Hans Fallada
Der Alpdruck
Hans Fallada

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Neuntes Kapitel.
Robinson

Die letzte U-Bahn war wirklich schon fort gewesen und der Marsch durch das finstere, zerbombte Berlin gar nicht unflott – wie die Kleinschmidt gesagt hatte. Manchmal hatte Doll, alter Berlinkenner, wirklich nicht mehr gewußt, wo er eigentlich war. Menschen, die er hätte fragen können, waren kaum noch auf der Straße, und die er sah, die hasteten so eilig an ihm vorüber, als hätten sie Angst vor ihm, und vermutlich hatten sie wirklich Angst. Wollte doch Doll selbst manchmal ein Grausen ankommen, so fürchterlich war ihm dieses nächtliche Steinchaos, über das ein Novemberwind dunkle Regenwolken jagte. Und doch war eine Wandlung in ihm eingetreten: als er in Berlin angekommen war, hatte er gedacht: ›In dieser Totenstadt werde ich nie arbeiten können!‹ Jetzt dachte er trotzig: ›Und ich werde doch hier arbeiten! Trotzdem! Grade!‹

Lange mußte er vor dem verschlossenen Hause warten, die Klingel war abgestellt, und niemand schien noch in das Haus zu wollen. Es war sehr kalt, die Zähne klapperten Doll im Munde. Aber die Versuchung, zur Auffrischung seiner Lebensgeister schon jetzt die von der Kleinschmidt gespendete Zigarette zu rauchen, wies er standhaft zurück: er hatte beschlossen, sie erst im Bett zu genießen, wenn er wirklich »daheim« war, in dem Heim, aus dem nun tatsächlich eine Heimat werden sollte – soweit es auf ihn ankam. Und auch die Befürchtung, es käme die ganze Nacht keiner mehr mit einem Hausschlüssel, es hätten schon alle Bewohner ihr Haus aufgesucht, zerstreute er sich immer wieder: ›Nein, ich werde hier nicht die ganze Nacht stehen, bestimmt kommt noch einer. Und das bald – ich fühle es!‹

Eine lange Zeit schien sein Fühlen ihn zu narren, dann erschien um die Ecke ein großer, langer junger Mann und sagte überrascht: »Ach, Herr Dr. Doll –! Den Hausschlüssel vergessen –? Und so stehen Sie hier ohne Mantel in der Eiseskälte?!«

Sie kannten sich, wie die Berliner sich durch den Luftschutzkeller kennengelernt haben, so obenhin, nach Namen und Beruf, und ob man sich vor dem andern als einem wilden Nazi mit seinen Reden besonders in acht zu nehmen hatte. Doll war schon im Begriff, mit einer Phrase zu antworten, sagte dann aber doch, denn der junge Mann war stets als »anständiger Kerl« bekannt gewesen: »Die Wahrheit zu sagen, besitze ich vorläufig weder Hausschlüssel noch Mantel. Wir sind etwas devastiert hier in Berlin angekommen – wie so viele heute!«

Das Treppenhaus, in dem alle Scheiben durch Pappe ersetzt waren, kam ihm nach der stürmischen Kälte draußen wie ein angenehm gewärmter Raum vor. »Ah!« sagte er. »Diese Wärme tut gut!«

Der Begleiter murmelte eine leicht verwunderte Zustimmung und erkundigte sich nach der »gnädigen Frau«. Sie lag – leider – in einem Krankenhaus, doch hoffte Herr Doll, sie bald wieder bei sich zu haben. Der junge Mann hoffte das auch, er würde sich freuen, die junge Frau bald wiedersehen zu dürfen, sie habe immer für eine gute Stimmung im Luftschutzkeller gesorgt. Er habe – wie übrigens alle Hausgenossen – stets ihre Haltung bei den schwersten Angriffen bewundert. Vielen sei ihre unbekümmerte Fröhlichkeit Trost und Vorbild gewesen. Auch ihm, er gestehe das offen.

Die Herren trennten sich mit einem Händeschütteln, das unerwartet kräftig ausfiel. Dann stieg Doll noch eine weitere Treppe hinauf und klingelte an der Schulzschen, nein, an seiner Etagentür. Er klingelte kräftig und mehrmals. Den Karton mit seinen sieben Zwetschgen hielt er unter dem Arm, trotz des »angenehm warmen« Treppenhauses liefen noch immer Frostschauer seinen Rücken hinunter.

Endlich wurde ihm geöffnet, als er die Notbeleuchtung der Treppe grade zum achten Male anknipste. Und wieder war es die junge Schauspielerin, die ihm zu diesem zweiten Lebensbeginn in Berlin die Tür öffnete. Unterdes hatte Alma ja schon festgestellt, daß diese junge Dame gar nicht so bösartig und schnippisch war, wie es an jenem Morgen geschienen hatte, im Gegenteil, sie hatte sich im Helfen oft recht großzügig gegen die hungernden Dolls erwiesen.

