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Nach Cuyabá! – Keine Rettung. – Flußfahrt auf dem Paraguay. – Von Gänsen und Krokodilen. – Flucht in den Urwald. – Die Hetzjagd. – Unbequeme Ameisen. – Bange Erwartung. – Endlich allein! – Don Polycarpo, der Mulatte. – Seine weiße Frau. – Die Caballeros längs des Flusses. – Eine unruhige Nacht. – Wie bei Tarzan. – Aus dem Regen in die Traufe. – Ein Schiff! – Don Polycarpo geht auf Besuch. – Ich »bewache« das Kanu. – Die Gelegenheit ist günstig. – Der vermißte Gringo. – Wiedersehen beim Lagerfeuer. – Endlich frei. – Ein langer Schlaf. – Wieder in Corumbá.
Wir hatten kaum den Fuß an Bord gesetzt, als die rasselnden Dampfwinden den Anker hoben und das altmodische Heckrad platschend das gelbe Wasser aufwühlte. Langsam ging es hinaus in den wilden Strom und flußaufwärts, vorbei an den Häusern der Stadt, die langsam vorüberglitten. In der Ferne sah man noch den Anlegeplatz der Dampfer. Winzig kleine Menschen standen dort, und unter ihnen konnte man noch immer die vier Schutzleute erkennen, die uns hergebracht hatten und mit schußbereiten Gewehren unser Entweichen verhindern sollten. Noch immer konnte ich es nicht fassen, was man mit mir vorhatte. Deportation! Nach den Sümpfen von Cuyabá! Nur dorthin nicht! Denn das war das Ende. Das war der Tod! Wieder und wieder maß ich mit den Augen die Entfernung bis zum Ufer. Aber der Fluß war breit, wohl noch einmal so breit wie der Rhein in seinem Mittellauf. Das Wasser war reißend und voller Raubfische, für die der Paraguayfluß berüchtigt ist. Auf dem Sonnendeck spazierte der Kommissar, der den Revolver lose sitzen hatte. Dennoch: Wäre ich gesund und frisch gewesen, ich hätte es probiert.
Aber was wollte ich mit meinem von Krankheit und Not und den Entbehrungen der letzten Monate verzehrten Körper, der kaum mehr auf den zitternden Beinen stehen, geschweige denn einen reißenden Strom durchschwimmen konnte?
Ich schaute über die Bordwand hinweg in das gelbe Wasser, das wirbelnd vorüberzog, und auf die dunkle Küste unter der hellen Sonne. Und unversehens flossen Wasser und Sonne und Küste ineinander und lösten sich auf in wilden Fieberschauern.
Drei, vier Tage ging die Reise weiter, immer flußaufwärts zwischen endlosen Urwäldern, die schwarz und drohend von den niedrigen Uferbänken herauswuchsen bis ins Wasser hinein. Kein Haus, kaum eine Hütte war zu sehen auf dem langen Wege. Nur Wald und immer wieder Wald und nur ab und zu eine kleine Lichtung mit am Ufer aufgestapeltem Brennholz, an dem der Dampfer seinen Vorrat ergänzte. Weiter flußaufwärts wurde die Gegend womöglich noch wilder. Die Ufer waren hier überall umsäumt mit einem Gürtel von schleimigen, breitblätterigen Sumpfpflanzen, ähnlich den Seerosen. Sie waren ein beliebter Aufenthaltsort der Krokodile, von denen es unzählige gab. Zumal bei sinkender Nacht, wenn eben die erste Abenddämmerung aus dem Walde gekrochen kam, erfüllten sie die Luft mit heiserem Brüllen, das schaurig klang und so recht zu der Gegend paßte, die sie bewohnten. Noch aufreizender aber klang das anmaßende Geschrei der Gänse, die in ganzen Wolken auf gewissen Bäumen saßen und ebenfalls die sinkende Nacht mit einem Liede begrüßten, das vielleicht als ein Lobgesang auf den Schöpfer gedacht war, sich aber jedenfalls nicht so anhörte. An jenes Gänsegeschrei werde ich denken, solange ich lebe. Es wird in meinen Ohren fortklingen als eine schaurige Begleitmusik zu meinem schlimmsten Abenteuer.
