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Die höchste Eisenbahn der Welt. – Und die teuerste. – Ankunft in Arequipa. – Ein hochgelegenes Paradies. – Heiliger Bureaukratius! – Am Titicacasee. – Nächtliche Schiffahrt. – Auf den Spuren der Inkas. – Abenteuer im Eisenbahnwagen. – Tiahuanaco, die Rätselstadt.– Und endlich La Paz.
In den ersten Morgenstunden ging die Reise weiter nach Bolivien. Die Eisenbahnlinie, die von Mollendo ins Innere führt, ist in mehrfacher Hinsicht interessant. Einmal war sie lange Zeit die höchste Linie der Welt, bis die später gebaute Eisenbahn von Arica nach La Paz ihr den Rang streitig machte. Eine Höchstleistung hat sie aber noch immer aufzuweisen: sie ist die teuerste Eisenbahn der Welt, und das will immerhin schon etwas heißen in dieser Zeit der teuren Fahrpreise. In der Seele tut es einem weh, wenn man die sauer verdienten Pfunde mit vollen Händen so wieder hinauswerfen muß. Indes, man drückt die Augen zu; man zahlt und schweigt. An so etwas hat man sich ja schon gewöhnt in diesen Zeiten. Und nicht nur auf dem Gebiet der Eisenbahnen.
Langsam und schwerfällig faucht der Zug aus der düsteren, kellerartigen Bahnhofshalle. Eine Weile fährt man – immer entlang der glitzernden Fläche des unendlichen Meeres – um einen kahlen Berghang und kommt bald in ein freundliches Flußtal, wo helle Zuckerrohrfelder in der Sonne leuchten und fette Kühe und Schafe auf saftigen Wiesen träumen. Bald aber ist es aus und vorbei mit den menschlichen Siedlungen. Kein Baum, kein Haus ist zu sehen in der weiten Runde. Nur Schutt und Geröll, schwarze Klippen, Sand und Sonne. In endlosen Schlangenwindungen keucht der Zug bergauf und immer noch bergauf an den schroffen Berghängen. Bald wird die Gegend freundlicher; die kahlen Felsen verstecken sich hinter kleinen, mit gelben Blüten bedeckten Büschen, an die Stelle der Sandflächen treten weite Strecken mit hohem, gelbem Gras, das in der Sonne wie Silber glänzt, wenn der Wind darüber hinweht. Da und dort sieht man einen Ochsen oder eine weidende Schafherde, fast versteckt in dem wogenden Grasmeere. Wir sind nun schon fast in Höhe der Zugspitze, aber immer noch sieht man weit, weit draußen unter dem Horizont das dunkelblaue Meer und den breiten, silberweißen Brandungsstreifen entlang der Küste.
Schließlich gelangt man auf eine kahle, fast vegetationslose Ebene, die sich flach wie ein Pfannkuchen nach allen Richtungen erstreckt. Es ist schon spät am Nachmittag. Die Sonne scheint warm und weich wie an einem richtigen deutschen Spätsommertag, wenn draußen an den Berghängen die Trauben reifen. Rein und klar ist die Luft; kristallhell, wie nur die Bergluft sein kann. Noch ist der Abend nicht gekommen, aber schon brechen sich die Lichtstrahlen des Tages und malen die Ferne in lebendigen Farben. Fern im Osten, in der Richtung nach Arequipa, stehen mächtige Schneeberge unter dem dunkelblauen Himmel.
Cachendo heißt die Station, die mitten in der kahlen Pampa steht, eine kümmerliche Herrlichkeit aus Holz und Wellblech. Ringsum ist alles Sand und Geröll und nur da und dort wilde Haufen von Felsen, die lange, schwarze Schatten in die blendend helle, vom Sonnenschein überflimmerte Landschaft werfen. Weit in der Ferne, in der Richtung nach Arequipa, steht man zerrissene Berge, deren Felswände blutrot leuchten in der untergehenden Sonne, und noch weit im Hintergrund ragen wie duftige Märchengebilde die Umrisse mächtiger Vulkankegel in den Hochkordilleren. Es war ein Anblick, wie man ihn in anderen Gebirgslandschaften vergeblich suchen würde: die Schneeberge, die unvermittelt ansteigen aus der vegetationslosen Wüste, und vor den Augen in der Ebene der wandernde Sand, die schwarzen Lavablöcke, das bedrückende Gefühl der Einsamkeit und der Unendlichkeit des Raumes. Alles ist tot und still und das einzige Lebende nur der Schienenstrang, der sich schnurgerade in die Unendlichkeit erstreckt.
Leben nur in den Farben! Unzählige Schattierungen immer wechselnder Farben. In der Nähe waren sie hart und scharf, und in der Ferne, an den Berghängen flossen sie ineinander über zu zartem Hauch, der bald purpurrot, bald dunkelviolett in der Sonne glühte, bis weit hinauf zu den Gipfeln, die weiß und klar herausleuchteten aus dem Dunkelblau des Himmels. So weit das Auge reichte, war die sonst durchaus flache Pampa bedeckt mit Dünen aus kristallhartem Sand, den der Wind zu halbmondförmigen Gebilden zusammengefegt hatte. Von Pflanzenwuchs ist – wie gesagt – auch nicht ein Grashalm zu entdecken. Der letzte Kaktus ist hier verdorrt unter der brennenden Sonne und dem ewig heulenden Winde. Und doch fehlt es auch in dieser Wüste nicht an Menschen.
Neben der kleinen Bahnstation saßen in langen Reihen die verwitterten Indianerweiber und verkauften Hühnerbraten und Eier; die Eier zu fünf Cents und die Hühner zu einem Real, gleich zehn Cents das Stück. Von diesen konnte ich nicht genug essen, bis mich einer über deren Qualitäten gebührend aufklärte. »Hühner? Qué esperanza! Das sind doch Eidechsen!«
Weiter geht es durch Täler und Schluchten, vorbei an steilen, schneebedeckten Berghängen. Still, still ist es ringsum. Über Tälern und Höhen ruht das andachtsvolle Schweigen der lautlosen, unverfälschten Natur. In einem weiten Talkessel beginnt das Leben wieder zu erwachen. Man sieht rauschende Flüsse und hüpfende Gebirgsbäche. Überall rennt und rieselt das helle Bergwasser. Büsche, Bäume und riesengroße Kakteen wachsen aus den Steinen. Es kommen Häuser und Hütten, Kleefelder und Orangengärten. Altmodische Ochsenwagen ziehen träge ihre Straße unter uralten Feigenbäumen, deren breite Blätter leise zittern in der grellen Sonne. Schon sind wir in Arequipa.
Es fängt an dunkel zu werden. Schwarz hockt die Finsternis in den engen Gassen. Die Nacht ist über die Täler hereingebrochen, aber oben auf dem Gipfel der umgebenden Schneeberge steht noch immer ein leuchtendes Alpenglühen.
Wenn man von Lima – dem dumpfen, nebelverhangenen, hitzesprühenden Lima – nach dieser Stadt des murmelnden Bergwassers und der leuchtenden Blumen kommt, ist man hier in einer anderen Welt. In diesem mehr als zweitausend Meter hoch über dem Meere gelegenen Paradiese strahlt der Himmel immer rein und wolkenlos und dunkelblau durch die klare Bergluft. Langsam und beschaulich und noch um eine Schattierung träger fließt hier das Leben dahin. Die Preise sind billiget, der Lohn niedriger und das Leben leichter in dieser großen Kleinstadt.
Als wir in Arequipa ankamen, war es schon dunkle Nacht, und die Sonne war noch nicht recht aufgegangen, als wir am nächsten Tage abreisten. Es blieb also nicht allzuviel Gelegenheit zum Bewundern der Sehenswürdigkeiten.
Und doch –
Wenn ich heute an Arequipa zurückdenke, so erscheint es mir als eine der schönsten Städte, die ich je gesehen habe. Todmüde war ich, als ich ankam. Die Nacht zuvor hatte ich auf dem Felsen gesessen und das Wasser bewundert. Und nun, da ich in dieser fremden Stadt angelangt war, dachte ich erst recht nicht ans Schlafen. Ziellos wanderte ich durch alle Gassen und Gäßchen. Ich sah die Bäume, die breit und knorrig ihre Äste über die Hofmauern reckten, ich sah das flinke Wasser in zahllosen Gräben und kam endlich auf die Plaza mit ihrer stolzen Kathedrale und den schattigen Laubengängen, in denen das Mondlicht spazieren ging. Ich setzte mich auf eine der Bänke unter einem berauschend schönen Jasminbusch. Ich hörte der Platzmusik zu, bis sie aufhörte, ich sah dem mondänen Gewimmel zu, das da flanierte und scharmierte auf den bunten, getäfelten Wegen, bis auch dieses sich verlor, bis die Stundenschläge der Kathedrale dumpf und verloren über den Stadtplatz hallten und das helle Licht des immer höher steigenden Mondes alles ringsum in ein seltsam phantastisches Bild von Schwarz und Weiß verwandelte. Endlich war ich doch eingeschlafen und erst wieder aufgewacht von dem frostigen Hauch des jungen Tages, der eben in strahlender Schönheit über die Berge gestiegen kam.
Und niemand hatte mich bestohlen. Kein Schutzmann hatte mich belästigt. Glückliches Arequipa!
Weiter geht die Reise – –
In vielverschlungenen Windungen mit übertrieben vielen Kurven – denn die Erbauer dieser Linie wurden seinerzeit nach Meilen bezahlt – arbeitet der keuchende Zug seinen Weg aufwärts in immer höhere Regionen von immer wilderer Romantik. Zuweilen geht es aufwärts an steilen Hügelhängen, zuweilen durch einen langen Canon, in dessen Grunde das schäumende Wasser des Rio Chile vorüberbraust.
Diese Landschaft hat nichts gemein mit anderen Gebirgslandschaften, weder in den Alpen noch in anderen Teilen der Kordilleren. Vielleicht gibt es in Tibet so etwas Ähnliches. Von allen Zonen und Kulturstufen sieht man hier in wildem Durcheinander verschiedene Musterkarten, und alles verzerrt und übertrieben ins Großartige. Mächtige Schneeberge steigen hier unvermittelt auf aus den Sanddünen der Wüste. Duftende Orangengärten erblühen plötzlich mitten in der öden Einsamkeit, wo sonst in der weiten Runde nichts zu sehen ist als ein Chaos von Steinen und Geröll. Nach einer Stunde sieht man noch immer tief unten die Stadt mit ihren weißen Häusern im grellen Sonnenlicht und ringsum die grüne Ebene wie ein leuchtender Smaragd inmitten der kahlen, vegetationslosen Wildnis. Zu beiden Seiten stehen zwei mächtige Schneeberge, der über sechstausend Meter hohe Misti und sein fast ebenso hoher Kamerad, der Pichu Pichu, wie Torwächter vor dem Eingang zu dieser seltsamen Oase. Bald steigt im Norden die schneebedeckte Masse des über siebentausend Meter hohen Ampato auf, und bald sieht man Gipfel auf Gipfel, die sich immer höher übereinander türmen. Im Westen sieht man den glitzernden Sand der Pampa und weit in der Ferne die Wolken, die über der Küste hängen.
Höher und höher steigt der Zug um scharfe Kurven. Stationen gibt es nur alle vierzig oder fünfzig Kilometer. Und dann ist es meistens auch nur eine Blockhütte. Auf viele Kilometer sieht man nichts als wildes, schieferartig übereinandergeschichtetes Gestein, das sich zu düsteren Schluchten zusammenschließt, in denen der keuchende Atem der Lokomotive ein schauriges Echo weckt. Je höher man hinaufkommt, je roter werden die Steine, je dunkler wird das Blau des Himmels. Und wenn man endlich in Regionen angelangt ist, wo man nur noch steinige Wüste erwartet, kommt man unvermutet in ein welliges Hochland, wo hohes, gelbliches Gras sich weithin erstreckt, bis in die blau verdämmernde Ferne. Hie und da sieht man die Lehmhütte eines Indianers, hie und da eine Schaf- oder Lamaherde. Im übrigen aber scheint alles so ursprünglich und unberührt wie am ersten Tage. Immer wieder, wenn ich über die Grasflächen hinwegsah, die sich wie Wellen bewegten im Spiele des Windes, mußte ich an Patagonien denken und daran, was wohl die Farmer dort unten zu solcher Schafweide sagen würden. Die Ähnlichkeit mit Patagonien wurde noch erhöht durch die vielen Lagunen, über die Wildgänse in zahllosen Scharen flatterten. Bei Cincero Alto erreicht die Bahn ihren höchsten Punkt mit rund fünftausend Metern. Von dort geht es in scharfen Kurven schnell talabwärts. Bald fuhren wir durch das große, breit ausladende Tal von Cuzco, wo schon die alten Inkas ihre Paläste bauten. Die Zeiten von damals sind lange vorbei, aber immer noch ist es eine verhältnismäßig hochkultivierte und dichtbevölkerte Gegend. Überall sieht man die Lamakarawanen auf den Straßen trippeln. Stattliche Dörfer mit braunen, strohbedeckten Lehmhütten erheben sich da und dort zwischen den winterlich-kahlen Sturzäckern, über denen die dünnen Nebel wie feine Schleier liegen. Bei dunkler Nacht kamen wir in Puno am Titicacasee an. Es war eine bitterkalte Nacht. Der Mondschein lag frostig über dem Wasser, und schwarze, phantastische Vögel, die ausschauten wie große Raben, lärmten schaurig auf den hohen Bäumen hinter der Kirchhofsmauer.
Vom Lande aus führt eine Brücke unmittelbar an den Anlegeplatz des Dampfers, und man brauchte nun weiter nichts zu tun, als einzusteigen und weiterzufahren nach dem Lande Bolivien, wenn – ja, wenn wir noch in der guten alten Zeit der Freiheit lebten. Aber damit ist es bekanntlich schon seit Jahren vorbei.
Ah, wenn ich an die Zeiten von damals denke, da man noch nichts von Grippe und Bolschewismus wußte, da man noch frei wie ein Vogel von Land zu Land ziehen konnte und nicht vor jedem Comisario am Grenzpfahl erbleichen mußte, weil vielleicht ein Kuckuck zu viel oder zu wenig auf dem Papier war!
Wo sind sie hin, die Zeiten der Freiheit?
Vorbei, vorbei! Versunken, verschlammt in der immer steigenden Flut des Bureaukratismus, die alles ersäuft!
Da wird man wie die Hammel der Herde in einen Stall getrieben, in dem es raschelt und knistert von Papier. Papier mit roten und schwarzen Buchstaben. Papier mit blauen und schwarzen und roten und grünen Stempeln. Sie fragen dich nach dem Woher und Wohin; sie erkundigen sich nach deiner Gesundheit; sie erforschen deine Verwandtschaft bis ins dritte und vierte Glied. Sie messen und wiegen und photographieren dich; sie machen Fingerabdrücke wie im Vorhof eines Gefängnisses. – O du armer, geplagter Staatsbürger von heute! Wie machen sie dich klein und häßlich! Wie stehst du hilflos da in dieser Welt der Paragraphen, bis du dann endlich nach wiedererlangter Freiheit dem gepreßten Herzen Luft machen kannst mit den Worten des Karl Moor: »Mich ekelt vor diesem tintenklecksenden Jahrhundert!«
Doch nun war endlich alles fertig zur Abfahrt. Das Schiff – ein stattlicher Schraubendampfer, der auch in einem Seehafen eine gute Figur machen würde –machte von der Brücke los, und langsam ging es hinaus in den See, wenn das noch der richtige Name ist für jenes mächtige Binnengewässer, das sich da, beinahe auf der Höhe des Montblanc, fast in endlose Fernen ausbreitet.
Es war, wie gesagt, eine kalte Nacht. Eisig wehte der Wind von den Hügelketten, die tintenschwarz das nördliche Ufer umsäumten. Groß und rund stand der Vollmond am klaren Himmel. Kalt und frostig, wie flüssiges Silber, lag der zitternde Widerschein auf dem schwarzen Wasser. Nirgendwo auf dem kahlen Verdeck gab es ein Plätzchen, das Schutz geboten hätte gegen die Wut des Windes, und alles in allem war es wohl eine der ungemütlichsten Nächte meines Lebens. Die einzigen, die da einigermaßen gewappnet an Bord kamen, waren die Indianerweiber, die vorsichtigerweise gleich mit Decken und Matratzen aufmarschierten, mit denen sie sich auf der Luke häuslich niederließen. Neugierig betrachtete ich die Gesellschaft.
Wie hatte man doch vor kurzem noch in Deutschland gesungen?
»Du, du bist die schönste Fee
Am Titicacasee.«
Da hatte man sie nun richtig vor Augen, aus nächster Nähe. Wenn ich gerecht sein will in der Feststellung des Grades ihrer Feenhaftigkeit, so muß ich wohl sagen, wie man bei uns zu Hause zu sagen pflegt bei weniger schön geratenen Mädchen, zumal dann, wenn sie den ersten Mai des Lebens schon hinter sich haben: »Schön ist sie ja gerade nicht, aber interessant!«
Interessant sind sie wohl mit ihren breiten, scharf gezeichneten, von kohlschwarzen Haaren umrahmten Indianergesichtern, mit dem roten Rock, dem roten Poncho, dem Zylinderhut aus Stroh und der langen Tabakspfeife in dem breiten, von einer unerhört großen Nase überschatteten Munde. Während der ganzen Reise saßen sie unbeweglich auf ihren Matratzen, umhüllt von dem roten Poncho, und schauten vor sich hin mit leerem Blick, als ob es auf der ganzen Welt keine Schiffe, keine Menschen und gar nichts gäbe. – – –
* * *
Und immer weiter ging die Fahrt über die glitzernde Wasserfläche, zwischen den kahlen Küsten und den hohen, schwarzen Inseln, die ab und zu wie Gespenster aus dem Wasser auftauchten.
Es ist ein Jammer, daß der fahrplanmäßige Dampfer nur nachts fährt, so daß man von dem See nicht allzuviel zu sehen bekommt. Erst in der zweiten Hälfte der Reise dämmert langsam der Tag, und man kann sich ein wenig umsehen im grauen Morgenlicht, das über dem grauen Lande liegt. Und was man zu sehen bekommt, ist auf den ersten Blick eine rechte Enttäuschung.
Alles ist kalt und rauh ringsum. Eine graubraune Steppe, die kahl und tot unter dem blassen Himmel liegt. Nur da und dort sieht man ein knorriges, zerzaustes Etwas, das einen Baum vorstellen könnte, nur da und dort steht eine Hütte aus Lehm, die sich in ihrer Erdfarbe kaum vom Boden abhebt. An den Hügelhängen sind spärliche Kartoffel- und Gerstenäcker terrassenförmig angelegt, rings umgeben von roh aufgeschichteten Steinmauern, zum Schutze gegen die Wut des nimmer aufhörenden Windes. Unendlich mühsam muß hier der Ackerbau sein. Im westlichen Teile sind die Ufer flach und seicht und dicht bestanden mit hohem Schilf, das sich recht romantisch ausnahm, wenn der Mond auf die Halme schien, die sich im Winde bewegten. Weiter nach Osten wird die Küste immer höher und schroffer. Im dämmernden Morgen fuhren wir zwischen den berühmten Residenzen der Inkas, der Sonnen- und der Mondinsel hindurch. Trotzdem die Inka-Herrlichkeit schon lange vorbei ist, ist es für jeden Indianer auch heute noch ein Vorzug, wenn er an dieser heiligen Stätte wohnen darf. Doch ist nur die Mondinsel dicht besiedelt und sorgfältig kultiviert mit terrassenförmig angelegten Feldern, die fast bis zum Gipfel reichen. Die größere und noch heiligere Sonneninsel ist zu steil und zerrissen für irgendwelchen Ackerbau. Sie besteht aus einem einzigen, etwa dreihundert Meter hoch aus dem See herausragenden Bergrücken, auf dem noch überall die Ruinen der Inkapaläste zu erkennen sind. Stellenweise ist sie bedeckt mit Büschen, deren leuchtend rote Blüten man als flor del Inca bezeichnet. Was immer damals an Glanz und Freude auf diesen Inseln war, heute ist es schon lange vorbei. In unseren Zeiten sind sie schon vielfach Inseln der Tränen geworden, als sicherer Verbannungsort für renitente Politiker und sonstige unbequeme Persönlichkeiten, die die Kreise der jeweiligen Machthaber stören.
Eine Stunde lang hielt der Dampfer vor einer der Inseln, bis die Wachtposten abgelöst waren. Dann ging es weiter bei hellem Tageslicht, und während nun der kalte Wind mit dem Wasser spielte, während die Wellen glitzerten in der frühen Sonne, die eben groß und feurig heraufgestiegen kam hinter den gewaltigen Schneebergen im Osten, die leuchtend über den brütenden Nebeln standen, wurde es schöner von Minute zu Minute. Am Strande sah man die Feuer brennen vor den Hütten, und überall auf dem blauen Wasser sah man die seltsamen Boote der Eingeborenen, die von ferne bunt und farbenprächtig aussahen wie venezianische Gondeln. Totoras nennt sie der Indianer. In jener Gegend, wo Seefahrt nottut und es kein Holz zum Schiffbau gibt, hat man sich zu helfen gewußt mit der Konstruktion von Fahrzeugen, die ganz aus Schilfbündeln zusammengesetzt sind. Sie sind unendlich plump und haben weder Bug noch Heck. Das aus demselben Material hergestellte breite Segel läßt das Fahrzeug mit schneckenhafter Langsamkeit über das Wasser gleiten. Die Idee, daß man sich in solchem Ding den Tücken des Unwetters aussetze, erscheint einem auf den ersten Blick wie eine Gotteslästerung. Und dennoch vertraut sich ihm der Indianer unbedenklich mit Kind und Kegel, mit Kühen, Hühnern und seiner ganzen Habe an. Vor anderen Schiffen haben diese Fahrzeuge den Vorzug, daß sie auch beim stärksten Sturme nicht kentern können. Außerdem liefert jedes der aus Schilfbündeln bestehenden Bestandteile ein unsinkbares Rettungsfloß, mit dem man das Land erreichen kann, wenn man nicht vorher erstarrt ist von der eisigen Kälte des Wassers.
Nach einigen Stunden Fahrt verengerte sich der See zu einem Kanal. Nicht weit entfernt, im Grunde einer engen Bucht, lag ein kleiner Hafen mit Landungsbrücke und Lagerschuppen.
Hell und klar schien die Sonne über dem Lande Bolivien.
Mit Ausnahme derjenigen von Chile sind alle Grenzen der südamerikanischen Staaten willkürlich und zufällig entstanden, ohne irgendwelche geographische oder sonstige Begründung. Nur die Titicacagrenze zwischen Peru und Bolivien macht hier eine Ausnahme. Sie ist zugleich eine Sprachgrenze. Während auf peruanischem Boden noch überall das Kitschua vorherrscht, das seinerzeit auch die Sprache der Inkas war, spricht der Indianer der bolivianischen Seite zumeist das Aymará. Für Gringoohren ist freilich das eine so unverständlich wie das andere, nur klingt das Aymará, bedeutend rauher und die Menschen scheinen womöglich noch manischer und apathischer, ob sie auch da wie dort ihr Koka kauen und ihr Tschitscha trinken.
Von dem bolivianischen Hafen Guaqui führt eine Eisenbahnlinie nach der Landeshauptstadt La Paz. Der Zug, der hier direkt an der Landungsbrücke auf die Passagiere wartete, führte einige richtige Pullmann-Wagen, aber nachdem ich mich nach dem Preis erkundigt hatte, nahm ich doch lieber mit einem Wagen de tercera vorlieb. Die Fahrt kostete ganze zweieinhalb Bolivianos bis La Paz. Allerdings war es auch mit der gebotenen Bequemlichkeit nicht weit her. Es mußte wohl ein Markttag gewesen sein. Anders war das lebensgefährliche Gedränge nicht zu erklären. Ein Schaffner mit eisernen Nerven hatte auf die Dauer dem Ansturm unterliegen müssen. Ein mit Eierkörben und Kartoffelsäcken gefüllter deutscher Vierterklassewagen zur seligen deutschen Hamsterzeit wäre ein Tanzplatz dagegen gewesen. Als ich in den Wagen kam, war er bereits dicht gefüllt mit unzähligen buntleuchtenden Ponchos, aus denen gerade noch die braunen Nasenspitzen oder ein Stück der schwarzen Haarschöpfe von ebensovielen Indianern herausschauten. Es war undenkbar, daß da noch mehr Menschen Platz hätten. Aber während ich noch einen Überschlag über die Leistungsfähigkeit des Wagens machte, kamen immer neue Gäste von draußen hereingeströmt. Wenn die bolivianischen Indianer auf Reisen gehen, so nehmen sie stets ihren ganzen Hausrat mit. So wird der Eisenbahnzug zum Möbelwagen, der sich bis zur Decke anhäuft mit Ponchos, Matratzen, Kochtöpfen, Tabakspfeifen, mit Kisten voll Eiern, Säcken voll Äpfel, Kartoffeln und Chunos, mit Hunden, Katzen, kleinen Kindern und sonstigen Landesprodukten. In dem Gedränge mußte man um sein Leben fürchten, aber noch immer wäre die Flut noch weiter hereingeströmt, wenn nicht zur rechten Zeit eine sehr umfangreiche Dame hereingekommen wäre mit langen, schön geflochtenen Zöpfen und mit einem Gesicht, das so braun war wie ein Kupferkessel. Aus den ängstlichen Blicken ihrer kohlschwarzen Augen konnte man unschwer erkennen, daß sie noch nie zuvor in einem Eisenbahnzug gefahren war. Und dementsprechend stellte sie sich auch an. Gerade im Eingang des langen Durchgangswagens baute sie ihre Habe auf. Zu unterst drei große, rot leuchtende Matratzen, darauf eine Lage Ponchos, eine Kiste, in der sie ihre Kostbarkeiten mitschleppte, eine Tabakspfeife, einen Topf zum Tschitschakochen und ganz oben auf den Haufen setzte sie sich selbst mit verkreuzten Beinen, wie ein tibetanischer Buddha. Neben ihr nahm ein bissiger Wolfshund Platz, und auf ihren Schultern saß ein grüner Papagei. Die draußenstehenden Gäste protestierten entrüstet gegen den versperrten Durchgang. Heftig redeten sie auf sie ein mit guten und bösen Worten, je nach Laune und Temperament. Aber die Señora nahm gar keine Notiz davon. Nun kam der Schaffner.
»Das geht nicht, Señora. Sie müssen Platz machen!«
Die Señora rührte sich nicht.
»Tenga juicio! Seien Sie vernünftig, Señora. Die anderen Caballeros wollen auch noch hinein.«
Aber die Señora blieb verstockt und unvernünftig.
Nun wurde der Schaffner energisch und machte Miene, ihr den Plunder unter den Füßen wegzuziehen. Da knurrte der Wolfshund, und der Papagei sträubte das Gefieder.
Das gesamte Reisepublikum verlegte sich nun aufs Bitten und Zureden, aber es nützte nichts. Die Señora blieb unbeweglich auf ihrem Platze. Kein Zug rührte sich in ihrem dunklen Gesicht. Nur ihre kohlschwarzen Augen wurden immer größer und füllten sich mit dicken Tränen. Das Theater hätte sich gewiß noch lange hinausgezogen, wenn nicht ein wohlgekleideter Mestize als Vermittler aufgetreten wäre und auf sie eingeredet hätte in ihrer landesüblichen Indianersprache.
Das Palaver dauerte eine Zeitlang, und als es fertig war, wandte sich der Herr in wohlgesetzter Rede an das umgebende Publikum.
»Señores,« sagte er in klingendem Kastilisch, »diese Señora ist eine würdige Dame aus dem Volke. Sie ist eine treue und brave Bürgerin. Sie hat dem Vaterlande fünf junge Bolivianos geschenkt. Ihr ganzes Leben ist nur Mühe und Arbeit gewesen. Aber in einer Eisenbahn ist sie noch nie gefahren. Und auf einer Bank sitzen kann sie nicht– no, señores! – Sie würde schwindelig werden und die Seekrankheit bekommen. Sie würde hinunterfallen, Señores, und sich den Hals brechen, und ihre Familie wäre der Mutter beraubt. Darum haben Sie Mitleid, Caballeros, machen Sie in Gottes Namen einen Umweg, aber verbittern Sie ihr nicht ihre alten Tage!«
Es war eine schöne Rede und sie war nicht umsonst gesprochen. Fortan machte jeder einen Umweg und niemand kümmerte sich mehr um die Señora. –
Sobald der Zug sich in Bewegung setzte, hatten sich die Geister wieder beruhigt und jedermann beschäftigte sich mit Kokakauen. Bald war die Luft so dick und muffig, daß man sie hätte mit dem Messer schneiden können. Mit Mühe und Not hatte ich mir einen Weg nach der Plattform hinausgearbeitet, und da auch dort die Menschen wie die Mauern standen, landete ich schließlich auf dem Rande des Daches, wo ich wenigstens ungeschoren war, wenn auch der Wind tüchtig um die Ohren pfiff. Außer mir saßen noch einige andere auf dem luftigen Sitzplatz, darunter auch der Mestize, der die schöne Rede gehalten hatte. Noch immer ging es durch ein graubraunes Hochland, in dem vereinzelte Dörfer wie Lehmklumpen standen. In ihrer graubraunen Nüchternheit hätte man sie kaum von der umliegenden Steppe erkannt, wenn nicht stets eine ganz unverhältnismäßig große, grellweiß angestrichene Kirche in ihrer Mitte gestanden hätte.
Aber man lernt nie aus in der Weltgeschichte! Schon nach einer Stunde Fahrt tauchten unweit der Bahnlinie die Ruinen der prähistorischen Stadt Tiahuanaco auf. In Amerika ist man sonst nicht gewohnt, nach Altertümern zu forschen, und doch stehen hier die Überreste einer Stadt, die nach sachverständigen Schätzungen etwa zehn- bis zwölftausend Jahre alt sein mögen. Die ältesten Baudenkmäler, die wir auf dieser Erde kennen. Eine Ruinenstadt, die in ihrer Ausdehnung größer ist als Herkulanum und Pompeji, und die schon in Trümmern lag, als jene noch nicht aufgebaut waren. Längst schon ist das Dunkel gewichen, das über den Ausgrabungen von Ägypten und Kleinasien liegt, aber vor Tiahuanaco steht der Forscher noch vor einem Rätsel, wie am ersten Tage. Über Vermutungen und Spekulationen kommt er nicht hinaus, denn nicht ein einziger verstaubter Papyrus, nicht eine einzige verständliche Hieroglyphe gibt Kunde von den Wünschen und Absichten der Erbauer. Jahrtausende bevor die Inkas ins Land kamen, haben die Ruinen schon gestanden als stumme Zeugen vom gewaltigen Wollen eines Volkes. An einer Stelle sieht man einen durch eine mächtige Steinmauer am Rutschen verhinderten Berg. An anderer Stelle steht eine Mauer aus Steinblöcken von einer Größe, die es einem unfaßbar erscheinen läßt, wie man sie je übereinander schichten konnte mit den damaligen primitiven Werkzeugen. Und überall in dem, was heute eine Wüste ist, ragen Tore, Treppen, Monolithe, in Stein gemeißelte menschliche Figuren, ganze Riesen, die aus einem einzigen Stein gehauen sind. Grübelnd steht man vor solchen Denkmälern. – Woher sie kommen? Wie es wohl damals hier ausgesehen haben mochte? – Damals vor zehntausend Jahren? Es ist alles tot und vorbei; der Lärm der Arbeit und der Jubel der Freude, und außer den toten Rätseln aus Stein ist nichts mehr zu sehen als die grelle Sonne auf der Steppe, und nichts mehr zu hören als das Summen des Windes, der klagend zwischen den Steinen geht.
»Längst schläft der Harfe froher Klang
Und Tyrus Lust verschied;
Und Tamburin und Flöt' und Sang
Singt nur ein Klagelied.«
Doch das ist alles oberflächliches Wissen, das ich von meinem neuen Freunde, dem mestizischen Caballero, erfahren, während wir uns krampfhaft festhielten auf dem Dachrand des schwankenden Zuges, derweilen der vorüberfliegende Rauch und Ruß und die scharfen Kohlensplitter uns bald so schwarz machten wie die Schornsteinfeger.
Aber so reist man in Bolivien.
Langsam leerte sich wieder der Zug. Das hügelige Land begann immer mehr abzuflachen, die Dörfer in den Talfalten wurden immer seltener, und bis wir oben auf der Hochfläche angelangt waren, breitete sich die Wüste flach wie eine Dreschtenne nach allen Seiten. Hier war alles starr und tot. Lebendig war nur der flimmernde Sonnenschein und der summende Wind in den Telegraphendrähten. Braun und grau und stellenweise grell weiß dehnte sich die Steppe nach allen Seiten. Grenzenlos schweifte der Blick nach allen Himmelsrichtungen. Nur im Osten blieb er haften an den funkelnden Schneegipfeln der Sierra Real, hoch über den Nebelbänken, die aus den Yungas aufstiegen. Das war das berühmte bolivianische Altiplano.
Ganz unerwartet leuchteten Schornsteine und Lagerschuppen aus der Wüste auf. Überall standen leere Wagen und qualmende Lokomotiven. Über holperige Weichen fuhr der Zug in einen stattlichen Bahnhof, und ich glaubte, wir wären schon in La Paz. Aber es war nur ein Bahnhof und sonst nichts in der weiten Runde. Der Knotenpunkt Vizcaya, wo die alte Mollendolinie sich mit der neugebauten aus dem chilenischen Hafenplatz Arica trifft. Nach längerem Aufenthalt fuhren wir weiter, und ich war recht gespannt auf die kommenden Dinge, denn in einer Stunde – so sagte man mir – würden wir in La Paz sein.
Die Stunde verging, und La Paz war noch immer nicht da. Und auch nirgendwo die Anzeichen einer kommenden Stadt. Immer nur die gleiche Wüste, die sich flach und scheinbar ununterbrochen gegen Osten ausbreitete, wo die beiden gewaltigen Schneeriesen des Illampu und Illimani immer höher aus der Ebene herauswuchsen. Ringsum wurde es indessen immer lebendiger. Immer zahlreicher wurden die Lama- und Eselkarawanen, die längs des Zuges hergingen, aber so viele ihrer auch waren, sie verflüchtigten sich alle wie eine Fata Morgana und verschwanden plötzlich und unvermittelt, als ob die Wüste sie aufgefressen hätte in ihrem Rachen.
Noch einmal hielt der Zug längere Zeit an einer kleinen Station, die nur aus einem Wellblechschuppen bestand. Ich benützte die Gelegenheit, um draußen ein wenig Luft zu schnappen. Da prallte ich förmlich zurück vor einem Abgrund, der jäh hinabführte in ein wohl tausend Meter tiefer gelegenes Tal am Rande mächtiger Schneeberge, in dessen Grunde eine Stadt wie ein Spielzeug lag.