Sie sagte nach dem Öffnen der Tür: »Ach, der Herr Doll –! Und so spät noch –! Kommen Sie doch erst einmal mit mir in die Küche, ich habe grade den Brei für das Kleine auf dem Feuer, und ein bißchen wärmer ist es da auch durch das Gas!«

Doll setzte sich müde auf den Küchenstuhl zwischen Gasherd und Tisch, auf den Stuhl, auf dem an jenem Septembermorgen seine Frau so trostlos gesessen hatte, und fand wirklich das bißchen Wärme vom Gasherd her sehr angenehm. Fräulein Gwenda aber rührte in ihrem Breitopf und sagte: »Sind Sie denn nun auch wirklich gesund, Herr Doll –? Sehr gesund sehen Sie eigentlich nicht aus, und zur Holzbeschaffungsaktion würde ich Sie bestimmt nicht mit in den Wald nehmen!«

»Doch, ich bin wieder ganz gesund«, erwiderte Doll, nicht ganz der Wahrheit gemäß, denn grade im Augenblick fühlte er sich besonders elend und matt. »Es ist die Krankenhausluft, durch die ich noch so elend aussehe«, setzte er darum erklärend hinzu, denn er wollte bei Fräulein Gwenda doch nicht den Gedanken aufkommen lassen, die Lotterwirtschaft mit ewigem Liegen und Hungern und Aushelfen beginne von neuem. »Ich bin all die Wochen nicht an die frische Luft gekommen bis heute. Da habe ich auch meine Frau besucht, und für den ersten Ausgang ist das wohl ein bißchen viel gewesen.«

Fräulein Gwenda erkundigte sich nun teilnehmend nach dem Befinden der jungen Frau, und es dauerte darum eine ganze Weile, bis Doll die Frage nach seinem Zimmer anbringen konnte: ob Frau Schulz heute da sei? Ob sie gar schon im Bett liege –? Ob sie wohl noch zu sprechen sei –?

Ja. Fräulein Gwenda meinte »Ja«. Frau Schulz schlafe heute wohl hier, soviel ihr bekannt sei. Aber ob sie das Licht schon aus habe, das wisse sie nicht. So schlich sich denn Doll auf Zehenspitzen bis an die Tür »seines« Zimmers und spähte durch das Schlüsselloch. Es war aber alles dunkel. Er lauschte lange: da hörte er den sachten, ein bißchen flötenden und dann wieder leise pfeifenden Schlafatem und wußte es nun gewiß: in dieser Nacht sah es mit seiner eigenen Schlaferei faul aus und mit der Bettwärme erst recht. Zum richtigen behaglichen Rauchen der Kleinschmidtschen Zigarette würde er wohl kaum kommen.

Als er wieder in der Küche stand, waren Fräulein Gwenda und der Brei fort und das Gas gelöscht. Auch hier war ohne ihn Feierabend gemacht worden. Eine Weile stand er und sah diese Küche an. Es war unzweifelhaft seine, ihre, der Dolls Küche; jedes Stück darin gehörte ihnen, nicht nur die Möbel, sondern auch jeder Löffel, Quirl, Topf, Teller. Aber als er in das große und breite Küchenbüfett hineinschauen wollte, war jedes Abteil verschlossen, und die Schlüssel waren nicht da.

›Es ist doch eine komische Welt‹, dachte er. ›Sie müßten uns doch wenigstens fragen, und ein bißchen Miete müßten sie auch zahlen. Wie steht es überhaupt mit der Wohnungsmiete?‹ fiel es ihm plötzlich ein. ›Die kleine Familie von Fräulein Gwenda wohnt ja erst seit Ende August hier, aber die Schulzen, die so tüchtig im Rechnungmachen ist, werde ich morgen früh gleich mal kräftig in die Zange nehmen wegen Miete, Licht und Gas. Das bringt Geld, und wenn es auch nicht viel Geld sein wird an den Schwarzmarktpreisen gemessen, für die, die gar kein Geld haben, ist auch wenig Geld viel Geld.‹

Während er so vor sich hindachte, sah er sich die Schlösser zu den Speisekammern an, von denen es in dieser hochherrschaftlichen Küche nämlich zwei gab, eine rechts, die andere links vom Fenster. Aber sie waren auch beide abgeschlossen. ›Natürlich‹, sagte er zu sich mit einem leichten Seufzer. ›Die eine für die Schulz, die andere für das Fräulein Gwenda. Die Dolls haben die gar nicht auf ihrer Rechnung. Auch das muß anders werden. Morgen früh gehe ich gleich auf das Wohnungsamt und stelle unser Recht klar. Aber nein, zuerst muß ich auf das Ernährungsamt und Karten holen; das Leben mit Betteln und Borgen und Kaufen auf dem Schwarzen Markt geht unmöglich weiter!‹

Jetzt stand Doll vor dem Küchentisch und betrachtete ihn nachdenklich. Aber er kam ihm doch zu kurz und zu hart als Notlager vor. Dann fiel ihm die Badewanne ein, aber der Frost, der immer noch in seinem Körper steckte, schüttelte ihn schon bei dem Gedanken an solch Notlager, so daß er ihn sofort verwarf. Auf dem kleinen Zwischenflur lag Velours, und an dem Kleiderrechen auf der Diele hatte er einiges weibliche Mantelzeug hängen sehen, damit konnte er sich zudecken.

Aber es schien ihm immer noch nicht das Rechte, bis ihm schließlich einfiel, daß die Wohnung doch sechseinhalb Räume hatte, und der halbe, das war das Mädchenzimmer. Er ging hinein und knipste, aber es wurde nicht hell, entweder weil die Leitung entzwei war oder weil keine Birne in der Fassung saß. So ging er in die Küche zurück, machte ungeschickt genug mit dem Anzünder wieder das Gas an, fand im Mülleimer eine Zeitung und drehte sich aus ihr eine Fackel. Mit ihr beleuchtete er das Mädchenzimmer.

