Kurt Faber
Rund um die Erde
Kurt Faber

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Erstes Kapitel

Allein in Paris

Die Launen des Lausbuben. – Es ist, wie wenn man einem Ochsen ins Horn pfetzt. – Ankunft in Paris. – Erster Schritt in die große Welt. – Im »Krokodil«. – Gaston der Verführer. – Intermezzo in der Apachenhöhle. – Im Auswandererheim. – »Was is das for ä Schrabbinche«. – Ein großer Moment! – Die Schlacht im Zwischendeck. – Allerlei Vergnügen. – Die verkannte Teufelsinsel. – Endlich Amerika!

Vielleicht ist es besser so. Ich will die Geschichte nicht von Anfang an erzählen. Es ist auch eine gar so alltägliche Begebenheit.

Da ist ein junger Tunichtgut, der nicht weiß, was er mit sich anfangen will. Und die anderen wissen es auch nicht, wie sehr sie ihm auch schon ins Gewissen geredet haben. »So setze dich einmal her zu mir. Ich habe etwas Ernstes mit dir zu bereden. Hast du schon einmal darüber nachgedacht – aber so benimm dich gefälligst manierlicher und schau mich nicht so an mit deinen verstockten Augen! – hast du schon darüber nachgedacht, was einmal aus dir werden soll? Nein? Dann wäre es aber höchste Zeit! Mir ist nämlich eben ein guter Gedanke gekommen: Wie wäre es denn, wenn du einmal das oder jenes anfingest? Das ist noch eine gute und aussichtsreiche Laufbahn. Nach so und soviel Jahren – laß mal sehen: Dann wärest du gerade so und so alt – hättest du schon das ganze Studium hinter dir mit allem, was drum und dran hängt. Hättest eine feste und gesicherte Stellung. Wärst ein gemachter Mann. Und könntest es am Ende noch zu dem und dem bringen. Ich weiß, daß du es könntest, wenn du nur wolltest – aber du willst ja gar nicht!«

»Ach ja«, pflegte zuweilen meine Großmutter zu sagen, »es ist ein Elend mit dem Lausbuben. Es ist, wie wenn man einen Ochs ins Horn pfetzt.«

Aber der Lausbub war und blieb verstockt. Alle diese Dinge interessierten ihn gar nicht. Wenn aber an lauen Frühjahrstagen der Märzwind die schwarzen Regenwolken vor sich herjagte, wenn die Septembernebel die feinen Fäden über die Ackerkrume webten, wenn draußen auf den Wiesen zwischen den Herbstzeitlosen die Störche sich nach dem Süden versammelten, ja, wenn nur irgendwo ein Eisenbahnzug vorüberdonnerte in die blaue Ferne, da bekam er es zu tun mit der Wanderlust, die von fernen Meeren und von stolzen Palmen träumte. Und eines Tages – nun ja, es kam einmal der Tag, der der Anfang dieser langen Geschichte war. Es war weder ein interessanter, noch ein lehrreicher, noch ein ruhmreicher Tag, und man tut wohl am besten, wenn man so wenig wie möglich davon erzählt. So beginne denn, du Geschichte der Abenteuer meiner ersten wilden Jugend in – Paris.

Während der ganzen Nacht war ich auf der Reise von Belfort her gerüttelt und geschüttelt worden, wie man nur in einem Wagen der dritten Klasse auf französischen Eisenbahnen geschüttelt und gerädert werden kann. Endlos schien die Fahrt durch das nachtschwarze Land, bis sich endlich in der Ferne unzählige Lichter wie Perlen aneinander reihten und die schwarzen, schattenhaften Umrisse des Häusermeeres der Großstadt aus dem dämmernden Tageslicht herauswuchsen.

»Paris!« rief draußen die Stimme des Schaffners. Ich mußte mir die Augen reiben, um mich zu vergewissern, daß ich nicht träumte. Waren wir wirklich in Paris?

Wie die Unschuld vom Land – die ich ja auch war – taumelte ich durch die weiten Bahnhofshallen und gelangte schließlich in eine breite Straße, die in schnurgerader Richtung bis in endlose Fernen das Häusermeer durchschnitt. Wenn ich mich recht erinnere, war es der Boulevard Sebastopol. Da ich nichts Besseres zu tun hatte, schlenderte ich eine Weile diese Straße entlang. Es war noch früh am Tage. Etwa fünf Uhr morgens. Grau und übernächtig schauten die hohen, eleganten Gebäude in den dämmernden Morgen. Vor einem Kaffeehaus, in dem die Stühle auf den Tischen standen, lehnte ein befrackter Kellner und gähnte. An einer Straßenecke arbeiteten Leute mit großen Mützen und weiten Hosen und schaufelten Kehricht in den eisernen Müllwagen, an dem in dicken Lettern »Ville de Paris« stand. Ein Kamelot kam herangebraust wie ein brüllender Löwe. »Le Matin! Le Journal!« schrie er so laut und gellend, wie nur ein Kamelot kann. Ein Bäckerbube ging vorüber mit einem Korb voll frischer Semmeln, der fast so groß war wie er selber.

Unversehens war ich bis hinunter zu den Markthallen gekommen. Dort war man schon emsig bei der Arbeit. Es war ein Kommen und Gehen von Wagen und Pferden, und geschwätzige Bauern mit langen blauen Kutten und klappernden Holzschuhen waren dabei, die Schätze aufzustapeln, die der Moloch Großstadt im Laufe des Tages verschlingt: üppige Krautköpfe und leuchtende Radieschen, Hasen, Gänse und glitzernde Fische. Eine alte Frau mit weißen Haaren bemühte sich vergebens, einen großen Korb voll Äpfel von einem Karren herunterzuschaffen. »Allons, mon fils«, wandte sie sich an mich, indem sie auf den einen Henkel des Korbes deutete.

»Ja, da sieht man's wieder«, meinte sie, als wir den Korb auf dem Boden hatten, »jung ist Herr!«

»Halt«, rief sie mir nach, als ich mich zum Fortgehen wandte, »du sollst ein Andenken von deiner Großmutter haben.« Dann suchte sie mir den schönsten Apfel aus dem Korbe heraus.

Weiter wanderte ich durch die Straßen wie ein echtes Grünhorn, das mit großen, runden Augen die Fremde mit allen ihren Wundern aufsaugt. Da standen alle die großen Paläste, von denen man schon in der Schule gehört hat. Da war die Seine mit der prunkvollen Alexanderbrücke, die sich darüber spannte. Entlang des Ufers hatten fliegende Händler ihre Buden aufgeschlagen und verkauften geröstete Kastanien, Ansichtskarten, pommes frites und neumodische Romane von Maurice Barrès. Am jenseitigen Ufer breitete sich das Champ de Mars mit seinen Baumalleen und dem notorischen Eiffelturm. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, wo er Mode war bei uns zu Hause im Elsaß. Da trugen die Damen Frisuren à la tour d'Eiffel. Da kaufte man keinen Briefbogen, auf dem er nicht vorgedruckt, und kein Nadelkissen, das nicht als Eiffelturm aufgebaut war. Da kamen die Buben in die Schule mit roten Mützen, auf denen ein weißer Eiffelturm aufgestickt war. Die roten Mützen! Die waren einmal mein Traum gewesen, und ich hatte es meinem Vater nie so recht vergessen, daß er mir keine kaufen wollte. Nun stand es plötzlich vor mir, dieses Neuntagewunder, in seiner ganzen Größe.

Der Mann mit den eisgrauen Haaren, der unten am Fahrstuhl als Portier aufgestellt war, war eine Figur, wie eine von Napoleons Grenadieren. Seine Brust war geschmückt mit Medaillen von der Krim, von Mexiko, von Tongking und Madagaskar. Ein wandelndes Zeugnis französischen Imperialismus. Als ich ihn im schlechten Französisch anredete, schaute er mich eine Weile unwirsch von oben bis unten an. »Sacré nom de dieu«, brummte er mit grimmigem Schnurrbartstreichen, »kannsch nimmer rede wie dr dr Schnawel g'wachse isch. Ich bin jo o vu Milhüse!«

Da stand ich nun oben auf der obersten Plattform des hohen Turmes und schaute hinab auf das bunte Gewimmel der großen Stadt. Eben war die Sonne aufgegangen und ihre weichen Strahlen brachen sich tausendfältig in den leuchtenden Glaskuppen und den blitzenden Fensterscheiben. Unabsehbar breitete sich das Häusermeer, aus dem die Türme und Kuppen wie Inseln und Klippen hervorragten. Weit draußen am Horizont standen dicht nebeneinander die Schornsteine, und unzählige schwarze Rauchfahnen vermischten sich mit dem blauen Dunst, der über der Ferne lag.

Das also war Paris! Die ville lumière! Was ich nur hier wollte? Das war mir vorderhand noch ganz schleierhaft. Nur schauen wollte ich. Und etwas erleben! Während des ganzen Tages fuhr ich auf dem Dach des Omnibusses auf den Boulevards umher und schaute herab auf das Getriebe der Menschen, wie sie einander auf dem Straßendamm drängten, und auf die eleganten Kavaliere, die an den Marmortischen unter den Baumkronen ihre Zigaretten rauchten und bei einer Tasse Kaffee oder einem Glase giftgrünen Absinth gelangweilt auf dieses bis zur höchsten Intensität getriebene Leben schauten, als ob alles das, was sich hier abspielte, nur ein toter, wesenloser Film wäre, der vor ihren Augen vorüberflimmerte. Schon begann es dunkel zu werden. Da und dort blitzen Lichter auf; die tausendfachen Lichter der Großstadt, die die Bauernbuben vom Lande locken.

Hastiger wurde das Treiben in den Straßen. Die Autos, die Wagen und all das andere Fahrzeug, rasten vorüber mit sinnverwirrender Schnelligkeit, und die Kamelots schrien lauter wie je: »La Presse! La Prrresse! La Libre Parole!«

Mir wurde von alledem so dumm, als ginge mir, nein, nicht ein, sondern ein halbes Dutzend Mühlräder im Kopf herum. »Was ist es denn?« so fragte ich mich, »was ist's mit allen diesen fremden Menschen, die hier vorüberfluten?« Ein jeder weiß, was er zu tun hat, ein jeder weiß, wo er hingehört. Nur du – nur du! – Allein in Paris!

Da ich während des ganzen Tages noch nichts gegessen hatte, verspürte ich einen grausamen Hunger. Aber vergebens schaute ich mir die Augen aus nach einem passenden Lokal. Überall, wohin man blickte: Marmortische, Spiegelscheiben, befrackte Kellner und hohe Preise. Das flanierte und scharmierte auf dem glatten Parkettboden, das räkelte sich in den Sesseln und rauschte in Seidenkleidern. Madamen in Pudelhaaren und großen, wippenden Federhüten und entsetzlich vornehme Herren, wie man sie sonst nur auf den Bildern in den Schneiderwerkstätten zu sehen bekommt. Von marmornen Säulen leuchteten die goldenen Buchstaben. Die Buchstaben und die Zahlen, und was die zu verkünden wußten, das füllte mich mit bleichem Entsetzen.

Fünf Franken für ein Mittagessen! Das konnte sich nicht einmal der Bürgermeister leisten, bei uns zu Hause.

Vor einem Gasthause, das fast noch vornehmer aussah als die anderen, drängten sich die Leute wie vor einem Bienenstock. »Diner 2 francs« stand in großen Buchstaben am Schaufenster. Das ließ sich zur Not noch hören. Ich stand vor einem der runden Tische auf der Terrasse unter den Bäumen und überlegte mir, ob ich mich setzen sollte. Aber, schon stand der Kellner vor mir.

»Monsieur . . .«

Er rückte mit den Stühlen und schaute mich dabei so intim-herablassend-vornehm-wohlwollend an, daß ich nicht umhin konnte, ihm die Ehre anzutun. In der Hand hielt er das Menü, bei dessen Anblick es mir im Kopfe summte. Französisch konnte ich ja, aber das hier war Küchenlatein. Wer jetzt gleich wüßte, was ein baiser á l'empire ist! Aber nur jetzt nicht schon das Grünhorn verraten! Nur jetzt nicht zu allem Anfang!

»Geben Sie mir also das da!«

»Parfaitement, monsieur.«

Lautlos wie er gekommen, verschwand er von der Bildfläche und erschien im nächsten Augenblick wieder mit drei leuchtenden Radieschen auf einem mächtigen Porzellanteller. Mit so viel Würde, wie mir das unter den Umständen möglich war, verzehrte ich die leckere Vorspeise, und schon stand er wieder vor mir mit derselben aalglatten Verbeugung und demselben unbeweglichen, wie aus Stein gemeißelten Gesicht.

»Que commandez-vous ensuite?«

Ah, man war höflich in Paris!

»Geben Sie mir das da!«

Diesmal war es eine mikroskopische Portion Kressensalat. So ging es eine ganze Weile weiter, das Frage- und Antwortspiel. Immer wieder zog ich eine Niete in diesem grausamen Lotteriespiel. Ein hors d'oeuvre nach dem anderen erschien auf der Bildfläche. Mir wurde abwechselnd heiß und kalt bei der Sache. Ich glaubte die Blicke der Gäste an den Nachbartischen zu fühlen. Ich sah die Menschenmenge vorüberfluten in der lärmenden Straße und ich dachte mir: Wenn du nur schon wieder mit einigem Anstand draußen wärst! Der einzige, der die Ruhe nicht verlor, war der Kellner. Immer neue Delikatessen brachte er auf einer Schüssel. Nicht eine Bewegung regte sich in seinem harten Gesicht. Nicht um einen Tonfall änderte sich die Stimme, die so ölig war wie die Pomade auf dem Scheitel.

Endlich hatte ich genug vom »Kommandieren«.

»Die Rechnung!«

Mit einer Miene, die man sich nur durch langjährige Kaffeehauspraxis aneignen kann, zog er den Papierblock heraus und fing an zu rechnen mit dem langen Bleistift.

»Zwei, drei, vier, sechs . . . acht Franken fünfzig, Monsieur.«

Ich zahlte ohne mit den Wimpern zu zucken. Es gibt im Leben Situationen, die über die Proteste erhaben sind. Man zahlt, man schweigt, man drückt die Augen zu. An so etwas hat man sich ja gewöhnt heutzutage.

Niemand war glücklicher als ich, als ich wieder versunken war in dem Strom der Straße, nach diesem ersten verunglückten Schritt in die große Welt. Aber hungrig war ich mehr als je, trotz der 8,50 Franken.

Nach langem Suchen fand ich endlich ein Gasthaus, das meinem Geldbeutel einigermaßen angemessen erschien. Es trug einen spaßigen Namen: »Zum Krokodil«, eine ärmliche Kneipe mit kahlen Wänden, an denen rauchgeschwärzte Reklamebilder hingen. Unter einer riesigen Käseglocke auf dem Schanktisch träumten Würste, Schinken, hartgesottene Eier und andere Herrlichkeiten, und darüber summten die Fliegen. Der einzige Gast im Zimmer war ein kleines Mädchen, das sich beinahe die Zunge abbiß, während es die Zahlen auf die Schiefertafel malte. – Wie still es hier war! Man hörte das Ticken der großen Wanduhr und das Malen des Griffels auf der Tafel.

Eine dicke Wirtsfrau, die sich im Gehen die nassen Hände an der Schürze abtrocknete, kam diensteifrig herbeigelaufen. Sie mußte mir wohl angesehen haben, daß ich hungrig war. Unaufgefordert setzte sie mir eine Flasche Wein und einen Laib französischen Weißbrots vor. Dann erst fragte sie, was ich essen wollte.

»Gebratene Eier – Frische Pastete – pommes frites – Artischocken – Omelette mit Früchten –«

»Nein.«

»Dann eine Suppe.«

Nachdem ich gegessen hatte, führte sie mich über eine knarrende Treppe hinauf in ein riesengroßes, kahles Zimmer mit einem jener breiten französischen Betten, die so groß sind, daß eine fünfköpfige Familie darin übernachten könnte.

»Das da«, sagte die Alte mit einem Blick auf das einzige Bild im Zimmer, »das ist mein Sohn – ah le pauvre garçon! – er muß jetzt etwa so alt sein wie Sie.«

»Und wo ist er jetzt?«

»Wer weiß? Vor einem halben Jahr ist er fortgelaufen. Wer weiß, wohin? Vielleicht ist er tot.«

Dann ging sie schnell hinaus, ohne sich noch einmal umzusehen.

In jener Nacht habe ich nicht gut geschlafen. Lange wälzte ich mich umher in dem riesengroßen Bett, und in meinem heißen Kopfe rumorten die Bilder und die Gedanken, wie sie nur in einem achtzehnjährigen Kopfe rumoren können. Die fremde Stadt. Die fremden Menschen. Die Straßen und Plätze mit dem geschäftigen Leben und den bunten Lichtern. Und ich dachte mir: Was wohl die und jene jetzt sagen würden? Ob sie schelten würden? Oder ob sie traurig wären? Oder – ja, und was wollte ich nun eigentlich anfangen?

Wie würde es mir ergehen, hier draußen in der kalten, bösen Welt? – Ah, pfui! Wer wird denn jetzt schon jammern! Geht es nicht täglich Tausenden wie dir, daß sie hineinfallen in das wilde Meer des Lebens, ehe sie das Schwimmen gelernt haben? Und haben dir die Leute nicht von jeher gesagt, daß du ein Dickkopf seist, der mit dem Kopf durch die Wand geht? Nun ist die Zeit, wo du es beweisen kannst!

Als ich am nächsten Morgen hinunter in die Wirtsstube kam, war diese bereits gut besetzt. Verdächtig aussehende Kerle mit weiten Hosen und schreiend roten Tuchgürteln saßen an den Tischen. Sie spielten mit schmierigen Karten und blinzelten mit den kleinen Augen, die fast verdeckt waren unter den großen, weit in die Stirn gezogenen Mützen. Richtige Pariser Galgenvögel. Ein Bursch mit einem ausgemergelten Gassenbubengesicht kam auf mich zu.

»He George, t'as une cigarette?«

»George? So heiße ich nicht.«

»Als ob's darauf ankäme! Ich nenne dich George, wenn es mir Spaß macht. Es ist ein so schöner Name wie nur einer. Was mich anbelangt, so heiße ich Gaston. Einfach Gaston.«

Während er noch redete, hatte die Alte schon zwei Gläser mit giftgrün schillerndem Absinth auf den Tisch gestellt.

»C'est ça«, fuhr Gaston fort, als er merkte, mit wie wenig Liebe ich die verdächtige Flüssigkeit betrachtete, »ich sehe wohl, daß du aus der Provinz kommst. Savoyarde, he? Oder von der spanischen Gegend? Oder aus dem Lyonnais? – Aber das macht nichts. Du wirst noch lernen. Halte dich nur an mich. Ich werde dir zeigen, wie man Zigaretten raucht und Absinth trinkt und wie man Eindruck macht bei den Frauenzimmern. Denn ich kenne mich aus. Ich bin keiner von den Hergelaufenen. Echter Pariser – parisien de Paris!«

Noch vieles erzählte er mir in seinem Pariser Apachenfranzösisch, von dem ich nicht die Hälfte verstand, und rauchte dazu Zigaretten und stürzte ein Glas Absinth nach dem anderen die durstige Kehle hinunter.

»Und halte dich an mich!« fuhr er eifrig fort, »denn ich bin ein Mann – ich, und du bist nur eine Handvoll. Ich will dir etwas beibringen, weil du mich dauerst, und je schneller du lernst, um so besser wird es für dich sein. Denn hier ist es nicht so wie bei euch in der Provinz, wo sie tagsüber in den Holzschuhen zwischen den Misthaufen klappern und abends mit den Hühnern schlafen gehen. Die wissen nur von Kühen und Pferden, und wenn sie einmal sterben, so legen sie sich hin und haben nie gelebt. Aber nicht arbeiten und doch leben, das ist die Kunst! Von was meinst du wohl, daß sie leben, die Jungens hier in der Wirtschaft? Da ist Antoine de la grande bouche, der mit dem roten Gürtel und den Händen in der Tasche, der dort hinten bei Josephine steht. In seinem ganzen Leben hat er noch keinen Streich Arbeit getan und ist doch fett wie nur einer. Und Alphonse mit dem schiefen Gesicht und der großen Mütze – keine Nacht vergeht, in der er nicht ein Zehnfrankenstück an den Mann bringt mit den anderen Jungens. Und woher er es wohl hat, möchtest du wohl wissen? Woher hat man's? He! he! Es liegt auf der Straße in Paris, wenn man einen gewitzten Kopf und fixe Finger hat wie ich und Alphonse, um es zu finden. Woher? Man darf nicht alles sagen, was man weiß. Nichts hab' ich gesagt; nicht mehr als dieses Stuhlbein. Wenn man den Mund zumacht, so kommen die Fliegen nicht herein. So spielt man in Paris! So mischt man die Karten in Venedig und bei Hof! Tu du nur was ich dir rate, und ich mache aus dir mit der Zeit noch einen halben Pariser!«

Er machte große Augen, als ich ihm Mitteilung machte von meinen amerikanischen Reiseplänen.

»Ho la la!« rief er aus, »nach Amerika willst? Ja, hast du denn Geld genug?«

Ich erzählte ihm, daß es wohl noch dazu langen würde, worauf er ohne ein weiteres Wort seine Mütze noch tiefer in den Kopf setzte und mich nach der in der Nähe des Nordbahnhofes gelegenen Agentur der Holland-Amerika-Linie führte. Es war ein pompös aufgemachtes Lokal mit verlockenden Schiffsbildern an den Wänden.

»Haben Sie Papiere?« fragte der Beamte am Schalter.

»Papiere? Nein.« Daran hatte ich gar nicht gedacht.

»Ja, dann könnten wir Sie eigentlich nicht befördern, aber diesmal wollen wir eine Ausnahme machen.«

So zahlte ich denn die Fahrkarte für die Reise nach Neuyork mit dem Dampfer »Potsdam«. Bare 150 Franken in blanken Zwanzigmarkstücken. Es war der größte Teil meiner Barschaft.

»So«, meinte Gaston, als wir wieder draußen auf der Straße standen, »nun bist du schon so gut wie in Amerika. Eigentlich hätte ich auch nicht übel Lust zu einer Reise übers große Wasser. Doch nein! Was rede ich für Unsinn. Keine zehn Gäule könnten mich von hier wegbringen. Es gibt nur ein Paris!«

Während des ganzen Restes des Tages gab sich Gaston redliche Mühe, mir auf seine Weise – natürlich auf meine Kosten – die Sehenswürdigkeiten des Seinebabels zu zeigen. Er schleppte mich von einem Kino ins andere. Er führte mich in die Tingeltangels und von dort in die Cafékonzerts, wo dicke Komiker und leichtgeschürzte Sängerinnen ihre Kunst zum besten gaben.

»Das ist aber alles noch gar nichts«, meinte er, als wir glücklich wieder zurück im »Krokodil« waren, »bei Nacht muß man Paris sehen! – ich muß jetzt einen Augenblick fortgehen; aber in einer Stunde, wenn's dunkel ist, komme ich wieder, und dann werden wir zusammen hinauf nach dem Montmartre gehen. Da ist Betrieb. Und billig ist alles dort oben! Für ein paar Sous kannst du die ganze Bude auskaufen!«

Dann verschwand er durch die Tür. Ich aber packte schleunigst meine sieben Sachen zusammen und machte mich aus dem Staube. Denn der Knabe Gaston fing an mir fürchterlich zu werden.

In Boulogne sur Mer sollte ich mich einschiffen. Da der Dampfer aber erst in vier Tagen fällig war, erachtete ich es trotz meiner bereits bezahlten Fahrkarte als eine gute Idee, wenn ich einstweilen ein Stück des Weges zu Fuß wanderte. Denn es war eine wunderschöne, sternklare Nacht, die zum Marschieren geradezu einlud. Mit der Straßenbahn fuhr ich bis zur nördlichen Vorstadt von St. Denis. Ein Mann, den ich dort fragte, wo denn der Weg nach Boulogne ginge, schaute mich verwundert von oben bis unten an.

»Nach Boulogne? – le bois de Boulogne? – ja, da sind Sie aber ganz falsch gelaufen, mein Lieber!«

»Nein. Boulogne sur Mer!«

»He??«

Dann verschwand er lautlos in der Dunkelheit.

Auf gut Glück wanderte ich weiter nach Norden auf der breiten Landstraße, die nach Beaumont führt. Es ging durch eine häßliche Gegend voll Ruß und Schmutz und Teer und Armeleuteluft. Düstere Fabrikgebäude und langweilige Mietkasernen. Überall ragten riesige Schornsteine wie Gespenster in die dunkle Nacht. Salzige Gerüche aus einer chemischen Fabrik lagen dick über der Straße und setzten sich beißend in den Augen fest. Dann kamen Gärtnereien mit blanken, vom Mondschein übergossenen Treibhäusern und schmutzige Holzhöfe, wo frischgeschnittene Bretter einen süßen Duft verbreiteten und bissige Hunde in die Nacht hinaus bellten. Dann kam unversehens das flache Land, wo Erdgeruch von den Schollen aufstieg und Mond und Sterne vom weiten Himmel leuchteten. Ah! dachte ich mir, in diesen Tagen habe ich schon allerlei Lichter gesehen, dort hinten in der »Lichtstadt«! Weiße, rote, grüne und blaue Lichter. Lichter, die wechseln und vergehen; Lichter, die tanzen und flimmern; Lichter, die zischen, fauchen und schreien können, und was sonst noch eine Menschenphantasie an Teufelszeug erfinden kann, aber ihr dort oben, die ihr niemals verlöscht, ihr seid doch noch etwas ganz anderes!

Immer schneller schritt ich durch die schwarze Nacht der lockenden Ferne entgegen. Der weiche Atem einer lauen Frühjahrsnacht lag über der Landschaft. Ein leiser Windhauch strich durch die Baumkronen. Die Grillen zirpten am Wege, und irgendwo in der Wiese quakten die Frösche. Etwa um Mitternacht kam ich in eine Ortschaft mit einem großen Güterbahnhof, über dem elektrische Bogenlampen surrten. Als ich das Städtchen schon fast hinter mir hatte, traf ich unter dem trüben Schein einer Gaslaterne mit einem Schutzmann zusammen. Ein wohlgenährter Mann, mit einem spitzen, angegrauten Napoleonsbart.

»He, junger Mann«, redete er mich an, »zeig mal deine Papiere«.

Er schien nicht wenig erstaunt, als ich ihm sagte, daß ich keine hätte.

»Was? Keine Papiere?« meinte er mit hochgezogenen Augenbrauen, »wie kann man sich nur so bei Nacht und Nebel herumtreiben ohne einen Ausweis? Du bist doch kein Zigeuner und kein Landstreicher. Da scheint mir irgend etwas faul zu sein. Haben Sie wirklich gar nichts Geschriebenes bei sich? Einen Brief, eine Postkarte, eine unbezahlte Rechnung« – da fiel mir ein, daß ich ja die Bescheinigung der Holland-Amerika-Linie bei mir hatte. Ich gab sie dem Beamten, der sie beim unsicheren Licht der Laterne aufmerksam studierte. Dann schaute er eine ganze Weile wortlos bald mich, bald das Papier an. »Nom de dieu«, meinte er schließlich, »das ist ja ein Billett nach Amerika! Und bezahlte Eisenbahnfahrt nach Boulogne! Ja, warum treibt der Bursche sich dann hier herum? Ho la, la! Das wäre ja noch schöner! Kommen Sie mit! In einer halben Stunde fährt der Expreßzug nach Boulogne.«

Höchstpersönlich führte er mich nach dem Bahnhof und sah zu, daß ich auch fortfuhr. Eine Weile schaute ich in die Nacht hinaus, während der Zug nach Norden eilte. Aber nicht lange. Denn ich war todmüde.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, begann eben der Tag zu grauen. Draußen breitete sich ein flaches Land mit fetten Wiesen, auf denen schwarzweißgetupfte Holsteinkühe weideten. Da und dort klapperte eine Windmühle in den Tag hinein. Flandrisches Land. In der Ferne lag hinter einem Schleier von Kanalnebeln die Stadt Boulogne.

Dort angelangt, machte ich mich sogleich auf die Suche nach dem Auswandererheim der Holland-Amerika-Linie, wohin die Anweisung lautete, die ich in Paris erhalten hatte. Es war aber ein »Heim« von besonderer Sorte, dieses graue, schmutzige Haus mit den weißgemalten Fensterscheiben und der dumpfen Luft, die nach schlechtem Tabak und abgestandenen Speiseresten duftete. Eben war ein neuer Schub von Auswanderern angekommen, und das Haus wimmelte von Menschen. Allerlei Menschen. Russen, Polen, Armenier, Syrier, Araber und sonst noch allerlei merkwürdiges Völkergemisch.

Ein polnischer Jude mit schwarzem Bart und langem schwarzen Kaftan redete mich an.

»Werde Sie auch fahre nach Amerika, Herr Graf?«

»Natürlich!«

»Un werde Se fahre allein, wenn mer frage darf?«

»Selbstverständlich!«

Da schaute er mich lange und nachdenklich von oben bis unten an und schüttelte dazu den Kopf. »Gott, was for ä Schrabbinche! Was is das for ä Schrabbinche!«

Ein Mann ging umher und verabreichte jedem einen Blechteller und einen Löffel. Ein anderer brachte das Essen. Haufen von Fleisch und Kartoffeln in riesigen Schüsseln. Und dann fielen sie alle darüber her mit Händen und Füßen: die Araber, die Russen, die Syrier und die Zigeuner. Nie wieder habe ich Menschen so essen sehen.

Da der Dampfer erst in drei Tagen fällig war, hatte ich reichlich Zeit, mir das malerisch am Küstenhang gelegene Städtchen anzusehen. Ich trieb mich am Hafen umher, wo die braunen, geflickten Segel der Fischerboote durch den Dunstschleier leuchteten. Ich schaute den wettergebräunten Fischern zu, wie sie ihre glitzernde, zappelnde Beute in die Körbe luden. Am liebsten aber war ich weit, weit draußen, dort, wo der Leuchtturm am Ende des langen Wellenbrechers stand, und schaute auf das weite, unendliche Meer und auf das Toben der Brandung, die zwischen den aufgeschichteten Felsblöcken ein donnerndes Lied von Wind und Wellen und von fernen Ländern sang.

Dort draußen hatte eine alte Frau ihre Bude aufgeschlagen und verkaufte knusprige, appetitlich aussehende pommes frites. Da ich ihr öfter mal etwas abkaufte, wurden wir bald gute Bekannte. Sie hatte einen Sohn in Amerika gehabt, von dem sie jahrelang nichts gehört hatte. Aber eines Tages war er zurückgekommen. Krank und matt und müde und gebrochen von der schweren Arbeit. Nicht lange danach hatten sie ihn begraben. »Gehen Sie nicht nach Amerika!« beschwor mich die Alte, »es ist ein Land voll Spitzbuben«.

Nach drei Tagen ungeduldigen Wartens kam endlich der große Augenblick, wo alle Bewohner jenes famosen »Auswandererheims« – jeder mit seinem Blechteller, der Blechtasse und einem Strohsack als Matratze – wie's liebe Vieh an Bord des Leichters geschafft wurden, der uns nach dem weit draußen auf der Reede liegenden Dampfer bringen sollte. Bald hatten wir die enge Hafeneinfahrt hinter uns gelassen. Das kleine Fahrzeug schlingerte in der Dünung des Kanals, und in der Ferne versank die französische Küste immer tiefer in den blauen Fluten.

Und ich dachte mir – doch am Ende ist es ja gleichgültig, was ich mir dachte. Höchstwahrscheinlich sind meine Gedanken überhaupt abwesend gewesen; so sehr rumorte es in meinem Kopf; so benommen war ich von dem Gedanken, daß es nun wirklich hinaus in die weite Welt, nach Amerika gehen sollte. Da faßte mich plötzlich jemand mit beiden Händen und schlang ungestüm seinen Arm um meinen Nacken. Es war ein kleiner neapolitanischer Gassenjunge. Ein richtiger funkelnder Bambino. Er rüttelte und schüttelte mich, als ob er sagen wollte: so wach doch auf! So sieh doch zu, was eben hier vorgeht! In seinen großen kohlschwarzen Augen brannte es wie Feuer, während er mit der Hand nach dem entschwindenden Lande deutete: »Addio! addio, Europa!«

Doch da waren wir schon längsseits des großen Dampfers, dessen gewaltige Masse mit den von Menschen wimmelnden Decksaufbauten sich wie eine schwimmende Stadt vor uns auftürmte. Durch eine breite Luke in der schwarzen Schiffswand wurden wir, wie die wilden Tiere der Menagerie, in einen düsteren, riesiggroßen Raum getrieben, wo rohgezimmerte Tische und Bänke in endlosen Reihen standen und längs der Wände, zu je drei übereinander, die Kojen angebracht waren, auf denen es von Menschen wie von Ameisen wimmelte. Über dem allen aber lag ein dicker Dunst von giftigen Gasen und eine widerlich süßliche, verpestete Luft. Zwischendecksluft.

Ehe ich noch Zeit hatte mich ordentlich umzusehen in dieser fremdartigen Umgebung, heulte draußen die Dampfsirene. Von der Kommandobrücke kam das scharfe, klingende Signal für die Maschine. Ein Zittern ging durch den Riesenleib des Dampfers, während die Schrauben sich langsam in Bewegung setzten. Fort ging die Reise.

Zehn Tage brauchten wir zur Überfährt nach Amerika. Zehn fürchterliche Tage, von denen man wohl am besten so wenig wie möglich erzählt. Bessere Federn wie die meine haben schon vor mir – besser und anschaulicher als ich es könnte – die Hölle des Zwischendecks geschildert.

Schon gleich am allerersten Tag geriet ich in eine glorreiche Rauferei, und schuld daran war nichts anderes als jener Blechteller, den man mir, wie allen anderen, bei der Abreise von Boulogne mitgegeben hatte. Ein wunderschöner, nagelneuer Blechteller, dessen funkelnder Glanz wohl ein Zigeunerauge bestechen konnte. »Verwahren Sie den nur gut«, hatte mir einer von den Schiffsstewards gesagt, »die Kerle stehlen wie die Raben.« Ach was, dachte ich, wer wird denn einen Blechteller stehlen? Und ich ließ in meinem Leichtsinn das Wertobjekt ganz unbewacht auf meinem Strohsack in der Koje liegen. Am Abend war es natürlich verschwunden. »Das haben Sie davon!« lachte voll Schadenfreude der Steward, »nun müssen Sie einen Gulden bezahlen für einen neuen Teller.« Ich bezahlte und versteckte meinen Schatz sorgfältig unter dem Strohsack. Dann legte ich mich in die Koje und versuchte eine Weile zu schlafen.

Schlafen! Wer konnte denn schlafen in solch stickiger, verpesteter, schwindelerregender Atmosphäre! Stundenlang lag ich auf meiner engen, sargartigen Schlafgelegenheit und starrte mit großen Augen hinaus in den kahlen, düsteren, endlos großen Raum. Die Lampen pendelten nach den schlingernden Bewegungen des Schiffes, und in ihrem matten, verschleierten Licht sah man ein paar elende Gestalten, die, den Kopf auf die Hände gebeugt, wie jämmerliche Kleiderbündel an den langen Tischen saßen. Meine Koje lag mitten im Araberviertel. Über mir, unter mir, neben mir, überall hausten Araber. Die einen stöhnten und jammerten, weil sie seekrank waren, und die anderen, die noch nicht von dem Übel erfaßt waren, vertrieben sich die Zeit mit dem Singen, oder vielmehr Murmeln eines unsagbar eintönigen arabischen Singsangs. Und andere – nein, ich will es gar nicht weiter ausmalen! Es gibt Menschen, die schlimmer sind als das liebe Vieh. In dieser Höhle konnte ich es nicht länger aushalten. Droben an Deck war wenigstens frische Luft. Ich hüllte mich in meine dünne Baumwolldecke, verkroch mich unter der Back und fror wie ein Schneider. Denn es war eine kalte, frostige Frühjahrsnacht. Dann litt es mich nicht länger auf dem Plätzchen. Die Ungeduld wachte auf wie ein Pudel, der das Wasser von sich schüttelt. Auf und ab schritt ich auf dem Verdeck, nicht anders wie ein alter Quartiermeister in der Kaiserlichen Marine. Ich hörte auf das immer gleiche Rauschen des Wassers vor dem Bug des Schiffes, ich sah das Leuchten der Blinkfeuer entlang der Küste, die schwärzer noch als die Nacht unter dem Horizonte lag. Und meine Gedanken waren unruhiger als das Meer und wilder als der Wind, der darüber wehte.

Als ich am nächsten Morgen wieder hinunter ins Zwischendeck stieg, um eine Tasse Kaffee zu trinken, da sah ich zu meinem maßlosen Ärger, daß zwei Araber – ein Männlein und ein Weiblein – in meiner Koje saßen und seelenruhig ihren Haferbrei aus meinem Eßnapf löffelten. Wenn man mich heute auf Ehre und Gewissen fragen würde, ob es auch wirklich mein Eßnapf war, den die beiden benutzten, so könnte ich es nicht beschwören. Vielleicht war es auch gar nicht meine Koje, in der sie saßen, aber damals wenigstens war ich überzeugt von der Untat, und ohnehin hatte ich eine Wut auf die Araber. In einem Augenblick hatte ich der arabischen Dame den Teller aus der Hand gerissen und klatschte ihr den ganzen Inhalt ins Gesicht. Dann machte ich mich wie ein brüllender Löwe über den Ehegatten her, packte ihn bei der Gurgel und bearbeitete ihn mit Händen und Füßen.

Was nun folgte, das war ein Hexensabbat. Alles was Araber, Syrier, Armenier und Levantiner hieß, war im Nu auf den Beinen, und ein einziger Schrei der Entrüstung durchbebte das Zwischendeck. Es war, als ob alle Geister der Hölle sich ein Stelldichein gäben. Ich aber – kann ich dafür, daß ich jähzornig bin? – ich erfaßte eine mächtige, wohlgefüllte Suppenschüssel, die gerade auf dem Tisch stand, und schleuderte sie in den tobenden Haufen. Hinterher ein steinernes Salzfaß und einen Pot voll siedend heißem Kaffee. Dann bewaffnete ich mich mit einer scharfkantigen Bratpfanne und ging zur Offensive über. Eine Weile stand ich mitten im Kampfgetümmel. Löffel und Gabeln flogen vorüber wie die Pfeile. Blechteller trommelten auf meinen harten Schädel, und vor mir wirbelte es von blitzenden Messern, kampfgierigen Fingernägeln und funkelnden Araberaugen. Keinen Pfennig mochte ich mehr für mein Leben geben, als plötzlich unerwartet Hilfe auftauchte.

Die Polen, die in der Nähe einquartiert waren, und die ebenfalls die Araber nicht leiden mochten, kamen herbeigerannt und stürzten sich in die Schlacht mit großer Übermacht, und es regnete furchtbare Hiebe.

Händeringend erschien der Koch auf der Bildfläche. Die Stewards wetterten und fluchten, aber es gab keine Ruhe, bis der Kapitän mit dem Revolver dafür sorgte. Da ich der Stein des Anstoßes zu der ganzen Rauferei gewesen war, bekam ich ein gewaltiges Donnerwetter zu hören. Dann aber wandte sich der Schiffsgewaltige an die Stewards, fluchte auf Holländisch und sagte ihnen, daß es keine Art sei, »den duitsche Jong« unter die Araber zu stecken. »Schafft ihn nach achtern«, befahl er, »der Hitzkopf macht mir noch das ganze Schiff rebellisch.«

So hatte das Abenteuer doch ein Gutes im Gefolge gehabt. Denn das Achterende des Zwischendecks, wo ich jetzt untergebracht wurde, sah schon bedeutend menschlicher aus. Es war nicht so überfüllt, und die Reisegesellschaft war auch nicht ganz so gemischt, wenn auch noch immer gemischt genug. Da war einer – ein wohlgenährter Herr mit einem ansehnlichen Bäuchlein – der aussah wie ein billiger Hochstapler. Er trug einen hellen, sehr eleganten Sommeranzug und einen schmutzigen Strohhut. An den dicken Fingern trug er goldene, mit kostbaren Steinen besetzte Ringe, und schwarze Fingernägel. Täglich erzählte er ein dutzendmal die Geschichte von seinem Wirtshaus in Czernowitz und von der Art und Weise, wie er dessen Käufer hereingelegt hatte. Er hatte alle Kunden und Vagabunden der weiten Umgebung eingeladen und ihnen Freibier verzapft, damit sie ein volles Haus vorzauberten.

»Ja, ›smart‹ muß man sein!« sagte er mit einem befriedigten Blick in den kleinen Taschenspiegel, in dem er hundertmal am Tag seine schäbige Eleganz zu mustern pflegte. »Smart! Ha! Das sind sie drüben wohl alle. Und das bin ich auch. Sie sagen zwar, daß man das nicht an einem Tage lerne, aber das kommt gewissermaßen ganz auf die Persönlichkeit an. Ich bin schon amerikanischer als die Amerikaner, noch ehe ich drüben gewesen bin.«

Da war ein anderer, schon älterer Mann, der den ganzen Tag in seiner Koje lag und sich den Teufel um seine Umgebung scherte. »Laßt mich in Frieden mit eurem Amerika«, pflegte er zu sagen, wenn ihn jemand anredete, »ich kenne den Rummel. Ich bin schon dreimal drüben gewesen.« Einmal fuhr er einem modisch gekleideten Berliner Jüngling ins Wort, der eben den anderen seine amerikanischen Zukunftspläne auseinandersetzte. »Tätest besser den Schnabel halten«, fuhr er ihn an, »dann wüßten die Leute wenigstens nicht, daß du ein Grünhorn bist. In Amerika mußt du zehnmal so viel arbeiten wie in Europa. Und verdammt froh kannst du sein, wenn sie dir überhaupt Arbeit geben, denn wenn die Zeiten schlecht sind, dann werfen sie dich aufs Pflaster, und kein Mensch fragt danach, ob du dich sattessen kannst oder nicht. Denn der Arbeiter in Amerika –«

»Ja, der Arbeiter –« meinte wegwerfend der Berliner.

»Und was bist denn du?«

»Mann, ich bin Kaufmann! Ich werde mir doch die Hände nicht schmutzig machen!«

»Daß du dir nur keine großen Rosinen einbildest«, brummte der Alte, während er sich auf das andere Ohr legte.

Einige Wochen später habe ich den Berliner zufällig in Neuyork angetroffen. Er war Geschirrwascher in einem billigen Hotel an der Bowery und machte sich die Hände alle Tage schmutzig.

Das Ende der Reise kam in Sicht. Schon näherten wir uns der amerikanischen Küste. Das stürmische Wetter, das wir zu Anfang der Überfahrt hatten, war vorüber und die See glatt wie ein Spiegel. Und wie wir nun in südlichere Breiten kamen und die Sonne immer wärmer brannte, da wurde es auf dem Verdeck immer lebendiger. Auf schmutzigen Kleiderbündeln thronten Polen mit riesigen Schirmmützen und hohen Wasserstiefeln, Italiener mit farbigen Hemden und schreiend roten Tuchgürteln, Rumänen, Griechen, Türken, Armenier und phantastisch aufgeputzte Zigeuner. Alle waren voll Hoffnung und Erwartung, und jeder vertrieb sich die Zeit nach seiner Weise. Die Zigeuner spielten, und die Ungarn tanzten. Da war auch eine Gesellschaft: von sehr sauberen, aber sehr seltsam aufgeputzten Menschen, die sich stets etwas abseits von den anderen hielten. Sie sprachen eine eigenartige Sprache, die mir so fremd und doch wieder so merkwürdig bekannt vorkam. Weiß der Kuckuck, aus welcher Himmelsgegend die hierher geschneit waren. Aber eines Tages, als der Mondschein auf dem Wasser tanzte und der heiße Dampf aus dem Schornstein am klaren Nachthimmel zitterte, da holte einer von ihnen seine Geige hervor, und die anderen sangen dazu im reinsten Deutsch:

Nach der Heimat möcht' ich wieder,
Nach dem teuren Vaterhaus.

Endlich kam der große Augenblick, den wir alle erwarteten. In einer klaren Nacht tauchte gerade voraus das Leuchtfeuer von Montauk auf, und als der Morgen graute, zog sich an Steuerbord die flache, langgestreckte Küste von Long Island hin. Alles, was Augen hatte, starrte und staunte, über die Reeling hinweg, hinüber nach dem fremden Land, dem Ziel ihrer Träume.

Nun war es mit unserer Gemütlichkeit vorbei. Das Verdeck gehörte jetzt wieder einzig den Seeleuten. Die Ladebäume wurden hergerichtet, die Luken aufgerissen und die aus dem unersättlichen Schiffsbauch heraufgeschafften Taue und Taljen mit viel Geschäftigkeit auf dem Verdeck ausgebreitet.

Während wir entlang der Küste fuhren, machte sich alles fertig zur Landung in Amerika. Das war ein Getue und ein Getriebe! Das putzte, schrubbte, bürstete, wusch und kämmte sich! Da wuschen sich Leute, die sich ihr Lebtag noch nicht gewaschen hatten, da kämmten sich andere, die noch nie zuvor einen Kamm gesehen.

Nun tauchten in der Ferne grüne Hügel auf, von denen die weißen Landhäuser leuchteten. Ein flinkes Segelboot brachte den Lotsen an Bord, und dann ging es, vorüber an Sandy Point, gerade hinein in die weit ausgespannte Bai von Neuyork, langsam vorbei an üppigen Feldern und qualmenden Fabriken. Weit im Hintergrund, hinter dem dünnen Schleier der Morgennebel, ragten die Wolkenkratzer wie Gespenster in den Himmel. Überall wurde es lebendig von großen und kleinen Dampfern und Seglern und flinken Motorbooten, die blitzschnell das Wasser durchfurchten. Und inmitten dieses hastigen Lebens stand starr und unbewegt, mit erhobener Fackel, die Statue der Freiheit.


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