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Ein verlockendes Angebot. – Ich versuche mein Glück als Schiffsheizer. – Besuch in der Unterwelt. – Die Welt unter Palmen. – Die Welt der Schiffsheizer. – Orientalische Handelsgeschäfte. – Allerlei Geldstücke. – Pidginenglisch. – Nächtliches Abenteuer. – Der verkannte Chinese. – Die Menschenjagd. – Im Indischen Ozean. – Das Rote Meer. – Die Hölle im Heizraum. – Tropenkoller. – Mann über Bord. – Die Nacht im Suezkanal. – Ankunft in Marseille. – Besuch von Bruder Straubing. – Wir füttern unsere Gäste und sie erweisen sich erkenntlich. – Das vergessene Weinfaß. – Ich werde in Ungnade entlassen. – Ein zweifelhaftes Geschehnis. – Die Landsmännin als Verführerin. – An der deutschen Grenze. – Konflikt mit der Obrigkeit. – Pa–pie–re? – Endlich zu Hause!
Von Australien nach Europa kann ein Postdampfer bequem in einem Monat fahren. Die »Altona« hatte es weniger eilig. In gemächlichem Tempo pflügte sie durch das blaue Tropenmeer auf allen Ab- und Beiwegen Indiens, zwischen flachen Inseln, auf denen die Kokospalmen im Monsun rauschten und weiße Bungalows aus hellgrünen, breitblätterigen Bananenhainen leuchteten. Von einem weltverlassenen Hafen ging es zum anderen in beschaulicher Weise. »Komm ich heute nicht, komm ich morgen.« Überall ankerten wir an der Leeseite der Korallenriffe, an denen die dunkelblaue See sich donnernd brach in weißleuchtenden Kämmen, inmitten stiller Lagunen, wo ein moderiger, salziger Geruch über dem erhitzten Wasser lag und ringsum auf dem niedrigen, kaum über die Meeresfläche hinausragenden Strande die hohen, windzerzausten Kokospalmen standen, als ob sie aus dem Meere selbst herausgewachsen wären. Es kamen Leichter vom Lande mit schweren Koprasäcken und nackten, kupferbraunen Kulis. Es kamen Europäer an Bord mit weißen Anzügen und zitronengelben Gesichtern, Chinesen, die Pidginenglisch schnatterten, dunkle, beturbante Malaien, die wie Seeräuber aussahen, und sonst noch allerlei Volk, für das die Schulweisheit nicht ausreicht. Wir kamen vorbei an üppigen orientalischen Hafenplätzen mit vielen kleinen Treppen und engen, seltsam verschnörkelten Straßen, mit Moscheen, Minaretten und mauschelnden Basaren wie in Tausendundeiner Nacht. Ja, das war die weite Südsee, wie ich sie mir nur immer vorgestellt hatte in meinen wildesten Träumen, oder der bunte Orient, der auf lautlosen Pantoffeln schlürfte!
Soll ich von jenen drei Monaten erzählen? Es waren vielleicht nicht die schlimmsten, sicherlich aber die beschwerlichsten meines ganzen Lebens. Noch heute, wenn ich daran zurückdenke, so steigt es vor mir auf wie Ruß und Rauch und weißglühende Hitze vor rasenden Feuern. Zu guter Letzt hatte ich mich nämlich verleiten lassen, mich noch einmal in einem neuen Berufe zu betätigen, nachdem ich meine Kunst schon in so manchem versucht hatte auf der langen Reise um die Erde. Aus irgendeinem Grunde – oder aus gar keinem Grunde, wie das in solchen Fällen meistens ist – war auf der »Altona«, die in Newcastle dicht neben der »Samoëna« lag, das Desertierungsfieber umgegangen. Alle Mann des Heizer- und Maschinenpersonals waren Knall und Fall davongelaufen nach den Goldminen, zu den Känguruhs, oder was immer sonst als australisches Wunder in ihren armen Köpfen gespukt haben mochte. Nun war an deren Stelle eine recht gemischte Gesellschaft an Bord gekommen: Strandläufer, Gelegenheitsarbeiter und ähnliche Tagediebe von der Sorte, die man in Australien »Sydney Larricans« nennt. Der erste Maschinist betrachtete sich kopfschüttelnd die Gesellschaft und meinte, daß der beste unter ihnen den Strick nicht wert sei, mit dem man ihn aufhänge. Und ob ich nicht auch einmal mein Glück als Heizer versuchen wolle? Es sei ein Geschäft wie alle anderen, wenn man sich erst einmal daran gewöhnt habe, und weniger wie die andern könnte ich doch auch nicht leisten in dem Handwerk.
Das war nun ein Vorschlag, den ich mit einem lustigen und einem traurigen Ohre anhörte. Ich war ja lange genug Matrose gewesen, um auf die Männer von der schwarzen Zunft herunterzusehen mit der ganzen Geringschätzung einer teergeschwärzten Tiefwasserseele. Das Hinuntersteigen in den Heizraum empfand ich als die tiefste aller Degradationen. Aber für sechs Pfund und zehn Schilling – so sagte ich mir – kannst du deinen Charakter schon ein wenig in die Tasche stecken und deine Hände schmutzig machen. Ich war also mit dem Vorschlag einverstanden und ließ mich, trotz aller Bedenken, auf der »Altona« anheuern.
Der sehr wohlbeleibte und sehr kahlköpfige Maschinist – ich habe noch nie einen ersten Schiffsmaschinisten gesehen, der anders ausgesehen hätte – führte mich selbst über die engen Treppen hinunter in den Maschinensaal. An Bord eines Schiffes hatte ich mich reichlich auskennen gelernt in den letzten Jahren. Überall war ich zu Hause, von der Royalrahe bis hinunter zum Kielboden. Dieses aber war das erstemal, daß ich hinuntersteigen mußte in die Eingeweide eines großen Dampfers. So düster war es dort unten, daß das vom Tageslicht geblendete Auge nur undeutliche Umrisse erkennen konnte. Je weiter man hinunterstieg auf den eisernen Stufen der steilen, halsbrecherischen Treppen, desto dunkler wurde es ringsum. Nur da und dort schimmerten undeutlich und unsicher verschleierte Lichter wie gelbe Punkte in der Finsternis. Ein dicker, widerlicher Ölgeruch lag schwer in der Atmosphäre. Es herrschte eine unerträgliche Hitze. Von überall her kam ein dumpfes Brummen und Summen, ein rhythmisches Stoßen und Klinken von Eisen, als ob in dieser Unterwelt der Zyklopen nicht mehr die Menschen, sondern die Dinge lebendig wären.
Langsam, während das Auge sich an die Dunkelheit gewöhnte, wuchs die Welt immer mehr aus der Finsternis. Eine nach der anderen traten die Gestalten aus dem Schatten heraus und formten sich vor den Augen wie die Gespenster. Überall leuchtete Eisen und Kupfer. Überall hingen die Thermometer, die Manometer, die Wasserstandsgläser und all die anderen Dinge, die weiß Gott was für Zwecken dienten und denen man beileibe nicht zu nahe kommen durfte. Da lagen die Zangen und Hämmer auf den eisernen Arbeitstischen; metallisch glänzende Ölflecken auf dem eisernen Fußboden. Überall Eisen und wiederum Eisen und mächtige Maschinen, die feindselig in die Finsternis schauten in ihrer funkelnden Reinlichkeit. Am Ende des Maschinenraums kam man durch eine kleine Tür in den Heizraum. Das war, wie wenn man aus dem Fegfeuer in die Hölle käme.
Eine dicke, undurchsichtige Finsternis, in der die roten Feuerscheine wie mächtige Blitze sich ständig kreuzten in phantastischem Wechsel. In jedem Feuerblitz tauchten halbnackte, von dem Irrlicht zu Riesen verzerrte Menschengestalten auf mit grinsenden Fratzen. Ein Riesenkerl, der bisher regungslos in einer Ecke gestanden, erhob plötzlich seine Stimme zu donnerndem Getöse, das selbst den Lärm der rasenden Feuer übertönte: »Achtung! Schleuse!« Mit einem Ruck flogen alle Türen auf wie so viele Pforten zu dem Rachen der Hölle. Und so viele Teufel stürzten sich über das Unwetter und rüttelten mit langen Stangen an den weißglühenden Eingeweiden und entfachten die Feuer zu immer rasenderer Glut. Und schlugen mit einem Krach alle Türen wieder auf einmal zu. Und augenblicklich war wieder dieselbe ägyptische Finsternis mit den zuckenden Blitzen und den schaurigen Grimassen. Das Feuer raste wilder wie je, und die Maschinen zitterten heftiger noch als zuvor in gieriger Gefräßigkeit. Ihr, die ihr noch je und je eure Kabinenplätze bei Cooks Reisebüro bestellt, die ihr flaniert und charmiert auf dem weißgescheuerten Promenadendeck, die ihr euer ›ice cream‹ nascht bei schmelzender Musik im Wintergarten und abends unter dem Sonnensegel den Teetango abhaltet, was wißt ihr wohl von dem Hexensabbat, der dort unter der Wasserlinie die Menschen peinigt mit allen Höllenqualen, die Dante vergessen!
Wie dem auch sei: So sah die Hölle aus an diesem ersten Tage und so war sie an noch vielen anderen, die nachher kamen. Wir fuhren nordwärts in immer wärmere Meere, wo die fliegenden Fische wie zwitschernde Vögel über das dunkelblaue Wasser huschten und überall die unheimlichen, viereckigen Flossen der Haie aus der Tiefe auftauchten; wir kamen nach kleinen, weltverlassenen Hafenplätzen an der queensländischen Küste, wo die Sonne erbarmungslos brannte und alles ringsum in eine liederlich-leichtsinnige Umwelt von Whisky und Wellblech getaucht war. Durch die heiße Torresstraße fuhren wir weiter nach Westen, mitten hinein in die nahrhafte Welt der Sundainseln, von Celebes nach Java, von Java nach Sumatra. Hin und her ging es zwischen palmenbestandenen Inseln mit Namen, die nach allen Speisen Indiens rochen.
Aber was ist das alles für den Mann im Heizraum? Er sieht nur selten den saphirblauen Himmel, nicht die phosphoreszierenden Wellen in den lauen Nächten, nicht die üppigen Inseln und die tobende Brandung, die silberhell aufspringt aus dem tiefen Blau der Tropenmeere. Je schöner und wärmer die Länder sind, desto heißer ist es drunten im Heizraum. Wir kamen nach blühenden Häfen mit hohen Palmen am Horizonte, mit violetten Hügeln und Hütten in Bambushainen, aber für den Heizer ist das alles schwarz wie die Kohle; ist alles nur Glut und Staub und bleierne Müdigkeit, und das wenige, was übrig bleibt in dieser Tretmühle für die Freuden des Lebens, das buchstabiert sich Whisky.
Manche trinkfeste Menschen hatte ich angetroffen in den letzten wilden Jahren, aber noch keine, denen der Alkohol so durch die Kehle floß, wie diesen! Kaum hatten wir irgendwo angelegt, so rannten sie, nackt und rußig wie sie waren, über die heißen Kais hinweg nach der ersten besten malaiischen Schenke, wo sie ein wirklich gutes Destillat, ähnlich dem Jamaikarum, verzapften. Singend und johlend kamen sie wieder an Bord, und es herrschte blaue Montagsstimmung bis zum nächsten Hafen. Das ganze Leben dieser armen Teufel war eigentlich nur von und für den Alkohol. Von was denn sonst sollten sie sich aufrechterhalten auf die Dauer? Von innen und außen muß man einheizen, wenn man bestehen will in solcher Hölle. Gleich am ersten Tage im Heizraum kam einer auf mich zu mit einer Flasche von konzentriertem Spiritus.
»Have a drink, Jack!«
Wohl oder übel mußte ich schon einen Schluck wagen. Das Zeug brannte wie Schwefelsäure und roch wie Haarpomade. Unwillkürlich spuckte ich es wieder aus, sehr zum Mißvergnügen meines neuen Freundes. Mit einem Blick starrte er mich zu Boden. Dann ging er fort, ohne mich noch eines weiteren Blickes zu würdigen, weder an jenem noch an irgendeinem folgenden Tage.
In Holländisch-Indien ist es in vieler Hinsicht nicht anders wie in Amerika. Die verschiedenen Städte und Hafenplätze sind alle einander gleich; von einer beleidigenden Gleichförmigkeit und Farblosigkeit, trotz des klaren Himmels, des dunkelblauen Meeres und des üppigen Pflanzenwuchses, der allenthalben förmlich überquillt aus dem reichen Boden. Wer eine gesehen hat, der kennt sie alle. Wenigstens ist das bei den Europäervierteln der Fall. Eine Atmosphäre der Ungeselligkeit liegt über ihnen allen. Weit zerstreut und wohl versteckt hinter dicken Büschen und fleischigen Blattpflanzen, als fürchteten sie sich voreinander, stehen die luftigen Bungalows. Es gibt natürlich große und kleine Bungalows, je nachdem einer Gouverneur oder Ratsschreiber ist. Aber abgesehen von dem Größenunterschied sind sie alle von einem Schema. Immer ist es dasselbe Dach aus Pech, Asbest oder sonstiger Masse, über dem die Hitze flimmert, dieselben Fenster mit den Moskitonetzen. Auf den Veranden stets dieselben Hängematten und Liegestühle, und es sind stets dieselben Menschen, die darin liegen. Es muß wohl irgendwo in Holland oder in England eine Fabrik existieren, wo solche Behausungen am laufenden Band hergestellt werden, die man fix und fertig herüberschickt und hier aufmontiert unter Palmen. So nüchtern, praktisch, tot und wesenlos sehen sie aus. So wenig passen sie in die Gegend.
Eine Atmosphäre der Langeweile und der bleiernen Müdigkeit liegt auch über den breiten, schnurgeraden, wunderbar schön gehaltenen, von hohen Palmen beschatteten Straßen, auf denen auf lautlosen Gummirädern die Rikschas fahren mit ihren Insassen, die alle gleich gekleidet sind in tadellosem Weiß, so daß man die Menschen nicht voneinander unterscheiden kann, so wenig wie ihre Häuser. Nur an der Größe des Fahrzeugs und an der mehr oder minder selbstbewußten Miene des kupferbraunen Rikschaführers kann man zur Not noch seine Schlüsse ziehen: dieser wohnt in einem großen, jener in einem kleinen Bungalow.
Anders sieht es schon aus in der Eingeborenenstadt, die abseits davon sich wie ein mächtiges Ghetto ausbreitet. Holländisches Regiment ist immer ein mildes. Leben und leben lassen ist die Parole, solange nur Mynheer dabei auf seine Kosten kommt. Im großen und ganzen läßt er dem Leben seinen eigenen Weg. In den engen Gassen, zwischen den Tempeln und Moscheen, den finsteren Basaren und den übelriechenden Speisehäusern wickelt sich das Dasein orientalisch-beschaulich ab, und nur die seltsam anheimelnden Namen auf den Schildern an den Straßenecken erinnern an die Fremdherrschaft: »Kolenweg«, »Bloemenstraat«, »Handelskai«. Zuweilen steht auch ein Denkmal für Ons Wilhelmin je mitten zwischen hohen Palmen und Hütten aus Bast und Palmblättern. Schier unbegreiflich hoch ist der Wert des Geldes in dieser Umwelt. Wer einen Gulden sein eigen nennt, der geht wie ein König unter den anderen.
Aber wer besäße denn einen Gulden! Die gangbare Münze ist das Kupfer. Von diesen gibt es ein ganzes Museum. Runde, dreieckige, viereckige, halbmond- und schlüsselförmige, verbogene und zerhämmerte, mit dickem Grünspan überzogene uralte portugiesische von Macao, die wohl noch aus den Zeiten des Camöes stammen. Andere aus Siam und Singapore, aus Arabien und Sansibar in den phantastischsten Gestalten, aber alle mit einem Loch in der Mitte, damit man den ganzen Reichtum hübsch sauber und ordentlich an einer Schnur um den Hals tragen kann. Du schlenderst vorbei an den Basaren mit einer Last von Kupfermünzen, die dir die Taschen eindrücken und kommst dir reich vor wie ein Krösus. Vor einem Basar bleibst du stehen und betrachtest einen der vielen dort feilgebotenen wunderschönen Kakadus.
Was der wohl koste?
Darauf furchtbare Grimassen und Gestikulationen mit allen zehn Fingern.
Du legst eine Kupfermünze auf den Tisch.
Allgemeines Wutgeheul aller Anwesenden.
Du greifst in die Tasche und ziehst noch ein halbes Dutzend anderer Münzen hervor.
Erneuter Massenprotest.
»Muchee more, mistah!«
Du greifst immer tiefer in die Tasche, und der Haufen Kupfermünzen wird immer höher. Scheiben, Schlüssel, Halbmonde türmen sich bereits zu einem ansehnlichen Haufen, aber immer ist er noch nicht zufrieden.
»Muchee, muchee more, mistah!«
Zufällig kommt ein kleines Zehncentstück aus der Tasche. Da funkeln die Augen. »Allright, mistah!«
Hastig greift er nach dem Geldstück und schiebt zu deinem Haufen von Münzen, Halbmonden, Schlüsseln usw. noch einen weiteren, den du als Kleingeld herausbekommst auf die zehn Cents. So hast du deinen Kakadu am Ende doch noch billig eingekauft. Aber kenne sich der Kuckuck aus in den Rechenmethoden dieses Landes! Ebenso eigenartig wie diese Handelsmünzen ist die Sprache, in der sich diese Geschäfte im Verkehr zwischen Europäern und Eingeborenen abwickeln. Es ist das über den ganzen äußersten Orient und bis zu den anderen Ufern des großen Pacific verbreitete Pidginenglisch. Alles ist auf kurze Formeln gebracht, wie Kinder es zu tun pflegen, wenn sie ihre ersten Sprechstudien machen.
Für diejenigen, die der englischen Sprache mächtig sind, gebe ich eine Probe aus dieser ›Lingua franca‹:
»Catchee chow chow topside four piece man chopchop«, d. h. in Schriftenglisch: »prepare dinner upstairs for four gentlemen, immediately«.
Überall entlang der Küste der Sundainseln machte das Land dank der Jahrhunderte langen holländischen Kolonisationsarbeit den Eindruck einer alten Kultur und gesicherter Verhältnisse. Dies änderte sich jedoch im Quadrate der Entfernungen nach dem Innern. Zumal im Innern der großen Insel Sumatra war die Macht noch vielfach in den Händen einheimischer Sultane. Damals verging kein Jahr, das nicht mit blutigen Kämpfen ausgefüllt gewesen wäre, und es bedurfte einer großen Armee, um alle unruhigen Elemente in Schach zu halten. Der Holländer selbst fand an dem Dienst in seiner Kolonialtruppe keinen besonderen Gefallen. Er überließ den Dienst dem, der in solchen Fällen nie versagte: dem deutschen Michel.
In Strömen hat Busch und Urwald hier das deutsche Blut getrunken; nicht anders wie in Algerien, Marokko, Madagaskar, in Mexiko, in Nordamerika. Immerhin darf man die holländisch-ostindische Schutztruppe nicht in einem Atemzug nennen mit der französischen Fremdenlegion. Der Soldat wird hier menschlicher behandelt, und statt des traditionellen »Sou« bekommt er einen annehmbaren Sold, der es ihm ermöglicht, sich an jedem Zahltag einen glorreichen Rausch zu leisten. Abgesehen davon bekommt er – falls er es erlebt – nach Ablauf der zwölfjährigen Dienstzeit eine ansehnliche Pension und gegebenenfalls auch eine gute Zivilanstellung. Inzwischen sorgen Moskitos und Mikroben, und nicht zuletzt der starke Zuckerrohrschnaps dafür, daß der Staat nicht allzuviel verliert an diesen Vergünstigungen. Wie es aber trotz allem um die Zufriedenheit der Leute mit ihrem Schicksal stand, das sollte ich bald selbst an einem kleinen Erlebnis erkennen.
Das war im Hafen von Padang auf Sumatra, in einer jener schwülen, gewitterschwangeren Tropennächte, die schwer und regungslos über Land und Wasser liegen. Schwärzer noch als die Nacht standen die Wolken am Himmel. Überall zuckten grelle Blitze, und immer von Zeit zu Zeit rauschte der Regen herunter mit prasselndem Ungestüm, wie es nur die Tropen kennen. Es war etwa um Mitternacht, als alles im tiefsten Schlafe lag und nur ich allein als Wachmann auf dem Verdeck zurückbleiben mußte. Trübsinnig stand ich unter der Brücke vor dem Achterdeck und schaute hinaus in die phantastische Tropenlandschaft, die alle Augenblicke scharf und hell aus dem Dunkel aufsprang im grellen Scheine der Blitze und auf die dampfende Feuchtigkeit, die wie ein Nebel durch das Tauwerk zog. Ich sagte mir, daß man bei solchem Wetter wohl keinen Hund vor die Tür schicken möchte, als plötzlich, wie aus dem Boden gewachsen, ein Chinese vor mir stand. In Ausübung meines Amtes als Nachtwächter betrachtete ich mir diese Erscheinung etwas genauer. Dieser Sohn des Himmels schien mir nicht ganz echt zu sein! Der Zopf saß ihm auffallend schief, und die zitronengelbe Gesichtsfarbe war auch nicht waschecht, denn der Regen hatte breite Streifen abgewaschen. Zu allem Überfluß redete der exotische Herr mich noch im schönsten Schweizerdeutsch an. »Landsmann . . .«
Verdutzt schaute ich ihn an. Da riß er Zopf und Hut herunter und fuhr mit beiden Händen in die langen, wilden Haare. »Landsmann, du müescht mir helfe! Wenn du a Mueter hascht un a Heimat, so müescht du mir helfe!«
»Das möchte ich wohl gerne«, antwortete ich, »wenn ich erst wüßte mit was?«
»Mit was? – Ha! ha!« – er lachte laut und verworren vor sich hin.
»'s Mul halta sollscht für zehn Rappa und d'Auga zu mache für fünf Minütle!«
Das sagte er mit so flehender, vor Erregung erhebender Stimme und starrte mich an mit so großen Augen voll irrsinniger Angst, daß ich nicht umhin konnte, so zu tun, wie mir geheißen. Ich machte die Augen indes nicht weit genug zu, um nicht zu sehen, wie er mitten im Toben des wieder losgeplatzten Gewitterregens wie ein Gespenst hin und her huschte auf dem Verdeck und dann plötzlich eine Luke öffnete und im Laderaum verschwand. Dann hörte man nur noch das Rauschen des Regens und das Krachen des Donners. Stundenlang grübelte ich nach über diesen Spuk in der Nacht, bis ich am Ende der Wache selbst zur Überzeugung gekommen war, daß alles nur ein Traum gewesen, wie er zuweilen aus den heißen Fieberdünsten der Tropengewitter aufsteigt.
Am nächsten Morgen in aller Frühe kam die Polizei an Bord. Es gab ein mächtiges Palaver auf dem Achterdeck. Dann schallte die Stimme des Kapitäns über das Verdeck:
»Wer war hüt Nacht up Wach'?«
»Koal – hab ich mir all dacht! Der Döskopp schläft ja schon am hellen Tag!«
Er wollte seine Rede noch weiter fortsetzen, als eben eine Abteilung malaiischer Soldaten kam unter Führung eines weißen Offiziers, der durch Anbringung eines königlich holländischen Siegels das Schiff in aller Form beschlagnahmte. Was nun folgte, das war ein Anblick, wie ich ihn noch nie gesehen hatte und auch hoffentlich nie wieder zu sehen bekomme. Eine richtige Menschenjagd mit allen Begleitumständen. Wohlweislich hatten sie keine weißen Soldaten hierzu ausgesucht, denn in diesem Falle hätten sie den Bock zum Gärtner gesetzt. Desto reiner und ungetrübter leuchtete die Schadenfreude und die Verfolgungswut aus den grünschillernden Augen der brauen Teufel. Im Kabelgatt, in den Rettungsbooten, in den hintersten Winkeln der dunklen Kohlenbunker schnüffelten sie nach dem Ausreißer. Sie krochen in die Winduzen und die Feuerkisten, sie stiegen hinauf in die Ausgucktonnen, sie zogen die Feuer aus den Kesseln und suchten auch dort seine Spur zu entdecken. Selbst dem glühenden Lagerraum, wo die faulende Kopra die Luft verpestete und Millionen von schwarzen Käfern den Aufenthalt zur Hölle machen, wandten sie ihre Aufmerksamkeit zu.
Mir wurde unheimlich zumute, als ich die Spürhunde dort hinuntersteigen sah. Und richtig! Schon nach wenigen Minuten kam ein fast nackter Mann zur Oberfläche. Einmal schaute er sich um wie ein gehetztes Wild und sprang kopfüber ins Wasser. Der Offizier, der bisher vom Achterdeck aus die Treibjagd geleitet hatte, sprang nach vorne und feuerte seinen Revolver in das Meer. Die Malaien taten ein gleiches mit ihren Gewehren. Zischend fuhren die Kugeln in das blaue Wasser. Es roch unangenehm nach Pulverdampf. Sie ließen ein Boot zu Wasser, um dem Flüchtling nachzusetzen. Aber er war und blieb verschwunden, als ob das Meer ihn für immer verschluckt hätte in seinem unersättlichen Rachen. Mißmutig entfernte der Offizier das Siegel vom Maste, und da wir ohnehin klar zur Abreise waren, verloren wir keine Zeit mit dem Weiterreisen.
Bald standen die hohen Berge Sumatras nur noch wie dunkle, flimsige Wölkchen über dem Horizonte, und nur die schreienden Möven gaben uns eine Weile das Geleite über die weiten, vom sanften Monsun geschwellten Fluten des Indischen Ozeans. Als aber die Nacht wieder hereingebrochen war und ringsum nichts zu sehen war als das phosphoreszierende Kielwasser und die leuchtenden Sterne in der mondlosen Nacht, wer beschreibt da das Erstaunen bei allen Mann, als mit einemmal, nackt wie Adam, der entlaufene Soldat auf der Bildfläche erschien. Die Aufregung der Menschenjagd hatte er sich zunutz gemacht und war an einem überhängenden Korkfender wieder an Bord geklettert, wo er sich bis zum Verziehen des Wetters unter dem Ankerspill verkroch. »Adam« – so nannten wir ihn fernerhin – wurde Smutje anvertraut und machte sich fortan nützlich mit Kartoffelschälen.
Ohne weitere Abenteuer fuhren wir durch die tiefblauen Weiten des Indischen Ozeans im kühlen Monsunwind, der frisch wie das Leben selbst durch die Winduzen sogar in die Tiefe des Heizraums fuhr. Durch die Bab-el-Mandeb-Straße kamen wir in den Schrecken aller derer, die vom Schicksal dazu verurteilt sind, ihr Leben im Heiz- und Maschinenraum zuzubringen, ins Rote Meer.
Seit ich hindurchgefahren bin, kann ich es den Kindern Israels nachfühlen, wie sehr ihnen davor graute. Keine Hölle ist heißer als diese! Träg und schwer und mattschimmernd wie Öl liegt das Meer unter einer mächtigen, dunkelblauen Himmelsglocke, von der die Sonne erbarmungslos herunterbrennt. Gelber Staub zittert in der flimmernden Luft. Kaum ein Windhauch zieht über das stille Wasser zwischen Wüste und Wüste. Da verkriechen die Passagiere sich unter dem Sonnensegel, das zur Not noch einigen Schutz gewährt vor den sengenden Sonnenstrahlen auf den brennend heißen Deckplanken. Da schlürfen sie eisgekühlten Whisky und Soda und lassen sich befächeln von den elektrischen Ventilatoren. Sie liegen erschöpft auf den Deckstühlen in weißen Flanellkleidern unter mächtigen Tropenhelmen und kommen sich schon fast als Helden vor, wenn sie so in beschaulicher Siesta der Hitze dieses Höllenofens trotzen. Wer aber gedenkt dabei der Leiden des Mannes vor dem Feuer?
Vergebens bemühe ich mich, die Hölle im Heizraum des Dampfers im Roten Meere zu beschreiben. Allein im Gedanken daran erhitzt sich mir der Kopf zu soundsovielen Atmosphären, und die Worte lösen sich auf in zischenden Dampf und flimmernde Hitze, noch ehe sie über die Lippen kommen. Nein, auch die Hitze ist nur ein relativer Begriff! Hat man irgendwo staunend vor einem Thermometer gestanden mit den Schweißtropfen auf der Stirn und der tröstlichen Gewißheit im Herzen: »Höher geht's nimmer!«, so kann man schon anderen Tages einen neuen Rekord erleben, der einem die vergangene Hölle als eitel Kühle und Erfrischung erscheinen läßt. Was die Hitze des Roten Meeres besonders unerträglich macht, das ist das Fehlen des frischen Seewindes. Mochte draußen im Indischen Ozean die Hitze im Heizraum noch so groß sein, man brauchte sich nur unter die Winduze zu stellen, wo der herunterwehende Monsunwind wie Eis über den schweißtriefenden Körper lief. Hier aber war alles zitternde Hitze über dem totenstillen Wasser und höchstens nur ein sandgeschwängerter Gluthauch, der von der Wüste kommt.
Dann erst bekommt der Heizer zu spüren, warum man ihm sechs Pfund zehn bezahlt. Dann ist es dort unten ein Glutofen, ein türkisches Dampfbad, durchsetzt mit Ruß und Kohlenstaub. Sprühende Hitze, die auf dem blanken Eisen flimmert und schwer und dumpf in allen Ecken hockt, wie ein düsteres, feindseliges, unentrinnbares Etwas. Hin und her schlingerte das Schiff in der Dünung. Bei jeder Bewegung rutscht man aus auf dem glatten Eisenboden und greift ins Leere, in glühende Aschenhaufen und an sengende Eisenstangen. Bei jedem Überholen schießen mächtige Stichflammen aus den offenen Feuern, wie gelbe, gierige Zungen aus dem Rachen eines Ungeheuers.
Das ist die Umwelt, die den Wahnsinn weckt. Das ist die Hitze, die Mord, Totschlag und Selbstmord in den Köpfen ausbrütet! Wie viele Heizer hat das Rote Meer schon als Tribut gefordert?
Auch die »Altona« kam nicht zollfrei davon.
Immer noch kann ich Jean, den kleinen, vertrockneten Franzosen vor mir sehen, wie er die Feuer fütterte in seiner letzten Stunde. Blutrot lag der Schein der rasenden Glut auf seinem schmächtigen Körper. Jean war ein Sozialist, Anarchist, Syndikalist, oder wie man das wohl nennen mag. Wenn so etwas bei einem Franzosen der Fall ist, so ist er es allemal mit Enthusiasmus und einem gewissen Elan. Wütend packt er die Schleuße, die fast so lang war wie er selber, und rüttelte damit an dem weißglühenden Feuer.
»En voilà un pour monsieur Millerand!«
Noch ein Stoß in das Feuer.
»Celui là pour monsieur Bourgeois, – bon pour Jaurès!«
So zitierte er der Reihe nach das ganze derzeitige Ministerium der französischen Republik, vom Präsidenten angefangen. Ab und zu führte er mit Hacke und Schaufel einen wilden Derwischtanz in der von dem zuckenden Scheine der Flammen durchgeisterten Finsternis auf. Dann wieder brüllte er mit greller, sich überschlagender Stimme die Internationale.
Plötzlich warf er das Handwerkszeug hin und schaute mich an mit starren, irrsinnigen Augen.
»Ich werde ein Bad nehmen«, sagte er mit unheimlicher Ruhe. »Ein kaltes Bad, wie es die Reichen dort oben alle Tage können. Das wird mir gut tun. Und sag' mir nicht, daß ein Proletarier sich das nicht leisten könne, sacré nom de Dieu!«
Mit affenartiger Geschwindigkeit flog er förmlich die engen, steilen Stufen hinauf an Deck und kopfüber in das Meer. Wir haben ihn nicht wieder gesehen. Und zu meiner Schande muß ich sagen: Er war auch vergessen, sobald er in den Wellen verschwunden war. Denn das war hier nichts Besonderes. Das kam auf jeder Reise vor und konnte jeden von uns im nächsten Augenblick packen. Bald waren wir mitten im Suezkanal, der mir – ich muß es gestehen – einen sehr wenig imponierenden Eindruck machte. Ich hatte mir etwas anderes vorgestellt, als diesen engen unscheinbaren Wassergraben zwischen flachen Sandufern. Nichts an der äußeren Erscheinung verrät die Großartigkeit des Bauwerks. Eigentlich sieht er nicht viel anders aus wie ein etwas breit geratener Bewässerungskanal in Arizona. Nur eine in der Abenddämmerung dahinziehende Kamelkarawane, die sich scharf abhebt von dem fahlen Lichte des späten Tages, führt uns zum Bewußtsein, daß wir uns nicht allzuweit vom Heiligen Lande befinden. Träge zogen während des Tages die Schiffe vorüber, und bei Nacht lagen wir irgendwo vertaut an einer Ausweichstelle unter dem Licht der Bogenlampen, die sich seltsam ausnahmen in dieser Wüste. Auch hier im Kanal verloren wir einen Mann über Bord. Es war »Adam«, der am hellen Tage über Bord sprang und gleich darauf als ein triefendes Bündel an Land kletterte.
Einige Tage später kamen wir im Hafen von Marseille an. An diesen Tag werde ich noch lange denken. Wir fuhren vorbei an hohen, grünen Inseln, durch dunkelblaues Wasser. Überall flatterten die Möven, und überall heulten die ein- und auslaufenden Dampfer. Da stand schwarz und drohend auf einer einsamen Insel das Château d'If, ganz so wie es im Buche steht. Da war die mächtige Hängebrücke hinter dem Schleier der rauchigen, dunstigen Hafenatmosphäre und noch weiter im Hintergrund am Hange der Hügel die große Stadt in leuchtenden Farben, wie ein mächtiges Amphitheater unter dem blauen Rivierahimmel. An einem schmutzigen, weit abseits gelegenen Kai legten wir an, und die Säcke mit der Kopra wanderten auf kleinen Karren in den Schlund einer qualmenden übelriechenden Seifenfabrik. Von allen Fabriken, die ich je gesehen, war diese eine der widerwärtigsten. Fast konnte man sich nicht vorstellen, daß gerade aus diesem Chaos der Gestänke die wunderbar schöne und wohlduftende savon marseillais hervorgeht, die in der Pariser Lebewelt den Stolz des Boudoirs jeder Grisette und Minette bildet.
Abends lief ich geradewegs davon, um mir die Sehenswürdigkeiten der Stadt anzusehen. Ich kam durch gerade, neue Straßen mit düsteren Mietskasernen, die aussahen wie anderswo auch. Bald aber kam ich in einen alten Stadtteil, wo die Straßen eng und winklig den Berg hinauf liefen, wo die alten Häuser hart aneinander gepreßt waren, aus purer Geselligkeit, und große rote Blumen an den Fensterbrettern leuchteten. Da ging mir auf einmal das Herz auf vor Freude. Ein schönes, heimatliches Gefühl der Geborgenheit kam über mich, selbst jetzt, als ich noch immer ein Stück Wegs von der Heimat entfernt war. Die Matrosen, die Fischweiber schauten mich alle an, als ob sie lauter gute alte Bekannte wären, und mir war, als ob sie alle auf mich zukommen müßten, um mich zu begrüßen. Mir war, als ob die alten Häuser selber anfangen müßten, mit mir zu sprechen, als ob ich meinen heißen Kopf in jeden Brunnen tunken müßte, wie ich es als Kind so oft getan.
Da merkte ich erst, was ich vermißt hatte, ohne es selbst recht beim Namen nennen zu können. So lange hatte ich gelebt in Ländern ohne Seele, in Häusern ohne Farbe, zwischen Menschen, die keine waren, daß ich inzwischen fast schon selbst zu solchem wesenlosen, neuweltlichen Geschöpf geworden war. Hier aber waren Menschen und Dinge aufeinander abgestimmt. Hier ging jeder seinen Geschäften nach mit stiller Emsigkeit, der man anmerken konnte, daß der Großvater es auch nicht anders getan hatte und man es von den Enkeln nicht besser erwartete. Man sah alte Häuser, die Generationen beherbergt und überdauert hatten, ehrwürdige Schlösser und Kirchen, umwettert von den Schauern der Geschichte, und überall das farbige Bild unseres lieben, alten, unvergleichlichen Europa!
Als ich an jenem Abend wieder zurück an Bord kam, war ich nicht wenig erstaunt, dort einen eleganten jungen Herrn zu bemerken, der zu diesem Milieu paßte wie eine Faust auf ein Auge. Er tat sehr bekannt mit allen, und wahrhaftig – es war niemand anders als Adam, der uns auf so geheimnisvolle Weise abhanden gekommen war im Suezkanal. Wie war diese unerwartete Metamorphose vor sich gegangen? Er klärte uns darüber auf in dem ihm eigenen Telegrammstil: Ganz einfach. Komme nach Kairo. Telegraphiere an den alten Herrn, reicher Kaufmann in Zürich. Schickt Kabelgeld. Abfahrt von Alexandrien mit österreichischem Lloyddampfer. Im übrigen – so sagte er – habe er schon Übung in der Sache. Das sei nun schon das dritte Mal, daß er der Schutztruppe den Laufpaß gebe, und wer weiß, ob es das letzte sei? Die hätten dort in Holland so einen besonders guten Genever, und da sei es dann jedesmal um ihn geschehen, wenn er dort hinkomme auf Geschäftsreisen. Gnädig verabschiedete er sich von allen und schritt würdig das Gangplank hinunter in das Menschengewimmel der großen Stadt. Kleider machen in der Tat Leute. Aber wer hätte das gedacht, und noch dazu von Adam!
Noch an demselben Abend bekamen wir weiteren Besuch. Es war eine Schar deutscher Handwerksburschen, wie man sie überall in den Hafenplätzen am Mittelländischen Meere antreffen kann. Es gibt unter diesen nicht wenige, die schon ganz zu Hause sind unter der südlichen Sonne. Nachts schlafen sie bei Mutter Grün in den Anlagen oder bei schlechtem Wetter unter den Vordächern der Lagerschuppen. Tagsüber lungern sie an den Kais umher und halten einen hellen Ausguck nach Schiffen, auf denen es etwas »abzukochen« gibt. Es waren ihrer wohl ein halbes Dutzend, die sich auf der »Altona« zu Gast geladen hatten, und »Smutje« hatte alle Hände voll zu tun, um ihrem Hunger gerecht zu werden. Einer unter ihnen, der in Deutschland einmal Student gewesen war und inzwischen schon fünf Jahre in der französischen Fremdenlegion abgedient hatte, wußte sehr interessant von seinen Abenteuern zu erzählen, während die anderen sich einer nach dem andern stillschweigend empfahlen. Der letzte nahm auch noch den schönen Trinkwassereimer aus dem Logis mit. Es gab einen regelrechten Aufruhr, als die Missetat offensichtlich wurde. Aber der Legionär machte sich nichts aus den Vorwürfen, die auf ihn niedergingen.
»Da braucht ihr euch keine Sorge zu machen«, sagte er phlegmatisch, »die werden den Kram schon wieder bringen! Für was für eine billige Sorte haltet ihr uns denn eigentlich? Wassereimer? So etwas können wir vor jeder Haustür klauen!«
Er hatte richtig prophezeit. Nach einer halben Stunde kamen alle wieder. Zwei Mann schleppten den Eimer, der bis obenan gefüllt war mit köstlichem Rotwein.
»Sauft, Jungens!« riefen sie ermunternd, »'s ist noch mehr da, wo das herkommt, und man muß ein gutes Ding wahrnehmen, wenn es einem über den Weg läuft!« Und sie waren so gut wie ihr Wort. Jeder schöpfte heraus mit seiner großen Blechmug, und noch ehe man den Boden sehen konnte, stand schon wieder ein neuer, vollgefüllter Eimer daneben, der niemals leer wurde, wie das Öl im Kruge. Schließlich holten wir das ganze Faß, das da allein und vergessen in einem großen Lager zwischen tausend anderen leeren Fässern im Zollhafen lag. Es gab ein Bacchanal, wie man es nur unter trinkwütigen Heizern und Matrosen erleben kann. Wer einmal ermessen will, wieviel ein menschlicher Magen zu leisten vermag, der verteile einmal »vin à discrétion« unter Menschen dieser Sorte! Schon nahmen sie sich nicht mehr die Mühe, ihre Mugs zu füllen. Der Reihe nach hängten sie sich mit dem Mund an das Spundloch und ließen sich vollaufen bis zur Grenze des Fassungsvermögens, und als am nächsten Morgen der Maschinist nach vorne kam, da fand er das ganze Logis überschwemmt mit Rotwein und mitten darin liegend seine Mannschaft wie Leichen.
Der einzige, der aus dieser Orgie, zwar keineswegs ganz nüchtern, aber doch noch lebendig und zurechnungsfähig, hervorging, war ich, und daher war auch ich der alleinige Blitzableiter im Entrüstungssturme an maßgebenden Stellen. Aus irgendeinem Grunde, der mir bis heute noch nicht ersichtlich ist, hatte der Kapitän mich schon während der ganzen Reise als einen verkappten fils de famille mit großen Geldmitteln angeschaut. Wer konnte also das Faß angeschafft haben? Niemand anders als Koal! Und wer wurde nun stehenden Fußes abbezahlt und davongejagt? Koal natürlich!
Wie dem auch sei: Ich müßte lügen, wenn ich behaupten wollte, daß mir diese Schande besonders nahe ging, als ich wenige Stunden später aus dem deutschen Konsulat herauskam mit einer Abrechnung von einigen fünfhundert Franken, die alle in blanken Goldstücken in meiner Tasche klimperten.
Unten an der Tür empfing mich eine ältliche und ziemlich verwitterte Dame, die mir vertrauensvoll die Einladungskarte eines Gasthauses in die Hand drückte.
»Zum Bremer Schlüssel.«
Ich hatte kein besonderes Zutrauen zu diesem »erstklassigen Hotel«, und außerdem war ich inzwischen Seemann genug geworden, um mich vorzusehen vor den freundlichen Leuten, die vor den Konsulatstüren herumlungern. Diese aber sprach ein so schönes, anheimelndes Elsässerdeutsch, daß ich nicht umhin konnte, ihr die Ehre anzutun.
Meine bösen Ahnungen wurden indes noch um einiges übertroffen. Die Kneipe lag im finstersten Marseille, in einer dunklen Gasse, die da heißet: »rue de la pierre qui raye« und gehörte einem Manne, der es verstand, aus allen Blüten Honig zu saugen. Für die Franzosen hieß seine Spelunke Le marin marseillais, für die Italiener Trattoria Garibaldi, für die Spanier Fonda Español, für die Amerikaner war sie Washington Hotel, die Deutschen gingen in den »Bremer Schlüssel« usw., je nach der mehr oder minder großen Kaufkraft der Valuta. An den breiten, tiefliegenden Fenstern, die wohl seit ihrer Erschaffung kein Waschwasser mehr gesehen hatten, kreuzten sich die Flaggen aller Nationen in schönster Eintracht. Im Innern – soweit Platz war zwischen den dicht gedrängten Tischen und Stühlen – hoben sich allerlei exotische Dinge aus dem Halbdunkel ab: Pfeile und Bogen, phantastischer Kopfputz aus Afrika, ausgeblasene Straußeneier, ausgestopfte Papageien und schimmelige Antilopenhörner. In einem Käfig saß ein mottenzerfressenes Eichhörnchen. Vor allem aber duftete es nach abgestandenem Bier, giftigem Absinth und billigem Seemannstabak. Der Patron begrüßte mich wie einen langvermißten Freund. »Vo Milhuse bischt?«
Gleich mischten sich noch eine Anzahl Frauen und Frauenzimmer in die Unterhaltung, eine immer gemalter und gepuderter und immer schlampiger als die andere. Von Minute zu Minute wurden sie immer liebenswürdiger, und ich war völlig machtlos, denn der Patron zahlte alles. Endlich ermannte ich mich mit einem Ruck und erklärte, daß ich noch heute nacht nach Mülhausen fahren würde. Ich müßte noch schnell eine Fahrkarte kaufen. Da schaute die Alte mich an mit einem Blick des allerhöchsten Erstaunens.
»Billett? Fahrsch nit schwarz?«
»Schwarz?«
»Natürlich! Ich fahr' immer schwarz! Vorgestern erst bin ich von Paris gekommen auf die Manier. Mit einer Bahnsteigkarte bin ich dort eingestiegen, und hier hat mich mein Tochtermann abgeholt.« Die anderen stimmten eifrig zu. Wer würde denn eine Fahrkarte bezahlen? Das sei gut für die Narren und Millionäre. Der arme Mann dagegen fahre nur schwarz auf den Schnellzügen. Das sei Ehrensache.
Das war nun Wasser auf meiner Mühle. Im Schwarzfahren hatte ich inzwischen Erfahrungen gesammelt in aller Herren Länder. Warum nicht auch in Frankreich? Bei besserer Überlegung kam ich jedoch zu der Ansicht, daß das unter den gegebenen Verhältnissen – so nahe der Heimat – doch wohl nicht das Richtige sei.
Wenige Stunden später stand ich mitten im Menschengewimmel an der Gare du Nord. Immer wieder mußte ich meine Fahrkarte ansehen. »Belfort« stand darauf. Das war schon beinahe zu Hause. Von dort konnte man bequem in einem Tage nach Mülhausen laufen. In einem Tage! Fast konnte ich es nicht fassen nach all den wirren Fahrten und Irrfahrten auf der langen, langen Reise um die Erde!
Fort fuhr der Schnellzug, als eben die Abenddämmerung kam. Es wurde Nacht und wieder Tag. In buntem Wechsel flogen die Bilder vorüber. Große Städte und lärmende Bahnhöfe. Stille Dörfer, die an blauen Hügelhängen lagen und reifende Weinberge im hellen Sonnenschein. Ich sah das alles und sah es doch nicht mit wachen Augen, denn meine Gedanken waren in Deutschland.
Und als der Bummelzug von Belfort hinüberfuhr, gerade so wie er es immer getan hatte, mit denselben Leuten wie damals vor beinahe sieben Jahren und mir selbst so war, als ob ich alle die Zeit immer darin gesessen hätte und nicht eine Welt von Erlebnissen dazwischen läge, da war es mir, als sei das alles nur ein Traum gewesen.
Unversehens kamen wir über die Grenze.
»Kaiserlich Deutsch . . .« stand an dem Gebäude zu lesen, wo alle hindurch mußten, zur hochnotpeinlichen Grenzkontrolle. Schon hatte mich ein Grenzbeamter ins Gebet genommen. Es war nicht eben ein liebenswürdiger Mann, aber wie er so vor mir stand in seiner grünen Uniform in vorschriftsmäßiger strammer Haltung, da wäre ich ihm am liebsten um den Hals gefallen! Als gewissenhafter Chronist muß ich allerdings mitteilen, daß dieses Gefühl der Liebe auf den ersten Blick ein sehr einseitiges war. Dieser sonnverbrannte Abenteurer – so dachte er jedenfalls – konnte doch nur aus der Fremdenlegion kommen! Und wo ich mich wohl so die ganze Zeit über umhergetrieben habe, wie es mit meiner Militärzeit stünde und – Papiere?
Das war nun mein verwundbarster Punkt. Papiere besaß ich keine. An so etwas hatte ich nicht mehr gedacht in sieben Jahren. Ich durchsuchte alle Taschen, zum Zeichen, daß ich wahr gesprochen, und er half noch dabei nach. Dann starrte er mich in den Boden mit einem Blick, der mir die ganze Unverschämtheit zum Bewußtsein brachte, überhaupt geboren zu sein, ohne Papiere darüber bei mir zu tragen.
»Keine Pa–pie–re?«
Das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen! Zusammen mit einem anderen jungen Mann, der ebenfalls von weiß Gott woher aus der Fremde gekommen war und sich anmaßte zu leben und zu atmen ohne ausdrückliche Bestätigung seiner Geburt, ging es mit dem nächsten Zuge unter Bewachung eines Grenzjägers nach Mülhausen. Und das war wahrhaftig ein Einzug, der sich würdig an die seinerzeitige Ausfahrt anreihte. Etwas ungemütlich war mir zumute, aber als der Zug durch den schönen Sundgau fuhr, als fern am blauen Himmel auf den Bergen die Burgen standen und alles ringsum heimatlicher wurde mit jedem Kilometer, da verflogen alle bösen Gedanken unter dem Himmel der Heimat. Denn es gibt auf der Welt kein Land, das so schön ist wie unseres. Das will ich auch heute noch glauben trotz allem Gerede derer aus dem gackernden, schnatternden Geschlechte der Schwätzer und der Alleswisser.
Es dauerte eine Weile, und es bedurfte der persönlichen Mitwirkung des hochmögenden Kreisdirektors, bis der unerhörte Fall des papierlosen Fremdlings zur Zufriedenheit aufgeklärt war. Dann entließ man mich in die goldene Freiheit, sehr zum Mißvergnügen des Grenzbeamten, der schon einen Orden im Knopfloch gesehen hatte.
Stundenlang wanderte ich ziellos durch die engen Straßen der alten Stadt und wunderte mich bei jedem Schritte, daß eigentlich alles noch so war wie damals. Nach all den Irrfahrten und Abenteuern der letzten Jahre wäre es mir viel natürlicher vorgekommen, wenn irgend etwas unerhört Neues inzwischen hier aus dem Boden gewachsen wäre. Daß aber im Grunde genommen sich gar nichts geändert hatte im Wandel der Zeiten, daß die Weiber noch mit ihren Waschkübeln am Kanal hockten, daß die Epiciers noch immer in ihren langen weißen Kitteln vor der Ladentür standen und die kleinen Kneckes noch immer Klicker und Meckerle in den krummen Gassen spielten, wie wir es einst getan hatten, das kam mir unsagbar komisch vor. Ich kam zu unserem alten Haus, wo fremde Menschen feindselig zum Fenster herausschauten. Ich wagte nicht nahe heranzukommen, aus reiner Angst vor dem rauhen Schicksal, damit es nicht zuletzt noch eine Illusion zertrete nach so vielen anderen. Von ferne schaute ich über die stille Straße und erlebte noch einmal alle Träume der Jugend mit dem heißen Blut, das mein Schicksal gewesen. Und dachte an die Toten.
Spät in der Nacht kehrte ich ein im allerersten Hotel, wo die mißtrauische Miene des Geschäftsführers sich erst durch ein blankes Zwanzigfrankenstück versüßen ließ. In dem eleganten Schlafzimmer blickte ich zufällig in den großen Wandspiegel und wunderte mich über mich selber. Es war lange her, seit ich in einen ordentlichen Spiegel geschaut hatte, und es war wohl anzunehmen, daß seither sich manches geändert hatte. Daß aber einer so braun gebrannt sein könne von der sengenden Tropensonne und von der Glut der Feuer im Heizraum, daß man davon so rauh und zerzaust und ungeschlacht aussehen konnte, das hatte ich nicht für möglich gehalten. Ich besann mich darauf, daß meine Mutter mich am nächsten Tage abholen würde, und ich dachte mir: Na, die wird Augen machen!
Dann kam ich immer weiter ins Grübeln. Ich setzte mich auf den Rand des Bettes und war mit meinen Gedanken abwechselnd in Texas, Kalifornien, Australien, im Eismeer, im Roten Meer und wo immer das wilde Geschick mich hingeworfen hatte in diesen Jahren. Während der ganzen Nacht wurde ich nicht fertig mit Denken und Grübeln, und als der dämmernde Tag zum Fenster hereinkroch, da war ich immer noch dabei.
Wohl mochte ich Ursache dazu haben. Gar manches, was ich mir einst gewünscht, war nicht in Erfüllung gegangen, die Schätze, von denen ich geträumt, waren zu Schall und Rauch geworden, die schönen Jahre unwiederbringlich verloren. Und doch – wie nun die Gedanken schnell noch einmal zurückeilten über Länder und Meere, da war alles schön und gut, trotz allem. Da war auf einmal der Himmel so blau, selbst dort, wo er grau und düster gewesen. Unter rauschenden Palmen hörte ich noch einmal die Brandung toben und sah das stelzbeinige Abenteuer mit wilden Augen durch die Länder schreiten. Das alles hatte ich gesehen mit meinen eigenen Augen. Das alles war ein Schatz, wert des Bewahrens, so gut wie die anderen, die man in die Kästen legt. Und ich mochte nichts davon missen; nicht einen einzigen Tag!