Jawohl, die Bettstelle war noch dort und auf ihr die Matratze und sogar das Keilkissen, aber sonst war da gar nichts, kein Bettstück und keine Bettdecke. Und es war verdammt kalt in diesem schmalen Loch! Mit dem letzten Rest der Fackel leuchtete er das Fenster an und sah, daß im Rahmen nur noch ein paar Scherben spießten. Die frische Nachtluft hatte ungehinderten Zutritt. Trotzdem entschied er sich für dieses Schlafgemach, ein Bett blieb doch immer ein Bett – und dafür war er ein Mann, daß er nicht auf den Gedanken kam, daß man ein Bett auch umstellen kann, z. B. in die geschützte, wärmere Küche. Nein, auf diesen Gedanken kam Doll nicht, eben weil er ein Mann war, wie wenigstens die Alma später sagte, als sie von dieser ersten Nacht gehört hatte.

Auch hatte Doll jetzt plötzlich Hemmungen, das weibliche Mantelzeug so einfach als Zudeck zu benutzen. Er mühte sich lange damit ab, einen vertretenen Läufer im hinteren Gang von den Nägeln zu lösen. Endlich gelang es, aber es war klar, daß dieser Läufer mit seinem völlig zerfetzten Rand nie wieder gelegt werden konnte. Doll zog in der Küche schnell seinen Anzug aus, brannte sich am Gas die Zigarette an, schleppte den Läufer hinter sich drein und bezog sein Nachtquartier, den alten, staubigen Teppich in vielen Bahnen auf sich packend. Die froststarren Füße aber wickelte er in den Rest eines Morgenrockes, den er im Badezimmer gefunden hatte.

So lag er denn im Dunkeln, ab und an glühte die Zigarette auf; dann verschwand vor dem nahen feurigen Schein die helle Fensteröffnung mit dem schwarzen Dachprofil des Hofgebäudes und dem grauen Himmel darüber. Glühte die Zigarette aber nicht, trat wieder der Himmel hervor, und die Luft schien ihn kühler anzuwehen.

Zuerst wollte sich trotz der Zigarette keine rechte Behaglichkeit einstellen, weil er nicht warm werden konnte, denn der Läufer war wohl schwer und roch unangenehm nach Staub und allem möglichen sonstigen nicht recht Bestimmbaren, aber gewiß nicht wärmend. Doch als die Zigarette ausgeraucht war, und nur noch der Himmel über dem schwarzen Dach seinen matten Schein in Dolls Gesicht sandte, fand sich der Frierende plötzlich in einer Einschlaf-Phantasie, der er von seinen frühesten Knabentagen an sich immer dann hingegeben hatte, wenn ihm seine Lebensumstände besonders bedroht erschienen waren.

Diese Phantasie lief darauf hinaus, daß er Robinson war auf der wüsten Insel, aber ein Robinson ohne Freitag und ein Robinson, der jeden Besuch weißer Menschen verabscheute und der bei dem Gedanken, von ihnen »gerettet« zu werden, Angst empfand. Sondern dieser andere Robinson tat alles, um sich gänzlich vor seinen Mitgeschöpfen zu verstecken. Diese Pflanzung um seine Höhle herum konnte gar nicht dicht und der Weg durch sie hin nicht verwachsen und versteckt genug sein. Ja, am liebsten erfand er sich einen tiefen Talkessel zwischen hohen und steilen Felswänden, und in diesen Kessel führte nur ein langer dunkler Felsentunnel, der leicht mit Steinen zu verrammeln war. Der Talkessel selbst aber hatte einen lockeren und doch von oben undurchsichtigen Baumbestand, der Robinson auch gegen Fliegereinsicht abdeckte.

In solch tiefe Abgeschiedenheit war Doll schon als Junge geflüchtet, wenn ihm die Welt mit ihren Menschen zu gefährlich geworden war, wenn er einen Beweis in Geometrie nicht kapiert hatte, wenn eine böse Lüge ans Tageslicht gekommen war. Die gleiche Fluchtmöglichkeit hatte auch der Mann in gewissen mutlosen Stunden nicht verschmäht, und eine ganz besondere Wichtigkeit hatte sie natürlich für ihn in den letzten Jahren durch die ständigen schweren Bombenangriffe auf Berlin bekommen.

Im Grunde aber – und das wußte Doll seit der Lektüre Freudscher Schriften recht gut – bedeutete diese Felsenhöhle oder der geschützte Talkessel nichts anderes als den Schoß der Mutter, in den sich der Bedrohte zurückwünschte. Dort allein war sichere Stille gewesen, und die südliche Sonne, die er stets auf sein Robinsoneiland scheinen ließ, das war das große heiße Herz seiner Mutter, das ihm gnädig und unermüdlich die Strahlen ihres warmen roten Blutes sandte!

Mit diesen und ähnlichen Gedanken schlief er endlich doch ein, und als er aufwachte, stand zwar die scheidende Nacht noch schmutziggrau in der leeren Fensterhöhle, Herr Doll aber sprang doch mit Eifer und völlig warm von seinem Lager, begierig, den ersten wirklich tätigen Tag nach dem Zusammenbruch all seiner Hoffnungen zu beginnen. In der Küche beim elektrischen Licht bekam er freilich einen Schreck, was für Spuren der staubige Läufer auf ihm hinterlassen hatte. Aber zu ändern war da nichts, denn Wäsche zum Wechseln besaß er nicht. So verwandte er im Badezimmer alle Sorgfalt auf eine gründliche körperliche Reinigung und fühlte sich frisch, wenn auch wieder recht kalt, als er vor dem großen Spiegel in der Diele stand und sich musternd betrachtete. Ja, er fand, er sah so frisch und gesund aus wie seit langem nicht. Eilig lief er die Treppe hinunter, die Haustür war schon offen, aber um die Ecke herum der Laden von Mutter Minus war noch geschlossen.

Da aber Licht im Laden brannte, so begann er zu klopfen, und er klopfte so beharrlich weiter, bis schließlich der gute, dicke, weißhaarige Kopf der Mutter Minus sich an der Türscheibe platt drückte – er wurde aber energisch geschüttelt zum Zeichen, daß noch kein Einlaß sei. Doll dagegen klopfte um so stärker, die leere früh-graue Straße hallte wider davon, und als die gute Minus nun wirklich so ärgerlich, wie sie nur sein konnte, die Tür aufmachte und den beharrlichen Trommler von der Schwelle scheuchen wollte, hatte er schon ihre Hand zwischen den seinen und sagte: »Ja, ich bin's wirklich, der Dr. Doll. Ende März haben wir uns zum letzten Male gesehen, und ich freue mich, daß Sie's gut überstanden haben wie wir auch. Meine Frau freilich liegt im Krankenhaus, ich denke aber, schon in der nächsten Zeit wird sie wieder bei mir sein. Und wenn ich eben solch unverschämten Krach gemacht habe, so nur darum, weil ich Sie unbedingt alleine sprechen muß, ehe noch Ihre Frühgäste alle kommen!«

Während Doll so fröhlich auf Mutter Minus einredete, hatte er sie sachte, Schrittchen um Schrittchen, in ihren Laden zurückgedrängt. Nun schloß er vorsorglich die Ladentür wieder zu, damit nicht etwa andere Frechlinge sich die gleiche Freiheit nähmen.

»Ja«, sagte die gute Minus und war schon nicht mehr böse. »Ja, daß Sie beide zurück sind, habe ich schon gehört, und daß es Ihnen nicht gut geht, das ist mir auch erzählt worden. Und was haben Sie jetzt auf dem Herzen, Herr Doktor –?«

Doch ehe Doll noch seine Bedürfnisse, Aussichten und Versprechungen dargelegt hatte, sagte sie schon: »Aber was frage ich noch? Warum kommt man denn so früh zur Mutter Minus und will sie unbedingt alleine sprechen? Was zu essen, wie –? Ein bißchen gutes Freßchen, was –? Nun, Herr Doktor, einmal will ich's ohne Karten tun, aber nur dies eine Mal, verstehen Sie! Nicht wieder!«

»Großartig, Frau Minus!« rief Doll, beglückt, weil es ihm so leicht gemacht worden war. »Sie sind immer die Allerbeste.«

»Ach, reden Sie nicht!« antwortete Frau Minus und packte schon zusammen, füllte in Tüten, wog ab, schnitt und klackste auf Papier – wobei Dolls Augen immer größer wurden, denn er hatte sich im besten Falle ein Brot und ein wenig Kaffee-Ersatz erwartet. »Reden Sie bloß nicht so viel und versprechen Sie vor allem nichts! Aber denken Sie daran, ›einmal‹ habe ich gesagt, und dabei bleibt es. Wenn auch alle sagen, ich bin zu gut und kann nicht ›Nein‹ sagen. Ich kann ›Nein‹ sagen. Sie wissen, es darf nicht sein, und die können mir wegen so was glatt den Laden zumachen. Aber dieses eine Mal sage ich: Mensch bleibt Mensch, und ich habe ja auch davon gehört, wie es Ihnen beiden ergangen ist. So, nun nehmen Sie das Zeugs und reden Sie nicht viel. 12 Mark 47 macht's, und wenn Sie Geld haben, so zahlen Sie es gleich, sonst lassen Sie's. Anschreiben darf ich, anschreiben tu ich für Sie auch noch 'ne Weile, das ist etwas anderes. Aber ohne Karten, nein!«

Und nachdem sie das zum drittenmal mit aller Energie betont hatte, als wolle sie ihr schwaches Herz hart machen, schob sie Doll, der vor Dankbarkeit wirklich gerührt war, aus dem Laden auf die Straße. Er hörte den Schlüssel sich im Schlosse drehen und nickte noch einmal heftig zurück, weil er wegen der vollen Arme nicht winken konnte. Dann ging er heim mit dem Gefühl, er sei plötzlich ein sehr reicher Mann geworden.

Er hatte beim Weggehen den in der Flurtür steckenden Schlüssel an sich genommen, und das war gut, denn bei seiner Rückkehr rührte sich noch immer nichts. Das war ihm lieb, denn so konnte er seine Schätze ungestört und unbeobachtet auspacken. Als sie dann vor ihm auf dem Küchentisch lagen, schien er sich wirklich ein reicher Mann, der doch eben noch der arme Lazarus gewesen war. Es lagen da aber drei Brote – ein weißes und zwei dunkle –, eine Tüte mit Kaffee-Ersatz, eine mit Zucker, eine mit Nudeln, eine mit weißem Mehl, eine kleine Spitztüte mit Kaffeebohnen, ein Papier mit Butter, eines mit Margarine und ein Pappteller voll Marmelade.

›Wenn ich das auf dem Schwarzen Markt hätte kaufen müssen!‹ dachte Doll und setzte in einer Kasserolle Wasser auf, für Muckefuck selbstverständlich, denn die guten Kaffeebohnen blieben natürlich für das Wiedersehen mit Alma.

Er fand es ein wenig schwierig, Geschirr für sein Frühstück zusammen zu bekommen, sie hatten ihm ja sein Büfett zugeschlossen! Aber im Abwaschtisch fand er schließlich, was er brauchte, wusch notdürftig mit kaltem Wasser ab und sagte wieder einmal bei sich: ›Das muß alles anders werden – heute noch!‹ Worauf er sich zu einem Schlemmermahl niedersetzte.

Nur zweimal wurde er dabei gestört. Das eine Mal kam die Schulzen wie ein Gespenst, aber wie ein sehr ungewaschenes, in die Küche geschusselt, starrte entsetzt auf den Frühgast und fuhr schon wieder hinaus, mit dem nur geächzten Schrei: »Herr Gott, das hätte ich wissen müssen, Herr Dr. Doll!«

Und fort war sie wieder, mit ihrem unordentlichen, halb zerfetzten Nachtgewand, ihrem wuscheligen Kopf, an dem die kurzen Löckchen in Haarwickeln steckten. Doll eilte ihr nach: »Hören Sie doch, Frau Schulz!« rief er beschwörend. »Warten Sie doch nur einen Augenblick, ich sehe auch gewiß nicht hin!«

Die Tür schlug ihm vor der Nase zu, ins Zimmer vorzudringen, widerstrebte ihm, so rief er denn durch das Schlüsselloch: »Gnädige Frau, ich mache nur rasch einen Weg auf die Kartenstelle – kann ich Sie hinterher sprechen?«

Ein Seufzer, ein »Ach Gott!« antworteten ihm.

»Ich muß Sie unbedingt heute noch sprechen! Es handelt sich um eine Sache, die auch für Sie wichtig ist!« – Ein Seufzer, noch tiefer, als einzige Antwort. »Aber das war doch nicht so schlimm«, flüsterte, pfiff Doll durchs Schlüsselloch. »Ich habe doch auch eine junge reizende Frau! – Also, gnädige Frau, wir sprechen uns nachher – in Friede und Freundschaft! – Auf Wiedersehen!«

Das wieder geseufzte »Ach Gott« klang jetzt immerhin so, daß Doll es für ein »Ja« nehmen konnte. ›Alte Vogelscheuche!‹ murmelte er bei sich. ›Du wirst staunen, wie ich dich aus der Wohnung kutschieren werde –! Denkst du, ich habe vergessen, wie du nach dem 20. Juli die göttliche Errettung des geliebten Führers bejubelt hast –?!!!‹

Noch nicht lange saß er wieder bei seinen Marmeladenstullen, da kam die zweite Störung: es klingelte an der Etagentür. Dem Öffnenden stand der lange junge Mann gegenüber, der ihn am Abend zuvor ins Haus und damit in ein bißchen Wärme gelassen hatte.

»Ach, Sie sind es selbst, Herr Dr. Doll!« sagte er verlegen, besann sich aber rasch. »Ich dachte, Sie würden noch schlafen und wollte dies nur rasch abgeben . . .« Er brachte ein großes Paket zum Vorschein. »Es ist ein Mantel«, erklärte er hastig. »Leider nur ein Sommermantel, und ein Hut. Ich bin größer als Sie, aber vielleicht geht es doch. Es ist natürlich nur geliehen, entschuldigen Sie bitte. Sie tragen es eben so lange, bis Sie etwas anderes haben . . .«

»Aber, Herr –« fing Doll überwältigt an. »Sehen Sie, nun habe ich sogar Ihren Namen vergessen . . .«

»Ach, der Name tut ja nichts zur Sache! Jedenfalls, wenn es auch nur ein Sommermantel ist, es ist doch besser als gar nichts . . .« Das Paket hatte unterdes seinen Besitzer gewechselt; die beiden Männer hatten sich kräftig die Hand geschüttelt . . .

»Ich finde das einfach großartig von Ihnen, Herr –« fängt Doll an, unterbricht sich aber schon wieder. »Nein, jetzt müssen Sie mir aber Ihren Namen sagen –« Es ist Doll, als könne er dem andern nicht ordentlich danken, wenn er namenlos bliebe . . .

»Grundlos«, antwortete der. »Franz Xaver Grundlos. – Aber jetzt muß ich eiligst fort – ins Geschäft. Die U-Bahn –«

Die letzten Worte klingen schon von der Treppe her. Jetzt, wo Doll Herrn Grundlos »ordentlich« danken könnte, ist der fort!

Zum zweitenmal kann Doll an diesem Morgen Geschenke auspacken. Ihm ist zumute, als seien Weihnachten und Geburtstag auf einen Tag gefallen. Ach, wie falsch hat er in seiner Depression die Deutschen gesehen! Der Anstand, die einfache Rechtlichkeit, sie sind noch nicht ausgestorben, sie werden nie aussterben. Nein, sie werden wieder stark werden, sie werden dieses Unkraut der Nazis aus Denunziationen, Neid, Haß überwältigen, ersticken –!

Nur ein Sommermantel und zu groß, beides richtig. Aber es ist ein schöner blauer Stoffmantel, zum Teil mit Seide abgefüttert. Die Menschen helfen also einander wieder, keiner steht ganz allein auf der Welt, jeder vermag zu helfen, jedem kann geholfen werden. – Natürlich war der Mantel etwas zu lang, aber was schadet das –?

Er behält ihn an und setzt auch das Sammethütel bayrischen Einschlags auf – früher hätte er solch Ding nie auf seinem Kopf geduldet! Aber so übertrieben warm ist es nun doch nicht in der Küche, daß man beim Essen eines Marmeladenbrotes nicht einen Sommermantel tragen könnte. Er setzt sich auch nicht wieder hin zu dieser Esserei. Plötzlich brennt es ihm auf den Nägeln, zum Ernährungsamt zu kommen! Monate hat er die Sache verbummelt, aber nun will er dieser guten Frau Majorin zeigen, daß er auch Karten hat, daß er nicht mehr auf sie angewiesen ist! Noch heute wird er es ihr zeigen!

Ein Problem bleibt freilich, wo er solange seine Lebensmittel läßt. Er traut keinem. Schließlich schleicht er mit ihnen in das ausgebrannte Vorderzimmer, das voll von Trümmern und Gerümpel liegt, und legt die Tüten in eine Lade der angebrannten Wickelkommode von Petta.

Noch eine letzte Musterung vor dem Spiegel. ›Gut!‹ sagt er zu sich. ›Jedenfalls tausend Prozent besser, als ich in den letzten Monaten ausgesehen habe! Und nun auf zur Attacke gegen das Ernährungsamt! Gebe es der Himmel, daß ich auch auf solch anständigen Menschen stoße wie in den letzten vierundzwanzig Stunden nun schon dreimal! Aber an einem solchen Glückstage muß mir ja alles gelingen!‹

Es ist noch lange nicht acht Uhr, als Doll das Haus verläßt, und Mittag ist längst vorüber, als er wieder heimkehrt, ein sehr veränderter Doll. Er setzt sich ohne ein Wort auf den Küchenstuhl neben den Gasherd, er ist zu Tode erschöpft. Fräulein Gwenda, die ihre Kartoffelsuppe auf dem Gasherd überwacht – sie steht da nun schon vier Stunden und müßte doch endlich kochen, aber bei dem Gas! –, Fräulein Gwenda bittet ihn um den Flurschlüssel, den er wohl an sich genommen habe. Doll steht ohne ein Wort auf. Er sieht auf einen Blick, daß jetzt die Schlüssel sowohl in den beiden Speisekammern wie im Küchenbüfett stecken. Er zieht sie ab, steckt sie in die Tasche und schickt sich an, die Küche zu verlassen.

Die beiden Frauen – Gwenda und die verwitwete Frau Major Schulz – tauschen einen raschen Blick, sie verständigen sich dahin, dem armen Irren erst einmal seinen Willen zu lassen. Die jetzt völlig aufgetakelte Schulz mit neckischen Lämmerlöckchen flötet: »Wenn Sie mit mir sprechen wollen, Herr Dr. Doll, ich stehe zu Ihrer Verfügung. Ich bin nur noch Ihretwegen hier.«

Aber er steht nicht zu ihrer Verfügung. Er geht den Gang hinauf in das Zimmer der Schulz. Er tritt ein, schließt die Tür ab hinter sich und setzt sich in einen Sessel. Er ist stark angeschlagen, todmüde und ziemlich verzweifelt: dieser Vormittag war für die schwachen Kräfte eines kaum Genesenen zu viel. Er will jetzt nur ruhen, ruhen . . . Er lehnt sich zurück und schließt die Augen. Aber gleich öffnet er sie wieder. Er friert, oh, wie er friert! Zwar hat er noch den Mantel an, aber . . . Schwerfällig steht er wieder auf und rückt das elektrische Heizöfchen ganz dicht an seine Beine. Er holt sich von der Schlafcouch die Steppdecke der Schulz und wickelt sich darin ein . . .

Zum zweitenmal schließt er die Augen. Er denkt noch: ›Ich darf nicht länger als höchstens bis vier schlafen. Um fünf muß ich bei Alma sein. Was ich ihr freilich von meinen großartigen Erfolgen auf den Ämtern erzählen soll . . . Nein, nur jetzt nicht daran denken, sonst wird aus dem Schlaf nichts!‹

Langsam dämmert er hinüber. Aber er schläft noch keine fünf Minuten, da klopft es gegen die Tür und Frau Schulz zirpt: »Ach, Herr Dr. Doll, einen Augenblick! Wollten Sie mich denn nicht sprechen –?!«

Er weigert sich zu hören. Er schläft. Er muß schlafen.

»Bester Herr Dr. Doll, machen Sie mir doch bloß einen Augenblick auf, daß ich wenigstens meinen Mantel und meine Tasche holen kann! Ich muß doch fort –!«

Doll schläft. Aber als sie ihn zum dritten Male beschwört, springt er auf, er wirft das Heizöfchen um, stürzt zur Tür, dreht den Schlüssel, reißt sie auf und schreit zornig: »Zum Henker mit Ihnen! Wenn Sie nicht auf der Stelle machen, daß Sie von der Tür hier wegkommen, dann schaffe ich Sie fort, aber gleich alle vier Treppen hinunter – haben Sie mich verstanden, Sie –?!!!«

Dieser Zornesausbruch ist so wirkungsvoll, daß Frau Schulz vor ihm den Gang hinabflieht. »Ich gehe ja schon!« flötet sie dabei angsterfüllt. »Entschuldigen Sie bloß die Störung! Es wird gewiß nicht wieder vorkommen!«

Doll schläft jetzt sehr fest, sofort nach seinem Zornesausbruch ist er eingeschlafen, tief und ruhig, als habe dieses Gewitter die Luft gereinigt. Als er wieder aufwacht, dunkelt es schon im Zimmer. Er fühlt sich wunderbar ausgeruht und erfrischt – wie seit langem nicht. Sein erster gesunder Schlaf ohne alle Mittel! Ruhig bleibt er im Sessel sitzen, ruhiger kann er jetzt an das denken, was ihm sein Vormittagsbesuch auf den Ämtern einbrachte.

Er sieht sich wieder in der langen Schlange derer stehen, die mit ihm auf der Kartenstelle warten. Trotz seines frühen Kommens sind an die hundert Menschen vor ihm. Er hört wieder das Streiten, das ewige Sticheln der Mitwartenden. Er sieht den Zank um ein einziges Wort, das oft auch noch mißverstanden wurde, und die unbegreiflichen Wutausbrüche, wenn sie meinen, daß jemand versucht, sich vorzudrängen. Unvermeidlich hat Doll nach dreistündigem Warten in dieser haßerfüllten Atmosphäre nicht mehr die festliche Stimmung vom Morgen. Er wehrt sich dagegen, aber diese niederdrückende Stimmung ist nun einmal da.

Dann stand er endlich in dem Zimmer, an einem Tisch, vor einem Mädchen oder einer Frau, hinter ihm reden sie, neben ihm reden sie, und nun redet auch Doll, sagt, was er sich hundertmal überlegt, genau zurechtgelegt hat . . .

Aber er kommt keine drei Sätze weit. »Erst müssen Sie Ihre polizeiliche Anmeldung und Ihre Wohnungseinweisung bringen«, erklärt das Fräulein. »Ohne das gibt es hier keine Karten. Gehen Sie nur erst aufs Wohnungsamt! – Der nächste, bitte!«

»Aber Fräulein!« rief er. »Es ist doch immer unsere Wohnung gewesen, wir waren nie abgemeldet, wozu muß ich mich da neu anmelden –?! Sehen Sie nur in Ihrer Kartothek nach –!«

»Dann lassen Sie sich das vom Wohnungsamt bestätigen! – Und überhaupt . . .« Sie musterte ihn abweisend. »Der nächste, bitte –!«

Doll hatte gut reden; sie hatte das auf dem Amt gelernt: Überhören. Sein Sprechen war für sie wie das Gesumm einer Fliege! Er mußte gehen, und um eine solche Auskunft hatte er über drei Stunden und viel Eifer verloren!

Er ging zum Wohnungsamt, er fand das Wohnungsamt. Er brauchte dieses Mal nicht so lange anzustehen. Es ging schon mit anderthalb Stunden ab. Aber auch auf dem Wohnungsamte erreichte er nichts. Erst hörte ihn wieder eine Dame an und war zweifelhaft wegen seines Falles. Er hätte sich doch vor dem 30. September melden müssen, und jetzt war es beinahe Dezember! Die Dame überwies ihn an einen Herrn, einen sehr leicht erregbaren Herrn, der, wie Doll aus der Behandlung eines Mannes vor ihm ersah, nicht gern zuhörte, sondern lieber selber sprach.

Vor diesem Manne breitete Doll einige Papierchen aus: ältere Mietsquittungen seiner Wohnung, den Nachweis seiner Bürgermeistertätigkeit in der Kleinstadt, Bescheinigungen über den Krankenhausaufenthalt der Dolls in der Kreisstadt . . .

Der Herr am Schreibtisch fegte die Papiere nach kurzem Blinzeln auf einen Haufen zusammen und sagte hastig: »Das interessiert mich alles gar nicht! Stecken Sie das ruhig wieder ein, Sie können es aber ebensogut in den Papierkorb werfen! – Der nächste –!«

»Und meine Wohnbescheinigung –?« beharrte Doll ziemlich verärgert.

»Ihre Wohnbescheinigung –? Großartig!« rief der Erregbare schon erregt. »Woraufhin denn? Keine Ahnung! Denke ja gar nicht daran, so was auszustellen! Der nächste!«

»Was verlangen Sie denn für Unterlagen?« erkundigte sich Doll hartnäckig.

»Ich verlange gar nichts! Sie verlangen was! – Der nächste, und ein bißchen fix!« Dieses »Der nächste« schien er ganz mechanisch zu rufen, wie ein anderer hinter jeden Satz etwa ein »Nicht wahr?« hängt. Eilig fuhr er fort: »Bringen Sie mir eine eidesstattliche Erklärung Ihres Hauswirtes, daß Sie seit 1939 die Wohnung innehaben. Bringen Sie mir eine polizeiliche und eine Lebensmittelabmeldung aus dem Ort, in den Sie evakuiert waren –«

»Ich war nie evakuiert. Außerdem gibt es dort keine Lebensmittelabmeldungen, weil es keine Karten gibt.«

»Lächerlich!« rief der Beamte. »Flausen sind das, Ausflüchte! Nach Berlin wollen Sie sich reinschwindeln, das ist alles! Aber von mir bekommen Sie nichts, gar nichts, auch wenn Sie mir jetzt die schönsten Bescheinigungen bringen!« Er ließ die Hand schmetternd auf den Tisch fallen. Er steigerte sich noch immer mehr. »Ich kenne solche Leute auf den ersten Blick – von mir bekommen Sie nie etwas. Der nächste!«

Plötzlich sagte er ganz veränderten Tonfalls, nur noch mürrisch: »Und überhaupt . . .«

Zum zweiten Male bekam Doll an diesem Morgen die Worte »Und überhaupt« zu hören, wie eine düstere Drohung gegen ihn. Sein Blut floß nach diesen sinnlosen Anschnauzereien und Verdächtigungen nicht mehr ganz sanft durch seine Adern, böse fragte er: »Was heißt das? Was soll dieses ›Und überhaupt‹ bedeuten –?«

»Ach, gehen Sie doch!« tat der Beamte plötzlich sehr gelangweilt, »Sie wissen ganz gut Bescheid. Tun Sie bloß nicht so!« Er betrachtete eingehend seine Fingernägel, dann schaute er zu Doll hoch: »Oder wollen Sie mir erklären, wovon Sie und Ihre Familie seit dem 1. September eigentlich hier in Berlin gelebt haben?« Er fuhr triumphierend fort, und alle andern im Raum sahen schadenfroh auf Doll, der es so tüchtig kriegte! »Entweder sind Sie nicht am 1. September zugezogen, sondern erst jetzt. Dann haben Sie den Stichtag verpaßt und kriegen schon darum keine Bescheinigung von mir! Oder aber Sie leben seit dem 1. September vom Schwarzen Markt, dann muß ich Sie der Polizei melden –!«

»Wenn Sie«, antwortete Doll zornig und übersah in seiner Erregung, großzügig gegen sich selbst, daß der Mann zum Teil mindestens recht hatte, »wenn Sie die Papiere eben ordentlich angesehen hätten, statt sie ungeprüft dem Papierkorb zuzusprechen, so hätten Sie gesehen, daß ich bis gestern im Krankenhaus gelegen habe – also dort ernährt worden bin. Und meine Frau liegt noch immer im Krankenhaus, auch darüber können Sie jederzeit eine Bescheinigung bekommen . . .«

»Das interessiert mich alles nicht! Das geht mich gar nichts an! Der nächste! Ich habe Ihnen gesagt, was ich für Bescheinigungen von Ihnen haben will. Also, der nächste –!«

Diesmal war das nicht nur so als Arabeske an den Satz gehängt, sondern er nahm den nächsten nun wirklich dran. Langsam ging Doll aus der Amtsstube. Er fühlte die überlegen-höhnischen Blicke des andern in seinem Rücken, er wußte, daß der triumphierte und daß er dachte: ›Dem habe ich es aber gegeben! Der kommt nicht so leicht wieder!‹ Und ebenso sicher war Doll, daß sein Nachfolger am Tisch leichten Erfolg haben würde, seine Sache möge noch so faul aussehen. Ja, er würde sogar liebenswürdig behandelt werden, denn der Beamte wollte doch nun sich und seinem Büro und dem Publikum beweisen, daß er doch ein anständiger Kerl war. Aber er war es nicht, er war einer von den Millionen Tyrannen, die in diesem Unteroffiziersstaat seit eh und je ihr Szepter geschwungen hatten.

Auf dem Heimweg hat Doll ganz vergessen, daß ihn gegen die Novemberkälte ein erst vor ein paar Stunden großzügig gespendeter Mantel schützt und daß sein Magen von einem gleicherweis gewährten Frühstück gefüllt ist. Er zweifelt mal wieder völlig an seinen deutschen Mitmenschen. Sein Morgenelan ist verpufft. Robinson fühlt sich sehr allein auf seiner Insel.

So kommt es, daß Fräulein Gwenda und vor allem Frau Schulz büßen müssen, was das Wohnungsamt verschuldet hat. So kommt es, daß Doll völlig entmutigt einschläft. Aber er ist eben doch nicht mehr der Doll der letzten Zeit. Anderthalb Stunden Schlaf schenken ihm wieder Vertrauen und Mut. ›Ich schaffe es doch!‹ denkt er. ›Und wenn ich es nicht schaffe, bringt es die Alma fertig. Vielleicht wäre es überhaupt schlauer gewesen, sie dorthin zu schicken. Sie kann mit Männern viel besser umgehen als ich. Und überhaupt, die Alma –!‹

Er muß grinsen, weil auch er jetzt bei »Und überhaupt« angelangt ist. Dann schleicht er sich auf leisen Sohlen in das ausgebrannte Zimmer, sich sein Freßlein zu holen, und macht sich an ein verspätetes Mittagsmahl.

 


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