfallen, das kaum Errungene zu zerstören, das so schwer Bewahrte wieder fortzugeben. Vielleicht war es auch die Arbeit, diese Arbeit, die mehr Pflicht als Freude geworden war, diese Arbeit ohne Schwung, ohne Intuition, ohne Liebe, eine Arbeit, von der sein Herz nichts wußte. Er hatte immer seine Arbeit geliebt, sie als den Sinn seines Lebens betrachtet. Und nun sah er sich sie gleichgültig vollbringen, und oft überkam es ihn, daß er vielleicht nie mehr wie früher würde arbeiten können, daß sein Schwung für immer gebrochen war.

So war es gekommen, und tausend kleine, widrige, in diesen Zeiten unvermeidbare Erlebnisse waren dazugekommen. Auch die Fähigkeit, mit dem Gelde einigermaßen vernünftig umzugehen, schien er verloren zu haben. Immer war es eine Misere mit dem Geld, es reichte nie, und da es doch trotz aller Sparsamkeit nicht reichte, warum sollten sie sich mit dem Rauchen einschränken? Warum keine englischen und amerikanischen Zigaretten rauchen? Es war ja doch alles egal!

Und wie zur rechten Zeit waren wieder die Gallenbeschwerden der jungen Frau gekommen, ob sie nun organisch begründet oder nur eingebildet waren. Und mit diesen Beschwerden waren zu Dolls die Mittelchen zurückgekehrt, und diesmal hatte Doll nicht dagegen protestiert, nein, diesmal ging alles auf halbpart. Dann konnten sie träumen, dann wurde die Welt rosig, alles Widrige war vergessen, sie spürten kaum Hunger und Kälte, sie standen nur noch aus dem Bett auf, um neuen »Stoff« zu besorgen.

Aber die Geldbeschaffung wurde immer schwieriger. Doll arbeitete nichts mehr – so begann der große Ausverkauf. Möbel gingen dahin und Perserbrücken, Bilder und Bücher, es war ein unersättliches Loch, in das sie ihr Leben schütteten. Ihre Kraft, ihr Mut, ihre Hoffnung, ihr letzter Besitz, alles ging dahin, ging diesen einen Weg.

Vor der Welt verbargen sie listig genug ihre Leidenschaft; sprachen sie mit Granzow, so schritt die Arbeit mit großen Schritten vorwärts, Doll entwickelte plaudernd ein Projekt nach dem andern, erfand die tollsten Geschichten – und vergaß alles wieder, kaum daß er das Granzowsche Haus verlassen hatte. Nur noch für ihre Träume in der Bettengruft lebten sie, jedes für sich allein liegend, jedes seinen eigenen Traum träumend . . .

Bis es eben nicht mehr weiterging, bis alles verkauft war, bis außer dem Verlust alles Eigentums noch eine Berglast von Schulden aufgetürmt war, bis der Körper auch bei stärksten Dosen kaum noch reagierte, bis sie nur mit Ekel dachten: fort aus diesem blöden, unnützen Leben! Aber sie gingen nicht fort, wie dieses ganze Volk nicht fortging, wenn auch Ursache genug war, zu gehen! Sie landeten schließlich wieder in einem Krankenhaus, er in jenem merkwürdigen Frauenhaus Elsastraße 10, von dem schon berichtet worden ist. Sie, jung wie sie war, überwand den Mißbrauch von Rauschmitteln schon nach kurzer Kur – nun war sie schon längst in der Kleinstadt, um den Rest ihrer Sachen zu holen.

Noch einmal sollte der Versuch gemacht werden, wieder von vorne anzufangen. Noch einmal, und unter viel schwierigeren Umständen als vorher. Ein großes Kapital von Freundschaft, Vertrauen, Besitz, auch von Glauben an sich selbst war verwirtschaftet.

Er steht auf aus seinem Schreibtischsessel in diesem staubigen, verkommenen Zimmer, in dem ihn die Reste seiner Bücherei wie anklagend anschauen. Er reckt sich, tritt auf den Balkon, sieht auf das Sonnengrün hinaus. Die Bäume haben keinen Krieg erlebt, das Gebüsch nicht, auch das Gras nicht. Das Leben geht weiter. Das tröstet wenig, aber es tröstet eben doch ein wenig. Warum soll er nicht noch einmal ein Buch schreiben, das alle lesen, das ein Erfolg wird? Bald, vielleicht jetzt, da er hier auf dem Balkon steht, biegt der Lastzug mit den letzten Büchern und Möbeln um die Ecke. Sie werden einen Start haben, noch einmal – und dieses Mal werden sie nicht wieder kurz vor dem Ziel ausbrechen!

Ihn fröstelt plötzlich in der Sonne. Es leidet ihn nicht mehr in diesem Hause, das ihn an ein Grabmal so vieler begrabener Hoffnungen erinnert. Er verläßt das Haus eilig, passiert wieder die rot-weiße Sperre und ist wenige Minuten später in einer Elektrischen.

›So‹, denkt er entschlossen. ›Der Granzow soll nicht glauben, ich drücke mich um alle Entscheidungen, ich lasse andere für mich gehen. Ich will Gewißheit haben, noch vor dem Eintreffen des Lastzuges.‹

Später geht er mitten durch das Zentrum der Zerstörung, wenige Menschen sieht er nur in diesen Straßen, die noch vor sieben Jahren vollgestopft waren, kaum den Verkehr bewältigen konnten. Jetzt kann er mitten auf der Fahrbahn gehen, nicht einmal um die Autos braucht er sich zu kümmern: kommt wirklich mal eines, fährt es wegen der tiefen Löcher in der Straßendecke langsam und vorsichtig.

Auch Doll geht langsam. Die Sonne prallt auf die Ruinen (hier ist alles Ruhe), es riecht noch immer staubig, brandig. Manche Berliner haben sich das so schön ausgemalt, wie schon nach allerkürzester Zeit das Gewächs über das Getrümmer triumphieren würde. Aber wir leben hier nicht nahe einem tropischen Urwald, und zudem haben die Steine die Muttererde verschüttet; es wächst noch immer nichts! Kaum je sieht man ein grünes Hälmchen . . .

›Ja, mein Lieber‹, spricht Doll zu sich, ›und warum wunderst du dich eigentlich, beklagst dich fast –? Es wächst eben nicht so schnell aus Ruinen – auch bei dir nicht, gerade bei dir nicht! So ganz frisch bist du auch nicht mehr, und denke nur ein Jahr zurück, wie zerstört du da warst! Erinnerst du dich nicht mehr, wie du damals in diesem riesigen Bombentrichter lagst, der die Welt oder doch Deutschland war, und auf die Hilfe der Großen Vier hofftest –? Nun also –! Ich finde doch, seitdem hast du dich ein bißchen aufgerappelt. Ein wenig Gras wächst schon auf der Ruine. Sei nicht so ungeduldig, geh deinen Weg weiter!‹

Also geht er seinen Weg weiter, und der führt ihn nach nur wenigen hundert Schritten inmitten all dieser Zerstörung in ein großes, leidlich erhaltenes Bürohaus – früher hauste die Arbeitsfront darin. Er steigt Treppen hinauf, niemand fragt ihn nach seinem Begehren, er braucht keine Anmeldezettel auszufüllen, ob er geboren, getauft, existent ist – er geht zu einem wirklich modernen Geschäftsmann.

Er öffnet eine Tür und steht ganz einfach, ohne Vorzimmerdame, Sekretär oder Empfangschef, vor seinem Verleger Mertens.

Zehn Minuten später verläßt er wieder das ehemalige Haus der Deutschen Arbeitsfront. Granzow hat recht behalten: dieser Mertens ist kein kleinlicher Mann. Kein langes Gefackel, kein Geschwätz, keine Vorwürfe. Fragen, kurzes Überlegen und ein Ja.

Unter dem Arm trägt Doll einen Packen, ihm dedizierte Neuerscheinungen des Verlages, die Brusttasche ist ihm geschwollen von Geld. Er braucht die Lücken in seinen Bücherbrettern nicht zu vergrößern, und seinen Schuldenberg ist er doch los. Nun muß er bloß ein wenig beständig und mit Glück arbeiten, und alles wird wieder gut.

Trotzdem Doll nahe seinem Heim, direkt bei der Straßenbahnhaltestelle, ein kleines, wenig besuchtes Postamt weiß, fragt er sich hier doch durch die Ruinenstraße bis zu einem andern Postamt durch. Er kann es nämlich nicht abwarten, zu tun, was jetzt getan werden muß. Der Weg zu diesem Postamt im Zentrum durch die Ruinenstraße ist viel länger, und das Postamt selbst ist noch ziemlich zerstört und arg überlaufen.

Lange muß er dort anstehen, bis man ihm Federhalter und Postanweisungen und Zahlkarten aushändigt. Dann geht er an eines der Pulte und fängt an, die Anweisungen auszuschreiben. Es sind große Summen, auf die sie lauten, es wird lange Zeit, viele Monate Arbeit brauchen, um sie wieder abzutragen. Und was für gute Dinge alles hätten sie sich für dieses Geld kaufen können, ihre Wohnung würde heute wie eine Menschenbehausung aussehen, nicht wie eine Tierhöhle, wenn sie das Geld nicht so sinnlos für diesen elenden »Stoff« verschleudert hätten, für dieses Dreckszeug, das sie dazu noch krank machte!

Aber daran denkt Doll in diesem Augenblick nur flüchtig, mit einem wirklichen Genuß schreibt er diese Anweisungen, mit einem tiefen Gefühl der Erleichterung streicht er die Namen seiner befriedigten Gläubiger von der Schuldenliste, die er immer bei sich trägt. Er kann heute noch nicht alle zahlen, in einer Woche wird er sich den Vorschußrest aus dem Verlagshause holen – aber dann ist auch Schluß mit allen diesen Geschichten!

Als Doll nach gut einer Stunde wieder auf die Straße tritt, ist seine Brieftasche auf ein normales Maß zusammengeschrumpft, sein Herz aber scheint größer und stärker geworden, so leicht ist ihm zumute. Er sieht nicht mehr, daß auf den Trümmern kaum Grünes wächst, er sieht die Trümmer überhaupt nicht mehr. Er ist von schweren, ihn lange quälenden Sorgen befreit, er sieht einen Weg vor sich . . . Plötzlich hat er es eilig, wieder heimzukommen. Diese traurige, schmutzige Höhle, plötzlich nennt er sie Heim!

Und siehe, als er um die Ecke biegt und das letzte Ende der Villenstraße übersieht, da ist es dort lebendig geworden! Ein Lastzug hält vor seiner Tür, er sieht die Kinder den Männern beim Schleppen helfen – ach du lieber gnädiger Himmel du, gerade tragen sie seine Bücher ins Haus! Die Regale werden sich doch wieder füllen, die Höhle wird zum Heim werden, sie haben es noch einmal geschafft! Fast läuft er das letzte Stück . . .

Er findet Alma rauchend in einem Sessel sitzen, wie sie die Möbelträger dirigiert. Sie hat die Zeit seiner Abwesenheit benutzt, die Spuren der staubigen Lastwagenfahrt zu beseitigen, jetzt sieht sie wieder frisch und jung aus . . .

»Da staunst du«, ruft sie ihm entgegen, »jawohl, ich habe noch den Lastwagen und den Anhänger voll bekommen. Nun ist alles hier. Wir brauchen nicht noch mal zu fahren. Das Drecknest ist für immer erledigt. Alle deine Bücher sind hier – freust du dich? Habe ich es gut gemacht?«

Natürlich freut er sich, er gibt ihr auch einen Kuß. Aber dann erkundigt er sich doch eilig, ob Alma wohl auch für ihn eine Zigarette habe –?

»Aber eine ganze Packung –!« ruft sie. »Armer Junge, räuchert es dich so –? Hier: nimm! Und ich habe noch etwas für dich: zwei Flaschen Schnaps habe ich in der Tasche! Die Leute sollen auch davon haben, sie haben tüchtig gearbeitet. Zieh bloß kein Gesicht, daß ich zu viel Geld ausgegeben habe. Der Schnaps ist dort im Nest billig: noch nicht vierzig Mark kostet die Flasche! – Übrigens bringe ich dir das ganze Reisegeld wieder mit. Und mehr als das!«

»So?!« sagt er. »Wieso bringst du denn das ganze Reisegeld wieder mit –?! Und sogar noch mehr! Befördern sie denn jetzt auf der Bahn die Leute umsonst, und zahlen die Hotels zu, wenn einer bei ihnen schläft –?«

»Aber, das ist doch ganz einfach!« ruft sie. »Ich habe dort noch rasch all den Schraps verkauft, der nicht mehr auf den Wagen ging. Altes Zeugs, das wir nicht gebraucht hätten: Matratzen, Rohholzmöbel. Und jetzt wollen wir mit einem Schnaps auf ein besseres Leben anstoßen. – Prost!«

Sie stießen an, sie tranken. Sie dehnte sich wohlig. »Oh, das tut gut nach der langen staubigen Fahrt! Bin ich froh, daß auch das hinter mir liegt! Und daß ich alles geschafft habe! Bis nachts drei Uhr haben wir noch aufgeladen – ja, wir sind fleißig gewesen, du darfst mir ruhig noch einen Kuß geben zum Danke! Wie glücklich ich bin!«

Er küßte sie, dieses verwöhnte Kind, das jetzt bereit war, den Weg der Arbeit und der strengsten Sparsamkeit mit ihm zu gehen. Er sah sie an, wie sie da lächelnd saß, in all dem Glück, ihrer Jugend und Gesundheit, froh über das Erreichte. –

Am späten Abend geht Doll zurück in das Krankenhaus, um die letzte Nacht dort zu schlafen. Am nächsten Morgen wird er in die Villenstraße ziehen und sich sein Heim neu aufbauen. Er ist wieder gesund, er spürt Arbeitslust in sich, er glaubt an seine Zukunft. Und man kann nicht an die eigene Zukunft glauben, ohne an die Seinen, den näheren Kreis, das ganze Volk, ohne an die Menschlichkeit zu denken. Er glaubt an das Weiterbestehen, an das Wiederhochkommen Europas, weil er an das eigene Wiederhochkommen glaubt.

Die Apathie ist endgültig von ihm gewichen, er liegt nicht mehr im Bombentrichter. Nicht durch die Großen Vier – geheimnisvoll wuchsen ihm die Kräfte zu, sich aus dem Trichter herauszuarbeiten, nun ist er oben. Er lobt das Leben, das dauerhafte, immer wieder beschmutzte, das herrliche Leben! Die Völker werden in Ordnung kommen, auch Deutschland, dieses geliebte, dieses elende Deutschland, dieses krank gewordene Herz Europas wird wieder gesunden.

Und wie Doll nun in dieser späten Abendstunde durch die Straßen der Stadt Berlin geht, empfindet er zum ersten Male, daß wirklich Friede ist. Er geht an heilen Häusern vorbei, an Ruinen vorbei, unter Baumkronen weg, er ist glücklich. In Einklang mit sich selbst. Im Gleichgewicht. Gesund geworden – für ein friedevolles Leben gesund geworden.

Das Leben geht weiter – sie werden diese Zeit überleben, sie, die durch Gnade Übriggebliebenen, die Hinterbliebenen. Das Leben geht immer weiter, auch unter Ruinen. Die Ruinen sind unwichtig, aber das Leben ist wichtig. Das Leben mit einem Grashalm in der Stadtmitte zwischen tausend zerstörten Steinblöcken. Es geht immer weiter.

Und vielleicht lernen die Menschen sogar etwas. Lernen aus ihren Leiden, ihren Tränen, ihrem Blut. Lernen widerwillig, zögernd oder begeistert. Lernen, daß es nur anders weitergehen kann, daß man anders denken lernen muß . . .

Doll jedenfalls ist entschlossen, mitzulernen. Er sieht seinen Weg vor sich, die allernächsten Schritte, und sie bedeuten Arbeit, Arbeit, Arbeit. Hinter diesen Schritten fängt wieder das Dunkel an, das für jeden Deutschen heute die Zukunft verfinstert, aber daran will er nicht denken. Man hat es ja in den letzten Jahren so gut gelernt, auf Abruf zu leben, nur von einem Tag zum andern, warum soll man diese Lehre heute nicht gebrauchen? Weiterleben und arbeiten! Das ist die Parole!

Der späte Abendwind weht tröstlich in den Kronen der Bäume. Der Atem der weiten Welt weht ihn, den kleinen Menschen, an. Er lehnt eine Weile an solchem Baum, er hört auf das Geflüster oben in den Zweigen. Es ist nichts, bewegte Luft, die die Blätter zum Rauschen bringt. Nichts. Nicht mehr. Aber es genügt. Nie hat er in den letzten Jahren Zeit gehabt, unter einem Baum zu stehen und auf sein Flüstern zu lauschen. Nun hat er sie, denn es ist wieder Friede – Friede! Begreife es im Innern, Mensch, du brauchst nicht mehr zu morden und zu töten. Waffen sind unnötig, es ist wirklich Friede!

 


 


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