Das alles erzähle ich leicht. Aber erlebt und gesehen habe ich es mit brennendem Kopfe und fieberglänzenden Augen, mit wilder Verzweiflung und trotziger Hoffnung, die immer tiefer sank mit jeder Meile, die es weiter in die Wildnis ging. Mehr als einmal, wenn der Dampfer am Ufer anlegte, um Holz zu fassen, glaubte ich die Gelegenheit zum Entweichen gekommen. Aber immer stand auf dem Verdeck der Kommissar mit seinem losen Revolver und dem finsteren Kreolengesicht.
Nur einmal ließ er sich dazu herbei, ein Wort an mich zu richten, und das auch nur indirekt.
An einem dunklen, mondlosen Abend spazierte er auf dem Verdeck mit dem türkischen Besitzer des Dampfers. Die beiden blieben vor mir stehen und unterhielten sich mit halblauter Stimme. Der Kommissar leuchtete mir ins Gesicht mit einer hellen Taschenlaterne.
»Das hier ist ein ganz Gefährlicher,« sagte er wichtig, »er kommt von der Straße der Spitzbuben.«
»La via de los picaros?« wiederholte der Türke.
»Gewiß doch,« antwortete der Kommissar, »von Peru, durch die bolivianischen Sümpfe. Von dorther kommen immer die schwersten Nummern. Wer sollte auch da hingehen, wenn er nicht mindestens eine Mordtat auf dem Gewissen hätte?«
»Aber bewiesen hat man ihm nichts?« fragte der Türke.
»Bewiesen!« lachte der Kommissar. »Braucht's da noch Beweise? Ich bin zwanzig Jahre hier im Amt und habe noch nie ein weißes Schaf gesehen, das aus den bolivianischen Sümpfen gekommen wäre. Und erst der da – der scheint einer von den ganz Durchtriebenen zu sein; ein sujete de malas antecedentes, ein verdächtiger Charakter, Senhor. Heute würde er sich noch in Corumbá herumtreiben, wenn ihn seine eigenen Landsleute nicht bei mir angezeigt hätten.«
»Die eigenen Landsleute?«
»Gewiß. Don Guillermo, der Bierbrauer, und Don Ricardo, der den Kaufladen an der Plaza betreibt. Kuriose Menschen, diese Deutschen! Von der Sorte würde ein jeder sich gern ein Auge ausreißen, wenn der andere dadurch zwei verliert.«
»Atención!« herrschte er mich an und leuchtete mir noch einmal ins Gesicht mit der Laterne.
Dann gingen sie plaudernd und lachend wieder fort und ließen mich zurück in dem Dunkel, in dem ich Gelegenheit hatte, darüber nachzudenken, was für böse Streiche oft Bosheit und böse Umstände spielen und was für ein lächerlich vergängliches Ding doch schließlich und endlich die Freiheit und das Leben ist. Der nächste Tag verging, und meine Hoffnung war auf den Nullpunkt herabgesunken, als wir in einer finsteren, regendrohenden Nacht wieder an einem Platze anlegten, um Holz zu laden. Es war eine drückend schwüle Nacht. Die Donner grollten leise über dem Walde, und es wetterleuchtete in der Ferne. Vereinzelte schwere Tropfen fielen klatschend auf das Verdeck. »Jetzt oder nie,« sagte ich mir. Zum ersten Male seit drei Tagen war der Kopf ganz fieberfrei und ungewöhnlich klar, wie es manchmal in den Köpfen auszusehen pflegt, wenn sie sich aus langen Zweifeln hindurchgerungen haben zu festen Entschlüssen. Alles sah ich deutlich vor mir, wie ich es auch heute noch sehe nach drei langen Jahren. Das kleine Schiff, das Verdeck im Scheine der Lampe, die schwarzen Gestalten der Matrosen am Ufer, die einander die schweren Holzscheite zureichten. Von dem Kommissar war nirgendwo etwas zu sehen. Er schien dem Wetter nicht zu trauen und hatte es deshalb vorgezogen, seinen Pflichten als Wachtmann von der Koje aus zu genügen.
Jetzt oder nie – das fühlte ich – war die Gelegenheit. So unauffällig wie möglich schlich ich mich nach achtern bis zum Heck, wo ich mich an dem breiten Rade vorsichtig ins Wasser hinabließ. Für einen guten Schwimmer wie mich waren es nur einige Stöße bis zum Lande. Aber auch diese wurden mir sauer genug. Alsbald geriet ich in das Labyrinth der dicken, klebrigen Blattpflanzen in schmutzigem Wasser, das eiskalt aus dem sumpfigen Grunde aufstieg. Mir war, als ob irgendeine Kraft mich hinabzöge mit unwiderstehlicher Gewalt. Ich dachte an die Krokodile, die hier hausten, und vergaß alle Vorsicht über dieser neuen Angst. Dennoch schien niemand meine Flucht bemerkt zu haben, als ich wieder festen Boden unter den Füßen hatte und mit großen Schritten in das schützende Dickicht hineinrannte. Vielleicht hätte man bis zum nächsten Morgen mein Verschwinden nicht bemerkt, wenn nicht mein Leidensgefährte, der Yankee, Wind von der Sache bekommen hätte und nun gleichfalls die Gelegenheit zum Auskneifen gekommen glaubte. Ohne irgendwelche Vorsichtsmaßregeln sprang er vom Verdeck ins Wasser und an Land. Im Augenblick gab es einen Aufruhr an Bord. Alles schrie und rannte durcheinander. Kommandos hallten durch die stille Nacht. Deutlich hörte man die bellende Stimme des Comisario, der fluchend und wetternd auf dem Verdeck auf und ab rannte. Man hörte die Schüsse, die scharf wie Peitschenschläge über das Wasser kamen.
Ich rannte nur immer tiefer in den Wald hinein, und das war keine kleine Arbeit. Tropische Urwälder sind etwas anderes als unsere heimischen Forsten. Das ist ein unentwirrbares Chaos von Dornen und Dickicht, von schleimigen Schlingpflanzen, von lebenden und gefallenen Bäumen. Da bleibt man hängen an einem Dornbusch, dort stolpert man über einen Stumpf, nun tritt man mit bloßen Füßen in stachelige Kakteen oder sonst irgendein beißendes, brennendes oder schlüpfriges Etwas. So wie ich ging und stand, war ich fortgelaufen, ohne Rock und Schuhe, und im Augenblick war auch das Hemd zerfetzt von den Dornen des Waldes. Aber was lag daran? War nicht die Freiheit so viel wert wie ein Hemd? Dicht hinter mir glaubte ich den keuchenden Atem eines Verfolgers zu vernehmen, aber ich gab das Rennen nicht auf, bis ich so sehr im Gestrüpp verloren war, daß ich keinen Schritt mehr vorwärts und rückwärts machen konnte. Atemlos hielt ich in der heißen Stickluft, die mir den Schweiß zu allen Poren heraustrieb. Ringsum war alles schwarze, undurchdringliche Nacht, nur belebt von unzähligen Glühwürmchen, die als bläulichweiße Fünkchen durch das Dunkel geisterten. Vom Ufer kam noch immer der Lärm der Schiffsleute wie aus weiter Ferne. Plötzlich zuckte ich zusammen, als ich dicht neben mir eine menschliche Stimme vernahm.
»Kusch dich! Mach dich dünn! Sie werden hier sein in einer Minute.«
Es war der Yankee, der mir auf dem Fuße gefolgt war. Man konnte in der Tat nichts Klügeres tun, als »sich dünn zu machen«, denn ein Weitergehen war völlig zwecklos zu solcher Nachtstunde in diesem Irrgarten von einem Urwald. Dicht aneinandergedrückt, wie zwei verfolgte Rehe, hockten wir auf einem gefallenen Baumstamm und warteten das weitere ab. Man hatte drüben die Verfolgung noch nicht aufgegeben. Es war noch immer ein mächtiges Geschrei, und der Comisario fluchte wie ein Sackträger an den Docks von Buenos Aires. Langsam kam der Spektakel näher. Sie hatten sich offenbar in einzelne Gruppen eingeteilt, die einander zuriefen, während sie weiter in den Wald eindrangen. Einige schossen mit den Gewehren blindlings in den Busch hinein, und andere wurden nicht müde, unsere Namen zu rufen, oder wenigstens die, die sie uns zugelegt hatten.
»Benga, Johanny!«
Das kam mir so spaßig vor, daß ich lachen mußte trotz allem. Eine der Gruppen zog ganz dicht an unserem Versteck vorüber, so daß man den Schein ihrer Laterne zwischen den breiten Blättern schimmern sah. Deutlich konnte man jedes gesprochene Wort vernehmen. Hätten sie die Wegrichtung um einen Schritt geändert, so wären sie über uns gelaufen. Ich drückte mich flach auf den Boden, um nicht gesehen zu werden. Aber an dieser Stelle war ein Nest von jenen roten Matto-Grosso-Ameisen, die so harmlos aussehen und doch mit ihrem giftigen Biß Wunden beibringen, an deren Folgen man wochenlang zu leiden hat. Hier war der Boden übersät mit dieser Höllenbrut. Bei jedem Biß hätte ich aufspringen und davonlaufen, hätte ich laut aufschreien mögen vor Schmerzen. Aber alle großen und kleinen Bestien der Wildnis waren hier nicht so grausam wie die Menschen.
Es ging indes alles glücklich vorüber. Noch etwa eine halbe Stunde dauerte der Aufruhr im Urwald. Dann wurde alles still. Die tiefe Stimme der Dampfsirene tutete dreimal zum Abschied. Man hörte deutlich, wie sie die Leine einholten und die Landungsplanke an Bord schoben. Der Yankee war außer sich vor Freude.
»Fort sind sie!« rief er begeistert. »Ich werde ihnen zum Abschied winken. Es wäre unhöflich, wenn wir es unterließen.«
Schon wollte er aufspringen, um ans Ufer zu laufen, und ich hatte alle Mühe, ihn zurückzuhalten. »Langsam,« sagte ich, »ehe ich das Rad nicht im Wasser höre, bringt mich niemand hinaus.«
Noch eine Viertelstunde lagen wir im Busch und lauschten atemlos auf das geringste Geräusch, aber nichts ließ sich vernehmen als das verschlafene Flügelschlagen der Wildgänse und das eintönige Zirpen von tausend Zikaden. Es sah wirklich so aus, als ob der Dampfer sich stillschweigend davongemacht hätte. Das lange Warten zwischen Furcht und Hoffnung war unerträglich. Wenn es nach meinem Gefühl gegangen wäre, wäre ich aufgesprungen und aus der dumpfen Schwüle des Dickichts hinausgelaufen in den Rachen der Gefahr. Der Amerikaner jedenfalls konnte es nicht mehr aushalten. Langsam erhob er sich und kroch nach der Lichtung, um das Gelände zu erkunden. Er hatte einen brennendroten Haarschopf, den ich noch eine Weile im Busch aufleuchten sah trotz der herrschenden Dunkelheit. Es war das Letzte, was ich von ihm zu sehen bekam, denn kurze Zeit darauf hörte man Geschrei und Schüsse. Was weiter aus ihm geworden ist – ob Tod oder neue Gefangenschaft –, weiß ich nicht. In seinem Interesse will ich hoffen, daß es das erstere war.
Es schien, als ob der Comisario sich mit dieser Beute begnügte, denn gleich darauf hörte man das Arbeiten des Schaufelrades im Wasser, das sich immer weiter entfernte. Nun wagte auch ich mich an den Rand des Waldes, von wo man einen Blick auf den Fluß werfen konnte. Ein Stein fiel mir vom Herzen, als ich die Laterne weit draußen auf dem Strome sah. Nun erst getraute ich mich ganz hinaus auf die Lichtung, wo vor einer landesüblichen Basthütte ein mächtiges Feuer brannte. Die Hütte selbst bestand nur aus einem Dach von Palmblättern, das auf vier Pfählen ruhte. Vor dem Feuer saß eine weiße Frau mit einer ungesund gelben Gesichtsfarbe, und neben ihr stand ein baumlanger Mann mit einem zitronenfarbigen, jedoch nicht gerade unsympathisch anmutenden Mulattengesicht. Er schien keineswegs erstaunt über meine Erscheinung. Im Gegenteil schien er mich erwartet zu haben.
»Buenas noches, caballero,« sagte er auf Spanisch.
»Buenas noches,« antwortete ich.
Wir setzten uns ans Feuer, wo die Frau uns sogleich mit einer Tasse Kaffee aufwartete, die überaus erfrischend auf meine Lebensgeister wirkte.
Don Polycarpo nannte sich mein Gastgeber, der offenbar der Mann der weißen Dame war, die er ziemlich kurz behandelte. Er schien sich aufrichtig zu freuen über mein Auftauchen. »So haben Sie denen dort drunten den Laufpaß gegeben!« sagte er mit listigem Augenzwinkern. »Da haben Sie recht getan, Caballero. Und eine Wut hat er gehabt, der Comisario! Es war so gut wie ein Theater. Viel hätte nicht gefehlt, und er hätte mich mitgenommen als Ersatz, denn auf mich ist er nicht gut zu sprechen. Ich bin nämlich auch auf diese Weise hierhergekommen. Wie sonst käme ich in diesen gottverlassenen Wald? Man hat so seine Freunde drunten in Corumbá. Man kommt in ein Argument. Ein Wort gibt das andere, und einige von den Jungens sind sehr fix mit dem Messer, wenn sie mit der Zunge nicht mehr weiter können. Es kommt zu einem Totschlag, und man verschwindet im Wald, bis Gras darüber gewachsen ist. So ging es mit mir und mit allen Caballeros, die hier längs den Flußufern im Busche sitzen. Aber darum sind wir doch keine Unmenschen, Caballero, und ich bin überzeugt, daß wir gut miteinander auskommen werden, wie eine einzige glückliche Familie sozusagen.«
Noch eine Weile redete er so weiter, ohne daß ich viel davon verstehen konnte mit meinem heißen Kopf, in dem schon wieder das Fieber summte. Als er endlich fertig war mit seiner Rede, machte ich mir einen Platz zurecht unter dem Dach der Hütte und versuchte zu schlafen, obwohl die Aufregung des vorangegangenen Abenteuers mir noch immer heiß durch alle Adern lief. Auch die seltsam exotische Umwelt trug nicht zur Beruhigung meiner Nerven bei. Zumal die buntschillernde, etwa drei Meter lange Schlange, die unter dem Dachgebälk hauste und mich stetig anglotzte mit ihrem starren Basiliskenblick, hatte etwas Unheimliches an sich. Später habe ich herausgefunden, daß diese Schlangen in jenen Gegenden völlig ungefährliche Hausgenossen fast aller Hütten sind. Damals jedoch waren sie in meinen Augen recht verdächtige Schlafgefährten. Müde, wie ich war, schloß ich doch kein Auge während der ganzen Nacht. Bis zum dämmernden Morgen lag ich in der Hütte und hörte auf das Summen der Moskitos und auf das rauhe Krächzen der Nachtvögel im Walde. Ich sah auf das Feuer, das knisternd und puffend immer tiefer sank, ich sah die schwarze Dschungel mit den hohen Palmen, an denen der Widerschein der Flammen züngelnd hinauflief, dann mußte ich immer und immer wieder wie ein hypnotisiertes Kaninchen einen Blick auf die Schlange werfen, wenn zuweilen in ihre Ecke der Schein des Feuers fiel und sie sich langsam fortbewegte, derweilen es im Gebälk knackte, und kurzum: ich müßte lügen, wenn ich jene Nacht als eine angenehme bezeichnen wollte.
Mehrere Wochen blieb ich der Gast des Don Polycarpo. Oder sein Diener? Oder sein Sklave? Dieser glatte Caballero war keineswegs so gutherzig, wie er sich den Anschein gab. Er war sogar recht profitlich und geldgierig, und so sah er offenbar in mir zuvörderst eine billige Arbeitskraft, die ein günstiger Wind ihm zugeweht hatte. Er selbst war ein Gewaltmensch, ein Arbeitstier, eine Art Tarzan, der spielend fertig wurde mit allen Widerwärtigkeiten des Waldes. Und von mir verlangte er, daß ich ein doppelter Tarzan wäre. Wir fällten Bäume am anderen Ufer und schafften sie mit dem Kanu über den Fluß, und während der Nacht –? Ja, wenn mir vorher jemand gesagt hätte, es könne einer drei Wochen lang ohne Schlaf auskommen, so hätte ich ihn einen Lügner genannt! Hier war dieses Unmögliche jedoch Ereignis geworden. Es mag wohl sein – es muß wohl so gewesen sein –, daß ich gelegentlich ein Stündchen Schlaf aufschnappte; erinnern tue ich mich jedenfalls nicht mehr daran. Nur an lange, lange Nächte mit brennenden Augen, die schlafen wollten und nicht konnten, weil die Moskitos und die sonstigen Höllenkreaturen des Urwaldes es nicht erlaubten. Mit der sinkenden Nacht kamen sie aus dem Walde herangeflogen mit hellem, metallischem Summen und traktierten einen mit schmelzenden Stichen, die den tiefsten Schläfer aus seinen Träumen aufschrecken konnten. Der Erdboden aber war bedeckt mit Zecken, Skorpionen und Sandflöhen. Weder ein Moskitonetz noch eine Hängematte hatte ich zur Verfügung. Wie also sollte ich mich wehren gegen die Quälgeister? Ich wußte es nicht. Ich wußte überhaupt nichts mehr. Tagsüber lief ich mir die Füße wund und arbeitete die Hände blutig, und nachts brütete ich in dumpfer Verzweiflung neben dem Feuer. Wie lange sollte das noch dauern? Wo sollte das enden? Ich wußte es nicht, und Don Polycarpo wollte mir keine Auskunft geben. Auf alle meine Fragen hatte er als Antwort nur sein stetes Lächeln. Ein merkwürdig süßes, verschlagenes Lächeln, das einen an Hamlets Worte erinnerte:
»Schreibtafel her! Ich will mir's niederschreiben,
Daß einer lächeln kann und immer wieder lächeln
Und doch ein Schurke ist!«
Ich will indes nicht ein weiteres Wort von jenen traurigen Wochen erzählen. Mit gierigen Augen starrte ich bei Tag und Nacht auf den breiten Fluß, der in dieser weglosen Wildnis der einzige Weg zur Freiheit war und zur zivilisierten Welt. Einmal mußte ja irgendwo ein Schiff auftauchen, und dann wollte ich mein Heil versuchen mit List oder Gewalt. Aber es kam kein Schiff, so oft ich auch eins zu sehen glaubte in meiner überhitzten Phantasie. Immer wieder löste es sich auf in Nichts in der brütenden Sonne über dem heißen Walde. Immer wieder war es das gleiche Bild in seinem aufreizenden Einerlei. Das gelbe, schlammige Wasser, der Wald wie eine schwarze, undurchdringliche Mauer, und bei sinkender Nacht das vielstimmige Konzert der Krokodile, das zu einem ohrenbetäubenden Geschrei anschwoll, als eines Tages der Vollmond eine breite glitzernde Straße durch das Wasser zog und die scharfen, schwarzen Schatten der Bäume über den Fluß hingleiten ließ.
Aber eines Tages – nachdem ich die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte – kam dennoch ein Fahrzeug in Sicht. An einer Biegung des Flusses, etwa eine spanische Meile flußaufwärts, wurde es zuerst gesichtet. Von unserer erhöhten Uferbank, die eine weite Aussicht über den vielgewundenen Strom gestattete, war es leicht auszumachen als eine der »Chatas« (Barken), in denen sich die aus der Gegend von Cuyabá kommenden türkischen Händler flußabwärts treiben lassen. Da sie gewöhnlich überflüssigen Proviant, Tabak, Kaffee und dergleichen mit sich führen, sind sie gern gesehen von den wenigen Ansiedlern am Flußufer, deren einzige Verbindung mit der zivilisierten Welt sie darstellen. Auch mein harter Meister, dem es in seinem Haushalte – wenn man bei seiner Hüttenexistenz überhaupt von so etwas reden konnte – am Nötigsten fehlte, interessierte sich sehr für das auftauchende Fahrzeug. Im Nu hatten wir das große Kanu zu Wasser gebracht und paddelten mit aller Kraft gegen die reißende Strömung, um das Schiff zu überholen, das in der Mitte des Stromes flußabwärts glitt. Es war ein breites Gebilde, auf dem vorn eine Hütte stand, während das Achterteil mit einem Haufen von lose durcheinandergeworfenem Brennholz angefüllt war. Einige zerlumpte, dunkelhäutige Halbblutindianer, die auf dem Deck umherlungerten, fingen die ihnen zugeworfene Bootsleine auf und zogen uns vollends längsseit. Mit einem Satz sprang der Mulatte an Bord.
»Asegura a canoa!« rief er mir zu. »Gib acht auf das Kanu!«
Mit einem weiteren Satz verschwand er im Innern der Kabine, wohin ihm sogleich auch alle anderen nachfolgten. Ich war allein, während die anderen drinnen in der Kabine schnatterten mit der Zungenfertigkeit, die den Brasilianern eigen ist. Einige Minuten vergingen, ohne daß sie wieder herauskamen. Die Flasche mit dem Zuckerohrschnaps machte die Runde. Die Gelegenheit zum Weglaufen war so günstig, wie sie nur sein konnte unter den Umständen. Mit einem raschen Entschluß gab ich dem Boot einen Stoß, so daß es davonschoß in der wirbelnden Flut, in der die schwere Barke nur langsam folgen konnte. Ich selbst verkroch mich so tief wie möglich unter dem Brennholz auf der Barke. Es war alles das Werk eines Augenblicks, aber ich fühlte, daß es ein entscheidender Augenblick war, bei dem es um Kopf und Kragen ging. Ich lag in meinem Versteck und wagte kaum zu atmen. Mein Herz schlug so laut, daß ich es hätte anhalten mögen aus Furcht vor Verrat. So verging eine gute Viertelstunde, ohne daß sich etwas veränderte in der Lage. Mehrmals kam einer von den Kerlen heraus und schaute sich um, ohne etwas zu bemerken von dem verschwundenen Kanu. Nach einer Weile kam Don Polycarpo selbst zum Vorschein. Deutlich konnte ich ihn sehen aus meinem Versteck, wie er zigarettenrauchend vor der Tür der Kabine stand, neben ihm der Besitzer der Barke, ein kleiner, buckliger Türke mit einem dunklen, von Pockennarben entstellten Gesicht. Plötzlich wandte sich einer der Leute an ihn mit allen Zeichen großer Erregung.
»Senhor, a canoa!« rief er aufgeregt, indem er mit dem Finger stromabwärts deutete.
»A canoa! A canoa!« wiederholten ein halbes Dutzend Stimmen.
Der Mulatte fluchte und wetterte und zitierte alle Heiligen im Kalender. Mit drei Sätzen sprang er achteraus, machte das Beiboot los, und im nächsten Augenblick trieb er es mit mächtigen Ruderschlägen vorwärts, auf der Jagd nach seinem davontreibenden Fahrzeug. Das alles hörte ich mehr, als ich es sah, denn aus Furcht und Erwartung gingen mir alle Sinne wirr im Kopfe. Wie ein Vogel Strauß, der den Kopf in den Sand steckt vor den Verfolgern, preßte ich den meinen krampfhaft in den hintersten Winkel des Verstecks.
Unterdessen verging eine gute Stunde, in der die kurze Dämmerung der Tropen hereinbrach und draußen im Gestrüpp längs den Uferbänken das übliche Krokodilkonzert begann. Die Leute an Bord der Barke verfolgten aufmerksam die Vorgänge auf dem Wasser und begleiteten alle Manöver des ehrenwerten Don Polycarpo mit einem schadenfrohen Lachen. Sie schienen das Ganze mehr als einen guten Scherz aufzufassen und versäumten nicht, durch höhnende Zurufe für die nötige Begleitmusik zu sorgen. Denn wer den Schaden hat, braucht auch im brasilianisch-bolivianischen Urwalde nicht für den Spott zu sorgen. Als Mann von Lebenserfahrung sorgte er denn auch dafür, daß er ihnen nicht noch mehr Gelegenheit dafür bieten würde. Sobald er sein Kanu, eingefangen hatte, lieferte er das Beiboot der Barke ab und paddelte sang- und klanglos weiter nach seiner Hütte.
Nach der Stunde angespannter Erwartung hätte ich laut aufschreien mögen vor Freude und Erleichterung. Aber krampfhaft hielt ich meine Zunge im Zaume. Noch eine volle Stunde hielt ich aus in dem Versteck, ehe ich mich sicher genug fühlte, um mich als blinder Passagier vorzustellen. Als ich herauskam, war es dunkle Nacht mit einem abnehmenden Monde, dessen Widerschein weiß auf dem Wasser lag. In einem großen, eisernen Behälter auf dem Verdeck des Fahrzeuges brannte mit dunkelroter Flamme ein loderndes Feuer, um das die Leute der Schiffsmannschaft saßen, die mit ihren mächtigen Schlapphüten einen abenteuerlichen Eindruck machten. Einer von den Burschen klimperte auf einem Banjo, während die anderen schläfrige Gespräche führten, derweilen die Matetasse von Mund zu Mund ging. Ich faßte ein Herz und ging auf sie zu, ohne mit den Wimpern zu zucken, obwohl mir die Angst heiß in den Kopf stieg, als ich in den Lichtkreis des Feuers trat.
Die Burschen schauten mich an wie einen, der eben aus dem Grabe aufgestiegen ist. Zuerst rissen sie Mund und Nasen auf. Dann brachen sie in ein unbändiges Gelächter aus. Der Türke war der erste, der die Sprache wiederfand.
»Nehmen Sie Platz, Caballero,« sagte er mit einer einladenden Handbewegung auf eine umherstehende Konservenkiste. »Sie werden müde sein nach dem Abenteuer. – Ja, das war ein guter Spaß an Don Polycarpo! – Und ich sage nicht, daß ich ihm das nicht gönne. Nicht ich! Ich kenne ihn und sein Renommee seit zehn Jahren. Er hat mehr Mordtaten auf dem Gewissen als irgendein anderer von den Caballeros, die hier längs des Flusses wohnen, und das will viel heißen! Er ist gespickt wie ein Stachelschwein mit Messern, Revolvern und solchen Dingen, und wenn er Sie erwischt hätte, Caballero, so hätte ich nicht dabei sein mögen, um das Ende zu sehen.«
Über dem Reden hatte er die Tasse von neuem gefüllt mit dem kochenden Wasser, das über dem Feuer brodelte. Mechanisch schlürfte ich den Mate aus der dünnen Röhre, ohne auch nur ein Wort zu antworten. Ich war viel zu konfus, um auch nur einen einzigen zusammenhängenden Gedanken zu fassen. Desto lebendiger und gesprächiger waren die anderen, vor allem der Türke. »Senhor, Caballero,« sagte er, gemessen, »Sie haben Glück gehabt. Manchen armen Jungen habe ich gesehen, den sie hinaufgeschleppt haben nach den Sümpfen, aber Sie sind der erste, der wieder zurückgekommen ist, denn das ist dort oben alles ein Futter für die Moskitos und für Doña Maria.«
»Doña Maria –?«
»Für wen denn sonst? Das weiß doch jedes Kind im Matto Grosso! Doña Maria ist die Tante des Staatspräsidenten oder war sie es? Die Alte ist tot. Nun ist's wohl die Tochter, oder wer sonst.«
Die letzten Worte hörte ich nur wie ein fernes Echo. Ich war viel zu müde für jede Geschichte, auch die grausigste. Nur schlafen wollte ich, nach den vielen schlaflosen Nächten mich hinlegen auf dem Verdeck, hier draußen auf dem Flusse, wo die Luft frischer wehte und keine Moskitos waren. Wohl dreimal vierundzwanzig Stunden lang schlief ich fast ununterbrochen. Nur zuweilen wachte ich auf und schaute blinzelnd auf das weite Wasser im blendenden Sonnenschein oder in eine sternbesäte Nacht, die sich im Flusse spiegelte.
Endlich sah man in der grellen Sonne am hohen Ufer die weißen Häuser von Corumbá. Sie schienen mir ein lieber und vertrauter Anblick. In dieser Stadt hatte ich die schlimmsten Stunden meines Lebens verlebt, und nun sah ich sie wieder, nun war ich wieder hier, zerlumpt, zerrissen, krank und verstört, ein Flüchtiger vor den Gesetzen.
Und doch –
Man war nun keine Nummer 142 mehr. Es war nicht mehr das stumpfe Hindämmern einer hoffnungslosen Sklaverei. Man konnte wieder kämpfen um sein Leben, man hatte wieder so etwas wie eine Bewegungsmöglichkeit. Und schließlich gibt es doch auf dieser Erde nur ein einziges Gut, das wert ist, es zu haben: