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La Paz, der große Eselskorral. – Völkerschau auf dem Marktplatz. – Die Plaza Murillo. – Von schneidigen Leutnants und eleganten Señoritas. – Eine gesunde Stadt – für die Gesunden. – Auf der Suche nach Arbeit. – Besuch in der Universalakademie. – Seltsamer Broterwerb. – Tanzen durch Unterrichtsbriefe. – Oruro, die Stadt der Abenteurer. – Politik. – Im Kramladen. – Ankunft in Cochabamba.
In mancher Hinsicht erinnert die Lage von La Paz an die von Stuttgart, nur daß der Kessel sehr viel weiter und tiefer ist. Bis vor wenigen Jahren hatte die Stadt selbst keine Bahnverbindung. Der Zug hielt am Rande der Barranca, und jeder mußte zu Fuß oder per Mulo die Reise fortsetzen. Jetzt ist dem Übel abgeholfen durch eine vielverschlungene Linie, die in unendlich langen Windungen talabwärts bis in die Stadt hinein führt. Auf diese Weise hat man Gelegenheit, gleich zu allem Anfang La Paz von allen Seiten zu bewundern. Je weiter man hinunterkommt, je bunter scheint das Bild. Die Hauswände sind freilich aus den farblosen »Adobe«, den ungebrannten Lehmziegeln, die man überall im Lande als Baumaterial findet. Aber die Dächer sind zumeist aus leuchtend roten Falzziegeln, und diese machen sich recht lebendig neben dem weißschäumenden Gebirgsflüßchen, an dessen Rand wie bunte Farbenflecke unzählige Weiber sitzen und waschen.
Der Zug hält in einem großen, schönen Bahnhof, und da es noch früh am Tage ist, hat man reichlich Zeit, sich die Sehenswürdigkeiten zu betrachten.
Wo gäbe es eine Stadt, die sehenswürdiger wäre, wie diese? Bolivien ist gewiß ein armes, in der Entwicklung weit zurückgebliebenes Land, und das sieht man auch seiner Hauptstadt an. So schöne alte Gebäude wie in Lima und Arequipa wird man hier vergeblich suchen. Es ist alles ziemlich ärmlich und wenig anmaßend, und dafür hat die Stadt auch ihren Namen in ganz Südamerika. »Was wollen Sie in La Paz?« hatte man mich schon in Lima gefragt. »Es ist ein großer Eselskorral.«
Aber gerade das ist das Schöne an La Paz. Häuser und Denkmäler kann man überall sehen. Aber die Hauptstädte, in denen Eselkarawanen gehen, sind selten. Hier endlich ist eine Stadt, die keine Verkehrstürme braucht, in der das Auto noch eine Seltenheit, eine Stadt, in der der Verkehr noch kein Problem und die Umlaufgeschwindigkeit noch nicht amerikanisch ist.
Hier endlich ist eine Stadt, die noch in Beschaulichkeit ihre Tage verträumt, fern vom Foxtrott dieser hysterischen Zeit. – Wer weiß hier etwas von einem Asphaltpflaster? Noch immer geht man über dieselben runden Feldsteine, über die vorzeiten schon Bolivar geritten war, noch immer sind es zu beiden Seiten der engen Gassen dieselben niedrigen, altspanischen Häuser, die in verschlafener Langweiligkeit herabschauen auf die Karawanen von Eseln und Lamas, die langsam vorübertrippeln in biblischer Beschaulichkeit.
Und erst die Indianer! Es gibt gewiß auch andere südamerikanische Städte, in denen sie zahlreich sind wie Sand am Meer. In keiner aber – selbst nicht in Asuncion in Paraguay – fühlen sie sich so zu Hause, wie hier. Denn La Paz ist eine Völkerschau des Kordillerenlandes. Geht man durch die enge Calle Junin hinunter nach dem Markt, wo die Heimat des »Indio« ist, so kommt man in eine seltsame Welt phantastischer Gestalten. Weit und breit ist kein zivilisiert gekleideter Mensch mit weißem Gesicht zu sehen. Wohin man schaut, sieht man nur Indianer in grellen Ponchos, kurzen Hosen aus groben, hausgewebten Stoffen, bloßen Füßen, die hart wie Horn sind und von Schmutz starren, mit schwarzen, straffen Haaren und Gesichtern, die so hart sind wie ihre Fußsohlen. Immer gewaltiger wird der Menschenstrom. Es ist allenthalben ein Summen von Stimmen und ein Klappern von Holzpantinen auf dem rauhen Pflaster. In langen Reihen sitzen auf dem Boden die Weiber wie riesige Farbenkleckse, auf dem Rücken das Baby und vor ihnen weit ausgebreitet die Schätze aller Zonen, von den heimatlich anmutenden Äpfeln bis zu den Bananen, die aus den nahen Yungas kommen. Und diese sowohl wie die grellen Farben der Stoffe und die roten Falzziegel, die von den Dächern leuchten, und das Gesumm und Geklapper auf der Straße und die Raben, die am Brunnenrande hocken, wo anders kann man es noch sehen, als vielleicht in Bagdad, in Isphahan, oder sonst irgendeinem fernen Orte, wo Kalif Storch zu Hause war und der kleine Muck im Märchen.
Es war allenthalben ein geniales Durcheinander. Jeder ließ sich dort nieder, wo es ihm eben Spaß machte, jeder trat auf des anderen Füße, als ob das so sein müßte. Und dazwischen gingen mit langen Hälsen die Lamas, die in kleinen Säckchen die Erze von den Zinnminen brachten. In allen Höfen standen sie zu Hunderten und schauten geringschätzig herab auf den vorübergehenden Gringo, der sich wunderte, daß solche Fabeltiere noch ihre Existenzberechtigung haben in unserem Zeitalter der Automobile. Weiter gehen wir durch das Gewimmel, und immer mehr Esel, immer mehr Lamas, immer mehr Indianer bekommen wir zu sehen.
Das ist Bolivien. Das ist La Paz.
Es ist indes nicht ganz La Paz. Das Reich des Ponchos endet in der oberen Stadt, und dann fängt die Plaza Murillo an. – Die Plaza Murillo! Sie ist ein Klein-Paris, ein Klein-Buenos Aires, ein Klein-Neuyork, aber ein sehr kleines. Sie ist der Tummelplatz, auf dem sich allabendlich das andere Bolivien ergeht, die zwei oder drei Prozent Weißer und Mestizen, die ein angenehmes Leben führen in den öffentlichen Ämtern, die Advokaten, die Deputierten, die Politiker, die abwechselnd liberal und republikanisch, aber immer mit gleich harter Faust über das bunte Gewimmel herrschen, das da in den Niederungen der Stadt, wie in denen des Lebens vegetiert. Dazu alles, was sich an Gringos herumtreibt, vom reichsten bis zum ärmsten. Denn in Bolivien gilt jeder etwas, nur nicht der Bolivianer. Streng ist die Etikette auf der Plaza Murillo. Wer einen Poncho trägt, der wird verstoßen aus dem Paradiese, aber der Besitz eines Kragens – und sei er der schmutzigste und fadenscheinigste – ist eine Eintrittskarte.
Nun ja, einen Kragen hatte ich noch, und also konnte ich mir ungestört den Zauber ansehen, der sich da im frostigen Licht der Sterne unter dem kalten Hochlandhimmel entfaltet. Rein äußerlich war es dasselbe Bild, das man allabendlich an zehntausend südamerikanischen Plazas beobachten kann, wenn einige hundert oder tausend junge und nicht mehr junge Menschen beiderlei Geschlechts, feierlich wie so viele Eulen, zum Klange einer lärmenden Musik um den Stadtplatz schreiten. Und doch war es wieder anders. Es war Buenos Aires, mit einem Einschlag Potsdamer Platz in vornovemberischen Zeiten. Hier, wie damals bei uns, sind die Herren Leutnants noch die Löwen der Gesellschaft. Schlank und schneidig, in blauer Uniform, den grauen Umhang keck über der Schulter, ganz nach dem Muster der Potsdamer Wachtparade. Und jetzt spielt die Musik auch noch den Fridericus Rex! Wenn man als Reichsdeutscher das so unvermittelt zu sehen bekommt, muß man sich wirklich die Augen reiben, um sich zu vergewissern, daß man nicht träume.
Wie man weiß, ist das Heer der benachbarten chilenischen Republik schon vor Jahrzehnten gründlich modernisiert und germanisiert worden durch die Militärmission des Generals Körner. Diese Erfolge haben die bolivianische Regierung nicht schlafen lassen, und sie verschrieb sich ebenfalls eine deutsche Mission unter dem Obersten Hans Kundt, der noch viel gründlicher verfuhr wie sein Vorgänger in Chile und das ganze preußische Reglement bis zum letzten Uniformknopf einführte, so daß heute rein äußerlich nicht der geringste Unterschied mehr besteht zwischen einem ehemaligen preußischen Leutnant und seinem bolivianischen Kollegen, zumal man hier auch auffallend viele schlanke und blonde Gestalten findet. Während des Krieges erlitt die Tätigkeit der Mission eine Unterbrechung, aber heute sind sie wieder zurück, trotz des Verbotes im »Friedensvertrag«, woraus man ersehen kann, daß sogar die Maschen des enggesponnenen Netzes von Versailles noch Gelegenheit zum Durchschlüpfen bieten. – – –
An jenem ersten Abend saß ich auf dieser Plaza und auf noch mehreren anderen, obwohl ich wirklich Besseres zu tun gehabt hätte. – Was ist es nur um das Betrachten von fremden Städten und Ländern? Man kann darüber Zeit und Stunde und seine eigene Not vergessen, wenn sie einem noch so sehr auf den Fingern brennt. Drei Tage lang lief ich umher in allen Winkeln der seltsamen Stadt, und das ist in La Paz kein leichtes Unternehmen, denn das Pflaster ist schlecht und uneben, und es ist kaum eine Straße, die nicht bergauf oder bergab führe. Schon in einem gewöhnlichen Klima ist so etwas nicht erfreulich, aber in dieser Stadt, die als höchste der Erde beinahe auf Montblanc-Höhe liegt, wird die geringste Steigung schon zur Qual. Die berüchtigte Puna, die Bergkrankheit, herrscht hier souverän. Wessen Herz nicht ganz taktfest ist, der wird ihr Raub, wenn er sich auch nur den geringsten körperlichen Anstrengungen unterzieht. Für die anderen aber, die nicht in dieser glücklichen Lage sind, wird das Laufen in den Straßen sehr oft zur Qual. Oft ertappt man sich dabei, wie man vor einer geringen Steigung, die man in anderen Höhen überhaupt nicht beachtet hätte, plötzlich stehen bleibt mit zitternden Beinen, mit fliegenden Pulsen und einem merkwürdigen Summen im Kopfe. Es ist, als ob einem plötzlich die ganze Innenseite nach außen gekehrt werden sollte. Ein ekliger Geschmack liegt auf der Zunge, und das Herz schlägt hörbar bis zum Halse hinauf. Je nach dem Zustand seines Herzens wird ein vom Tiefland heraufkommender Mensch in mehr oder minder starkem Maße von der Puna ergriffen, aber niemand entrinnt ihr ganz, so wenig wie der Seekrankheit. Im übrigen aber soll das Klima von La Paz ein hervorragend gesundes sein – für die Gesunden. Es bleibt nun nur noch die Doktorfrage, warum die Gesunden erst gesund werden sollen. – – –
Drei Tage lang – wie gesagt – hatte ich mich in La Paz mit dem Betrachten der Sehenswürdigkeiten beschäftigt. Nun erhob sich um so drohender die Frage: Was nun?
Wenn man abenteuernd und ohne viel Geld die Welt durchzieht, so können unter Umständen Empfehlungsschreiben an einflußreiche Leute von Nutzen sein. Ich besaß ein solches, von dem ich mir etwas versprach – sancta simplicitas! Ich hätte es besser wissen können. Das Schreiben war in Lima ausgestellt an einen reichen Minenbesitzer, der zudem ein elsässischer Landsmann war. Das eine und das andere war vielversprechend, und also wanderte ich schwer von Hoffnungen nach dem eleganten Hause, wo ein höflicher Diener mich über einen Smyrnateppich führte. Aber der Herr war kein Elsässer. Die Großmutter seiner Frau – damit ich es richtig sage: die Tante seiner Schwiegermutter stammte aus Mülhausen im Elsaß. Er selbst war ein waschechter Pariser. Aber höflich. Trotz meines wenig gepflegten Äußeren lud er mich zu einem recht gemütlichen Five o'clock ein. Monsieur war äußerst liebenswürdig, und Madame war scharmant.
Wie es mir wohl gefiele in La Paz?
»J´en suis ravi, madame!«
»Und Sie gedenken sich hier niederzulassen?«
»Ah, tuen Sie das! Es ist eine gute Idee. Unsere Kolonie ist hier so klein. Und dann – wissen Sie – c'est tellement chic!«
»In Geschäften?« fragte Monsieur.
»Wenn irgend möglich, Monsieur. Geld habe ich keines.«
»Wie? Was? – Kein Geld? – Vraiement! – Und wie wollen Sie da Geschäfte machen?«
»On cherchera du travail.«
Die Wirkung der Worte war verblüffend. Hätte ich die Absicht geäußert, zum nächsten Termin als Präsidentschaftskandidat der Republik zu kandidieren, sie hätte nicht größer sein können. Beide schauten mich eine Weile sprachlos an. Monsieur fand zuerst die Sprache wieder.
»Arbeiten?« sagte er mit einer Stimme, in der noch das Erstaunen nachzitterte. »Das ist doch nicht Ihr Ernst, Monsieur.«
»Warum nicht?«
»Eben darum! Es ist keine Beschäftigung für einen Caballero. So etwas tun nur die Indianer und allenfalls noch die Cholos. Es ist der schnellste Weg zum Selbstmord, Monsieur. Sie werden Hunger sterben, wenn Sie arbeiten.«
Nach dieser Rede kam die scharmante Teevisite etwas plötzlich zum Abbruch. Nachher nahm der Direktor mich noch einmal ins Gebet, während er aufgeregt auf und ab ging in seinem großen Arbeitszimmer, wo zahllose Bücher von den Regalen schauten.
»Arbeiten? – Nom d'un chien! – Kommt einer von – Frankreich, um zu arbeiten in Bolivien! – Tonnerre de Dieu! – Das ist der beste Witz, den ich gehört habe seit langem.«
»Wenn man aber schon einmal da ist –« wagte ich einzuwenden.
»Wenn man da ist? Nun, so ist man eben da und richtet sich ein. Man ist Kaufmann, man ist Konsul, Ingenieur, Bergwerksdirektor. Man eröffnet ein Hotel, man gründet eine Aktiengesellschaft, man ist Goldsucher und Abenteurer, man ist Jäger in den Yungas, man lebt vom Betteln und Stehlen meinetwegen. Aber arbeiten wie ein Indianer, mit bloßen Füßen und einer Kokaprise im Munde – Ho là, là! So etwas ist noch nicht dagewesen, seit ich in Bolivien bin, und ich hab' doch schon allerlei gesehen!«
Wie ein Wasserfall war die Rede über mich her gefallen, und nun, da sie zu Ende war, wußte ich nichts darauf zu erwidern. Die Wahrheit war zu offensichtlich.
»Früher,« fuhr der Franzose gewichtig fort, »war es eine Kleinigkeit, hier jemand unterzubringen. Aber heute haben wir alle selbst nichts zu leben, seit dem großen Kriege, von dem die Dummköpfe sagen, daß wir ihn gewonnen hätten. – Der Krieg? Je m'en fiche! Franzosen, Deutsche, Engländer, Amerikaner – das ist für mich alles ein und dasselbe. Hauptsache ist, daß man etwas verdienen kann. Aber wer kann denn heute noch etwas verdienen? Die Kupferminen stehen still, seitdem die Boches nichts mehr kaufen können, und mit dem Zinn ist es auch nicht viel besser. Überall ist eine schreckliche Krise. Da kann man sich nicht früh genug aus dem Staube machen. Tun Sie mir den Gefallen, Monsieur, und kommen Sie morgen wieder. Ich werde Ihnen einen Paß geben nach Arica und eine Empfehlung an meinen dortigen Geschäftsfreund und für die französische Dampferlinie. Au revoir, monsieur.«
Aber ich kam nicht wieder.
Nachdenklich ging ich durch die Straßen. Die lange Rede hatte mich doch stutzig gemacht, wenn sie mir auch nichts anderes mitteilte, als was ich mir vorher schon gedacht hatte, wenn ich die düsteren Gestalten am Wegrand ihre Mahlzeit verzehren sah, die nur aus einer Handvoll gerösteter Maiskörner bestand. – Nein, mit diesen könntest du nicht konkurrieren, und wenn du bei gustaf nagel in die Schule gegangen wärst. Und also – so sagte ich mir – mußt du scharfen Ausguck halten nach einem fetten Bissen.
Aber wie und wo?
Nachdem Texas zivilisiert und Kalifornien verphilistert, nachdem Buenos Aires nicht mehr revolutionär und Australien gewerkschaftlich organisiert ist, ist neben dem lieben Lande Patagonien Bolivien noch die einzige Heimat des Abenteurers. Denn – ich wiederhole es – in Bolivien gilt jedermann, mit Ausnahme des Bolivianers. Sobald einer die Grenze überschritten hat, steigt er eine Stufe auf der sozialen Leiter. Der Schlosser wird im Handumdrehen ein Maschinenbauer, der Techniker ein Ingenieur, Bäcker werden Lokomotivführer, Schneider versuchen sich als Goldgräber und Tagelöhner als Spekulanten. Fabelhaft die Karrieren in Bolivien! Einen hab' ich gekannt, der eben von Deutschland kam als windiger Barbier, und nun schon ärztliche Konsultationen erteilte als gewiegter Fachmann de la Universidad de Berlin.
So ungefähr – sagte ich mir – mußt du es auch machen. Nur fehlte vorerst noch das Sprungbrett dazu. Während ich noch nachdachte über diese Dinge, kam ich in einer engen Straße an einer Wirtschaft vorbei, die einen englischen Namen trug: »The hole in the wall.« Aus dem wilden Lärm verworrener Stimmen, der von drinnen kam, glaubte ich eine bekannte zu vernehmen. Ich ging hinein, und richtig! Es war niemand anders als Charley, mein alter Associé beim Kirchenmalen drunten in Callao. Nicht im geringsten wunderte ich mich, ihn hier anzutreffen, im Eldorado der Abenteurer. Er paßte dazu wie die Ente zum Wasser. Was er aber inzwischen erlebt hatte, war etwas reichlich für die wenigen Wochen. Der Knabe Charley entwickelte wirklich eine Vielseitigkeit, die Aufsehen erregen mußte, selbst in dieser Umwelt.
Als er zuerst den Fuß auf bolivianischen Erdboden setzte, war eben die neue Revolution beendet, die die Regierung Saavedra ans Ruder brachte. Da brauchte man viele neue Beamte, und Charley bekam ein Amt als Sekretär eines Subpräfekten. Das ging, solang es gehen mußte. Dann etablierte er sich als Lehrer der Boxkunst, und nun war er dabei, sein letztes Geld zu vertun, weil er am anderen Tage nach den Yungas aufbrechen wollte mit einem Deutschen, der mit Jaguarfellen handelte. Im Laufe des Abends machte er mich bekannt mit einem Manne, der ebenfalls vor der Bar herumlungerte. Von diesem hatte ich schon gehört und gelesen. Denn der Name stand jeden Tag in der Zeitung. Das las man in vielen Lichtreklamen. Das stand alle Abende auf der Leinwand, in den Pausen im Kino. »Lernt Sprachen bei Professor Eschelmann. – Perfektes Boxen bei Eschelmann. – Die Tanzkunst lernt man schnell und gründlich in der Universalakademie Eschelmann.« Nun stand sie vor mir, diese vielgenannte, vielzitierte Persönlichkeit. Ein junger, schmächtiger Mensch von einigen zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren. Professor von eigenen Gnaden. Wenn er im Unterricht halb so tüchtig war wie im Whiskytrinken und im Würfelspielen, war seine Akademie in der Tat empfehlenswert.
Nach einer Weile – es war schon gegen Mitternacht – machte Professor Eschelmann den Vorschlag, seine Akademie in Augenschein zu nehmen. Es sei doch wirklich die einzigste wahre Sehenswürdigkeit dieser gesegneten Stadt. Wir gingen durch die stillen Straßen im spärlichen Licht der Laternen und kamen schließlich nach dem Hotel Royal. Professor Eschelmann öffnete die Tür und wir kamen durch viele Gänge an eine Zimmertür, an der in Maschinenschrift die Verordnungen der Akademie angeschlagen waren, nebst einem Reglement über die Verpflichtungen der Herren Studierenden gegenüber den Professoren des Lehrkörpers. Mit großen Erwartungen traten wir in das Zimmer, das ausschaute wie eine reguläre Studentenbude bei uns zu Hause. »A Kaschte un a Nescht,« wie man bei uns im Elsaß sagt. Professor Eschelmann nahm Platz auf einem Stuhl, und wir anderen ließen uns nieder auf dem Tisch, auf dem Bettrand, oder wo sonst eine Sitzgelegenheit war. Aus einem verschwiegenen Winkel holte der Professor eine Flasche Cherry-Brandy hervor, und es sah aus, als ob das Gelage hier ohne Unterbrechung eine Fortsetzung finden sollte.
»Wollen wir nicht lieber erst die Akademie besichtigen?« fragte ich zögernd, »das ist doch mal die Hauptsache, und dafür sind wir hergekommen.«
Nun war die Reihe des Erstaunens an Professor Eschelmann.
»Die Akademie? Was soll es da wohl zu sehen geben? Das ist hier doch die Universalakademie!«
Dies mit einer umfangreichen Handbewegung durch das ganze Zimmer.
Nach solcher Aufklärung erübrigte sich in der Tat die weitere Besichtigung, und das Fest konnte seinen Fortgang nehmen bis in den frühen Morgen. Als die übrigen sich verlaufen hatten, gingen wir beide – Eschelmann und ich – noch eine Weile durch die stille Stadt, während die frostigen Sterne langsam verblaßten und der trübe Morgen über die Plaza Murillo kroch und Professor Eschelmann nicht müde wurde, von seinen Abenteuern zu erzählen. Und die waren wahrlich der Mühe wert. Er war ein Deutschamerikaner und hatte sich schon in vielen Ländern betätigt in den erdenklichsten Berufen. Gefallen hatte es ihm aber nur in Südamerika. Das sei das einzig wahre Land für einen smarten jungen Mann. Denn wo sonst konnte man in sich so viele Talente entdecken? Ganz gewiß nicht im Yankeelande und in Deutschland schon gar nicht. In Venezuela sei er Lokomotivführer gewesen, in Kolumbien Majordomo auf einer Plantage, Kassierer in einem Kino und Cowboy in einem Zirkus. Aber dabei käme nichts heraus. Nur wenn man für sich selbst arbeite, komme man auf seine Kosten. Das habe er sich schon vor zwei Jahren gesagt und seither immer danach gehandelt. In Bogota habe er sich als Sprachlehrer niedergelassen und in Guayaquil als Versicherungsagent. In Quito habe er mit Patentmedizin gehandelt, in Lima habe er eine Teestube und auf dem Cerro de Pasco eine kleine Spielhölle für die Bergleute eröffnet. Nirgendwo habe jedoch das Geschäft so geblüht wie hier in La Paz mit der Universalakademie. Er müßte zehn Hände haben, um die ganze Kundschaft zu bedienen. Dennoch habe er die Sache satt. Man müsse zu viel arbeiten. Vierzehn Stunden am Tag, und das sei nicht sein Fall. Nun habe er sich etwas Neues ausgedacht – Tanzen durch Unterrichtsbriefe! Das Tanzen sei jetzt die große Mode. Die ältesten Esel fingen es wieder an und da müsse es doch mit dem Teufel zugehen, wenn das nicht ein Feld der Betätigung wäre für einen smarten jungen Mann. Wir setzten uns auf einen Brückenbogen, unter dem der Bergbach gurgelnd hindurchlief, und im Scheine der eben aufgehenden Sonne betrachteten wir ein umfangreiches, sauber mit der Maschine geschriebenes Manuskript, in dem Shimmy, Foxtrott und alles andere sorgsam beschrieben und jede besondere Fußstellung bildhaft dargestellt war.
»Das ist das einzig Wahre!« sagte Professor Eschelmann mit einem liebevollen Blick auf die vielen Bogen. »Ich brauche nur zu Hause sitzen und die Daumen zu drehen. Die Dollars kommen ganz von selbst. Nebenher werden wir einen Kurs für die allerneuesten einführen, die nicht im Buche stehen.«
»Wir?«
»Nun freilich! Du sollst mir dabei helfen. Wir werden Kompaniegeschäft machen.«
Das sagte er mit einer großen Miene der Selbstverständlichkeit. Aber dennoch sah ich mich nicht in der Lage, von diesem Angebot Gebrauch zu machen. Manches traute ich mir zu, aber zum Tanzmeister war ich doch wohl ein verfehlter Beruf. Nach meinem Vorleben und meinen Anlagen war ich das. Ich erzählte ihm von meinen Reiseplänen im bolivianisch-brasilianischen Urwald. Von Jaguaren, Wilden, Riesenschlangen, von Schmetterlingen und Orchideen und von dem vielen Geld, das man dort unten – vielleicht! – verdienen könnte.
»Daran habe ich auch schon gedacht,« sagte Professor Eschelmann, »aber ich komme nicht dazu. Halb La Paz ist mir Geld schuldig und zwischen dem und den Schulden, die ich habe, komme ich in Monaten nicht zu einer Abrechnung. Aber einmal werde ich ihnen doch den Krempel hinwerfen. Wenn man so alle Tage weiß, wo man hingehört, wenn man alle Tage weiß, wo man etwas zu essen bekommt, wenn man in jeder Nacht sich in dasselbe Bett legt – ist das auch ein Leben? Unsereins muß etwas haben, das ihn beschäftigt, so etwas recht Bocksbeiniges, das ihm den Weg versperrt. Und wenn heute alles zusammenkracht und man nicht weiß, was morgen kommt, dann ist einem gerade am wohlsten.«
Noch eine Weile redete er so weiter. Ich hörte ihm zu und hörte es gern. Denn nichts hört man lieber als das, was man alle die Zeit schon selber gedacht hat. Noch eine Weile bummelten wir weiter durch die Straßen. Wir gingen in eine Wirtschaft, um noch einen zu heben und trennten uns schließlich als große Freunde. Aber gesehen haben wir uns nie wieder. –
Wenn alles zusammenkracht. – Ungefähr soweit war es einmal wieder. Aber ich müßte lügen, wenn ich sagen wollte, daß mir das sehr lustig vorkam.
Eine gute halbe Woche hatte ich nun schon in La Paz zugebracht und keinen Centavo verdient, und dabei war ich doch erst am Anfang der großen Reise. Die Pfunde waren zu Bolivianos geworden und die Bolivianos wurden immer weniger. Die Reise nach Cochabamba allein kostete soundso viele Bolivianos. Und die sollte ich in barem Gelde dem Moloch Eisenbahn opfern?
Ausgeschlossen!
Und also besann ich mich darauf, daß in Bolivien ein richtiger »Gringo« mehr gilt, als ein Dutzend Landeskinder. Man muß nur anständig Englisch sprechen können. »Sie lispeln Englisch, wenn sie lügen,« steht ja schon im Prolog zu Goethes Faust geschrieben. So machte ich mich denn voll Zuversicht auf den Weg nach dem Privatkontor in dem prunkvollen Gebäude des »Bolivian Central Railway«, wo der Generaldirektor seine Pfeife rauchte.
»What d'you want, Jack?« fragte der.
»Einen Paß nach Cochabamba.«
»Gewiß. Natürlich. Just wait a minute.«
Fünf Minuten später stieg ich die große Freitreppe hinunter mit einem Billett erster Klasse nach Cochabamba.
O du glückliches Land Bolivien!
So war also auch diese Episode erledigt.
Adios La Paz!
Ich mußte lachen, als es an jenem Abend wieder einmal zum Tor hinaus ging, nach anderen Gegenden. Ein altes Liedlein summte mir im Kopfe:
»Er sieht manche Stätte, er kennt manchen Ort.
Doch fort muß er wieder, muß weiter fort.«
Und muß er es denn wirklich? Hat's ja gar nicht nötig!
Der Zug geht vom Bahnhof aus, der mitten in der Stadt liegt. Aber so fasziniert war ich von der Schönheit des Abends, daß ich es nicht über mich bringen konnte, gleich wieder in einen heißen Eisenbahnwagen zu steigen. Zu Fuß ging ich bergauf auf der breiten, vielgewundenen Landstraße, zwischen den kleinen Häusern und den niedrigen Gartenmauern, und dieser Spaziergang war einer der schönsten, die ich je gemacht habe. Die schnelle Nacht der Tropen begann schon herabzufallen aus dem wolkenlosen Himmel. Ein feiner Dunst hing bleich an den Berghängen bis weit hinauf zu dem mächtigen Schneegipfel des Illimani, der funkelnd in allen Farben stand. Tief unten, im Boden des gewaltigen Loches lag die fremde Stadt, über der sich Licht an Licht entzündete. Es war finstere Nacht, als ich oben auf dem Altiplano ankam. Öde und Einsamkeit. Drückendes Schweigen ringsum. Der Wind summte wieder so trüb und eintönig wie damals zwischen den Telegraphendrähten.
In schnurgerader Richtung ging es weiter nach Oruro. Gibt es auf der Welt noch eine einsamere, eintönigere Eisenbahnstrecke wie diese? Keine Stadt, kein Dorf, kein Marktflecken liegt am Wege. Soweit das Auge reicht, sieht es nur endlose Ebene, kahle Sanddünen, wildes Geröll und weiße Salzseen im schimmernden Mondlichte. Fern im Süden ziehen sich schwarze Hügelketten durch das flache Land. Bei Tagesanbruch tauchen Wellblechschuppen zwischen kahlen Bergen auf. Man sieht Schornsteine und Lagerschuppen. Fabriken und Werkstätten lärmen in den Tag hinein. Dann kommen grell angestrichene Geschäftshäuser, riesengroße Reklamebuchstaben und immer mehr Wellblech. In der Ferne leuchtet ein Kinotheater. Schon sind wir in Oruro. Man geht durch die schmutzigen Straßen und betrachtet sich die Sehenswürdigkeiten. Es ist in der Tat eine ansehnliche Stadt mit vielen Banken und großen Geschäftshäusern, aber das ist alles wackelig und unsolide in mehr als einer Hinsicht. Ein Kongreß von Eseln und Lamas. Ein zufällig zusammengenähtes Sammelsurium von Wellblechbaracken, von grellen Reklameschildern, die frech in der hellen Sonne stehen. Und das alles umrahmt von kahlen Hügeln, die starr und tot herabschauen in beleidigender Nüchternheit. Man sieht es auf den ersten Blick: Nur der allmächtige Dollar konnte die Menschen in solcher Einöde festhalten.
Lange Zeit war es auch ein Paradies der Dollarjäger, hier zwischen Kupfer-, Zinn- und Silberminen, die die reichsten und ergiebigsten der Erde sind. Aber der Krieg hat dem allem ein Ende gemacht. Und mehr noch der Vertrag von Versailles, der die Welt fein säuberlich in zwei Teile zerrissen: In Käufer, die nicht kaufen können, und Verkäufer, bei denen kein Mensch mehr kaufen will. Die einen ersticken in der Wolle, während die anderen in Lumpen laufen; die einen sitzen und warten auf den Kupferbarren, wie einst der König Midas auf seinen Goldsäcken, während es woanders an allen Ecken und Enden an diesem Metalle fehlt. Es ist alles aus dem Geleise. Die Brücken von Land zu Land sind abgebrochen, und auf ihren Trümmern spukt der Teufel Valuta.
Das alles sind Informationen, die mir der Besitzer eines deutschen Kaufladens zuteil werden ließ. Das und noch viel mehr. Händeringend rechnete er mir aus, wieviel wohl heute – im Oktober 1921 – eine Tonne Kupfer cif Hamburg in Papiermark kosten würde und wer das wohl zahlen könne. Und wer es wohl in Italien, in Österreich zahle? Kein Mensch habe heute mehr Geld, und die Yankees, die übergenug davon hätten, hatten selbst so viel Kupfer, daß sie gerne etwas davon ausführen möchten, wenn es ihnen jemand abnehme. So sei alles außer Rand und Band und niemand habe den Krieg so sehr verloren, wie die Bolivianer. In Oruro lebten sie nur noch vom Verlust, in La Paz gehe das Geschäft noch so kümmerlich, weil eine Pleite immer die andere neutralisiere, aber in der großen Mine Chuquicuamata habe man die ganze Belegschaft von zehntausend Mann auf die Straße gesetzt, und dabei gäbe es nicht einmal eine Straße dort oben.
»Aber es ist gut so. Je schlimmer das Durcheinander, je besser für uns. Man bricht nicht umsonst ein Rad aus dem Räderwerk der Weltwirtschaft. Denn dann stehen die anderen auch still. Wir hier wissen das längst und bekommen es am eigenen Leibe zu spüren. Wann aber werden es die Deutschen in Deutschland begreifen und daraus Nutzen ziehen? Wahrscheinlich nie. Denn es gibt verschiedene Arten der Dummheit. Eine Ochsendummheit, eine Eselsdummheit, eine Kamels- und Lamadummheit. Aber dann gibt es noch eine, die größer ist als alle anderen: Das ist die deutsche Dummheit. Die kennt keine Rücksichten und hört auf keine Erfahrung. Und wenn man ihr nur jeden Tag einen Fußtritt versetzt, so ist sie stets bereit, sich zu versöhnen und zu verbrüdern, auch mit den niedrigsten der Nationen. So ein dummes Volk wie wir hat es noch nie gegeben!«
Also sprach der Herr im Kramladen, und ich konnte ihm nicht einmal so unrecht geben. – –
Und immer weiter geht es hinein ins bolivianische Land. In Oruro verläßt man die Hauptstrecke der La Paz–Antofagastabahn und fährt nun über himmelhohe Berge – denn in diesem Lande geht alles bergauf, bergab – nach dem lieblichen, blumengeschmückten Tal von Cochabamba, das weitab von der großen Heerstraße, umkränzt von hohen Schneebergen, ein beschauliches Dasein führt.
Es war schon dunkle Nacht, als der Zug dort ankam; eine laue und milde Nacht, wie man sie oben auf dem Altiplano nimmer erlebt. Der Wind zog leise durch die engen Straßen.
Fern im Osten, über den hohen Bergen, die sich finsterer noch wie die Nacht aus dem Dunkel abhoben, da wetterleuchtete es am Nachthimmel. Da stand der Widerschein der wilden Tropengewitter mit ihren grellen Blitzen.
Lange betrachtete ich die hohen schwarzen Berge in ihrer schaurigen Einsamkeit. Fast wurde mir unheimlich zumute, wenn ich mir bedachte, daß es in den nächsten Wochen und Monaten nun – fern von der Eisenbahn – immer weiter gehen sollte durch dieses wildeste Bolivien. Hätte ich aber gewußt, ja hätte ich nur etwas geahnt von dem, was einem dort über den Weg läuft, von den reißenden Flüssen und den himmelhohen Bergen, von Sümpfen und Fröschen, von Jaguaren und Klapperschlangen, von giftigen Ameisen in den dicken Buschwäldern, von mühsamen Wanderungen auf den endlosen Durststrecken und oh! von den Mos–ki–tos! Ich glaube, ich hätte in diesem Augenblicke etwas getan, was ich in meinem Leben noch nicht fertiggebracht hatte: